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8. Ein Evolutionär

Nun kam erst einmal ein Wochenende - das letzte Wochenende, an dem wir nichts von der ganzen Angelegenheit hörten. Ich versuchte, Carola anzurufen, um noch einige Dinge mit ihr zu diskutieren, und herauszukriegen, was sie wußte und wir nicht. Aber offenbar war sie weggefahren, vielleicht heim zu ihrer Mutter. Außerdem konnte ich nicht zu oft anrufen, weil Irene schon wieder eine Spur mißtrauischer guckte.

"Sie ist unsere Kollegin - von jetzt an auch deine!" sagte ich. Irene zeigte keinen Begeisterungsausbruch.

In der Anfangszeit unserer Ehe hatte sie manchmal gemutmaßt, daß ich mit der Carola etwas hätte, oder daß ich dabei wäre, es doch ab und zu wenigstens zu versuchen. Das lag aber eigentlich nur daran, daß Carola die einzige Kollegin weiblichen Geschlechts war, mit der ich im alten Ada-Projekt Umgang hatte. Ihr Name war also der einzige weibliche Name, der ab und zu fiel. Und er fiel nicht selten, wie die Namen meiner anderen Kollegen auch. Auf dieser statistischen Verteilung baute Irene ihren Verdacht auf.

Inzwischen aber sollte sie gemerkt haben, daß das damals nicht der Fall gewesen war und jetzt auch nicht: Erstens fängt man mit einer Kollegin nichts an. Das könnte sehr komplizierte Verhältnisse im Dienst schaffen. Zweitens habe ich während unseres Aufenthaltes in der Welthöhle - und nur dort - einige Seitensprünge gemacht. Mit Charmion sind diese sogar ziemlich leidenschaftlich gewesen. Und Irene weiß, daß ich ihr, als es denn nun passiert war, nichts verschwiegen habe. Warum sollte ich das also jetzt tun?

Ich dachte also, daß sie sich an den Gedanken gewöhnen würde, daß sie in Zukunft von Carola nicht nur gelegentlich etwas hören, sondern mit ihr sogar öfter zu tun haben werde. Außerdem - wir würden noch mehr Kollegen haben. Da konnten noch ein paar Frauen mehr drunter sein. Vielleicht sogar außergewöhnlich attraktive. Was würde sie dann machen? Wir werden sehen, dachte ich.

Wir hatten eine Adresse - die vom europäischen Innenministerium angemieteten Räume in München. Dort hatten wir uns am Montag einzufinden. Es war der 25. April. Und was uns dort genau erwarten würde war noch restlos unklar.

Die Räume entpuppten sich als ein Flachbau am Rande des Ostparkes. Wir erfuhren später, daß dieser Flachbau vor vier Jahren für etwas anderes, was dort abgerissen worden war, gebaut worden ist. Es sollte eigentlich ein Kindergarten werden. Aber der Architekt hatte einen Fehler gemacht, und der Bau war einsturzgefährdet. Es muß wohl ein sehr großer Fehler gewesen sein, denn um einen einstöckigen Bau so zu konstruieren, daß er vom Einsturz bedroht ist, braucht man schon Genie.

Jedenfalls sind weitere Trägerkonstruktionen eingezogen worden, um den Bau sicherer zu machen. Jetzt kann angeblich ein Hubschrauber auf dem Dach landen, aber als Kindergarten war er nicht mehr geeignet, weil in manchen Räumen Metallgitterkonstruktionen so im Wege standen, daß man sich dran stoßen konnte. Deshalb wechselte er ein paarmal den Besitzer. Im Moment war das europäische Innenministerium der Hauptmieter. Und das hatte schon einiges an Einrichtung investiert.

Insbesondere gab es, wie wir bald sehen sollten, einen Vortragssaal, der vierzig oder fünfzig Personen fassen konnte. Als Irene und ich in der Frühe ankamen, war aber nur ein junger Mann anwesend, der gerade dabei war, auf einer Leiter stehend ein Schild über dem Haupteingang anzuschrauben:


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        |       Deutscher Alpen Verein - Sektion Rammersdorf       |
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"Hier sind wir nicht richtig," stelle ich fest, "wo steht denn hier die Hausnummer?"

Der junge Mann dreht sich um, sieht uns und beginnt, von seiner Leiter herunterzusteigen:

"Hier sind Sie richtig. Darf ich Ihre Ausweise sehen?"

Der bayerische Einschlag ist unverkennbar. Wir holen unsere Ausweise heraus und zeigen sie ihm. Er ist zufrieden.

"Mein Name ist Gastinger. Servatius Gastinger. Ich kümmere mich hier um alles. Haus und so. Ich lasse sie rein."

Ich zeige auf das Schild, das erst an zwei Schrauben hängt:

"Was hat denn der Alpenverein mit der ganzen Sache zu tun?"

"Nichts. Oder fast nichts. Er soll das Gebäude nach Projektende eventuell übernehmen. Die Verhandlungen sind im Gang."

"Und jetzt schon das Schild?"

"Gute Tarnung, nicht? Keine Angst, niemand wird hierherkommen und vom Alpenverein etwas wollen. Es gibt gar keine Sektion Rammersdorf!"

"Raffiniert!" sage ich, "Das wäre auch etwas viel Aufmerksamkeit für die paar Hügel im Ostpark gewesen!"

Drinnen, in dem Vortragssaal, fangen wir erst einmal an, zu warten, während der junge Mann sich draußen weiter um sein Schild kümmert.

Eine Viertelstunde lang geschieht nichts. Wir reden fast nichts. Ich warte nur darauf, daß Irene erwähnt, daß wir auch eine spätere S-Bahn hätten nehmen können. Bevor sie das tut, führt Gastinger den nächsten Mitarbeiter herein.

"Doktor Thomas Reinhardt - Die Familie Homberg. Alias Playton." sagt Gastinger und verzieht sich wieder.

Der Herr Reinhardt ist etwas jünger als wir, wenn man genau hinsieht. Wenn man nicht so genau hinsieht, dann könnte man ihn wegen seines grauen Bartes, der sein Gesicht umrahmt und irgendwie an Darstellungen des Gottes Zeus erinnert, für älter halten. Er ist kleiner als ich und athletisch gebaut. Seine Gesichtshaut verrät den häufigen Aufenthalt im Freien. Ich vermute, er ist Geologe.

"Freut mich, Sie kennezulernen!" sagt er, umd mich freut es, daß er keine Anstalten macht, unsere Hände zu schütteln, "Wir sind etwas früh, nicht? - Schade. Ich habe meine Zeit nicht geschenkt bekommen. Ich hätte soviel zu tun."

"Grüß Gott. - Wir haben unsere Zeit auch nicht zum Verplempern übrig. Wissen Sie, was heute hier geschieht?"

"Allgemeine Einführung, vermute ich. Vielleicht Vorstellung der Expeditionsteilnehmer - jedenfalls die, die schon bestimmt sind. - Vielleicht kommt es auch gar nicht dazu. Zu der Expedition, meine ich."

"Warum nicht?"

"Weil keine Expedition stattfinden wird."

"Und warum das nicht?"

"Weil man keine Expedition in eine Höhle schicken kann, die es nicht gibt."

"Dann sind Sie Geologe!" stelle ich fest.

"Nein. Ich bin Paläontologe. - Aber wahrscheinlich wäre ich auch, wenn ich Geologe wäre, der Meinung, daß es die Welthöhle nicht gibt."

"Ja. Ich bin weder Geologe noch Paläontologe, aber ..." setze ich an, aber Schneider unterbricht: "Das merkt man."

"Ja - Woran?"

Er wird direkter: "Ich habe Ihr Buch gelesen. Lesen müssen. Teilweise wenigstens. Ich sagte schon, ich habe wenig Zeit. Eigentlich bin ich mit Ausgrabungen in Montana beschäftigt. - Ich habe noch nie so einen Unsinn gelesen."

Ich entscheide mich, nicht den Beleidigten zu spielen: "Wieso Unsinn?"

"Welches sind die Unterklassen der Sauropoden?"

"Das weiß ich nicht."

"Was ist das gemeinsame Merkmal der Saurischier?"

"Keine Ahnung."

"Wann ist der Carnotaurus ausgestorben?"

"Das weiß ich auch nicht. Wird das eine Prüfung?"

"In Ihrem Buch wimmelt es - Entschuldigung, es ist aber so - von sachlichen Fehlern und von Ungenauigkeiten in der Wahl der Bezeichnungen der Spezies, die Sie beobachtet haben wollen. Und verschiedene Dinge, die Sie beobachtet haben wollen, sind völlig unmöglich."

"Kann sein. Ich habe nur beobachtet. Von Paläontologie verstehe ich nichts. Ich kann vielleicht gerade eben einen Apatosaurier von einem Trilobiten unterscheiden. Mehr nicht. Ich habe das nicht studiert. - Aber gesehen ist gesehen. Ich habe nichts erfunden, wenn Sie das meinen!"

"Es hätte nicht viel gefehlt, und Sie hätten auch Trilobiten in Ihrer Geschichte untergebracht, nicht wahr?"

"Wir haben keine gesehen, also habe ich es nicht getan. Ich sagte eben ..."

"Trilobiten sind von den Apatosauriern durch einige hundert Millionen Jahre getrennt."

"Das weiß ich."

"Aber Sie haben andere Spezies in Ihrer Geschichte erwähnt, die durch ähnlich lange Zeiträume voneinander getrennt sind. Vom Perm bis zur Kreidezeit haben Sie alles bunt durcheinandergemischt."

"Ich habe beobachtet! Festgestellt! Konstatiert! In der Welthöhle sind offenbar Spezies Zeitgenossen, die es auf der Erdoberfläche nie waren! Dafür kann ich nichts!"

"Das ist alles unglaubwürdig. Wissen Sie, was ich glaube? Sie haben sich das alles ausgedacht."

"Das ist es, was ich zunächst auch behauptet habe. - Aber wenn Sie das glauben, warum sind Sie dann hier?"

"Sanfter Zwang. Der Etat meines Institutes wird zum Teil durch EG-Projekte dargestellt."

"So ein Pech aber auch."

"Spotten Sie nur."

"Ich meine das ernst. Wir sind auch nicht ganz freiwillig hier."

Reinhardt sieht uns eine Spur genauer an: "Nein?"

"Nein. Sie sind nicht ganz vollständig informiert. Ich wollte das Buch weiterhin als pure Fiktion verstanden wissen. Irgendein hohes Tier in den EG-Behörden hat mir das nicht abgekauft. - Jetzt wissen Sie, wie es ist. - Wenn Sie von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten werden, dann tut mir das leid. Aber ich habe keinen Einfluß mehr darauf. Hatte ich nie gehabt."

"Hmh. Sie wollten das alles hier also gar nicht?"

"So ist es."

"Und Sie sagen definitiv, das Buch ist Fiktion?"

"Das habe ich immer versucht, zu sagen. Im Moment wird das in Zweifel gezogen."

Und nach einer Pause, in der Reinhardt von mir zu Irene und zurück sieht, setze ich noch hinzu:

"Also an der Tatsache Ihres Hierseins bin ich unschuldig. Ob mein Buch auf Tatsachen beruht oder nicht, hat da überhaupt keine Rolle gespielt."

"Also ist ihr Buch Fiktion?"

"Nein. Das ist es nicht. Es tut mir leid. - Aber es ist mir auch recht, wenn Sie weiterhin glauben, es wäre Fiktion."

Ich weiß nicht, was Reinhardt noch weiterhin gesagt hätte, aber Gastinger führt schon wieder jemanden herein.

Nun kommen die Neuankömmlinge dicht hintereinander, und wir haben nicht mehr die Möglichkeit, Einzelgespräche zu führen. Auch die Vorstellungen und Selbstvorstellungen sind sporadisch, mit einer Ausnahme: Über kurz oder lang wirft jeder, auch diejenigen, mit denen wir kein Wort gewechselt haben, Blicke in unsere Richtung. 'Das ist der, der das Buch geschrieben hat.' scheinen diese Blicke zu sagen. Die Wertungen reichen von Ablehnung - wie bei Reinhardt - bis zu offener Neugier und Interesse.

Manche Blicke konzentrieren sich auch mehr auf die Irene. Bei diesen ist die Spannweite zwischen Ablehnung, Neugier und Bewunderung größer - wenn ich richtig beobachte. Ich nehme an, das sind die, die auf Grund des weiblichen Pseudonyms Irene für die Autorin halten. Und wie ich schon früher festgestellt habe, geht die vermutete Geschlechtszugehörigkeit eines Autors immer in die Bewertung eines Werkes mit ein. Das ist einer der Gründe, warum ich dieses Pseudonym gewählt habe.

Carola kommt erst, als bereits zwanzig Leute anwesend sind. So können wir kaum mehr als ein paar Worte miteinander reden. Insbesondere kann ich bei ihr keine tiefgehende Motivationsanalyse machen, so wie ich es vorhatte.

Als Grohmann endlich auftaucht und gerade auf das Rednerpult zusteuert, beginnen alle, sich auf die Stuhlreihen zu verteilen. Ich sitze zwischen Carola und Irene. Aber Grohmann moderiert diese Veranstaltung gar nicht. Noch nicht. Er legt nur irgendwelche Papiere auf das Pult.

Dann aber betritt jemand den Raum, den ich sofort als Versammlungsleiter einordne. Selbstsicher. Arrogant. Von sich eingenommen. Irgendwie eine Ausgabe von Grohmann - nur schlimmer. Ich überlege, ob es von 'Nadelstreifen' einen Komparativ gibt. Da war doch vor vier Jahren dieses Buch mit dem Titel 'Nieten in Nadelstreifen' im Spiegel auf der Bestschenkerliste. Keine neuen Erkenntnisse, dachte ich damals, als ich es gelesen hatte, aber der Titel ist irgendwie hängengeblieben. Allerdings könnte es Nadelstreifenträger geben, denen man so Unrecht tut. Könnte.

Der Mann stellt sich als Dr. Gropius vor. Natürlich Doktor. Doktor von was, das erfahren wir nicht. Natürlich ist er auch vom europäischen Innenministerium.

Ich erwartete eigentlich, daß er jetzt das Projekt vorstellt, um alle Anwesenden auf denselben Kenntnisstand zu bringen. Weit gefehlt. Es erfolgt eine Einführungsvorlesung über europäische Wirtschaftsstrukturen.

Nach acht Minuten sage ich leise: "Wir sind hier doch nicht richtig!" Das war nicht leise genug. Gropius wirft einen bösen Blick in meine Richtung. Wir machen sofort alle brave Gesichter.

Nach weiteren fünf Minuten wissen wir, worauf es hinausläuft: Die alte Volk-ohne-Raum Ideologie. Nur eben in europäischen Dimensionen. Volk-ohne-Raum propagiere ich zwar gelegentlich auch. Nur die daraus resultierenden Resultate sind bei mir andere. Ich weiß jetzt, was Gropius will: Er baut ein Bild der wirtschaftlichen Ausbeutung neu entdeckter Gebiete auf. Dieses ist ein Vortragsthema, dem auf diesem Planeten seit hundert Jahren keine Realität gegenübersteht, weil es eben keine neuen Regionen zu entdecken und auszubeuten gibt. Jetzt, mit der Welthöhle, ist das anders.

Gropius - und wer weiß wie viele noch - scheint zu glauben, daß ausschließlich Rohstoffe den Reichtum eines Volkes ausmachen. Arbeitskraft und Qualifikation ist sekundär. Die naive Vorstellung eines Betriebswirtschaftlers, der Volkswirtschaft offenbar als Nullsummenspiel verstanden hat und alles, aber auch wirklich alles durch diese Brille sieht. - Das sind die Leute, denke ich mir, denen in den Anfangsvorlesungen in der Mathematik, die die Betriebswirtschaftler und Volkswirtschaftler auch besuchen müssen, von den Mathematikern gesagt wird, daß Skalare, Vektoren und Tensoren doch die einfachsten Dinge der Welt sind, und bei denen nur ein ungefähres Verständnis für Skalare hängenbleibt - weil nämlich Geld ein Skalar ist.

Die wissenschaftlichen Sensationen der Welthöhle, das Wunder ihrer bloßen Existenz, so vermute ich, interessieren Gropius überhaupt nicht, und er wird sie nicht erwähnen, sowie er in seinem Vortrag dort angelangt ist.

Er langt nicht dort an, sondern schließt sein Vortrag vorher ab. Nicht nur das - er verläßt sogar den Raum. Wir wissen nicht, ob ihn die eigentliche Welthöhle nicht interessierte, ob er nichts darüber erzählen durfte, oder ob er es nicht wollte. Fazit seines Vortrages: Wir brauchen Platz und Geld und eins kommt vom anderen oder das andere von dem einen. Oder so ähnlich. Und dazu ist die Welthöhle gut, aber das versteht sich von selbst und brauchte nicht extra erwähnt zu werden. Für die eigentlichen Projekte sind andere zuständig.

Etwas fiel mir erst lange Zeit später auf: Obwohl Gropius alles durch die Volk-ohne-Raum - Brille sah, vermied er es, Schuldige zu benennen. Es fehlte der Hinweis auf die Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt und die dadurch ständig unterhaltenen Flüchtlingsströme, es fehlte der Hinweis auf die bevölkerungsdrucktreibende Politik des Vatikans, und, seltsam genug, es fehlte der Hinweis auf die starken Bevölkerungszuwächse in den islamischen Staaten. Damals dachte ich noch, daß Gropius zu denen gehörte, in deren Horizont ein möglicher Eingriff in das Bevölkerungswachstum, welcher Volksgruppe auch immer, nicht vorkam, weil dieses eben eine gottgegebene Größe war.

Dieses würde sich noch als ein gigantischer Irrtum erweisen.

Jemand neben Grohmann steht auf. Grohmann wollte auch aufstehen, aber der andere schüttelt den Kopf. Ich interpretiere das so: Grohmann wollte den nächsten Vortragenden vorstellen, aber dieser wollte das nicht. Er geht zum Rednerpult.

Vielleicht 35, Stirnglatze, Jeans, und ein Rollkragenpullover in pink - aber nicht genuines pink, sondern wie der Haushaltsfachmann sofort sieht, hat dieser Herr offenbar einmal unüberlegt verschiedenfarbige Kleidungsstücke zusammen in die Waschmaschine geworfen und vielleicht noch eine unzweckmäßige Waschtemperatur gewählt. Habe ich auch schon gemacht. Aber die Irene hätte mich daran gehindert, zu dieser Veranstaltung so etwas anzuziehen. Fazit: Der Mann ist Junggeselle.

"Meine Damen und Herren," fängt der pink-pulloverte an, "ich - ähm - bin heute aus zwei Gründen hier, um zu Ihnen zu sprechen. Der eine ist der, daß wir vielleicht mit einer der größten wissenschaftlichen Sensationen zu tun haben - werden - die je entdeckt worden ist. Und weil dieses so ein aufregendes Ereignis ist, ist das auch ganz genau der zweite Grund, warum ich hier bin."

Nachdem sich das pflichtschuldige Lachen gelegt hat, fährt er fort:

"Mein Name ist Seltsam." Er sieht sich um, als warte er auf etwas. "An dieser Stelle werde ich immer aufgefordert, ihn trotzdem zu sagen. Aber das ist der Name schon. Ich heiße so: Seltsam. Alfred Seltsam. Ich bin Evolutionär."

Diese Berufsbezeichnung habe ich noch nie gehört. Aber niemand läßt Erstaunen erkennen - also bin ich entweder der einzige Ahnungslose, oder es ist der Vorlesungseffekt: Bloß nicht auffallen, indem man erkennen läßt, etwas nicht verstanden zu haben.

Letztere Verhaltensweise war mir auch mal zu eigen. Ganz früh, am Anfang des Studiums. Noch früher, in der Schule, sowieso. Aber später habe ich erkannt, daß man kaum einen Vortragenden mehr aus dem Konzept bringen kann als mit dem lauten Zwischenruf: 'Das habe ich aber nicht verstanden'. Die Aura der Unwissenheit fällt merkwürdigerweise dann nicht auf einen selbst, der so dumm fragt, zurück, sondern eher auf den Vortragenden, wenn dieser es nicht ganz schnell zustande bringt, daß man es doch noch versteht.

Jetzt will ich das aber nicht machen, weil ich annehme, daß dieser Seltsam gleich erklären wird, was ein Evolutionär ist.

Tut er auch. Was ich nachher von seinen Erläuterungen behalte ist dies:

In erster Linie geht es ihm nicht um die biologische Evolution, sondern um die Evolution von Industrieprodukten. Der Beruf des Evolutionärs wurde definiert - oder er entwickelte sich evolutionär unter den Anforderungen bestimmter Firmen - um systematisch herauszufinden, woran es liegt, daß manche Produkte sich am Markt durchsetzen und andere nicht. Genaugenommen ist der Industrie-Evolutionär also jemand aus der Abteilung Marketing. - Jemand aus der Abteilung Marketing, der richtig denken kann, meint Seltsam - aber er sagt es natürlich nicht so.

Jedenfalls ist ein Evolutionär etwas anderes als zum Beispiel ein Evolutionsbiologe, erklärt Seltsam. Auch wenn es natürlich Querverbindungen gibt.

Eigentlich, sagt er, braucht man einen Evolutionär ja gar nicht. Genaugenommen ist die bloße Bezeichnung sogar schon ein Widerspruch in sich. Der Markt entscheidet sowieso, welches Produkt Erfolg hat und welches nicht, und welche Firma scheitern wird. Aber da natürlich keine Firma scheitern möchte, wäre es schon sinnvoll, etwas über Evolutionsvorgänge am Markt zu wissen, bevor sie eintreten, damit man sich nicht auf der Verliererseite wiederfindet. Am besten wäre es, wenn dieses Verfahren eine Aussage liefern würde, wie man Produkte weiterentwickeln muß, damit sich ihr Erfolg am Markt verbessert, beziehungsweise welche neuen Produkte erforderlich sind. Der Evolutionär pfuscht also den Evolutionsvorgängen des Marktes zugunsten seiner eigenen Firma ins Handwerk - also tut er letztlich das, was Marketing-Abteilungen sowieso tun.

Ganz so einfach, sagt Seltsam, geht das natürlich nicht. Insbesondere ist ein Evolutionär auch nicht in der Lage, ein grundsätzlich neues Produkt zu erfinden. Etwas besser kann er schon auf die Frage antworten, wie ein Produkt, was andere neu entwickelt haben, am Markt ankommen wird. Am besten kann er aber mit Modifikationen von schon am Markt eingeführten Produkten umgehen. Allerdings sind nicht alle Erwartungen an den Beruf des Evolutionärs erfüllt worden, sagt Seltsam - das liegt aber weniger an diesem neuen Beruf, sondern daran, daß die Erwartungen zunächst einmal zu hoch gesteckt worden sind - das zum einen - und daß natürlich ein Evolutionär in einem Angestelltenverhältnis keine Entscheidungen trifft. Das machen die Manager. Und die sind ja durchaus nicht an die Vorschläge ihrer Evolutionäre, wenn sie überhaupt solche beschäftigen, gebunden. Dazu kommt, daß Evolutionäre im Angestelltenverhältnis natürlich auch oft dazu neigen, die Einschätzungen von sich zu geben, die ihre Vorgesetzten hören wollen - wie es bei jedem anderen Arbeitnehmer auch vorkommt. Das neutralisiert natürlich den Nutzen eines Evolutionärs für seine Firma.

Es gibt da ein paar neue, mathematische Methoden, die Seltsam aber nicht erläutert, oder nur ansatzweise. Da ist von Merkmalsräumen die Rede, und von Erfolgsgradienten, und von Variabilitätsbreite. Das ganze funktioniert auch nur mit massiver Rechnerunterstützung, weil nur dort das 'Appetenzverhalten' eines heterogenen Marktes simuliert werden kann.

Seltsam erzählt, daß er früher in der Industrie gearbeitet hat, sagt aber nicht, in welcher Firma. Dann ist er zum europäischen Wirtschaftsministerium gegangen. Das ging irgendwie um Unternehmensberatung im ehemaligen Ostblock. Er hat aber zu der Zeit, als sich der Begriff des 'Evolutionärs' manifestierte und als selbstständiges Berufsbild etablierte, begonnen, sich auch für die biologische Evolution zu interessieren - das liegt bei diesem Thema fast nahe, vermute ich. Da wurde aus einem Hobby sehr rasch eine Besessenheit. Und das merkt man auch, wenn er anfängt, auf das Thema einzugehen.

Seine eigentlich für Marketing-Zwecke entwickelten mathematischen Methoden konnten auch verwendet werden, um zum Beispiel zwischen Fossilien zu interpolieren, noch nicht gefundene Fossilien vorauszusagen, ökologische Nischen zu finden, die dann wahrscheinlich auch von einer Spezies besetzt gewesen sind, von der man bloß noch keine Fossilien gefunden hat, und ganz generell die Entwicklung der Arten zu beschreiben und Fehler aus dem paläontologischen Faktenbestand zu entfernen.

Er, sagt Seltsam, war es, der auf mein Buch aufmerksam wurde. Da er bei diesen Sätzen nicht in meine Richtung sieht, nehme ich an, daß er uns noch nicht identifiziert hat, so wie viele andere hier.

Seltsam hat also die 'Granitbeißerinnen' zunächst mit der Absicht gelesen, sich ein bißchen über die Schreiberin zu amüsieren. Er hat auch sehr schnell festgestellt, daß die Autorin in der Tat nicht sehr viel Ahnung über Paläontologie hat - damit stimmt er mit einem Kollegen überein. Ob er damit Reinhardt meint? Er sagt es nicht. - Aber, so fährt Seltsam fort, dann hat er sich selber überlegt, wie die biologische Evolution in der Welthöhle laufen würde, wenn es eine solche gäbe, und wie Wechselwirkungen mit Evolutionsvorgängen auf der Erdoberfläche aussehen müßten. Und dabei passten plötzlich Puzzle-Stücke zusammen, bei denen er bisher Schwierigkeiten hatte.

Seltsam meint, daß er mit seinen Untersuchungen noch am Anfang steht. Aber schon jetzt sei er überzeugt, daß es diese Welthöhle tatsächlich geben müsse - vor allem, nachdem ihm soviele Kollegen aus der Paläontologie und der Geologie versichert haben, daß das völlig unmöglich sei. Ein weiterer Grund seiner Zuversicht ist, daß er von der paläontologischen Inkompetenz der Autorin dieses Buches überzeugt ist - die kann sich das alles nicht ausgedacht haben.

Mit diesem festen Glauben an die Existenz der Welthöhle steht er, Seltsam, ziemlich allein. Die Fachleute aus Geophysik, Geologie und Paläontologie sind dagegen. Das Außenseiter-Syndrom, sagt er, zeigt sich da ganz deutlich. Denn was habe er als Marketing-Mann überhaupt in Wissenschaftlerkreisen zu suchen?

Bei diesen Randbemerkungen gibt es ein gewisses Gemurmel im Saal. Ich nehme an, das geht von den anwesenden Geophysikern, Geologen und Paläontologen aus.

Jedenfalls, sagt Seltsam, habe ihn das Thema nicht wieder losgelassen. Und da er ein paar wichtige Leute kannte, konnte er die Idee, doch einmal zu untersuchen, ob dieser Roman einen realen Hintergrund haben könne, erfolgreich verbreiten. Und als ehemaliger Marketing-Mann wußte er auch, wie man Interesse an Großprojekten weckt: Indem man auf das Geld hinweist, das man damit verdienen kann. Die wirtschaftliche Bedeutung einer Nutzung der Welthöhle.

Damit ist er am Ende seines Vortrages. Er setzt sich wieder, unter zögerndem Applaus. Ich erinnere mich, daß Gropius gar keinen Applaus bekommen hat - eine kleine Genugtuung im Nachherein.

Plötzlich kommt mir ein unangenehmer Gedanke: Als indirekter Veranlasser dieser ganzen Angelegenheit hier könnte jemand auch auf die Idee kommen, daß ich ein paar Worte an die Versammlung richten sollte. Ich habe nichts vorbereitet. Ich habe auch wenig Lust, etwas zu sagen. Und welche Strategie sollte ich einschlagen? Ich könnte natürlich immer noch behaupten, daß alles Fiktion ist - allerdings redet meine eigene Unterschrift unter dem neuen Arbeitsvertrag eine andere Sprache.

Zunächst scheint meine Befürchtung gegenstandslos. Grohmann erhebt sich schon wieder, um sich gleich darauf wieder zu setzen. Und nun marschiert jemand ans Rednerpult, den ich zu kennen glaube. Ich weiß auch, woher: Der ist mir in den letzten Wochen einmal irgendwo in der Firma begegnet. Ich erinnere mich daran, weil dieser untersetzte, kleine Mann in vorgerücktem Alter einen Moment lang den Eindruck machte, als erkenne er mich. Ich kannte ihn aber nicht. Der Ausdruck des Erkennens verschwand auch so schnell aus seinem Gesicht, wie er dorthin gekommen war. Ich dachte dann eben, daß er mich mit jemandem verwechselt habe. Soll ja vorkommen.

Er heißt Erftling. Hat irgend etwas mit Logistik zu tun. Seine Rhetorik-Fähigkeiten sind schauderhaft. Erst nach mehr als zehn Sätzen wird klar, daß er mehr die Kosten eines Projektes beschreibt, das selbst noch gar nicht detailiiert wurde. Wenn man aufpaßt, kriegt man aber schon raus, worum es geht. Es ist eben nur schade, daß der falsche Redner das richtige Thema aufgreift.

Es ist geplant, ein ehemals für militärische Zwecke entwickeltes U-Boot zu modifizieren - diese Modifikationen sind bereits in die Wege geleitet worden, wenn ich richtig verstehe - um mit diesem Boot Unterwassermessungen im Loch Ness vorzunehmen. Es handelt sich dabei im wesentlichen um seismische Messungen mit nachfolgender Computer-Auswertung.

Der Grund, daß man sich für das Loch Ness entschieden hat, ist weniger mein Buch - der dortige Zugang zur Welthöhle könnte sich den Suchbemühungen ja ebenso erfolgreich und hartnäckig entziehen wie der Zugang über das Höllentalplatt - sondern die Tatsache, daß dort, im und um den Kaledonische Kanal vor kurzem auf seismischem Wege Höhlungen nachgewiesen worden sind, die dort geologisch nicht hinpassen. Es handelt sich zwar nach wie vor nicht um Höhlen mit den Abmessungen der Welthöhle - für die gibt es nirgends irgendwelche Hinweise - aber eben um Höhlen, die man sich nicht erklären kann.

Das ist also alles, was dieses Boot machen soll: Seismische Sprengungen, Messungen der Schallereignisse mit verteilten Sonden - Auswertung mit Rechnern und graphische Darstellung, um gleich die nächste Versuchsserie planen zu können.

Es sei auch möglich, Druckkammern am Seegrund vorzubereiten, wenn man dort etwa Grabungen vornehmen möchte. Aber darüber wird erst viel später entschieden - nämlich in Abhängigkeit davon, was man dort findet.

Das Verfahren, denke ich mir, würde wohl auch im Zugspitzgebiet funktionieren - aber man braucht das Boot für den Transport der Rechner, der Hydro- und der Geophone und der Sprengladungen. Das ist vielleicht der Grund, warum man sich für das Loch Ness als ersten Ansatzpunkt entschieden hat.

Erftling ist schnell wieder zu Ende. Jetzt ist endlich Grohmann dran. Es gibt organisatorische Einzelheiten. Das war auch Zeit.

Es werden noch Monate vergehen, bis das Boot einsatzbereit ist. In dieser Zeit werden alle vorgesehenen Expeditionsteilnehmen Kurse machen: Geologie, Paläontologie und Xonchen für jeden, dazu U-Boot-Betriebstechnik, soweit dies erforderlich ist. Da es sich bei dem betreffenden U-Boot nicht um ein großes, strategische Waffen tragendes handelt, können nicht allzuviele Personen an Bord sein. Deshalb sind mehrfache Aufgabenzuweisungen notwendig. Andererseits, sagt Grohmann, sei dieses U-Boot eines der modernsten, das je entwickelt worden ist. Die Ähnlichkeit zu dem, was man aus alten Filmen aus dem zweiten Weltkrieg kennt, sei gering. Es regnet rein, wenn man die Luke aufläßt und dann taucht, sagt Grohmann. Das sei alles, was ein Autor wie Buchheim wiedererkennen würde.

Nach diesen Ausbildungsmonaten, wo also jeder zeitweise Schüler und zeitweise Lehrer sein wird, heißt es für die Projektdauer, einen Zweitwohnsitz in Inverness zu beziehen. Das müßte etwa Ende Herbst der Fall sein. Dort würden wir uns aber nicht ewig lang aufhalten. Das Boot würde zu diesem Zeitpunkt bereits in das Loch Ness transportiert und einsatzbereit gemacht worden sein. Dann heißt es also, alsbald an Bord gehen.

Eine kleine Komplikation gäbe es dann noch: Die Öffentlichkeit würde informiert werden müssen, weil man die Operationen eines solchen U-Bootes im Loch Ness ja nicht geheimhalten kann. Das wäre aber kein Problem, denn wie jeder weiß, ist das Loch Ness für sein sagenhaftes Monster 'Nessie' bekannt. Genau das wäre die Cover-Up-Story: Ein von finanzstarken Mäzenen gesponsertes Suchunternehmen. Grohmann meint, das wäre ja auch eigentlich gar nicht gelogen. Jedenfalls wäre dies die Version, die wir weiterverbreiten dürften, etwa im Gespräch mit Verwandten.

Der eigentliche Zweck des Unternehmens sei natürlich streng geheim zu halten.

Dann das übliche: "Wer hat noch Fragen?" Es hat auch jemand noch Fragen: Dr. Thomas Reinhardt.

Er richtet sie nicht an mich, sondern an Seltsam. Der Fachmann an den Laien. Oder das Streitgespräch zweier Fachleute, deren unterschiedliche Fachgebiete sich in einem Punkte überdecken. Der Paläontologe und der Evolutionär. Beide nicht mit allzuviel Verständis für den fachlichen Ausblick der jeweiligen Gegenseite.

Reinhardt versucht, die Beobachtungen, die ich in meinem Buche notiert habe, im Lichte seiner Paläontologiekenntnisse ins Lächerliche und Absurde zu ziehen. Offenbar kennt er jedes wesentliche Fossil, das Paläontologen je entdeckt haben, persönlich, und zieht daraus den Schluß, daß er weiß, welche Lebewesen es jemals auf der Erde gegeben haben könnte und welche nicht.

Da ist Seltsam natürlich in einer schlechteren Position. Er kennt sich in der Paläontologie zwar besser aus als ich, aber bei weitem nicht so gut wie Reinhardt. Dafür ist es Seltsam natürlich überhaupt nicht möglich, in einem Wortgefecht auch nur die Spur eines Verständnisses für seine mehr mathematischen Evolutionsanalysen zu vermitteln. Sie reden also über völlig verschiedene Dinge: Reinhardt kennt die Bausteine und Seltsam kennt die Spielregeln.

Grohmann muß nach einer Weile dieses fruchtlose Wortgefecht abbrechen. Das ist auch gut für mich, weil Reinhardt mehrfach hat durchblicken lassen, daß jemand, der sich nicht in der Paläontologie auskennt, auch nicht die Frechheit haben sollte, sich über Evolutionsprinzipien zu äußern. Ich weiß nicht, ob er damit mehr Seltsam oder mehr mich meint. Aber ich bin sauer. Aber noch nicht sauer genug, um mich selbst in die Diskussion einzuschalten. Diese Zurückhaltung bekommt aber meinem Magen nicht.

Es dürfen noch mehr Fragen gestellt werden. Die nächste Frage bezieht sich auf die Identität der Autorin.

Ich rechne damit, daß Dutzende von Gesichtern sich in meine Richtung drehen. Das ist aber nicht der Fall. Ich weiß also nicht, wer informiert ist und wer nur vermutet, wer die Autorin sein könnte. Mein Eindruck von vorhin, daß sehr viele der Anwesenden Bescheid wissen, war also nicht ganz richtig. Oder viele der Anwesenden sind einfach zu höflich, einfach in meine Richtung zu starren.

Trotzdem - es gibt ja keinen Grund, den Projektmitgliedern die wahre Identität der Autorin noch länger zu verheimlichen. Im Gegenteil. Soll ich jetzt selber aufstehen und mich zu erkennen geben, oder soll ich, mehr in Passivität, die Vorstellung Grohmann's abwarten? Irgendwie ist mir das unangenehm - es sind zu viele Personen anwesend, die ich nicht persönlich kenne.

Die Entscheidung wird aufgeschoben. De Haan betritt den Raum und geht schnell auf Grohmann zu. Zu schnell. Da ist etwas Unerwartetes passiert. Ich warte ab. Ein gedämpftes Murmeln liegt im Saal.

Grohmann studiert die Papiere, die De Haan ihm gereicht hat. Da es sich dabei vom Rednerpult hinwegbegibt und wieder seinen Platz in der ersten Reihe einnimmt, kann ich seine Gesichtszüge nicht erkennen.

Fast zwei Minuten dauert es, bis er wieder aufsteht und ans Pult geht.

"Meine Damen und Herren, wir haben da einige Neuigkeiten, die das Projekt nicht unwesentlich beeinflußen."

Wie schön. Die Identifikation der Autorin ist erst einmal aufgeschoben.

"Mir wird gerade mitgeteilt, daß die CHARMION nicht in das Loch Ness überführt werden kann und nicht überführt werden darf."

Der Schreck läßt mich einiges von dem Folgenden überhören. Wer, zum Teufel, hat die Projektleitung ermächtigt, das Boot nach Charmion zu benennen? Und wenn schon, wieso fragt mich niemand, wie man das ausspricht? Es ist mir, als sei ein Stück meiner ureigensten Privatsphäre verletzt worden. Irene muß es mir anmerken. "Reg dich nicht auf!" flüstert sie mir zu. Ich rege mich aber auf.

Ich will nicht, daß das Boot so heißt. Nicht CHARMION.

Das Problem ist, so wie ich es gerade eben mitkriege, daß es technisch zu aufwendig ist, das Boot in das Loch Ness zu bringen. Dazu ist es zu groß. Es wären sehr teure Arbeiten notwendig, entweder, um den Kanal, der die drei Seen im Kaledonischen Kanal, nämlich das Loch Ness, das Loch Oich und das Loch Lochy miteinander verbindet, auszubauen, oder um die Straßen zu den Enden des Sees, nämlich entweder von Inverness nach Dores oder von Fort William nach Fort Augustus, so auszubauen, daß der Schwertransport über Land möglich ist. Beides wäre bei der Größe des U-Bootes technisches Neuland. Hat sich das denn niemand vorher überlegt?

Als prinzipielle Möglichkeit wäre da noch das Auseinanderbauen des U-Bootes und das Wiederzusammensetzen am Loch Ness, was dann aber in einer noch zu errichtenden Werft geschehen müßte. Auch dagegen sprechen Zeit- und Geldargumente.

Dazu kommt, daß sich das schottische Parlament jetzt gegen das Unternehmen sperrt. Warum, das weiß man nicht, denn eigentlich bringt so ein Projekt ja auch Geld in die Region. Aber das schottische Parlament gibt es ja erst seit ein paar Jahren, und die müssen immer wieder beweisen, daß sie im eigenen Land etwas zu sagen haben. Vermutlich hat man einfach vergessen, sie vorher zu fragen, oder noch schlimmer, man hat über das Projekt in London gesprochen statt in Edinburgh. Dann ist es natürlich klar, daß Schottland erst einmal voll in die Bremseisen steigt.

Komisch - seit die Regionalregierungen mit der politischen Einigung Europas wieder viel mehr Zuständigkeiten haben, zieren die sich manchmal wie in fernsten, weit zurückliegenden nationalstaatlichen Zeiten. Die Umstellung von Linksverkehr auf Rechtsverkehr zum Beispiel, die auf den britischen Inseln schon mehrfach angedacht wurde, scheiterte an nichts anderem als daran, daß die Regierungen von England, von Schottland, von Wales und von den beiden Irlands sich nicht auf einen gemeinsamen Zeitpunkt dafür einigen konnten. - So einfach sich dem Vorschlag einer anderen Regionalregierung anzuschließen geht natürlich nicht. Und mit dem Boot ist es jetzt das Gleiche.

Wie Kleinkinder, diese Politiker, wie Kleinkinder!

Also Fazit jedenfalls: Das Boot ist im Moment nicht in das Loch Ness zu bringen, sowohl aus technischen als auch aus administrativen Gründen. Und 'Im Moment' heißt: wenigstens für einige Jahre. Egal, wieviel Geld die EG hinzuschießt.

Die administrativen Gründe könnten nicht einmal durch Schmiergeldzahlungen beseitigt werden, weil dazu Europa wieder zu sehr integriert ist: Es gibt keine Methode, zuverlässig herauszufinden, wen man denn nun alles schmieren müßte und wen nicht. Wenn der Europäische Rechnungshof herausfindet, daß jemand Falsches geschmiert wurde, dann gibt es unheimlichen Ärger.

"Das alles" sagt Grohmann, "wäre fast der Todesstoß des Projektes. So wie ich es sehe. Oder wir müßten etwas ganz anderes tun - ohne U-Boot."

Warum eigentlich nicht, denke ich. Wir waren ja auch ohne U-Boot unten. Es fehlt bloß die Formalität des Auffindens eines Zuganges zur Welthöhle. Ohne einen solchen geht es eben nicht. - Es ist mir sowieso immer noch völlig unklar, wozu man, außer zum Transport von meßtechnischen Einrichtungen und Computern, ein U-Boot braucht. Reicht nicht ein Überwasserschiff?

"Wir haben jedoch soeben auch Kenntnis von etwas anderen erhalten. Ein Zufallsbefund, gewissermaßen. Und dieser läßt alles wieder in einem anderen Licht aussehen."

Grohmann macht eine Pause. "Der macht's aber spannend!" sagt Carola an meiner anderen Seite.

"Es sind größere Unterwassergrotten an der Westküste Schottlands entdeckt worden. So große Höhlen, daß Geologen dafür zunächst im Erklärungsnotstand sind. Es handelt sich um einige Buchten nördlich vom Kaledonischen Kanal. Um das Loch Broom, um genau zu sein. - Das ist kein See, sondern eine Meeresbucht - das Word 'Loch' wird, wie Sie wissen, im Schottischen für beides verwendet, Meeresarm und Hochlandsee."

"Ullapool!" sage ich leise zu Irene. Sie nickt. Wir waren während desselben Urlaubes dort, in dem wir vorher auch in Foyers waren. 1988 war das - vor fast zehn Jahren. Irene kennt es also.

"Die CHARMION wird also zu gegebener Zeit von Greenock bei Glasgow nach Ullapool verlegt werden." bestätigt Grohmann, "Das sollte dann ja keine Schwierigkeiten machen. Unser schottischer Stützpunkt wird also nicht Inverness sein, sondern Ullapool. - Jedenfalls sieht es jetzt so aus. Sie alle werden natürlich noch über entgültige Entscheidungen informiert. - Ja, Herr Homberg?"

Alle sehen mich an, weil ich aufgestanden bin. Ich werde jetzt mal etwas 'Selbstbewußtsein trainieren', wie Irene das nennt. Deshalb gehe ich nach vorne. Grohmann gibt das Rednerpult frei. Da mein wirklicher Name schon gefallen ist, verschwende ich da keine weiteren Formalitäten.

"'Charmion'" sage ich, "spricht man nicht 'Charmion' aus. Sondern 'Charmion'. Das kann man im Schriftdeutsch nicht unterscheiden. Mit den Feinheiten der Xonchensprache werde ich vermutlich noch einigen von Ihnen auf den Nerv fallen. Also. 'Charmion'. Nicht 'Charmion'."

Einge der Anwesenden lachen. Ich nicht.

"Das zum ersten. Zum zweiten: Es ist mir nicht recht, daß das Boot so genannt wurde. Ich wurde nicht gefragt, und ich habe vermutlich auch jetzt keinen Einfluß mehr darauf. Aber ich halte diese Namenswahl für geschmacklos."

Das war alles. Niemand stellt Rückfragen, als ich zu meinem Platz zurückgehe. Grohmann macht ein Pokergesicht.

Ich auch.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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