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4. Heimsuchung und Literaturdiskussionen

Im Frühjahr 1998 gab es weitere vereinzelte Lauschangriffe auf meine dienstlichen Dateien, aber es gelang mir nie, etwas über den Verursacher zu erfahren. Ich fand nicht heraus, von woher er kam und wer er war. Aber er war gut. Er kannte sich im System aus. Er wußte, wie man seine Spuren verwischt. Wahrscheinlich wäre mir die Sache überhaupt nie aufgefallen, denn wer behält die Dateiattribute der eigenen Dateien schon so genau im Auge? Ich nahm auch an, daß der Eindringling nicht bemerkt hatte, daß ich etwas gemerkt hatte.

Ich hatte allerdings den Eindruck, daß er zwar exklusiv an mir interessiert war, aber daß er bereits wußte, daß auf den dienstlichen Rechnern nicht das zu holen war, was er haben wollte.

Aber was wollte er denn haben?

Dann kam der 17. April. Ein Freitag. Letzteres war für mich eine wichtigere Tatsache als der traurige Tatbestand, daß es sich um meinen 47. Geburtstag handelte. Irgendwann hört man auf, zu feiern, daß die einem verbleibende Zeit immer mehr zusammenschmilzt. Aber ein Wochenende ist immer ein positives Ereignis an sich.

Die Irene war vor mir nach Hause gekommen. Sie erwartete mich oben auf der Treppe, nachdem ich die Haustür abgeschlossen hatte. Ihr Gesichtsausdruck war nicht der Da-kommt-ja-das-Geburtstagskind-Gesichtsausdruck. Stand Ärger ins Haus? Ich war mir keiner Schuld bewußt.

"Da ist jemand, der dich besuchen will!" sagte sie.

"Wo?"

"In der Küche!"

"Du hast ihn reingelassen? Wir hatten doch vereinbart, daß Fremde ..."

"Das ist ein Kommissar oder so etwas." Unsere Stimmen sind gedämpft. "Der kann sich ausweisen!"

"Das kann ich auch." Trotzdem bin ich neugierig.

Als ich die Küche betrete, erhebt sich ein Mann in mittlerem - also meinem - Alter und streckt mir die Hand entgegen. Widerwillig schüttele ich sie - ich mag dieses Austauschen von Hautpilzen nicht.

"Grohmann. Doktor Grohmann. Ich komme vom Innenministerium."

Dieser Grohmann trägt einen Nadelstreifenanzug, was ihn in unserer Küche deplaziert aussehen läßt. Außerdem assoziiert Nadelstreifen Manager, und das weckt sofort meine Abneigung. Ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen.

"Bonn oder Berlin?" frage ich. Es ist im Moment etwas unübersichtlich, wo in unserem Lande welche Behörde und welches Ministerium zu finden ist.

"Brüssel. Herr Playton, wenn ich mich nicht irre?"

"Aha. Was kann ich für Sie tun? Äh - wie haben Sie mich eben genannt?"

Wir setzen uns alle. Auch Irene sieht noch eine Spur beunruhigter drein.

"Playton. Das ist doch ihr Pseudonym, nicht wahr? Josella Playton!"

"Woher wissen Sie das? Ich kann mich nicht erinnern, daß der Verlag befugt ist, dieses nach außen mitzuteilen. Wir haben einen Vertrag ..."

"Den der Verlag nicht gebrochen hat. Wir haben es anders in Erfahrung gebracht. Es gibt viele Leute, die um Ihr Pseudonym wissen."

"So viele sind es nicht," sage ich, "aber es spielt ja auch keine Rolle. Was kann ich für Sie tun, Herr Grohmann?"

Den 'Doktor' lasse ich weg. Ich verwende nie Titel in der Anrede. Wenn ein Gegenüber das übelnimmt, dann handelt es sich nicht um jemanden, mit dem ich länger zu tun haben möchte.

"Das müssen wir jetzt noch herausfinden."

"Ich verstehe nicht."

"Können Sie es sich nicht denken?"

"Nein, ich kann mir nicht denken, was das europäische Innenministerium von mir will."

"Herr Playton. Ich darf Sie doch weiter so nennen, ja? Wir verwenden diesen Namen intern, auch nachdem wir Ihre wahre Identität in Erfahrung gebracht haben. - Wir haben uns so daran gewöhnt."

"Bitte. Mit Vornamen reden wir uns ja nicht an."

"Ja. Also, Herr Playton. Sie haben ein Buch geschrieben. Vor zwei Jahren."

"Dessen Ertrag ordnungsgemäß versteuert wurde. Außerdem - soviel war es nicht!"

"Gewiß, gewiß. Deshalb bin ich nicht hier - ich bin nicht vom Finanzamt. Sie haben dieses Buch geschrieben: 'Welthöhle - Die Granitbeißerinnen'"

"Ja. Nach ihrer Vorarbeit könnte ich es kaum noch leugnen. Aber was interessiert es Sie?"

"Wir haben es sorgfältig gelesen."

"Oh. Schön! Ein Leser! Kommt jetzt Literaturkritik?"

"Wenn Sie so wollen."

"Aha. Und wie sieht die aus?"

"Es ist zu realistisch."

"Naja. Das ist doch Absicht. Abenteuergeschichten sind sehr schwer zu verkaufen. Wer liest denn noch, heutzutage? Ich mußte etwas schreiben, das im Prinzip wahr sein könnte."

"Das wahr war." Lange Pause. Grohmann sieht mich lauernd an. "Nicht?"

Schweigen. Irene sieht von einem zum anderen. Hat sie schon etwas gesagt?

"Das wahr sein könnte." wiederhole ich, "Lesen Sie ein Geologiebuch."

"Haben wir."

"Ein Buch über Paläobiologie."

"Paläontologie. Haben wir auch."

"Na also."

"Wir haben viel nachgedacht."

"Ich auch. Ich mußte das Buch so hinkriegen, daß bescheidenere Geister tatsächlich glauben könnten, daß es sich um die Beschreibung wahrer Begebenheiten handeln könnte."

Zu spät fällt mir ein, daß diese Formulierung als Beleidigung aufgefaßt werden könnte. Aber Grohmann läßt sich nichts anmerken.

"Und wo waren Sie Ende 1995? Drei Monate lang?"

"Das haben wir unseren Arbeitgebern lang und breit erklären müssen. Und der Polizei. Und allen unseren Bekannten. Ich hatte eine Krise. Hatte die Schnauze voll. Wollte aussteigen - wie man das so nennt. Wollte irgendwo in Schottland zurückgezogen leben, den Rest meiner Tage vielleicht. In irgendeinem Cottage. Die Irene - meine Frau - ist hinterhergereist und hat auf mich eingeredet. Wochenlang. Bis ich wieder soweit war, meine zivile Existenz weiterzuführen. - Ich reduzierte dann meine Arbeitszeit und schrieb etwas. Unter anderem dieses Buch."

"Sehr schöne Cover-Up Story."

"Wieso? Was ist daran so unglaubwürdig?"

"Noch nichts. Aber das Buch ist zu gut."

"Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für falsche Komplimente. Was wollen Sie wirklich?"

"Das Buch läßt erkennen, daß es keine Fiktion ist."

"Wieso denn?"

"Wir haben es lange analysiert. Konsistenzchecks, zum Beispiel. Jede Beschreibung fiktionaler Ereignisse enthält Fehler, die den meisten Lesern nicht auffallen. Ihr Buch enthält auch Fehler, aber die sind von einer anderen Art. Das sind eher die Fehler, die man aus Gründen einer ungenauen Erinnerung macht."

"Das wollen Sie festgestellt haben?"

"Ja. - Es gibt Expertensysteme, die für so etwas spezialisiert sind. Sie analysieren und extrahieren etwas, was man sich am ehesten als Spektrum von Fehlern, Inkonsistenzen und Ungenauigkeiten vorstellen kann. Damit kriegt man raus, welcher Text tatsächliche Dinge beschreibt und welcher nicht."

"Spricht doch für mich als Autor, wenn ich das so realistisch hingekriegt habe, ja?"

"Vielleicht. Nur - diese Systeme kann man nicht täuschen. Schon gar nicht bei einem Text dieser Länge. Ein Autor, der das als fiktiven Text geschrieben hat, ist ein Genie. Es sei denn, diese Dinge sind wirklich passiert. Dann ist er Durchschnitt. - Oder die Autorin. Ähem."

Ich hole tief Luft.

"Na gut. Dann gehen Sie doch auf die Zugspitze, durch's Höllental. Suchen Sie das Höllentalplatt ab, mit hundert Mann! Wenn die Geschichte wahr wäre, dann müßten Sie den Eingang finden! Suchen Sie doch!"

"Haben wir schon."

"Und?" Einen Moment atemlose Spannung. Ich halte die Luft an. Haben sie es etwa tatsächlich gefunden?

"Nichts."

Erleichterung. "Na, sehen Sie. Kein Eingang zur Welthöhle. Keine Welthöhle. Kein Tatsachenbericht. Es ist ein Roman."

"Sie deuteten in ihrem Roman an, daß Sie verschiedene Dinge gezielt verfälschen würden, um den Kontakt zwischen dieser Zivilisation und den Granitbeißern zu verhindern. Der Eingang kann also auch ganz woanders sein."

"Na klar," sage ich, "Die Alpen haben eine Ost-West-Ausdehnung von ..."

Grohmann holt eine Photographie aus seiner Brieftasche heraus.

"Das wurde am 19. August 1995 aufgenommen!" sagt er.

Ich betrachte mir die Photografie und gebe sie dann Irene. Es ist ein Schnapschuß. Jemand hat seine Freundin aufgenommen - ich kenne die Dame nicht. Aber der Hintergrund läßt erkennen, wo diese Aufnahme aufgenommen wurde: Vor der Hütte am Eingang zur Höllentalklamm. Und im Hintergrund klar zu erkennen sitzen Irene und ich auf einer Holzbank vor der Hütte. Das Ganze findet auf der schmalen, schwindelerregenden Terasse der Höllentalklammhütte statt. Dort haben wir seinerzeit tatsächlich Pause gemacht, wie ich mich erinnere.

"Es ist ein großer Zufall," sagt Grohmann, "ein sehr großer Zufall, den man als Autor in einem Roman nicht konstruieren würde. Ein Schwager von mir hat in Garmisch 1995 Urlaub gemacht. Am 19. August ist er auch durch's Höllental rauf."

"Hat er's geschafft? Diese Dame sieht nicht sehr durchtrainiert aus."

"Natürlich nicht. Es gab einen Wettersturz, erinnern Sie sich nicht? Gleich hinterm Brett sind sie umgekehrt. Im Gegensatz zu Ihnen. - Mein Schwager ist übrigens Photoamateur. Und SF-Romane liest er auch. - Zufälle gibt's, gell?"

"Hmh." sage ich, "Na und? An diesem 19. August haben wir einen Ausflug auf die Zugspitze gemacht. Da ist mir ja die Idee mit dem Roman gekommen - oder sagen wir mal, ein früher Anstoß dazu."

"Wo Sie doch dann gleich nach Schottland reisten, um 'auszusteigen'? - Sie sind am 19. August nicht wieder zurückgekommen, das steht fest! Und da wollen Sie solche Pläne gemacht haben?"

Ich hole Luft. Die Existenz eines Beweises, daß wir am 19. August 1995 uns tatsächlich ins Höllental aufgemacht haben, war mir unbekannt. Jetzt wird die Cover-Up-Story komplizierter. Und es sieht nicht so aus, als ob Grohmann sich durch eine neue Cover-Up-Story - oder die alte mit mehr Details - abspeisen lassen würde.

"Also nur mal angenommen," sage ich, "nur mal angenommen, daß wir an jenem Tage tatsächlich in diese Ereignisse hineingestolpert sind. Was dann? Was interessiert Sie das? Was interessiert sich das europäische Innenministerium dafür?"

"Wasser." sagt Grohmann, "Luft. Bodenschätze. Energie. Platz. Forschung. Lebensraum für Millionen. Handel. Wirtschaftliche Entwicklung."

Das alte, leidige Thema. Ist er naiv, oder tut er nur so? Oder ist die offizielle Haltung seiner Behörde so naiv? Wie oft habe ich gegen diesen Blödsinn schon argumentiert!

"Müll." sage ich, "Deponieraum. Kolonisierung. Ausbeutung. Zerstörung. Verschmutzung. Ausrottung. - Alles Scheiße!"

"Herwig!" dämpft Irene.

"Wir wissen, daß Sie so denken." fährt Grohmann fort, "Sie haben es deutlich genug geschrieben. Aber wir haben keine Wahl. Bei der gegenwärtigen ökonomischen Situation der Europäischen Gemeinschaft müssen wir einfach alle Resourcen, deren wir habhaft werden können, nutzen."

"Müssen wir das? Europa ist die reichste Region der Erde - immer noch!"

"Bedenken Sie unsere Zuströme! Die Millionen aus dem Osten und der dritten Welt! Die Verantwortung, die wir als wirtschaftsstärkste Region dem Rest der Erde gegenüber haben!"

"Das ist doch alles nur wieder die alte Wachstumsideologie!"

"Wachstum ist zur wirtschaftlichen Entwicklung notwendig! Stillstand ist Rückschritt!"

"Quatsch! Das sind doch Phrasen, und Sie wissen es! Ich habe es schon hundertmal gesagt: Es gibt sowas wie qualitatives Wachstum, und es gibt das relative Wirtschaftswachstum: Gleichbleibende wirtschaftliche Aktivität bei immer weniger Menschen. Eindämmung der Bevölkerungsexplosion! Das gibt Wohlstand für alle! Für die ganze Welt. Aber was sie wollen ist doch nur, sich noch ein kleines, neues Stück Resourcen zu greifen. Begreifen Sie das denn nicht? Die Welthöhle - ich meine, wenn es sie gäbe - ist zwar immens groß, aber sie ist ein viel kleineres Ökosystem als die Erdoberfläche! Bei dem derzeitigen weltweiten Bevölkerungswachstum würde sie nur für ein paar Jahre verhindern, daß Resourcen und Platz abnehmen. Dann sind wir aber genau da, wo wir jetzt sind. Und die Welthöhle wäre in ihrer Einmaligkeit für immer dahin!"

"Und Sie maßen sich an, diese Meinung stellvertretend für alle festzuschreiben und selbstherrlich zu entscheiden, ob die Menschheit Zugriff auf diese Resourcen bekommt oder nicht?"

Grohmann's Ton ist auch schärfer geworden.

"Das maße ich mir allerdings an. Ich maße mir an, zwei und zwei zusammenzuzählen und dabei vier herauszubekommen!"

"Wissen Sie, wieviele Menschen weltweit jedes Jahr an Hunger sterben?"

"Wissen Sie, wieviel noch sterben werden, wenn das weltweite Bevölkerungswachstum nicht zum Stillstand gebracht wird? Die Welthöhle nützt da nichts! Außerdem - nur die reichen Länder haben die Mittel, sie auszubeuten. Die dritte Welt hat nichts davon. Die fahren fort, zu verhungern!"

"Profitieren dann nicht ihrer Meinung die richtigen davon? In unseren Ländern haben wir kein Bevölkerungswachstum!"

"Ausgenommen durch Zuwanderung. Was kein wesentlicher Unterschied ist. Und dann: Was glauben sie, was ein kleines Kind, das in der Sahelzone gleich von der Mutterbrust weg verhungert, an Resourcen verbraucht, wenn wir es mal mit einem Kind in Europa vergleichen?"

Grohmann will etwas sagen, aber ich erzwinge mir das Wort durch Lautstärke. In unserer Wohnung teile ich das Wort zu.

"Wollen wir mal einen Vergleich machen? Wissen Sie, daß ein Bürger dieses Landes von der Wiege bis zur Bahre drei Millionen Kilowattstunden an Primärenergie verbraucht? Drei Millionen Kilowattstunden, das ist ein Sechstel der Energie, die eine Bombe vom Hiroshima-Typ freisetzt!"

"Es gibt kaum noch Nuklearwaffen!" wendet Grohmann ein.

"Darum geht es nicht! Was ich sagen will ist, daß die friedliche Nutzung der Resourcen immens mehr verschlingt als ein Krieg mit starkem Bevölkerungsverlust! Soweit haben wir es gebracht! Zählen Sie doch zusammen, was ein einzelner Bürger im Laufe seines Lebens verbraucht und an Dreck erzeugt ..."

"Es gibt Recyclingkonzepte ..."

"Jajajaja! Die gibt es. Aber die lösen das fundamentale Problem nicht! Vielleicht kann man erreichen, daß ein Bürger dieses Landes im Laufe seines Lebens nur noch eine Millionen Kilowattstunden verbraucht, oder dreihunderttausend. Aber irgendwann werden intelligente Nutzungsmethoden der Resourcen zu teuer. Können Sie ein Haus mit hundert Watt heizen? Wollen sie dem Bürger auferlegen, seinen Müll in dreißig verschiedene Kategorien zu unterteilen? Und wenn, wo wollen Sie den Platz dafür hernehmen, wo die durchschnittliche Wohnungsgröße seit Jahren wieder rückläufig ist? - Oder nehmen Sie die Beleuchtungstechnik! Die Energiesparlampen, die man seit zehn Jahren verwendet! Fünfmal soviel Licht für denselben Strom wie eine Glühlampe. Nochmal der Faktor fünf geht nicht. Es verstößt gegen die physikalischen Gesetze. - Oder, nehmen Sie zum Beispiel ..."

"Sie sind zu pessimistisch ..."

"Bin ich nicht. Überhaupt nicht. Das Problem wird sich irgendwann von selbst lösen. So oder so. Der große Atomkrieg ist unwahrscheinlich geworden, aber da sind ja noch diese vielversprechende Seuchen. Die klassische Cholera hat den ganzen südamerikanischen Kontinent im Griff, AIDS ist gerade dabei, Afrika und den Mittleren Osten auszurotten, und in den USA und in Europa zeigt es auch schon Wirkung. Vielleicht hilft uns das. Vielleicht. Sonst ist der ganze Planet in einigen Jahrzehnten eine weltweite Müllhalde, auf der 20 Milliarden Menschen nach etwas Eßbarem suchen, wenn sie gerade nicht mit irgend einem schmutzigen Bürgerkrieg beschäftigt sind. - Und der alte Mann in Rom redet immer noch von der Würde des Menschen und seiner göttlichen Bestimmung."

"Das ist doch alles übertrieben. Uns geht es doch gut, das müssen Sie zugeben. Oder wollen Sie das ändern?"

"Nein, das will ich nicht! Hören Sie, ich habe eine Vision. Wohlstand für alle, weltweit! Das geht! Saubere Umwelt für alle, weltweit, das geht! Aber nicht mit so vielen Milliarden Menschen. - Ich weiß nicht mit wievielen - vielleicht 130 Millionen, vielleicht eine halbe Milliarde."

"In Europa?"

"Auf der ganzen Welt! - Ehrlich, ich weiß es nicht."

Ich hole Luft, um weiter fortzufahren. Wie oft habe ich diese Argumente schon vorgebracht?

"Ich weiß es nicht. Es ist eine Zahlenmystik. Wieviele Menschen sollten es sein, die auf der ganzen Erde leben dürfen? Oder in jedem Land? Eine Zahl von höchster politischer Brisanz! Wer soll es festlegen? Wer erzwingt es? Das muß doch einmal geklärt werden! - Aber niemand interessiert sich dafür. Nicht einmal Greenpeace, oder die Grünen, als es sie noch gegeben hat. Um dieses Problem zu lösen, gibt es noch nicht einmal vernünftige ethische Axiomsysteme! - Ein Bier?"

Während ich im Eisschrank herumsuche, rede ich weiter. Grohmann macht die ganze Zeit den Eindruck, als ob er mich nur aus Höflichkeit reden läßt und nicht wirklich zuhört.

"Ich habe mal einen Roman geschrieben, in dem ich ein Konzept vorgestellt hatte, das funktionieren könnte: Jedes Land nimmt die Hälfte seines Territoriums aus jeglicher Nutzung heraus. Keine Industrie, keine Verkehrswege, keine Landwirtschaft, keine Forstwirtschaft, keine Deponien. Kein gar nichts. Sich selbst überlassener Urwald. Wenn es für dieses Land dann zu teuer wird, diese Ökoreserven nicht zu nutzen, dann ist das ein untrügliches Kriterium dafür, daß sie eine zu hohe Bevölkerungsdichte erreicht haben. Dann müssen sie politisch gegensteuern: Absenken der Kindergelder und so weiter. Da gibt es Möglichkeiten. - Und sehen Sie: Das ist die Welthöhle: Eine Ökoreserve! Sie sind hier, um mir klarzumachen, daß diese Ökoreserve genutzt werden soll. Weil es angeblich zu teuer ist, sie nicht zu nutzen. Das ist das Kriterium! Das beweist die Notwendigkeit, die Bevölkerungsdichte zu senken! Das ist der wirkliche Nutzen der Welthöhle!"

Grohmann nickt: "Wo es sie doch gar nicht gibt!"

Ich bin nur einen Moment sprachlos. "Wenn man sie nicht nutzen darf, dann ist es genaugenommen egal, ob es sie gibt oder nicht!"

Und ich werde eindringlicher, wie immer bei diesem Thema: "Zu hohe Bevölkerungsdichte wird selten direkt wahrgenommen. Das weitestgehende, was viele Menschen, denen die Knappheit bestimmter Resourcen auffällt, sich erlauben, ist eine Fremdenfeindlichkeit. Als ob es nur die anderen wären, von denen es zu viele gibt. Nein nein, alle demographischen Gruppen müssen abspecken. Müßten. Aber sie werden es nicht. Und jetzt soll von der Welthöhle die ökologische Entspannung kommen. So ein Unfug!"

Plötzlich schwenkt Grohmann auf meine eigene Argumentation ein: "Ich habe alles gelesen, was Sie geschrieben haben. Ich kenne dieses Konzept schon. Sie haben eines vergessen: Die stabilisierende Wirkung der Ökoreserven auf das Gesamtökosystem. Oder irre ich mich? Und das ist doch bei der Welthöhle gar nicht der Fall, weil jene Biosphäre von der unseren getrennt ist!"

"Natürlich" sage ich, "ist die Welthöhle von der Erdoberfläche abgeschottet. Diese spezielle Wirkung einer Ökoreserve gibt es nicht. Jedenfalls nicht unmittelbar. Aber wenn Sie alles gelesen haben, was ich geschrieben habe, dann wissen Sie auch, daß die Möglichkeit besteht, daß die Welthöhle ab und zu genetisches Material mit der Erdoberfläche austauscht."

"Wenn es sie gäbe!" wirft Grohmann ein.

"Wenn es sie gäbe. Ganz richtig. Also. Wechselwirkung der Genpools. Vielleicht. Wir wissen es nicht. Es kann sein, es muß nicht sein. Erinnern Sie sich, daß ich die Möglichkeit erwähnte, daß nach gewissen, weltumspannenden Katastrophen von der Welthöhle aus das Leben die Erdoberfläche eventuell zurückeroberte? Daß es eventuell so sein könnte, daß es gar nicht möglich ist, daß sich das Leben auf einem Planeten über Jahrmilliarden ungestört entwickeln kann? Daß für das Erreichen eines gewissen Entwicklungsstandes des Lebens auf einem Planeten eventuell so etwas wie eine Welthöhle unbedingt erforderlich ist? Auf jedem Planeten im Universum? Weil diese weltumspannenden Katastrophen häufiger eintreten als wir das bisher glauben? - Stellen Sie sich vor, der Shoemaker-Levy-9 wäre vor dreieinhalb Jahren nicht auf den Jupiter, sondern auf die Erde geknallt! Dann wäre genau jetzt die Welthöhle ein Refugium des Lebens. Das würde meinen Standpunkt deutlich demonstrieren."

"Wenn wir bei dem Beispiel bleiben - solche Katastrophen sollten doch auch recht häufig die Integrität der Welthöhle schädigen - sie vielleicht lokal einstürzen lassen, oder?"

"Kann sein. Weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wie und wie häufig sich Welthöhlen bilden, wie viele es überhaupt gibt, und wie stabil sie sind. - Vielleicht bilden sie sich ganz routinemäßig, in Subduktionszonen, durch Plattentektonik, durch eine besondere Art von Vulkanismus, was weiß ich."

"Hatten Sie das schon in den 'Granitbeißerinnen' geschrieben? Ich erinnere mich nicht ..."

"Vielleicht nicht genau so. Ich habe ja nicht aufgehört, nachzudenken, seitdem ich dieses Buch verfaßte. Aber wie auch die Welthöhle entstanden ist - daß sie für das Leben wichtig ist, ist eine prinzipielle Möglichkeit, das müssen Sie zugeben! Herr Grohmann! Die Welthöhle ist zu wertvoll, um sie für kurzfristige Zwecke zu nutzen!"

Grohmann nickt: "Wollen Sie jetzt immer noch behaupten, daß es sie nicht gibt?"

"Vielleicht habe ich über dieses rein literarische Konzept sehr genau nachgedacht!"

"Wollen wir vielleicht etwas essen?" unterbricht Irene und beginnt schon, den Inhalt des Eisschrankes zu durchwühlen, "Ich jedenfalls habe Hunger. Und wenn ihr noch weiter reden wollt ..."

"Vielleicht geht Herr Grohmann bald ..." sage ich ganz undiplomatisch.

"Sie könnten tatsächlich darauf bestehen. Aber ich käme wieder. Mit einer amtlichen Vorladung."

"Was?"

"Oder so etwas Ähnliches. - Herr Homberg. Oder Herr Playton. Wie Sie wollen. - Was Sie sagen ist ja vielleicht ganz schön und richtig. Aber es ist auch sehr hypothetisch. Ökoreserve, Genpool. Naja, vielleicht. Aber unsere wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben wir heute schon, und die sind alles andere als hypothetisch. Sie wissen so gut wie ich, bei welcher immensen Aufbauarbeit die EG zwischen hier und Kamtschatka assistieren muß. Sie wissen so gut wie ich, daß selbst so etwas wie klares Trinkwasser im globalen Durchschnitt eine Mangelware ist. Und Sie wissen auch, welch ökologisch gut verträgliche Anwendungen die Welthöhle ermöglichen würde. Denken Sie nur an das Wasser da unten. Fast Körpertemperatur. Ideal für das umweltfreundliche Heizen! Umweltfreundlichkeit liegt ihnen doch am Herzen, wenn ich Sie richtig verstehe, oder?"

"Wollen Sie Heizwasser für hundert Millionen Menschen aus der Welthöhle abpumpen? - Immer mal angenommen, es gibt sie wirklich, haben Sie dann an die technischen Probleme gedacht, dieses Wasser über mehr als zehn Kilometer heben zu müssen?"

"Mit der potentiellen Energie des abgekühlten Heizwassers, das wieder nach unten gebracht werden kann. Sollten Sie als Physiker eigentlich drauf gekommen sein!"

"Aha. Die Welthöhle kühlen. Mit Hunderten und Tausenden von Megawatt. Bis sich das Wettermuster da unten ändert. Vielleicht hört die Leuchtende Wolkenschicht auf, zu existieren. Wissen Sie, was es für die Welthöhle bedeuten würde, wenn diese Lichtquelle erlischt? Die Welthöhle lebt von einem Wärmestrom von nur etwa einem Watt pro Quadratmeter! Mehr nicht! Sie machen die Ökosphäre kaputt, wenn Sie da solche Energiemengen entnehmen wollen!"

"Vielleicht, vielleicht. Das wissen wir doch nicht! Wenn etwas passiert, würde man gegensteuern."

"Gegensteuern. Als ob man alles in der Hand hätte. - Herr Grohmann, wenn Sie meinen, jedes komplexe System so gut in den Griff zu kriegen, warum ist dann die EG überhaupt in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die angeblich die Nutzung der Welthöhle erforderlich machen?"

"Das kann man doch überhaupt nicht vergleichen!"

"Ich kann es! Beides sind komplexe Systeme ..."

"Die Nutzung der Welthöhle würde Milliarden erwirtschaften ..."

"Sie haben meine Frage nicht beantwortet!"

"Die Nutzung der Welthöhle würde Milliarden erwirtschaften, und darauf können wir nicht verzichten. Millionen Arbeitsplätze. Umweltschutz ..."

"Nein, eben nicht!"

"Umweltschutz. Kampf gegen den Hunger in der Welt ..."

"Der sowieso verloren werden wird!"

"Wir haben einfach die moralische Verpflichtung."

"Wer ist 'wir'?"

"Wir alle. Ich. Sie."

"Nein. Ich nicht. Ich habe keine moralische Verpflichtung, das falsche zu tun. Keine Verpflichtung, das Saatgut aufzuessen und damit die Ernte zu riskieren. Was gucken Sie? Ist dieses Bild nicht deutlich genug? Die Welthöhle kann eine immense Bedeutung für uns haben, wenn man sie in Ruhe läßt, und nur dann. Punkt."

Schweigen. Atempause. Irene wartet immer noch auf eine Entscheidung wegen des Essens.

"Herr Grohmann," sage ich, "Ich weiß immer noch nicht genau, mit welchem Recht Sie hier auftreten. Aber das ist auch egal. Ich behaupte weiter, daß es die Welthöhle nicht gibt. Das müssen Sie mir bis zum Beweis des Gegenteils schon abkaufen. Und wenn Sie mir mit irgendwelchen behördlichen Maßnahmen drohen - noch sind wir ein Rechtsstaat!"

"Im Gegensatz zu Ihren Granitbeißerinnen ..."

"Noch sind wir ein Rechtsstaat! Sie können mich zu überhaupt nichts zwingen! Ich zeige Ihnen jedenfalls nicht, wo die Welthöhle ist, weil sie nämlich entweder gar nicht existiert - das ist auch weiterhin meine Behauptung - oder weil ich aus genau dem gleichen Grunde, der es Ihnen bisher verwehrt hat, den Eingang zu finden, diesen auch nicht finden würde."

"Klingt logisch."

"Es ist logisch. Ich muß Sie nun bitten, zu gehen. Ich möchte nicht mehr über die Welthöhle diskutieren. Es gibt sie nicht. Haben Sie das verstanden? Es gibt sie nicht."

Grohmann steht auf. Also bleibt er nicht zum Essen. Wie schön.

"Ich finde den Weg hinaus." sagt er, als er zur Tür geht.

"Sicher," sage ich, "Aber ich muß mitkommen, weil ich unten abgeschlossen habe."

Ohne ein Wort gehen wir die Stiege hinunter. Irene bleibt oben.

Als Grohmann auf den Hof tritt, wendet er sich noch einmal an mich:

"Sie hören noch von uns. Übrigens - erinnern Sie sich an den Similaun-Mann?"

"Diese Tiroler Gletscherleiche, die sie vor einigen Jahren gefunden haben?"

"1991. Ja. Es ist noch eine gefunden worden. Eine Frau. Aber keine 6000 Jahre alt. Nur etwa zwei."

"Das passiert doch öfter, denke ich. Eine Touristin?"

"Vielleicht." Grohmann fummelt etwas aus seiner Tasche. "Das hat sie getragen. Keine Angst, wir haben es gründlich gesäubert. Ich denke, es gehört Ihnen. - Guten Abend!"

Er entfernt sich schnell. Ich warte nicht ab, ob er zu einem bereitstehenden PKW geht oder ob er in Richtung S-Bahnhof marschiert. Ich schließe ab und gehe nach oben.

"Was hast du denn da?" fragt Irene und sieht auf das Stück Tuch in meiner Hand.

Ich entfalte es. "Hat der mir gegeben. Sie haben es bei einer weiblichen Gletscherleiche gefunden. Sagt er."

Bei dem Wort 'Gletscherleiche' überfliegt ein Ausdruck des Ekels Irene's Gesicht, so wie über meines wahrscheinlich auch, erst wenige Sekunden früher. Aber das Textil in meiner Hand ist tatsächlich makellos sauber.

Es ist ein weißes T-Shirt. Auf der Vorderseite ist ein Bild. Die Münchner Olympiahalle. Der Fernsehturm. 'München' steht oben, und unten vier Zeilen:


        3. Internationaler Olympia City Marathon
                28. April 1985
        4. Internationaler Olympia City Marathon
                 4. Mai 1986

Einen Moment sagen wir gar nichts. Beide denken das gleiche.

Chreich.

"Die sind damals zu Tausenden verkauft worden!" sage ich, "Hat damals eins gefehlt, als - sie - weggegangen ist?"

"Ich weiß nicht," sagt Irene, "Du hattest doch so viele davon. Wir hatten doch einen ganzen Schwung gekauft, als Trainings-T-Shirts!"

"Ja. Hatten wir."

Eine wenig beruhigende Aussage. Grohmann kann sich das ja nicht ausgedacht haben. Niemand weiß, daß wir von diesen T-Shirts eine ganze Reihe haben.

Und wenn ein solches T-Shirt bei einer Gletscherleiche gefunden wurde, dann sagt das ja eigentlich noch gar nichts. Wenn sie es aber mit uns in Verbindung bringen, dann kann das nur eins bedeuten:

"Sie haben eine Autopsie gemacht." sage ich.

"Unterscheiden sich denn die Granitbeißerinnen so von uns?" fragt Irene, "Du hattest doch ..."

"Ja doch. Hatte ich." Ich werde nicht gerne an meine Erfahrungen als Kannibale erinnert. "Ich konnte nichts auffälliges feststellen. Aber ich bin kein Mediziner. - Denk an die höhere Körpertemperatur der Granitbeißerinnen. Nein, nein, wenn sie sie gefunden und untersucht haben, dann wissen sie, daß der Roman auf Tatsachen beruht. Und dann lassen sie nicht mehr locker."

"Aber - eine Gletscherleiche - Im Höllental sind doch kaum nennenswerte Gletscher!"

"Ein bißchen schon. Und ein paar Gletscherspalten auch. Zum Reinfallen, Genickbrechen oder Erfrieren reicht es. Und um nach zwei Jahren wieder zum Vorschein zu kommen, auch. - Vielleicht haben sie sie auch zuerst gefunden und sind erst deshalb auf die Idee gekommen, daß der Roman auf Tatsachen beruht."

"Aber der Höllentalferner ist doch viel höher am Berg!"

"Sie kann sich restlos verirrt haben."

"Hat er gesagt, wo sie gefunden worden ist?"

"Nein. Nicht einmal, ob es überhaupt im Höllental war. Sie kann sogar einen falschen Berg bestiegen haben. Im Prinzip wenigstens. Glaube ich aber nicht, weil es soviel gletschertragende Berge in den Bayerischen Alpen nicht gibt. - Ist ja auch egal."

Den Rest des Abends sitzen wir ziemlich schweigend beim Abendbrot. "Arme Chreich," sagt Irene einmal.

Und ich erinnere mich, wieviele Menschen da unten mittelbar durch unsere Anwesenheit in der Welthöhle zu Tode gekommen sind. Arme Chreich. - Arme Charmion.

Ich habe das dumpfe Gefühl, daß wir von Grohmann tatsächlich noch hören werden.

Daß ich an jenem Abend eigentlich Geburtstag hatte, fiel uns erst drei Tage später am Montag wieder ein.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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