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5. Carola
An diesem Montag, dem 20. April, untersuchte ich als erstes, kaum in der Firma um eine für mich ungewöhnlich frühe Uhrzeit angekommen, wieder meine Dateien auf nicht durch mich autorisierte Zugriffe. Jetzt hatte ich ja einen Anhaltspunkt, wer das gewesen sein könnte, der da bei uns herumgehackt hat.
Es war aber nichts Auffälliges zu finden - der Eindringling schien endlich eingesehen zu haben, daß da nichts zu finden war, was ihn interessieren könnte.
Kurz dachte ich daran, daß er eventuell ja auch das gefunden haben konnte, was er suchte, und daß er deshalb seine Aktivitäten eingestellt hatte - aber ich hatte keine Idee, was das sein könnte. Also ließ ich diesen Gedanken wieder fallen.
Bevor die Mehrzahl meiner Kollegen erschienen, verließ ich das Labor wieder. Ich wollte Carola an ihrem Arbeitsplatz aufsuchen.
Carola hatte in den alten Zeiten des längst vergangenen Ada-Compiler-Projektes ebenso wie ich an diesem Projekt mitgearbeitet. Mit der unrühmlichen Beendigung dieses Projektes wurden sämtliche Mitarbeiter dieses Projektes auf andere Projekte verteilt, soweit sie es nicht bereits vorgezogen hatten, sich einen ganz anderen Arbeitgeber zu suchen und auf diese Weise mal richtig Geld zu verdienen.
Carola war etwa acht Jahre jünger als ich, mindestens ebenso intelligent und objektiv wahrscheinlich gutaussehend, was man aber praktisch nicht bemerkte - wenn man mit ihr zu tun hatte, hatte man es sofort immer mit der fachkompetenten Kollegin und nicht mit der Frau zu tun. Keine Ahnung, wie sie das machte, und ob da eine unbewußte Absicht war.
Ihre Einstellung zur Informatik war ganz anders als die meine. Während ich mich immer noch nicht der Faszination dieser Maschinen entziehen konnte und an die vielen ästhetischen Dinge dachte, die man mit Computern machen kann, war Carola Programmen und Maschinen gegenüber respektlos, immer bereit, deren Nichtfunktionieren nachzuweisen und so die Inkompetenz der Hersteller zu belegen. Sie hatte mir einmal erzählt, daß sie als Kind technisches Spielzeug, vorwiegend das Spielzeug anderer Kinder, auseinandernahm, um rauszukriegen, wie es funktionierte. Genaugenommen war es genau das, was sie jetzt immer noch tat, um damit ihre Brötchen zu verdienen.
Ihr Disrespekt erstreckte sich nicht nur auf die Technologie, sondern auch auf die Verwalter derselben. Ihre Bemerkungen über die Fähigkeiten unserer Manager waren von erfrischender Deutlichkeit, und sie hielt sich auch nicht besonders zurück - sie war gerade noch vorsichtig und diplomatisch genug, einen Vorgesetzten so mit seiner eigenen fachlichen Inkompetenz zu konfrontieren, daß er es nicht gleich merkte. Anders ausgedrückt - Ihre Bemerkungen waren schon etwas davon abhängig, wer sich in Hörweite befand und wer nicht.
Carola war immer noch unverheiratet. Das wunderte keinen von uns. Die Präsenz eines derartigen Intellektes, der vor wenigen Dingen halt machte, hält privat niemand lange aus. Ich denke auch, daß sie selbst mit der Durchschnittlichkeit eines normalen Mannes sich nicht lange zufrieden geben würde. Für sie gab es einen Charakterfehler, den ein Mann sich nicht leisten durfte, und das war Dummheit. Ich fürchte, daß, nach diesem Kriterium, die meisten Männer für sie völlig uninteressant waren.
Nichtsdestoweniger hatte sie auch ihre Beschränkungen. Von Physik und Technik verstand sie wenig, medizinisch hatte sie kaum mehr als eine rudimentäre Allgemeinbildung. Immerhin wußte sie um diese Begrenzungen.
Sie ist immer kollegial gewesen, auch wenn man sie dreimal hintereinander dasselbe fragte und die Antwort immer noch nicht verstand. Man kann mit ihr alles besprechen - private wie dienstliche Dinge. Ich habe nie nachweisen können, daß sie mich - oder einen anderen Mitarbeiter - jemals angelogen hat oder vorgegeben hat, anders zu denken als sie es tatsächlich tat. Dem widerspricht nicht, daß sie wohl eine Privatsphäre hat, über die wir nichts erfahren, und private Gedanken, die sie niemals zum Ausdruck bringt. Man muß sie erst mehrere Jahre kennen, bevor man indirekte Hinweise darauf bemerkt.
Auch muß man sie genauer kennen, um zu wissen, womit man sie beleidigen kann und womit nicht. Vor Jahren habe ich mir einmal in ihrer Gegenwart erlaubt, darauf hinzuweisen, daß ihr Vorname bei den alten Römern vermutlich nicht nur ein Name, sondern auch eine Berufsbezeichnung war. Erst nach einer Woche war ich sicher, daß sie mir das nicht übelgenommen hat. Oder sie hat es nicht verstanden - ich weiß nicht, ob sie rudimentäre Lateinkenntnisse hat.
So produktiv, wie die Arbeit mit ihr zusammen war, wenn man am selben Problem arbeitete, so schwer erträglich war sie aber auch, wenn sie im selben Raum an etwas anderem arbeitete als man selbst. Sie redete ein bißchen viel. Oder, sagen wir mal, sie dachte gelegentlich laut. Und das ist der Konzentration nicht förderlich, wenn man etwas anderes zu tun hat. Aus diesem Grunde habe ich auch oft genug ihre Anwesenheit verflucht, als wir noch in demselben Raum saßen.
Das ist nun nicht mehr der Fall. Sie sitzt ein paar Räume weiter, und so spielt dieser ernsthafteste Grund des Dissens zwischen uns keine Rolle mehr. Abgesehen davon ist laut zu denken kein Charakterfehler - die Ausstattung des Arbeitsplatzes hat auf solche Dinge Rücksicht zu nehmen. Darin tat sich unser Konzern aber schwer.
Sonstige Gründe für Abneigung zwischen mir und ihr gibt es nicht, und vielleicht aus diesem Grunde ist sie die Mitarbeiterin, mit der ich noch am allerbesten klarkomme. Und daß ist der Grund, warum ich sie als einzige vor zwei Jahren über die wahre Natur meiner mehr als dreimonatigen Abwesendheit ins Vertrauen gezogen habe.
Ob sie mir wirklich je geglaubt hat, weiß ich nicht. Sie müßte wissen, daß auch ich sie noch nie angelogen habe - vielleicht noch weniger als Irene. Warum hätte ich ihr also diese Räuberpistole erzählen sollen? Um mich interessant zu machen? Um sie ins Bett zu kriegen? Nachdem ich das jahrelang nicht einmal ansatzweise versucht habe? Nein, im Prinzip hat sie Verstand genug, zu erkennen, daß ich keinen Grund habe, ihr irgendein Märchen zu erzählen außer dem, einfach mit jemandem zu sprechen, der zuhören und mitdenken kann. Wahrscheinlich hat sie mir geglaubt - und wenn es in der Form war, daß sie mir geglaubt hat, daß ich glaube, bestimmte Dinge erlebt zu haben. Und bis jetzt hat sie - wahrscheinlich - Dritten gegenüber den Mund gehalten.
Und was sie da zu hören bekam, ist phantastisch genug. Ein Kollege, der behauptet, auf einer Bergwanderung mit seiner Frau im Zugspitzgebiet zufällig den Zugang zu einem gewaltigen, der geologischen Fachwelt bis dahin unbekannten Höhlensystem gefunden zu haben, in das er dann abstieg. Ein Höhlensystem, das große Teile von Mitteleuropa untertunnelt, in dem geothermische Vorgänge Wettererscheinungen erzeugen, in der biologische Vorgänge in den Wolken Licht erzeugen, und in dem dieses Licht eine gewaltige, ausgedehnte Biosphäre am Leben erhält, eine Biosphäre, die Pflanzen und Tieren aus allen Erdzeitaltern Lebensraum bietet. Ein Kollege, der behauptet, da unten sogar prähistorische Saurier gesehen zu haben, der behauptet, daß diese Tiere offenbar seit den Erdzeitaltern Trias, Jura und Kreide noch weiter auf der Stufenleiter der Evolution vorangeschritten sind. Ein Kollege, der behauptet, daß da sogar Menschen leben, und der über viele Abenteuer unter diesen zu berichten weiß.
Natürlich kennt Carola die Indentität hinter meinem Pseudonym. Natürlich besitzt sie auch das Buch - ich habe es ihr geschenkt. Sie hat es offenbar auch durchgelesen, weil sie Rückfragen gestellt hat. An diesen Rückfragen habe ich gemerkt, daß sie es immer noch für nicht ganz ausgeschlossen hält, daß dieses Buch nur ein Ausfluß meiner schriftstellerischen Ambitionen sind. Einige Zweifel sind ihr geblieben. Die Realität dieser Geschichte ist für sie ein nichtentscheidbares Problem. Vielleicht ist das auch ganz gut so.
Auf jeden Fall versteht sie sofort meine Lage, als ich ihr - auch sie ist früh zum Dienst gekommen - von Grohmann's Besuch vorgestern erzähle.
Da niemand weiß, daß ich sie ins Vertrauen gezogen habe, sollte sie nicht in Gefahr sein, daß man auch sie heimsucht, um in Erfahrung zu bringen, was sie über mich weiß. Sinnvoll wäre das ohnehin nicht. Sie hat auch keine Erlebnisse, wie ich sie hatte und wie ich sie jetzt mit Grohmanns Besuch in Zusammenhang bringe, gehabt - keine nächtlichen Beobachter bei nächtlichen Waldläufen, keine Zugriffe auf ihre Dateien, kein Besuch von irgendwelchen EG-Beamten.
"Vielleicht ist es unfair von mir," sage ich, "dir darüber etwas zu erzählen. Aber ich habe es ja schon längst getan."
"Warum soll das unfair sein?" fragt sie.
"Du könntest in etwas hereingezogen werden - trotz allem."
"Es weiß doch niemand, was du mir erzählst!"
"So?" Ich zeige nach oben: "Was siehst du da?"
"Nichts. Die Decke!"
"Und dahinter?"
"Irgendwelche Installationen. - Aber die sehe ich nicht mehr!"
"Unter anderem die Lautsprecher der Rundrufanlage. In jedem Raum gibt es die."
"Na und?"
"Jeder Lautsprecher funktioniert auch als Mikrophon, wenn man ihn an den Eingang eines Verstärkers schaltet statt an den Ausgang. Im Prinzip kann man in dieser Firma jeden Raum abhorchen. - Und ob die Mikrophone in den Telefonapparaten korrekt beschaltet sind, wissen wir auch nicht."
"Du solltest Kriminalromane schreiben. - Nein, besser - Agentenstories."
"Geht nicht mehr. Der böse Gorbatschow hat seinerzeit den Markt für Agentenstories ziemlich versaut. Außerdem interessiert mich das weniger."
"Sondern die Welthöhle." Keine Frage. Eine Feststellung.
"Ja."
"Was glaubst du, was jetzt als nächstes passiert?"
"Ich weiß es nicht. Es gibt keinen Zugang zur Welthöhle mehr. Den übers Höllentalplatt nicht - das ist ja schon versucht worden - und den durch's Loch Ness auch nicht. Das ist ja auch technisch noch viel schwieriger."
"Wenn man das Loch Ness nicht auspumpt."
"Warst du schon einmal da? Weißt du, wie groß dieses Loch ist? Weißt du, wieviel Leute da vom Touristik-Business leben? - Das pumpen die nicht aus. Sie würden ein neues ausgraben, wenn ein Erdrutsch das alte verschütten würde. Da kannst du Gift drauf nehmen."
"Was können sie denn sonst noch wollen? Das einzige ist doch, daß sie dich dazu bringen, daß du zugibst, daß die Welthöhle wirklich existiert. Und was haben sie davon, wenn du sie auch nicht hinführen kannst? - Nichts."
Perfekte Analyse. Carola hat es auf den Punkt gebracht. Ich kann die Welthöhle gar nicht mehr verraten, als ich es jetzt schon getan habe.
"Es sei denn," fährt Carola fort, "sie sind aus einem anderen Grunde sicher, einen Eingang bald zu finden. Oder sie haben es schon getan. Und dann bist du nützlich. Du bist nämlich ortskundig."
"Ja, ich weiß. In meinem Kopf sind noch viele Dinge, die ich in dem Roman gar nicht geschrieben und beschrieben habe. Wenn man neunzig Tage lang ein solches Abenteuer erlebt, dann kann man das auch in dreieinhalb Megabytes nicht vollständig aufschreiben. Wenn eine Expedition runtergeht - und das wäre das, worauf alles hinauslaufen könnte - würden sie uns zwingen wollen, mitzugehen."
Andere Mitarbeiter betreten den Raum. Wir können nicht mehr so offen weitersprechen.
"Ich halte dich auf dem Laufenden!" sage ich. Wie üblich verabreden wir uns zum Mittagessen. Dann fällt mir noch etwas ein:
"Hattest du gestern nicht ..."
"Ja, hatte ich." knurrt sie.
"Und war das nicht der ..."
"Nein, der war es nicht! - Erst im nächsten Jahr."
"Achso. Mmh. Trotzdem: Glückwunsch! Wann gibt's denn den Kuchen mit der '39' drauf? Oder mit den 39 Kerzen? - Den darfst du auch selber backen, mein Magen ist ja einiges gewöhnt!"
Ich verlasse den Raum, weil Carola Rhetorik an meiner Person ausprobiert, die sie von mir selbst gelernt hat.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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