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91.1 EPILOG

Wir haben es geschafft.

Es ist ein Anti-Klimax. All diese langen Tage, jede Sekunde die Gefahr, um Leben oder Gesundheit zu kommen, all die häufigen Selbstvorwürfe 'hätten wir doch nicht!', 90 Tage Zweifel, an unserem Überleben und an der Wirklichkeit der Situation. All dieser Streß, und doch - die Euphorie am 'Morgen danach', in jenem schottischen Bed & Breakfast, war gedämpft. Der großen Anstrengung einfach nicht angemessen. Schon gedämpft durch die Sorgen um Heimkommen, Aufrechterhalten von Wohnung und Arbeitsplatz, Sorgen, die noch 24 Stunden vorher sehr theoretischer und wirklichkeitsferner Natur waren.

So war es einfach nur ein besonderer, besonders anstrengender und besonders langer Urlaub. Oder wie das Erwachen aus einem Alptraum. Ich weiß, daß dieser Begriff dem Geschehenen Unrecht tut. Aber es ist so. Ist das ein Effekt, wie er mir einmal in Walt Disney's 'Die Wüste lebt' aufgefallen ist? Einer Schildkröte, durch Zufall auf den Rücken geworfen, in der Gefahr, bei lebendigem Leibe durch die heiße Sonne auf ihrem Bauch zu verschmoren, gelingt es doch noch, mit einem Fuß irgendwo unterzuhaken und sich wieder umzudrehen. Der Tod durch einen dummen Zufall, nicht mehr als die Tücke des Objektes, ist gerade eben noch vermieden worden, und die Schildkröte kriecht davon - unbeeindruckt, scheint es, für den menschlichen Beobachter. Die Krise ist bewältigt und damit unwichtig geworden.

Sind wir wie diese Schildkröte? Trotz der Intensität und der Außergewöhnlichkeit des Erlebnisses? Findet die Außergewöhnlichkeit nicht den Weg in unser Bewußtsein, bloß weil wir wieder in einem richtigen Bett schlafen können und unsere Nachbarn uns nicht aufessen wollen?

'Life is a dream, a little more coherent than most.' Ich brauche dafür keinen Beweis mehr. Wenn ich überhaupt jemals daran gezweifelt haben sollte. All die Bemühungen der exakten Naturwissenschaften, etwas über die Wahrheit und Wirklichkeit der uns umgebenden Welt zu erfahren, sind in den Wind gedacht worden. Wirklichkeit gelangt erst dann zur Wahrnehmung, wenn sie den Weg in unseren Kopf gefunden hat und dort eine mit dem übrigen Bewußtsein compatible neuronale Darstellung gefunden hat. Dann ist diese Wirklichkeit aber nicht unterscheidbar von der Wirklichkeit eines gerade gesehenen, leidlich aufregenden Films. Wirklichkeit ist für uns gar nicht erfahrbar. Punktum.

Vielleicht liegt das auch daran, daß sich uns diese Wirklichkeit ja gar nicht so unmittelbar aufgedrängt hat? Wir sind nicht gefoltert und nicht verletzt worden, wir hungerten nicht und litten keinen Durst, wir haben uns keine Krankheiten eingefangen und zum Schluß sind wir bloß ein bißchen naß geworden. Ist das wirklich das große Abenteuer gewesen? - Robinson Crusoe wäre fast ertrunken, als er an seine Insel gespült wurde. Kein Vergleich mit den paar Sekunden unter Wasser, die wir zum Schluß erlebt haben. Wenn man es mal ganz objektiv und leidenschaftslos betrachtet.

Vielleicht ist es auch so, daß mit fortgeschrittenem Alter sogar solche Erlebnisse immer weniger unmittelbar wahrgenommen werden. Die Lern- und Erinnerungsfähigkeit hat abgenommen. Gewiß, all die Fakten sind noch da und konnten jetzt aufgeschrieben werden. Und schon die bloße Tatsache, daß ich tatsächlich so ziemlich alles, was ich erlebt habe, auch memorieren konnte, zeigt, daß das Erlebnis eben doch nicht eine Alltäglichkeit war. Es war schon etwas mehr als ein Deutschaufsatz, basierend auf einer Geschichte, die man erlebt zu haben sich eingebildet haben könnte. Sonst hätte ich ja auch das meiste vergessen.

Vielleicht ist das auch die einzige Methode, geistig normal und gesund zu bleiben - die Distanz zum Erlebten erreichen und halten. Will ich denn mein ganzes restliches Leben mit dem Bewußtsein herumlaufen, selbst getötet, meine Frau betrogen und Charmion ans Vollstreckungskreuz geliefert zu haben? Sicher nicht. Das Bewußtsein wehrt sich gegen das Unerträgliche. Ich bin nicht schuld am Tod von Charmion. Ich kann gute Gründe konstruieren. Vielleicht ist mein Bericht da leicht gefärbt? Nicht objektiv? Fakten auslassend, die mich belasten? Ich kann es nicht ausschließen. Aber auch dieses, die Selbstrechtfertigung, ist kein Hinweis auf die Tatsächlichkeit des Erlebten. Sie würde bei einer ausgedachten Geschichte genausogut funktionieren. Ich bin immer noch nicht - oder sagen wir, nicht mehr - sicher, ob es wirklich passiert ist.

Aber es ist passiert. Und wir haben es geschafft. Nicht nur zu überleben, sondern unseren Platz in der Gesellschaft wieder einzunehmen. Und dieses ist zu einem guten Teil darauf zurückzuführen, daß wir gelernt haben, mit dem Erlebten distanziert genug umzugehen. Was ist denn nun geschehen, was wirklich unser Leben veränderte? Eine unerklärliche, lange Abwesenheit, gerade doppelt so lang wie ein normaler Jahresurlaub - wir hatten damit einige Schwierigkeiten bei unseren Arbeitgebern, das war alles. Und die Idee, ein Buch zu schreiben. Auch nichts Ungewöhnliches.

Aber diese Welt da unten kann es ja nicht geben. Jeder Geologe und jeder Geophysiker kann auf Anhieb Dutzende von guten Gründen dafür vorbringen. Jeder Soziologe wird uns erklären, daß eine Gesellschaft wie die der Granitbeißer so nicht existieren kann - auch wenn wir eigentlich nur einen kleinen Teil der Gesellschaft der Granitbeißer kennengelernt haben, und deshalb gar nicht genug berichtet werden kann, um überhaupt zu der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer solchen Gesellschaft Stellung zu nehmen. Jeder Paläobiologe wird mir erläutern, wieso die urweltlichen Tiere, die wir gesehen haben, so nicht gelebt haben können - als ob die Evolution in den letzten Jahrmillionen nicht diese oder jene Anpassung hervorzubringen in der Lage gewesen wäre. Jeder wird uns erzählen, daß alles, was ich berichtete, Unsinn ist.

Nun gut. Das war beabsichtigt. Niemand soll den Gang der Welt da unten stören. Ich habe es beabsichtigt, diese Reisebeschreibung als Fiktion unter die Leute zu bringen. Das wenigstens ist die einfachste der Übungen: Es war schon schwierig genug, für diese lange Geschichte einen Verleger zu finden - hätte ich es als dokumentarische Reisebeschreibung verkauft, dann wäre das Manuskript bei jedem Verleger so schnell zurückgekommen, als sei es an einem Gummiband befestigt gewesen.

Aber die Irene sitzt nun manchmal stundenlang vor dem ausgeschalteten Fernseher. Als ob sie ein Programm sieht, das niemand sendet. Dabei ist sie doch so phantasielos. Und von mir behauptet sie, daß ich ebenfalls manchmal lange aus dem Fenster sehe, und daß mir nicht einmal die Leute auffallen, die dort vorübergehen. Manchmal gehen wir den Weg vor unserem Hause bis zu der Stelle, von wo man bei klarem Wetter die gedrungene Silhouette der Zugspitze sehen kann, und bleiben dort wie angenagelt stehen. Und bei meinen langen Waldläufen, die ich wieder aufgenommen habe, erwische ich mich manchmal dabei, daß ich stehengeblieben bin, weil das regennasse Gras mich an den feuchten Urwald der Welthöhle erinnerte. Oder weil ich irgend etwas sehe oder an irgend etwas denke, das ich Charmion zeigen wollte. Und dann vergesse ich eben das Weiterlaufen.

Bei Charmion klappt es eben nicht: das Vergessen. Die Erinnerung als etwas zu nehmen, was man sich vielleicht nur ausgedacht hat. Die Narbe auf der Seele tut weh. Ich sehe den stillen See auf Casabones immer noch deutlich vor mir, und ihren Grabhügel. Und ich sehe sie am Kreuz verrotten, weil ich mir einen Moment zugestanden habe, mich an etwas nicht geschehenes ja wohl erinnern zu dürfen, und dann kommt die Erinnerung mit Macht. Weil es ja doch geschehen ist. Dann laufe ich schnell weiter. Versuche, durch körperliche Anstrengung konkrete Eindrücke zu erzeugen und so Erinnerungen verblassen zu lassen. Gelingt nicht immer.

Und noch etwas hat sich aus diesen Gründen an meinen Waldläufen verändert: Ich vermeide die Kreuzigungsdarstellungen. Das heißt in Bayern, daß man viele Strecken nicht mehr laufen oder begehen kann. Ich kann keine Kreuzigungsbilder mehr sehen. Nicht wegen der diskutierbaren religiösen Bedeutung oder Nicht-Bedeutung, sondern wegen der Erinnerung an Charmion's Ende. Und weil ich den Anblick dieser Kreuzigungsdarstellungen vermeiden will, kenne ich die Orte aller dieser Darstellungen in der Umgebung auswendig.

Ach ja, Chreich. Es ist uns ja gelungen, sie nach Deutschland zu schmuggeln. Aber dann haben wir eine Weile zu dritt in unserer Wohnung gelebt, und es hat schon einige Reibereien gegeben. Vielleicht hat sie gemerkt, daß sie in gewisser Weise im Wege war, obwohl wir vermeiden wollten, auf sie diesen Eindruck zu machen. Eine eigene Wohnung für sie haben wir so schnell nicht gefunden, und sie mußte ja auch noch lernen, sich unauffällig unter den Menschen zu bewegen. Trotzdem hat sie schnell gelernt, auch unsere Sprache, und sie hätte bald ein eigenes und selbständiges Leben beginnen können.

Aber sie war verändert. Nicht mehr die stolze Granitbeißerin. Diese Welt, in der man sich nicht durch Virtuosität mit dem Schwert behaupten kann, in der Männer nicht nur gleichberechtigt, sondern, so war ihr sofort überdeutlich klar, sogar in fast allen Bereichen gegenüber den Frauen privilegiert sind, diese Technik, die sie nicht versteht, unsere merkwürdigen kulinarischen Gewohnheiten - Tiere zum Schlachten zu züchten aber bei dem viel näherliegenden Genuß von Menschenfleisch seltsame Vorbehalte zu haben - das alles war wohl zu fremdartig für sie. Diese Welt, in der es für sie neue, unbekannte Gefahren gab, die sie bloß zu begreifen teilweise Mühe hatte: Rauschgift, politischer und religiöser Extremismus, Überbevölkerung, schwer zu durchschauende und instabile politische Vorgänge, Kriege, ein human gemeintes soziales Netz, das, ihrer Meinung nach, erst durch die Folgen seiner eigenen Existenz notwendig wird, ein Rechtssystem, das ich ihr als viel gerechter als alles, was wir in der Welt der Granitbeißer gesehen haben, verkaufen wollte, das aber nur von Fachleuten einigermaßen verstanden wird. In dieser Welt, die ihr noch am Loch Ness traumhaft schön vorkam, wollte sie nicht sein.

Nicht einmal die 'Wunder' unserer Welt haben sie halten können - Natürlich hatten wir ihr auf dem Rückflug von Edinburgh den Fensterplatz überlassen, und natürlich hat sie die ganze Zeit wie hypnotisiert aus dem Fenster gesehen, obwohl die grellweiße Wolkendecke für ihre Augen noch viel blendender gewesen sein muß als für unsere Augen. Sie war fasziniert. Aber sie war auch irgendwie verstört. Zuviel Neues in zu kurzer Zeit. Als ob man in eine neue Welt hineingeboren ist, und da sind noch zu viele Erinnerungen an eine andere Welt, die mit der neuen Welt gar nichts zu tun haben. Das würden wenige Menschen bei geistiger Stabilität auf Dauer aushalten. Waren wir nicht, am Anfang in der Welt der Granitbeißer, ähnlich verstört?

Sie war sehr nachdenklich geworden, und die deutlichen sexuellen Angebote, die sie noch während des Aufstieges an der Gabelsäule gemacht hatte, haben sich nie wiederholt. Sie war völlig verändert. War sie inzwischen zu dem schutzlosen Mädchen, das vielleicht viel lieber in den klischeehaften schützenden Arm genommen werden möchte, geworden? Aber wer nimmt denn schon eine Granitbeißerin in den Arm? Außerdem ist da Irene, und natürlich die Erinnerung an Charmion. Ich muß wohl immer etwas abweisend gewesen sein. Vielleicht war das mit ein Grund, daß sie es nicht mehr bei uns aushielt.

Dann, eines Tages, war sie weg, nachdem sie nur wenige Monate mit uns zusammengelebt hatte. Ohne Nachricht. Es ist mir schwer glaubhaft, daß sie versucht haben soll, auf eigene Faust unter den Menschen dieser Erde zu leben. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört - aufgefallen ist sie also nirgends.

Aber mir ist eine andere, naheliegendere Idee gekommen: Sie ist zurückgegangen. Nicht über Loch Ness, sondern über den Weg, den wir auch genommen hatten: Über das Höllentalplatt in die Höhle. Wir haben ihr diesen Weg ja genau genug beschrieben. Aber soll sie das getan haben, wo sie doch genau wußte, daß ihr in der Welt der Granitbeißer wegen der Kollaboration mit uns schlimmste Schwierigkeiten drohen? Hat sie das gegenüber dem Leben in unserer Welt vorgezogen?

Aber auch das ist nicht zwingend. Die Welthöhle ist so groß, daß sich dort jeder eine Nische suchen kann, um sein Leben ungestört zu leben. Ob Chreich nun wirklich ihr Leben in Abgeschiedenheit verbringen kann oder will, vermag ich nicht zu sagen. Aber ihr stände diese Möglichkeit im Prinzip offen, wenn ihr der Weg zurück nach Grom für immer verbaut sein sollte. Oder sie könnte sich einem anderen Volk anschließen. Vielleicht. Wenn das überhaupt möglich ist. Was wird sie tun?

Wir wissen es nicht. Wir werden es nie erfahren. Wir können nur hoffen, daß sie geschafft hat, was immer sie sich vorgenommen hat. Sie hat nichts mitgenommen, außer dem, was sie am Leibe trug. Aber auch sie kann sich nicht ohne Licht in den dunklen Teilen der Höhlen bewegen. Alles bleibt also Hypothese, und es ist immer noch die Möglichkeit da, daß sie zurückkommen könnte. - Ich weiß nicht, ob ich das wünschen sollte.

Ohne Chreich ist das Vergangene noch viel mehr vergangen und unwirklich geworden. Sie war ein lebendiger Beweis. Und sie war der Beweis, daß es auch Charmion wirklich einmal gegeben hat.

Oft denke ich darüber nach, wo die Gegenden der Welthöhle genau liegen mögen. So genau sind meine Erinnerungen nicht, was Kurse und Geschwindigkeiten betrifft. Ich denke daran, mir genauestes Kartenmaterial zu besorgen, um herauszufinden, wo kein Bergbau betrieben wird, weil das Gestein dort keine interessanten Bodenschätze birgt. Das müssen die von der Welthöhle untertunnelten Gegenden sein. Vielleicht könnte ich unseren Weg dann an der Erdoberfläche rekonstruieren, herausfinden, wo Grom, das wir nie gesehen haben, liegt, und wo Casabones.

Und dann tue ich es doch nicht. Was habe ich denn davon, wenn ich weiß, daß Charmion's Grab unter dem Atlantik ist, oder unter dem Harz, oder unter den Pripjet-Sümpfen? Was habe ich davon, wenn sich herausstellen sollte, daß die Stätten ihres Lebens und ihres Sterbens am Ende zufällig ganz in der Nähe der Stätten meiner eigenen Kindheit sein sollte, nur eben ein bißchen tiefer?

Daß ich mit Charmion oft, einmal mit Chrejene, einmal mit Cherkrochj und, ich glaube, mit Chrwerjat auch einmal die Ehe gebrochen habe, nimmt Irene nicht so schwer. Früher dachte ich: Wenn mir mal so etwas passieren sollte, dann wird mein weiteres Eheleben mehr so eine Art offener Strafvollzug sein. Das ist aber nicht der Fall. Hier oben ist mir nie so etwas passiert, und die Welthöhle war eine besondere Situation. - Auch habe ich Irene ja nie etwas verschwiegen, und beim Abfassen dieses Buches sind wir den Text ja gemeinsam mehrfach durchgegangen. Sie weiß also alles. - Es ist nicht alles 'verziehen', aber gewissermaßen, naja, entschuldigt. Im Anbetracht der Lage, in der wir uns befanden, eine Art generelle 'Notwehr'. - Ja, ich glaube fast, wenn ich mir dieses Buch ausgedacht hätte, dann hätten die erotischen Situationen, so wie ich sie beschrieben habe, ihren Ärger viel mehr erregt: Solche erotischen Phantasien darf ihr Ehemann nicht haben!

Irene weiß, daß sie einen Teil von mir verloren hat. So wie ich auch weiß, daß auch sie nicht mehr nur noch auf dieser Welt lebt. Wir sind beide krank, sie und ich, aber wir können die Krankheit nicht benennen. Es ist keine Sehnsucht nach einem unerreichbaren Paradies, denn die Welthöhle ist weder ein Paradies noch ist sie völlig unerreichbar. Es ist nicht das gemeinsame Wissen um Geheimnisse, die wir mit niemandem teilen, denn um soviele Geheimnisse wissen wir gar nicht. Wir haben lediglich einige zu erraten versucht. Wir haben doch mehr Fragen als Antworten mit nach oben gebracht. Fragen, die wir mit niemandem diskutieren können und dürfen.

Es ist auch nicht der Verlust an Menschen, die man gut gekannt hat, mit Ausnahme von Charmion und einigen wenigen anderen: Ondar, Ochaum, wer noch? Die meisten Menschen, die wir kennenlernten, haben wir nicht gut gekannt, und sie waren unsympathisch. Sie waren ja Menschenfresser. Und sie wuschen sich nicht. Widerlich.

Und ganz besonders ist es nicht die Erinnerung an vergangene, große Taten. Welche Taten denn? Ich habe doch nur sehr fragwürdige Dinge getan. Wenn ich all diese Dinge in meiner Erzählung weggelassen hätte, dann wäre nicht sehr viel übriggeblieben, oder die Handlungskette hätte deutliche logische Lücken. Geschichtsfälschung war nie meine Stärke.

Besonders der erste Winter war schlimm. Als Chreich weg war, sahen wir die nasse Schneedecke, und sie war wie ein Leichentuch auf unserer Welt und auf der Welt darunter. Die dampfenden Dschungel der Granitbeißerwelt, in der es niemals Schnee gibt, waren plötzlich noch viel weiter weg. Bei dem Wetter kann man auch die Zugspitze von unserem Hause nicht sehen, aber sie ist immer da: der Eingang zur Welt der Granitbeißer. Ein Magnet wie eine ungelöste Frage. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Chreich, wie sie mit völlig unzureichender Ausrüstung auf dem verschneiten Höllentalplatt verzweifelt nach dem Eingang sucht. Die arme Chreich, der es auf unserer Welt viel zu kalt ist. Ich will nicht, daß sie auch noch ein Opfer unseres Abenteuers wird.

Gleichzeitig bin ich froh, daß es nicht Charmion ist, die sich nicht an unsere Welt gewöhnen kann und nicht mehr vollständig nur zu jener Welt gehört. Denn ich liebe Chreich nicht. Sie ist eine Art von verlorenem Kind für uns. Aber Charmion - diese Welt wäre für sie vielleicht doch ein schlimmes Geschenk gewesen. Was wäre, wenn es mit Charmion genauso wie mit Chreich gekommen wäre? Wenn sie mit uns gekommen wäre? - Es wäre natürlich besser gewesen als das, was ihr tatsächlich widerfahren ist. Aber 'besser' ist nicht 'gut'.

Wir werden nie wieder in die Granitbeißerwelt absteigen. Aber ich weiß es und Irene weiß es, daß ich es doch täte, wenn ich wüßte, daß Charmion noch am Leben wäre, da unten, irgendwo. Oder daß ich wenigstens darüber nachdächte, es zu tun. Ich kann nichts dafür. Ich denke sogar jetzt darüber nach. Hätten wir doch dort bleiben sollen? Erst, wenn wir uns dazu entschieden hätten, hätten wir wirklich gewußt, was für eine Veränderung unseres Lebens das wirklich bedeutete. Jede große Veränderung ist wie der Tod - man sieht die andere Seite erst, wenn man dort ist. So haben wir nur eine Ahnung abbekommen.

Eine Ahnung. Das meiste. Nur eine Gewißheit dazwischen: Charmion. Ich vermisse Sie so sehr. Und jeder Gedanke an sie schmerzt. - Vielleicht bin ich sogar der Einzige, der sich jetzt noch an sie erinnert, in dieser Welt und in der Welt da unten.

Nichts und niemand hört wirklich auf, zu existieren, solange noch eine Erinnerung weiterbesteht. Das ist nicht nur in einem übertragenen Sinne richtig, sondern sogar eine Folge der Analogien zwischen den gesellschaftlichen und den individuellen, neuronalen Vorgängen. Ein Teil von ihr ist noch in meinem Kopf. Und nur dort. Es ist meine Pflicht, diesen Teil aufzubewahren. - Aber es wäre besser, wenn sie selber noch existierte, in Fleisch und Blut.

Ich hätte sie retten müssen. Irgendwie.

Da unten gibt es einen Steinhügel. Kleine Wellen laufen auf das Ufer zu, und der Nebel dämpft jedes Geräusch. Schwermütig und stumm stehen diese schilfartigen Gewächse, die kein Schilf sind, im ufernahen Wasser. Manchmal gibt es schwere Flügelschläge, und Schatten gleiten durch den Nebel. Die urzeitlichen Flugechsen, die es in dieser Form niemals auf der Erdoberfläche gegeben hat, kümmern sich nicht um den einsamen Geröllhaufen. Die Zeit des Erdaltertums dauert dort noch an, und niemand beobachtet sie, wie sie vergeht. Nichts geschieht, was Menschen berührt. Nichts an diesem Steinhügel kündet von vergangener Größe, vergangener Tapferkeit, Mut und Intelligenz, vergangenen Träumen und Wünschen, vergangener Schönheit, einem Menschenleben, das nur kurz war, das nur so wenige glückliche Momente umfaßte, Momente, die sich in der Zeit verloren wie Tränen im Regen. Ein Menschenleben, daß, trotz allem, doch groß und herrlich war, wie ein Feuerwerk in der endlosen Nacht, ein Feuerwerk, dessen Widerschein am Horizont noch immer nicht ganz erloschen ist.

Und manchmal, wenn ich am Fenster stehe und in die Nacht hinausschaue - in die Nacht unserer Welt - dann glaube ich noch, ihre Nähe zu spüren, die Wärme ihres Atems, und den Duft ihrer Haut. Und es ist wie der Duft nach Millionen von Blüten.

Meine arme Charmion.

ENDE


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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