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******** 090. Tag: Donnerstag 95-11-16 ********
90.1 Morgenstimmung
Um etwa 8 Uhr wache ich auf. Die Luft im Zimmer ist schwül und feucht, wahrscheinlich von der aus unseren Klamotten verdampften Feuchtigkeit. Und der Heizlüfter ist fast ununterbrochen gelaufen.
Chreich ist aufgestanden. Es ist schon hell geworden. Sehr hell. Viel heller, als es in der Welthöhle jemals sein könnte. Chreich steht am Fenster, hat die Vorhänge zurückgezogen, ohne sie zu zerreißen, und schaut gebannt hinaus. Ich stehe auch auf, weil es mir im Bett zu warm ist, und stelle mich neben sie.
Über die nahen Bäume hinweg und durch sie hindurch sieht man stellenweise die reglose Oberfläche des Loch Ness. Da liegen noch Nebelbänke. Manche Nebelfetzen fliegen hoch und verdecken an einigen Stellen die Sicht auf die Berge an der anderen Seite des Sees. Der Himmel ist bewegt, durchbrochen, und das Blau schimmert an vielen Stellen durch. Eine ungewohnte Farbe für den Himmel!
Drüben, auf den Bergen jedoch, liegen große, sonnige Flecken. Die noch tiefstehende Sonne können wir wegen der Berge in unserem Rücken noch nicht sehen, aber es ist hell - unglaublich hell, dieses Licht, diese Sonnenflecken - und das im November in Schottland!
Jede Minute wird die Sonne höher steigen. Wir werden sie noch sehen. Wie immer in Schottland - wenn du trocken bist, dann sei gewiß, du wirst an demselben Tag noch naßregnen, und wenn du naß bist, dann wirst du noch die Sonne sehen. Auch an demselben Tage. Das sind Wetterregeln, auf die man sich in Schottland verlassen kann. Außer man verläßt sich drauf, dann kann es auch schon mal anders kommen. Sicher ist nur, das Wetter geschieht, und 'Wetter' ist ein wasserhaltiges Wort. In Schottland. 'Wetter' ist hier der Oberbegriff von Wasser in all seinen Erscheinungsformen.
Aber jetzt und heute haben wir Sonne. Als ob die Sonne die neue Mitbürgerin begrüßen möchte. Chreich. Nicht Charmion. Diesen Augenblick, den hätte ich mir gewünscht. Charmion den ersten Sonnenaufgang zeigen. Nun ist es Chreich. Und Irene schläft noch.
"Das ist - das ist eure Welt?" fragt Chreich.
"Ja. Das ist sie."
"Ich konnte es mir nicht vorstellen. - Dieses Feuer ..."
"Es ist kein Feuer. Es ist die Sonne. Sie ist noch hinter den Bergen!"
"Ist es immer so hell?"
"Oft. In manchen Ländern dauernd. Du wirst es noch kennenlernen."
Auf eine Nebelschicht über dem See fällt Licht. Fast scheint sie zu glühen. Sie nimmt uns die Sicht auf die Straße zwischen Inverness und Fort Augustus auf der anderen Seite des Sees. Noch hat Chreich nicht gesehen, was eine verstopfte Straße ist. Noch sieht sie nur den ersten Sonnenaufgang ihres Lebens. In einem Film würde man jetzt Eduard Grieg's 'Morgenstimmung' als Hintergrundmusik spielen.
"Glaube nicht, daß unsere Welt überall so schön ist. Das wirst du noch schnell lernen."
"Wie kann eine so helle Welt anders sein als freundlich und schön?"
"Für dich zum Beispiel ist sie doch zu kalt!"
"Nein!"
"Dann lüften wir mal! Hier ist nämlich ein ordentlicher Mief, in diesem Zimmer!"
Der kalten Dusche aus dem aufgerissenen Fenster, der Chreich erschauernd zurücktreten läßt, lasse ich eine zweite folgen:
"Chreich, heute lernen wir uns waschen!"
"Was?"
"Körperhygiene!"
"Müßt ihr morgens so laut sein?" raunzt Irene aus unserem Bett heraus.
Auch für Irene ist das Ende der Nacht gekommen. Wir haben viel zu tun. Verdammt viel.
Aufstehen. Bed & Breakfast. Bett hatten wir, jetzt gibt es das Frühstück. Das übliche, englische Frühstück: Toast, bacon, and eggs. Für Chreich Unterricht im Umgang mit Messer und Gabel, gleich nach dem Unterricht im Umgang mit Wasser und Seife. Die Notwendigkeit von beidem sieht sie nicht unbedingt ein.
Es ist viel zuwenig für sie auf dem Frühstückstisch - eine Granitbeißerin braucht viel Kalorien, um unter den Bedingungen auf der Erdoberfläche ihre hohe Körpertemperatur zu halten.
Kaffee - wie oft habe ich da unten an Kaffee gedacht! Chreich macht über dieses ihr unbekannte Getränk eine Bemerkung, die die Landlady glücklicherweise nicht versteht, weil Chreich natürlich Xonchen spricht. Aber der Tonfall war wohl deutlich, und ich muß das schnell wieder relativieren.
90.2 Inverness walks
Programm für heute: Anrufe bei den Eltern, Arbeitgebern und unseren Kreditinstituten. Festlegung der Heimfahrt. Morgen soll es sein. Heute fahren wir nach Inverness. Die getrockneten Euroschecks zu Geld machen, Pullover und ein paar andere Dinge für Chreich kaufen. Dann: fahren wir oder fliegen wir? Die Reise wird auf jeden Fall einige Tage dauern. Wir entscheiden uns für das Fliegen, weil es gelingt, meine und Irene's Euroschecks problemlos einzutauschen. Dann reicht das Geld bis zu Hause.
Wir haben nicht viel Zeit, uns in Inverness umzusehen. Chreich reißt überall die Augen auf. Alles ist für sie neu: Die vielen Menschen, die Autos, die Gebäude, die Schaufenster mit den vielen Dingen, die sie zum größten Teil nicht kennt, der Mann in schottischem Kilt, der vor der Burg von Inverness auf dem Dudelsack spielt.
Normalerweise gehen Dudelsackspieler auf und ab, und die Fama behauptet, das habe seinen Grund darin, daß bewegte Ziele schwerer zu treffen sind. Aber so schlimm ist es nicht. Unter offenem Himmel ist Dudelsackspielen durchaus erträglich, und weil dieser Spieler nicht auf und ab geht, stellt Chreich sich so dicht vor ihn hin, daß der arme Mann unsicher wird. Dabei will sie ihm nur genau auf die Finger sehen, um herauszukriegen, wie er diese seltsamen Töne zustande bringt. Wir ziehen Chreich von dem Dudelsackspieler weg, bevor ihr Verhalten Aufsehen erregt.
Der Dudelsackspieler wird nie erfahren, daß er Angesicht zu Angesicht mit einem Wesen gestanden hat, dessen Existenz und Herkunft mindestens genauso bemerkenswert ist wie die des sagenhaften Ungeheuers vom Loch Ness, und ein gutes Stück realer.
Die Leute von Inverness leben teilweise davon, daß sie bestreiten, daß das Ungeheuer von Loch Ness in Wirklichkeit existiert. Irgendwelche Hinweise auf das Ungeheuer sieht man also dauernd - Werbeeinfälle in irgendwelchen Geschäften, Hinweise auf die Monster-Exhibition in Drumnadrochit. Als wir Chreich diese Dinge erklären, hat sie wenig Verständnis: Monster? Na und? In ihrer Welt gibt es Monster genug. Was ist daran aufregend? Besonders, wo es sich hier um ein Monster handelt, über das zwar viel gesprochen wird, das aber noch keiner so richtig nachprüfbar mit eigenen Augen gesehen hat. Was ihr merkwürdig erscheint ist eher, daß es in unserer Welt keine Saurier mehr geben soll. Sie glaubt, daß wir sie eben einfach noch nicht gefunden haben, daß sie sich in irgendwelchen Wäldern erfolgreich verstecken. Ich kann ihr kaum klarmachen, daß es in einer überbevölkerten Welt wie der unseren unbekannte Großtiere nicht mehr gibt.
Dann, als sie begriffen hat, wozu ein Ladengeschäft gut ist, sieht sie sich jedes Schaufenster unter dem Gesichtspunkt an, ob sie etwas daraus brauchen könnte. Nach einer Weile stellt sie fest, daß man wohl für Geld doch nicht alles bekommen kann - ein Schwert zum Beispiel hat sie noch nirgends gesehen. Wieder ist es an mir, zu erklären, daß wir in unserem Teil der Welt nicht dauernd bewaffnet herumlaufen. Sie meint, sie fühlt sich ohne Waffe unter so vielen Menschen nackt und unsicher.
"Siehst du, bei uns ist es umgekehrt: Wir haben uns bei euch unsicher gefühlt, weil jeder Mensch dort bewaffnet herumlief!" sage ich.
Ein kurzer Disput, welche Welt denn nun wirklich gefährlicher ist, die Welt der Granitbeißer oder unsere, bleibt ohne Ergebnis. Chreich muß sich damit abfinden, daß sie kein Schwert bekommt. Kaum, daß ich ihr klarmachen kann, daß hier von dem Straßenverkehr für uns die allergrößte Gefahr für Leib und Leben ausgeht. - Ich weiß nicht, ob sie es glaubt.
Der Rückweg steht nun fest: Morgen mit der Bahn nach Edinburgh, von dort nehmen wir einen Linienflug. Da brauchen wir vorher nicht zu buchen und könnten eventuelle Terminverschiebungen auch noch vertragen. Aber Irene will nach Hause. So schnell wie möglich. Und ich auch.
Abends sind wir wieder in Foyers. Das Wetter war den ganzen Tag stabil - während wir in Inverness waren, sind wir nur zweimal durchgeregnet worden - aber jetzt ist der Himmel wieder bedeckt. Auch diese Wetteränderungen sind für Chreich ungewohnt: Der Himmel in der Welthöhle ist meistens sehr gleichmäßig grau. Da es bald dunkel werden wird, gehen wir noch vor dem Abendessen und dem Packen die Straße nach unten, zum Ufer des Lochs. Wir wollen noch einen Blick auf die Stelle werfen, an der wir gestern aufgetaucht sind - so wenig wir die genaue Stelle identifizieren können.
Der River Foyers bildet eine kleine, nicht sehr ausgeprägte Halbinsel, die in das Loch hinausragt. Diese ist vorwiegend mit Wald- und Buschwerk bewachsen. An deren nördlicher Küste müssen wir gestern an Land gekommen sein, weil wir den Fluß selber nicht überqueren mußten. Es war aber noch nordöstlich von dem Friedhof von Foyers, der auch am Ufer liegt. Genauer können wir es nicht sagen.
Irgendwo auf dem See, nördlich oder nordwestlich von dieser Halbinsel, müssen wir also an die Oberfläche gekommen sein. Es kann eigentlich nicht allzuweit vom Ufer entfernt sein, weil unsere Trommelfelle zwar ordentlich geschmerzt haben, aber nicht kaputt gegangen sind. Das heißt, daß wir einer Wassertiefe von nicht viel mehr als 10 oder 20 Metern ausgesetzt waren.
Das Loch Ness ist aber sehr tief. Also war es nahe am Ufer. Das ist aber auch schon alles, was man sagen kann. Jetzt sieht man natürlich nichts mehr. Uns bleiben nur noch Spekulationen über den Mechanismus, von dem der Wippstein ein Teil war. Ein Mechanismus, der sicher funktioniert hat, denn wir sind lebendig von der einen Welt in die andere transportiert worden, und der enorme Wasserverbrauch dieses Vorganges war nur eine zeitweise Erscheinung - einen Wasserverlust von der Größenordnung, wie wir ihn am Wippstein gesehen haben, wäre, wenn er jetzt noch anhielte, deutlich bemerkbar: Da müßte ein großer Strudel in Ufernähe sein. Das war gestern Nacht wahrscheinlich auch der Fall. Nur hat es niemand gesehen.
Viel Wasser ist aus dem See abgeflossen, um davon einen kleinen Teil wieder zurückzubringen. Zusammen mit uns. Eine barbarische Transportmethode. Ein Tunnel, der einfach an die Erdoberfläche führen würde und irgendwo ins Freie kommt, wäre einfacher gewesen - einfacher zu bauen und einfacher zu benutzen. Also war die Intention dieser Anlage die, diesen Eingang in die Welthöhle für alle Zeiten geheim zu halten.
Dieser Eingang, hier im Loch Ness, der andere übers Höllentalplatt, wie viele mag es noch gegeben haben? Wir wissen es nicht. Ich denke zum Beispiel an den Similaunmann, jene mumifizierte Leiche, die 1991 in einem Gletscher in Tirol gefunden wurde, etwa 4000 Jahre alt. Was hat der so hoch in den Gletscherregionen gesucht? War der etwa auf dem Weg von oder zu einem anderen Eingang in die Welt der Granitbeißer? Gehörte er am Ende zu einem Volk aus der Granitbeißerwelt? Oder gar zu den Erbauern der Toten Städte, wenn diese Menschen waren? Das sind jetzt vielleicht ein bißchen weit hergeholte Spekulationen, aber ich weiß, daß ich in Zukunft auf solche oder ähnliche Hinweise achten muß.
Die Erbauer der Toten Städte - wenn sie es denn waren, die diese Eingänge angelegt haben - müssen einen Grund gehabt haben, versteckte Wege zwischen ihrer und dieser Welt zu unterhalten. Welcher Grund das gewesen sein mag? - Wir wissen es nicht. Vielleicht gibt es noch ein Echo davon in den Legenden und Erzählungen der Sachinor oder der Granitbeißer. Und die haben wir nur zu einem kleinen Teil gehört und davon den größten Teil vergessen.
Während sich die Nacht auf das Loch senkt, erzähle ich Chreich von den Beobachtungen des St. Columba, der vor vielen hundert Jahren hier, an diesem Loch, ein Monster beschworen haben soll. Seit der Zeit hält sich die Legende von dem Monster. Aber nie hat jemand etwas definitives bewiesen.
Genausowenig, wie wir etwas beweisen können.
Wir bleiben lange am Wasser stehen und schweigen. Dieses ist kein Schottland-Urlaub. Es hat uns zufällig hierher verschlagen. Morgen müssen wir früh aufstehen, um nach Inverness zu fahren. Keine Zeit mehr, stundenlang am Ufer zu sitzen und zu meditieren - jetzt, wo es soviel Stoff zum Meditieren gäbe.
"Wir kommen wieder hierher zurück." sage ich, "Genau hierher. An das Loch Ness."
Irene und Chreich antworten nicht. Warum auch? Wir werden wie gewöhnliche Touristen kommen. Wir werden nicht mehr beweisen können als jeder andere auch. Der Eingang unter Wasser wird sich auch mit großem technischen Aufwand nicht finden lassen, wenn man gezielt danach suchte. Schließlich hat man schon oft genug ausprobiert, wie schwer sich in dem braunen, moortrüben Wasser des Loch Ness überhaupt etwas finden läßt. Es wird, während unserer Lebenszeit, wohl kein zweites Mal jemand hier hochkommen. So ist die Existenz dieses Einganges eigentlich belanglos. Wir können also auch an ganz anderen Orten Urlaub machen. Wir haben hier nichts mehr zu suchen.
Rücksichtsvoll von Irene, daß sie mich nicht darauf hinweist. Auch Chreich tut es nicht. Sie zittert nur, kuschelt sich in ihre drei neuen Pullover, die wir ihr in Inverness gekauft haben und die sie übereinander angezogen hat, und sieht auf das kalte Wasser hinaus.
Ob sie jetzt an die warmen Meere ihrer eigenen Welt denkt, zehneinhalb Kilometer unter uns?
Sie sagt überhaupt nichts und sieht nur unentwegt auf das Wasser hinaus.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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