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******** 089. Tag: Mittwoch 95-11-15 ********
89.1 Kugelventil
Ich wache davon auf, daß jemand weint. Natürlich denke ich zuerst an Irene, und es ist ungünstig, daß ich nicht neben ihr liege. Dann aber erkenne ich die Stimme: Es ist Chreich.
Mir tun alle Knochen weh. Aber das ist nahezu sofort vergessen. Irene weint öfter, aber eine Granitbeißerin? Habe ich das schon jemals gesehen? Charmion hat geweint, wenigstens einmal ...
Als Chreich merkt, daß ich oder daß einer von uns wach ist, hört sie sofort auf.
Ich sage nichts. Ich kann mir ungefähr vorstellen, was mit ihr ist. Von ihrer eigenen Welt ist sie abgenabelt. Die Zukunft in einer Welt, von der sie fast nichts weiß, ist völlig ungewiß. In einer für sie entsetzlich kalten Welt. Kalt und hell, im Moment ist da jedoch noch die für sie an den Nerven zehrende Dunkelheit. Es muß ein unheimlicher Druck auf ihrer Seele liegen. Hat sie doch seit langem nicht den geringsten Versuch einer sexuellen Annäherung gemacht. Das liegt nicht nur daran, daß in unserer kleinen Gruppe das Verhältnis der Geschlechter ausgewogener ist, im Vergleich zu dem, was bei den Granitbeißerinnen üblich ist. Nein, ihre ganze Welt ist so gründlich zusammengebrochen, wie wir es uns überhaupt nicht vorstellen können. Wenn einem so etwas passiert, dann bleibt die Libido schon mal vollständig weg.
Wie wohl Charmion in dieser Situation reagiert hätte? Wahrscheinlich nicht viel anders. Und trotzdem, ich wünschte, sie wäre jetzt hier statt Chreich. Auch wenn es dann mit Irene mehr Probleme gäbe.
So ungefähr um 9 Uhr sind wir dann abmarschbereit. Ich vermeide den euphorischen Hinweis, daß wir heute Regionen erreichen sollten, in denen uns klar wird, wie und wo es weitergeht.
Wieder wechseln Treppentunnel und horizontale Gangstücke ab. Gleichmäßig gewinnen wir an Höhe. Um 10 Uhr sind wir in 650 Meter Tiefe, und um 11 Uhr sind es noch 400 Meter. Gestein und Bauart des Tunnels sind unverändert, aber die Temperatur nimmt weiter ab.
Kurz nach 11 Uhr gibt es ein langes Stück horizontalen Ganges. Wir machen eine erste Pause, da nicht absehbar ist, wann es wieder bergauf gehen wird, und da es Irene leichter fällt, nach einer Pause wieder in Gang zu kommen, wenn sie nicht gleich wieder steigen muß.
Dieser Gang führt mit nur geringen Variationen in Richtung Nordwest. Und dann endlich, um 12:15 Uhr, passiert wieder etwas: Der Gang weitet sich in eine mittelgroße, runde Höhle. Beim Näherkommen sieht es jedoch für uns zunächst so aus, als sei der Gang durch eine konvexe Felswand abgeschlossen.
Das ist er aber nicht. Die Höhle ist in ihren Abmessungen oval, vier Meter breit und ebenso hoch, die Länge ist etwa sieben Meter. Am anderen Ende geht der Gang weiter. Das sehen wir jedoch erst, als wir die Höhle betreten haben, denn in ihrer Mitte liegt eine große Felskugel. Ihr Durchmesser ist vielleicht zwei Meter, und man kann sich nur mühsam an ihr vorbeipressen, nicht wegen Platzmangel, sondern weil der ganze Boden dieses Raumes gewölbt ist. Im unteren Teil ist er sogar so stark gewölbt, daß er sich an die Rundung der Kugel anschmiegt, ohne sie jedoch oberhalb einer Führungsrille am Boden zu berühren.
Ihre Form ist perfekt. Sie ruht auf dieser horizontalen, 25 Zentimeter breiten Rille im Boden, auf der sie offenbar rollen kann. Diese Rille ist das einzig Horizontale an diesem Raum. Die Kugel könnte auf beide Tunnelöffnungen zugeschoben werden, und der Rand dieser Tunnelöffnungen ist so konkav, daß dann der betreffende Tunneleingang praktisch abgedichtet wird. Noch kleiner allerdings dürfte die Kugel nicht sein, weil die Tunnel zwei Meter hoch sind.
"Was ist das denn nun wieder?" fragt Irene, "Ein Tor?"
"Ne," sagt Chreich, "es ist ja kein Verschließmechanismus da."
"Wieso? Wenn die Kugel da rüber gerollt wird, dann ist der Tunnel doch zu!"
"Wenn man die Kugel darüber rollen kann," sagt Chreich, "dann kann man sie ebensogut und ebenso leicht wieder in die Mitte des Raumes zurückrollen. Welche Hilfsmittel man immer anwendet, man kann sie in beiden Richtungen anwenden. Nein, dieses hat nichts mit der Absicht, Menschen den Weg zu versperren, zu tun."
"Was denkst du denn, was es ist?" frage ich.
"Ich weiß nicht. Rollen soll diese Kugel sicher. Und zwar leicht. Sieh diese Rille an - Sie ist genau horizontal!"
"Das wollen wir erst einmal sehen!" sage ich und zwänge mich an der Kugel vorbei wieder zurück in den Teil des Raumes, den wir zuerst betreten haben, "Meine Damen! Zeit zum Austreten!"
"Was?" fragt Irene.
"Ihr pinkelt drüben in die Rille, und ich hier! So kriegen wir am besten heraus, ob diese Rille horizontal ist! - Liegt doch nahe, oder?"
So geschieht es. Nach zwei Minuten wissen wir: Diese Rille ist, was diese Meßmethode betrifft, völlig horizontal: Die selbsterzeugten Rinnsale haben keine Vorzugsrichtung.
"Dann müßten wir nahezu diese Kugel bewegen können!" sage ich zu den beiden Frauen, als ich mich wieder in den anderen Teil des Raumes geschoben habe, "Sie ist etwa 10 Tonnen schwer, und ..."
"Woher weißt du das?" fragt Irene.
"Vier Drittel Pi mal R hoch drei mal Dichte. Oder angenähert Durchmesser hoch drei, durch zwei, mal Dichte."
Chreich läßt sich noch einmal erklären, was ich überhaupt meine. Sie hat schon begriffen, daß ich die Masse der Kugel abgeschätzt habe.
"Probieren wir es doch einmal!" schlägt sie vor.
"Die Kugel zu rollen?"
"Ja!"
"Okay. Irene, du leuchtest!"
Chreich und ich stemmen uns gegen die Kugel. Sie wiegt mehr als 10 PKWs, und trotzdem spüren wir, daß sie sich bewegt, noch bevor wir überhaupt richtig angefangen haben, Kraft zu entwickeln. Es müssen weniger als 10 Kilopond sein, die ausreichen, die Kugel zu bewegen.
Es spricht für die präzise Fertigung der Rille, daß das Rollen fast lautlos geschieht. Eine große Geschwindigkeit erreichen wir aber nicht. Klar: 10 Kilopond investiert, um zehn Tonnen zu bewegen, können höchstens eine Beschleunigung von einem Zentimeter pro Quadratsekunde erzeugen. Weniger, denn ein Teil der Kraft wird für die Überwindung von Reibungsverlusten verbraucht. So brauchen wir doch eine ganze Zeit, um eine Rollgeschwindigkeit von drei oder vier Zentimetern pro Sekunde zu erzeugen.
Die dreieinhalb Meter bis zu der Tunnelöffnung, durch die wir gekommmen sind, werden in zwei Minuten zurückgelegt. Kurz bevor die Kugel den Tunnel abschließt, frage ich:
"Wie kommen wir jetzt eigentlich hier zurück, wenn das notwendig werden sollte? Wir können die Kugel vom Tunnel her nicht mehr schieben, weil wir da nicht mehr hinkommen!"
Mit einem leisen 'Whuff' setzt sich die Kugel im Tunnelausgang fest. Wir lassen los. Meine Überlegung ist etwas spät gekommen.
"Mit dieser Kraft könnten wir die Kugel wohl auch gerade noch ziehen," sagt Chreich, "es ist nur die Frage, ob sie sich jetzt im Tunneleingang so verkeilt hat, daß sie festsitzt!"
"Herwig, sie bewegt sich!" ruft Irene. Dann sehen wir es auch: Die Kugel fängt an, ganz langsam zurückzurollen.
"Deine letzte Frage ist schon beantwortet!" sage ich zu Chreich und nehme meine Lampe wieder an mich. Im Schein beider Dynamolampen verfolgen wir die Kugel, die langsam in die Mitte des Raumes zurückrollt.
"So eben wie du behauptet hast ist die Rille wohl nicht!" stellt Irene fest.
"Hättest du eine bessere Methode gehabt, es zu messen?"
In den über fünf Minuten, die die Kugel braucht, um wieder die Mitte des Raumes zu erreichen, können wir uns überlegen, ob wir hinzuspringen sollten, um die Kugel aufzuhalten, bevor sie die andere Tunnelöffnung verschließt und vielleicht von dort nicht mehr wegzurollen ist. Aber mit quälender Langsamkeit erreicht die Kugel die Mitte des Raumes und bleibt schließlich stehen, ohne daß man genau den Zeitpunkt angeben könnte, an dem dies der Fall ist.
"Status quo ante!" sage ich, "Also. Hat jemand eine Idee? Was ist es? Für eine Tür, die man nicht einmal auf Dauer zumachen kann, ist das etwas viel Aufwand!"
"Meinst du?" fragt Irene, "Es ist doch nur Stein!"
"So! Dann überlege mal! Erstens. Die Präzision, mit der diese Kugel, die Rille, die Wandwölbungen und die Tunnelöffnungen gefertigt wurden! Da waren genaue Meßmethoden notwendig! Wirklich genau - nicht einfach so etwas wie das, was wir eben gemacht haben. Und dann mußten die Erbauer zweitens sehr genau die Stelle auswählen, an der sie diese Anlage gebaut haben - der Fels muß nämlich von sehr homogener Qualität sein, damit der Schwerpunkt der Kugel auch wirklich in ihrem geometrischen Mittelpunkt liegt! Sonst würde sie nicht rollen! Und von woanders konnte man die Kugel nicht hierhertransportieren - sie ist dazu zu schwer, sie ist aus einem Stück gefertigt, und durch die Tunnel paßt sie auch nicht."
"Meinst du, das ist so schwer?"
"Ich glaube," bekräftige ich, "daß du bei uns oben nicht sehr viele Hoch- und Tiefbau-Unternehmen finden wirst, die diese Anlage bauen könnten. Ein paar hunderttausend müßtest du wahrscheinlich dafür hinlegen."
"Für diese lächerliche Kugel?"
"Für diese Präzisionskugel. Und alles drumrum."
"Worüber streitet ihr euch denn eigentlich?" will Chreich wissen.
"Du hast recht," sage ich, "worüber eigentlich. Frage bleibt also: Was ist es? Ein Tor jedenfalls nicht."
"Für Wasser?" schlägt Chreich vor.
Darüber diskutieren wir eine Weile. Je länger wir das tun, desto plausibler wird es. Eigentlich ist es die einzig sinnvolle Interpretation dieser Anlage.
Eine wesentliche Wassermenge, die aus dem Tunnel kommt, den wir jetzt begehen wollen - aus dem anderen kann ja eigentlich nichts kommen - würde diese Kugel vor die Tunnelöffnung schieben und so sich selbst den Weg verschließen. Dazu würde sogar recht wenig Wasser ausreichen, da das Wasser, wenn es nur bis 60 Zentimeter über den Boden steigt, nur in geringen Mengen zwischen Kugel und der Wand dieses Raumes vorbeikann, so daß das Wasser an der anderen Seite der Kugel eben nicht so hoch steigt, sondern gleich abfließt. Der Druck von 60 Zentimeter stehendem Wasser reicht aber schon aus, die Kugel in Bewegung zu setzen - wir haben ja eben gesehen, wie leicht das geht. Und sowie die Kugel den Tunneleingang verschließt, wird das Wasser noch weiter ansteigen und so den Tunnel verschlossen halten.
"Die Tunnel, die wir bis jetzt in der letzten Zeit genutzt haben, sind also gegen ein Übermaß an Wasser geschützt!" stelle ich abschließend fest, "Frage nur: Warum funktioniert die Anlage auch in Gegenrichtung? Muß sie ja, sie ist ja völlig symmetrisch."
Darauf finden wir keine Antwort. Also entschließen wir uns, weiterzumarschieren.
"Wenn jetzt also viel Wasser kommt, werden wir nicht mehr weggeschwemmt, sondern wir ersaufen ganz einfach, nicht wahr?" fragt Irene noch nach.
"Wenn ich das gesagt hätte, wäre ich wieder der Schwarzseher und Motivationszerstörer!"
"Ich will ja nur wissen, in welcher Lage wir sind!"
"Wenn jetzt dieser Tunnel einstürzt, sind wir auch hin. Alles kann passieren. Das meiste ist eben nur unwahrscheinlich genug."
Von dem Ventilstück geht es noch eine Weile geradeaus in der bisherigen Richtung weiter. Dann weitet sich der Gang, und da ist er wieder: Unser Bach!
In einem fünf Meter durchmessenden Gewölbe befindet sich ein drei Meter durchmessender, unergründlich tiefer Teich. In diesen fließt eine Rinne, die aus der Tunnelöffnung gegenüber kommt. Es gibt aber keinen sichtbaren Abfluß - also wahrscheinlich fließt das Wasser irgendwo in der Tiefe dieses Teiches ab. Dort drüben müssen wir weiter. Der Tunnel hat von nun an einen größeren Querschnitt. Er ist fast zwei Meter fünfzig hoch, seine Breite ist ebensogroß und teilt sich in zwei etwa einen Meter breite Wege, zwischen denen die flache, 50 Zentimeter breite Rinne den Bach führt. Der Bach fließt schnell, weil dieser Tunnel jetzt eine deutliche Steigung hat. Wir folgen ihm, wobei wir ab und zu mit einem Sprung über die Rille die Seiten wechseln.
Es ist etwa 13 Uhr, als wir angefangen haben, von diesem Teich den breiten Tunnel entlang weiterzumarschieren. Er ist schnurgerade und verändert sich wenig. Wir gewinnen leidlich gut an Höhe, ohne uns allzusehr anzustrengen. Um 14 Uhr haben wir noch eine Tiefe von 325 Metern, um 15 Uhr sind es 250 Meter. Dabei überlege ich, was der Grund sein mag, daß dieses Tunnelstück einen größeren Querschnitt hat als die früheren Tunnelabschnitte. Ich komme zu keinem Ergebnis. Genausowenig, wie mir bis jetzt eine Idee gekommen ist, warum unser Weg seit dem Unterwassertunnel soviel deutlicher und leichter zu verfolgen ist als vorher. Als ob die Interessen der Bewohner der Toten Städte sich gar nicht sosehr auf die Welthöhle bezogen haben als vielmehr auf die Gebiete zwischen dieser und der Erdoberfläche. Ist das schlüssig? Aus der Anlage der Wege, die wir vor drei Monaten nach unten beschritten haben, und aus der Bauart der dortigen Toten Stadt ist dieser Trend nämlich nicht herauszulesen. Naja, bis jetzt denken wir von der Erbauern der Toten Städte als wie von einer homogenen Gruppe. Das muß ja auch nicht der Fall sein - wir wissen eigentlich nichts von ihnen.
Dann knickt der Gang wieder in die Horizontale ab, und das schnellschießende Wasser in der Gangmitte verwandelt sich wieder in einen träge dahinfließenden Bachlauf. Das bleibt aber keine hundert Meter so. Der Tunnel öffnet sich zu einem acht Meter durchmessenden Gewölbe, das vielleicht 50 Meter lang ist. Es hat ungefähr die Form eines liegenden Zylinders mit genau diesen Abmessungen.
In der Mitte dieses Gewölbes ist ein flacher, 50 Meter langer und zwei Meter breiter Teich, aus dem der Bach kommt. Dieser Teich wiederum wird aus 16 kleinen Rinnsalen gespeist, die von der linken Wand herunterkommen. Diese Rinnsale kommen in halber Höhe aus der Wand, und weil die Wand zu steil ist, um bis dahin hinaufklettern zu können, müssen wir uns bemühen, von ein paar Metern darunter so gut wie möglich zu erkennen, wo diese Rinnsale herkommen.
Es sieht so aus wie sechzehn senkrechte Schlitze in der Felswand, jeder Schlitz vom nächsten etwa zwei Meter vierzig entfernt, jeder Schlitz sechzig Zentimeter lang und - das läßt sich am schwersten erkennen - weniger als einen Zentimeter im Durchmesser.
Das ist alles. Die Krümmung der rechten Wand dieses zylinderförmigen Saales zeigt nichts Besonderes, abgesehen davon, daß sie keine Schlitze hat. Dieser ganze Raum ist auch nicht sehr regelmäßig, mit Ausnahme der Anordnung dieser Schlitze. Offenbar kam es darauf auch nicht an.
An der jenseitigen Stirnfläche dieses Zylinders ist eine mannshohe Öffnung. Dort beginnt wieder ein enger, steiler Treppentunnel.
"Okay," sage ich, als wir uns endlich ein Bild gemacht haben, "was ist das nun wieder? Hat jemand eine Idee?"
Das ist nicht der Fall. Auch dieser Raum scheint ein Teil einer sehr elaborierten Wasserwirtschaftsanlage zu sein, genauso wie der Kugelventilraum, durch den wir gekommen sind, die zahllosen Wasserrinnen, die mal unseren Weg begleitet haben und mal nicht. Wozu das ganze? Wozu dieser immense Aufwand? Man braucht sich doch nur umzusehen - das sind Zweckbauten. Keine Tempel, keine Wohnstätten. Was immer die Erbauer der Toten Städte hier machten, es war etwas sehr Konkretes.
Bei den sechzehn Schlitzen in der Wand kommt mir die Vorstellung, was wohl passieren könnte, wenn der Wasserstrom aus diesen Schlitzen plötzlich vorübergehend gewaltig zunähme. Ist es das? Dieses Gewölbe, und der unüblich breite Tunnel, durch den wir gerade gegangen sind, als Reservoir für ein plötzliches Anschwellen der Wassermenge? Dann würde auch das große Kugelventil etwas davon abbekommen und wahrscheinlich schließen. Aber wenn es so ist, was ist der Zweck der ganzen Anlage?
"Gehen wir weiter. Wir haben ja alles gesehen. Vielleicht fällt es uns noch ein!" schlägt Chreich vor. Sie hat ja recht.
Der Tunnel ist anstrengend, weil er steiler ist als die bisherigen Treppentunnel. Außerdem mäandriert er wieder ganz ungewöhnlich in seiner Richtung. Aber das Bewußtsein, inzwischen in so geringer Tiefe zu sein, läßt uns ordentlich marschieren.
Um 16 Uhr ist es soweit: Meereshöhe! Der Treppentunnel ändert sich nicht. Habe ich vielleicht auch nicht erwartet. Wenig später tut er das aber doch: er geht wieder in einen horizontalen Gang über. - Wie nahe mag die Erdoberfläche über uns sein?
Der Höhenmesser steht, als das geschieht, auf dem ersten Teilstrich über der Nulllinie. Etwas höher sogar. Das sind etwas mehr als 25 Meter über dem Meeresspiegel.
Natürlich bin ich mir bewußt, daß die abweichenden Druckverhältnisse in diesen Höhlen, die mit der Außenwelt nicht korreliert sind, und die mögliche Beschädigung des Höhenmessers durch die monatelange Hochdruckbehandlung zu eine um viele hundert Meter von der Wirklichkeit abweichenden Anzeige führen könnten. Vielleicht liegen wir sogar um tausend Meter daneben. Wir wissen es nicht. Sehr tief können wir jedenfalls nicht mehr sein - die Temperatur ist jetzt unter zehn Grad.
Der horizontale Weg geht lange nach Nordwesten, mal geradeaus, mal sich ohne erkennbaren Grund schlängend. Vielleicht eine Viertelstunde geht das so. Es wäre zu schön, wenn wir plötzlich durch ein Tor ins Freie kämen. Aber so einfach kann es ja nicht sein.
Ist es auch nicht. Plötzlich erreichen wir einen weiteren Treppentunnel: Nach unten!
"Muß das sein?" fragt Irene.
"Hast du einen anderen Weg bemerkt? Eine Abzweigung?"
"Nein. Aber wie wollen doch nach oben und nicht nach unten!"
"Natürlich wollen wir das!"
"Ja, kannst du mir dann erklären, warum es wieder nach unten geht?"
"Nein, das kann ich nicht."
"Wir sehen einfach mal nach," wirft Chreich ein, "ob es soweit herunter geht, daß es sich um einen anderen Weg von unten handelt, oder welchen Grund es sonst hat. Ich glaube einfach nicht, daß hier zwei Wege aus der Welthöhle ankommen! - Soll ich vorausgehen und mal nachsehen? Mir macht es nichts, ein paar Meter umsonst abzusteigen!"
"Ja!" sagt Irene.
"Wir sollten uns nicht trennen!" versuche ich, sie zu bremsen. Patt. Chreich sieht von einem zum anderen.
"Kompromiß!" schlage ich vor, "du nimmst Irene's Lampe und gehst schnell voraus. Wir kommen langsam hinterher. Aber nicht weiter als bis zu einer eventuellen Wegverzweigung!"
"Ach, macht doch, was ihr wollt." Irene ist sauer. Und keiner von uns kann die Schuld bei sich selbst finden. Beim besten Willen nicht.
In dieser Pause zufälliger Stille kommt mir der Gedanke, daß wir so nahe an der Erdoberfläche eventuell bereits Geräusche der Zivilisation hören könnten, je nachdem, wo wir sind: Baulärm, Presslufthammer, LKWs, rollende U-Bahnen, Steinbruchsprengungen, oder, falls wir gerade in einem Krieg- oder Bürgerkriegsgebiet auftauchen sollten, die Geräusche explodierender Sprengkörper. Ich frage die beiden Frauen, und eine Weile sperren wir mit angehaltenem Atem die Ohren auf. Wir hören nichts als das Rauschen in unseren eigenen Ohren.
Wir steigen dann doch gemeinsam ab. Langsam natürlich, um unsere Kniegelenke zu schonen und auf keinen Fall zu stürzen. In knapp über 200 Meter Tiefe erreichen wir wieder einen horizontalen Weg. Er wird auch wieder von unserem - oder einem? - Bach begleitet, der an der Stelle, wo die Treppe endet, in einem Loch in der Wand verschwindet. Wie früher fließt er uns wieder entgegen, und der Querschnitt des Tunnels ist wieder bescheidener: Zwei Meter hoch, 70 Zentimeter breit, die linke Hälfte für die Wasserrinne, die rechte zum Gehen.
"Nah?" frage ich Irene, "Was sagst du nun?"
"Und warum dieser Umweg nach oben?"
"Ich weiß es nicht!"
"Ich weiß es!" sagt Chreich.
"Ja?"
"Seht doch mal genau hin! Da, auf dem Boden! Schlamm und Sand! Vor langer Zeit abgelagert! - Vorher hatten wir das noch nicht!"
Sie hat recht. "Was schließt du daraus?" frage ich.
"Es hat wieder mit dem Wasser zu tun. Hier wird gelegentlich Wasser sehr viel heftiger durchkommen als irgendwo anders auf unserem Herweg. Und es führt noch mehr Fremdstoffe mit sich."
"Aha."
"Dieses vorübergehende Gewinnen von mehr Höhe als wir jetzt haben muß also auch etwas damit zu tun haben. Vielleicht, um dem Wasser den Weg zu versperren!"
"Du meinst, wir haben gerade eine Art Damm überquert?"
"Ja, so ungefähr."
"Und was bedeutet das?" fragt Irene.
"Das wissen wir noch nicht. Am besten, wir gehen weiter."
Wir brauchen nicht allzulange zu gehen. Der Tunnel steigt zunächst nur wenig an. Dann, nach wenigen hundert Metern, in denen wir von vorne ein stärker werdendes Rauschen hören, öffnet er sich in eine große Halle, die von unseren Lampen wieder nicht als Ganzes erfaßt werden kann. Es ist 17:20 Uhr, und um uns zu orientieren müssen wir ihn wieder kreuz und quer begehen.
89.2 Der Wippstein
Das auffälligste in dieser Halle ist ein gewaltiger, hausgroßer Fels, der in der Mitte in labilem Gleichgewicht auf seiner Rundung liegt. Er verdeckt die Sicht auf einen großen Teil der Hallendecke, und man kann seine Form auch nicht genau erfassen. Von seiner Flanke fließt an einer Stelle ein kleiner Wasserfall herab - unser Bach. Unter dem Felsen gibt es Öffnungen im Boden, die wie Strudellöcher aussehen. Sie sind aber trocken - kein Wasser fließt da hinein. Man kann nicht sehen, wie tief sie sind, ohne unter den Felsen zu klettern - und das wäre mir unangenehm.
Weitere Tunnelzugänge gibt es in der Halle nicht, aber wir finden in den Wänden einige unregelmäßig verteilte, senkrechte Schlitze, so ähnlich wie die, die wir in dem zylinderförmigen Raum vor über zwei Stunden gesehen haben. Sie sind auch 60 Zentimeter lang und kaum 8 Millimeter breit. Dahinter scheinen größere Hohlräume zu sein, aber wie groß, das können wir nicht ermitteln. Wenn wir mit den Lampen hineinleuchten, dann fällt das Licht ins Leere. Aus diesen Schlitzen kommt weder Wasser heraus, noch kann jetzt welches hineinfließen, da sie hoch über dem Boden sind.
"Wo geht's also weiter?" frage ich. Das wissen die anderen genausowenig wie ich. Immer, wenn meine Lampe Irene streift, sehe ich ihr den Ärger an. Als ob das die angemessene Reaktion wäre - hat einer von uns denn absichtlich diesen Fehlschlag verursacht? Depression oder Angst wären doch eigentlich angemessener. Aber nein - es ist definitiv Ärger.
Irgendwie ärgert mich ihr Ärger. Wir können doch nichts dafür, daß es keinen geraden und direkten Weg nach Hause gibt. Daß wir überhaupt eine Weganlage gefunden haben, grenzt an ein halbes Wunder. Aber nein, Irene ist es nicht recht. Ich blicke auf meine Uhr, weil ich überlege, ob man bald einmal etwas essen sollte. Futtern kompensiert durch Ärger erzeugte überschüssige Magensäure und erzeugt ein paar nützliche Endomorphine im Cortex. Es würde unser aller Stimmung heben. Es ist inzwischen 18:30 Uhr, und die Mahlzeit vorm Schlafen ist noch lange hin.
Chreich deutet auf den Felsen, der trotz seiner Masse so wackelig aussieht: "Das Wasser kommt von da. Vielleicht gibt es einen neuen Tunneleingang da oben - es sieht so aus, als ob der Felsen bis an die Hallendecke reicht!"
Wir gehen um den Felsen herum. An den meisten Stellen bietet er eine einige Meter hohe, senkrechte Flanke, die man kaum erklettern kann. Aber genau gegenüber unserem Tunneleingang finden wir einen schräg verlaufenden Sims von nicht einmal einem Fuß Breite. Da geht's, und da wir dort nur einige Meter Höhe über dem Hallenboden erreichen, ist es auch keine Angstpartie, wie das der Fall wäre, wenn es unter einem solch schmalen Weg tausend Meter in die Tiefe ginge. Da haben wir schon ganz andere Dinge erlebt! - Als ob das Schicksal uns allmählich auf die weniger nervenaufreibenden Verhältnisse in unserer eigenen Welt vorbereiten wollte.
Während des Hinaufsteigens habe ich das unangenehme Gefühl, daß wir den labil gelagerten Felsen durch unser bloßes Körpergewicht bewegen könnten. Aber das ist natürlich Unsinn - Dieser Felsen muß weit über tausend Tonnen wiegen.
Die Form des Felsens auf seiner Oberseite ist verwirrend, und ich habe das Gefühl, daß er künstlich bearbeitet worden ist. Am merkwürdigsten und auffälligsten sind zwei einander gegenüberliegende, runde Pyramidenstümpfe von beträchtlichen Ausmaßen. Beide Pyramidenstümpfe nehmen an Steigung bis zu ihrem Oberplateau zu, in beiden Fällen hat das Oberplateau einen Durchmesser von mehr als eineinhalb Metern, während die Basis drei bis vier Meter breit ist. Beide sind etwa zweieinhalb Meter hoch. Sie erinnern so ein bißchen an den viel größeren 'Devil's Tower' in Montana, der in dem Film 'Unheimliche Begegnung der Dritten Art' bekannt geworden ist.
Der wegen der Schräglage des großen Felsens tiefer gelegene Pyramidenstumpf ragt fast in ein Loch in der Decke hinein. Dieses Loch hat einen Durchmesser von vier Metern, und es gibt keine Möglichkeit, von dieser Pyramide aus dort hineinzusteigen - der Abstand ist zu weit. 'Hineinragen' ist also eigentlich übertrieben, auch weil der Pyramidenstumpf relativ zu dem Loch etwas seitlich versetzt ist, aber auf den ersten Blick macht der Pyramidenstumpf wirklich den Eindruck, als ob er etwas mit diesem Loch zu tun hat. Das ist aber das Einzige, was wie ein weiterführender Weg aussieht. Deshalb inspizieren wir es auch zuerst.
Wir können diesen Pyramidenstumpf tatsächlich besteigen. Das Loch ist zum weiteren Fortkommen sowieso nicht geeignet, wie wir schnell feststellen: Soweit unsere Lampen reichen, handelt es sich um einen senkrechten Schacht gleichbleibenden Durchmessers ohne irgendwelche sichtbaren Kletterhilfen, also Steigbügel oder dergleichen. Einerseits bin ich darüber sehr froh, denn in dieses ungemütliche Loch möchte ich nicht einsteigen. Vom Rand des Loches tropft auch an mehreren Stellen Wasser herunter, so daß jede Art von Klettern in diesem Schacht ungemütlich und gefährlich wäre. Andererseits weiß ich nicht, wie es dann überhaupt weitergehen soll.
Das Wasser, das aus diesem Schacht tropft, ist zuwenig, um unseren Bach zu bilden. Der kommt hauptsächlich von dem anderen Pyramidenstumpf.
"Sehen wir uns den auch mal an!" schlage ich vor.
Der andere, höher gelegene Pyramidenstumpf drückt fest auf die Hallendecke. Überall aus der Ritze zwischen der Hallendecke und der Oberkante des Pyramidenstumpfes quillt Wasser hervor, vereinigt sich um den Fuß des Pyramidenstumpfes herum und bildet den Bach, der zum Rand des Felsens strebt, um seinen ersten Wasserfall zu bilden. Man muß aufpassen, wo man hintritt, weil die nassen Stellen rutschig sind.
Gut. Da kommt unser Bach her. Aber für uns ist das kein Weg.
Plötzlich schüttelt Irene sich. "Igitt!" sagt sie, "Hier tropft es auch irgendwo runter!"
"Da, wo du jetzt stehst?"
"Ja!"
Das ist einige Meter von dem Pyramidenstumpf entfernt. Wir leuchten beide die Decke ab. Die scheint aber trocken und ohne weitere Öffnungen, jedenfalls keine Öffnungen, aus denen es tropfen könnte. So gut man das bei der Beleuchtung sagen kann.
Ich trete dahin, wo Irene steht. In der Tat - nach wenigen Sekunden habe ich die ersten Wassertropfen im Gesicht. Ich drehe mich um meine Achse.
"Es kommt nicht von oben!" stelle ich fest, "Es kommt von dem Pyramidenstumpf!"
"Ja?"
"Sehen wir mal genauer nach!"
Wir klettern alle drei den kleinen Hang des Pyramidenstumpfes soweit hoch, wie es geht. An die Oberkante und die Höhlendecke kommen wir nicht heran, aber auch im trüben Schein unserer Dynamolampen sehen wir es: Nicht überall quillt das Wasser so träge aus der Ritze zwischen Höhlendecke und Pyramidenstumpf. Da ist ein feiner Wasserfaden, der fast waagerecht davonstiebt und sich in der Luft in zahllose Tropfen auflöst.
"Seht euch das an!" sage ich, "Das da! Seht ihr das? Das Wasser steht unter Druck!"
"Und was bedeutet das?" fragt Irene.
"Daß oberhalb dieses Pyramidenstumpfes tiefes Wasser steht - sehr tiefes. Da ist kein Durchkommen!"
"Bei dem anderen Pyramidenstumpf aber auch nicht!" stellt Irene fest. Auch Chreich nickt.
"Schön. Dann ist dieser Raum eben eine Sackgasse!"
"Wir hätten doch den Gang genauer ansehen sollen, wo wir schon über dem Meeresspiegel waren. Da haben wir sicher irgend etwas übersehen!"
"Jaja. Erstmal müssen wir uns hier noch alles ansehen, damit wir hier nichts übersehen!"
Wahrscheinlich ist sie wieder eingeschnappt. Ich will es nicht wissen. Außerdem ärgere ich mich, weil ich auch eben von fliegenden Wassertropfen getroffen wurde. Da müssen noch mehr von diesen feinen Wasserstrahlen abgehen. Sogar Chreich schüttelt sich, als ob sie eben so etwas gespürt habe.
Zwischen beiden Pyramidenstümpfen sind seltsame, schwungvolle Furchen, die diese mitteinander verbinden. Einige gehen direkt von Pyramidenfuß zu Pyramidenfuß, andere schwingen sich auf Umwegen zwischen den beiden Pyramiden. Ein paar sind voll Wasser, weil der Bach durch sie hindurchfließt.
"Sind die künstlich?" frage ich Chreich. Sie weiß es auch nicht.
"Gehen wir?" fragt Irene.
"Gleich!"
Ich trete auf die äußerste Kante des Felsens hinaus, noch hinter dem höheren Pyramidenstumpf. Chreich folgt mir, und die Irene auch, wenn auch widerwillig.
"Diese Furchen sind überall. Sie setzen die senkrechten Furchen in den Pyramidenhängen fort, wo sie nur nicht so ausgeprägt sind. Aber um die Füße der Pyramidenstümpfe herum sind sie wie - ich weiß nicht, wie. Ich habe da irgendwo einen technischen Vergleich. Ich komme nicht drauf."
"Aus der Wasserwirtschaft?" fragt Irene. Sie schüttelt ihre Haare, als ob sie schon wieder Wasser ins Gesicht gekriegt hätte.
"Ja. Warum meinst du?"
"Nur so. Weil ja fast in allen Furchen Wasser herunterläuft."
"Mmh. Das hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten. Andererseits, wenn die Oberfläche dieses Felsens künstlich bearbeitet wurde, dann steckt da ja ein Sinn dahinter. Und diese Furchen sind künstlich, weil kaum ein ..."
"Es wird mehr!" sagt Chreich plötzlich.
"Was wird mehr?"
"Das Wasser. Das Wasser, das da aus der Ritze zwischen Pyramidenstumpf und Höhlendecke quillt!"
"Du spinnst!"
"Nein, sie doch! In der Furche, zum Beispiel, da läuft gerade eine Wasserzunge entlang. Diese Furche war vorher trocken!"
89.3 Malström
Ich leuchte dorthin, wo sie hinzeigt. Sie hat recht. Eine kleine Wasserzunge drängt sich über vormals trockenes Gestein.
Da spüre ich plötzlich einen feinen Wasserstrahl im Gesicht. Meine Wange ist augenblicklich naß.
"Mist. - Also da müssen wir aufpassen! Das Wasser darf unter keinen Umständen in die Lampen ..." sage ich, und im selben Moment begreife ich: Das Wasser wird mehr - das heißt, der Pyramidenstumpf senkt sich!
"Der Fels bewegt sich!" rufe ich. Wahrscheinlich sehe ich bleich aus. Niemand sieht es. In der Stille, die folgt, hören wir ein Zischen. Das war vor kurzem noch nicht da. Das Zischen wird, noch während wir horchen, lauter.
"Unser Gewicht! Wir müssen auf die andere Seite des Felsens!" ruft Chreich und setzt sich in Bewegung.
"Nein, wir müssen weg!" ruft Irene. Angst ist in ihrer Stimme. Sie stolpert. Ich folge ihr. Schon wieder trifft mich Wasser. Das Zischen wird noch lauter. Ich halte die Lampe so, daß ich sie gegen den Pyramidenstumpf mit meinem Körper abdecke. Natürlich pumpe ich weiter.
"NEIN!" ruft Chreich, "Auf die andere Seite des Felsens! Oder auf die Pyramide! Das ist ein Wippstein!"
"Ein was?" frage ich, mehr als beunruhigt: In Chreich's Stimme liegt eine Spur von Panik.
"Ein WIPPSTEIN!" Als ob das alles erklären würde. Noch während wir um diesen Pyramidenstumpf herumstolpern, zischt uns immer mehr Wasser um die Ohren. In reichen Bächen fließt das Wasser den Pyramidenstumpf herunter.
"Halte die Lampe trocken!" brülle ich Irene zu. Ein Wunder, wie Chreich in dem wenigen Streulicht, das sie von unseren Lampen erreicht, zuerst die andere Pyramide besteigen kann. Kurz drauf sind wir auch da. Chreich hilft Irene. Ich schaffe es alleine. Wieso sind wir in der kurzen Zeit so naß geworden?
"Warum denn hier?" frage ich. Chreich antwortet nicht.
Von der anderen Pyramide her rauscht es wie ein Gebirgsbach. Dazwischen das harte Zischen von Hochdruckwasserstrahlen. Es wird immer lauter.
"Ein Wippstein!" ruft Chreich noch einmal, "Wir haben ihn ausgelöst!"
"Was ist das? Was passiert jetzt? Ich will hier weg!" ruft Irene zurück. Das Rufen ist jetzt nötig, so laut ist es in wenigen Sekunden geworden. Ich spüre das Zittern im Felsen unter unseren Füßen.
"Geht nicht! Es ist zu spät! Die ganze Höhle ist gleich unter Wasser!"
"Die ganze Höhle?"
"Ja!"
"Großer Gott!"
Ich nehme Irene in die Arme. Sie glaubt, unser letztes Stündlein hat geschlagen. Das kann immerhin möglich sein. Aber ich bin noch nicht überzeugt, trotz des Höllenlärms, der sich rund um uns herum entwickelt hat. Es ist, als ob ich neben mir selbst stehe und das plötzliche Schauspiel fassungslos und distanziert zugleich beobachte: Hat das etwas mit uns zu tun? Wird jetzt unser letztes Stündlein eingeläutet? Und dann will ich es immer noch nicht so recht glauben, daß sich in diesem Höhlenraum die Dinge jetzt so rasch zu ändern beginnen, wo der doch Jahrtausende lang eine absolute Ereignislosigkeit beherbergt hat.
Wir versuchen, die Dunkelheit mit unseren Lampen zu durchdringen. Vergeblich. Keine Orientierung mehr möglich. Da sind fahle Brücken aus geschleuderten Wassermassen, wie der Grundablaß einer Talsperre. Dauernd verändern sie ihre Formen, ein Meer rauscht über die Oberfläche des Felsens, umspült den Pyramidenstumpf, auf dem wir sitzen, stürzt sich über die Kante in die Tiefe.
Wir fassen uns alle an, umarmen uns gegenseitig. Hilfesuchen, wo keine Hilfe mehr erwartet werden kann. Noch pumpen wir die Lampen. Und siehe: Der Rand des Loches über uns senkt sich ständig! Oder sind wir es, die dem Loch entgegengehoben werden? Schon ist die Kante auf der Höhe unserer Köpfe. Das wird uns gleich vor dem Sprühwasser bewahren. Zu spät natürlich - wir haben keinen trockenen Faden mehr am Leibe. Ein Wunder, daß die Lampen noch funktionieren. Und der ganze Raum um uns herum brüllt mit allen Stimmen der Hölle.
Der Fels unter uns zittert heftig. Nun wissen wir, auf welche Weise diese plötzlichen Wasserströme durch die vielen Höhlen, die wir durchquert haben, zustande kommen. Der Wippstein. Die eine, unsere Pyramide hebt sich, die andere sinkt ab und gibt eine Öffnung nach oben frei. Und dort wartet jede Menge Wasser. Ob wir noch Gelegenheit haben werden, über dieses Wissen zu reflektieren? Und doch - immer weiter werden wir in das abweisende Loch über uns gehoben.
Da steckt doch eine konstruktive Absicht dahinter!
Der Lärm ist unerträglich. Das Ganze ist mit Stoßwinden verbunden, die sich die allerbeste Mühe geben, uns von unserem Pyramidenstumpf wieder herunterzublasen. Das lassen wir nicht zu. Wir halten uns fest. Und nur Meter von uns entfernt schießen Hunderte von Tonnen von Wasser entlang, die uns zu Mus zerschlagen würden, wenn wir nicht diesen zweiten Pyramidenstumpf erklettert hätten. Wieviele Sekunden haben wir uns so erkauft?
Es knackt in unseren Trommelfellen. Wundert mich überhaupt nicht. Wir könnten froh sein, wenn außer unseren Trommelfellen in den nächsten Minuten nichts kaputt geht.
Ich denke flüchtig an den Dammkronenablaß der Okertalsperre, den man kurz nach ihrer Erbauung, als die Talsperre das erste Mal voll war, ausprobiert hatte. Das fallende Wasser hat am Fuße der Staumauer nicht einmal annähernd soviele Energien entfaltet wie dieses hier, und trotzdem hatte man sehr schnell darauf verzichtet, das noch einmal auszuprobieren, weil die ganze Staumauer gebebt hatte. Zu gefährlich. Können wir jetzt nur drüber lachen. Ist mir aber gar nicht nach zumute.
Nun ist die Kante des Loches bereits tiefer als das Plateau dieses Pyramidenstumpfes. Entsprechend weit muß die andere Pyramide drüben abgesunken sein, und entsprechend viel Wasser muß dort durchkommen. Man hört es. Wie lange noch, bis alle erreichbaren Höhlensegmente vollgelaufen sind?
Sind sie wohl schon. Plötzlich steigt rund um unseren Pyramidenstumpf das Wasser an. Steigt schneller.
"Schwimmen!" brülle ich, aber vielleicht hören die anderen es nicht. Das Wasser schwallt an uns herauf, leckt kalt durch die Kleidung hindurch an Schenkeln und Bauch wie bei einem unerwünschten Schwimmbadeintritt im Frühjahr. Es hat aber gleichzeitig das Loch abgedichtet. Schlagartig wird es leiser. Und dunkel, denn unsere Lampen geraten gleichzeitig unter Wasser. Und dann schwimmen wir.
Es ist zunächst nicht sehr schlimm. Das Wasser ist zwar stark bewegt, aber es gelingt uns, uns an der Oberfläche zu halten. Die Felswände rundherum fallen rasch in die Tiefe - da sollte man wohl besser nirgends festhaken. Außerdem kommen wir uns dauernd mit unseren Schwimmbewegungen ins Gehege, weil wir alle von den Felswänden Abstand halten möchten. Dazu die Dunkelheit. - Wir brauchen die Arme zum Schwimmen, sonst würde ich versuchen, ob die Lampe noch funktioniert.
Bei unseren gelegentlichen Kontakten mit der Felswand stelle ich fest, daß unsere Steiggeschwindigkeit fast einen Meter pro Sekunde betragen muß. Das ist ganz ordentlich. Ab und zu kommt uns von oben etwas zischendes entgegen, was, sowie es unter Wasser gelangt ist, anfängt, zu rülpsen wie eine Toilettenspülung. Ich weiß nicht, was es ist, bis ich einmal meine Finger in die Nähe der Wand kriege und den Sog spüre. Dann denke ich, daß es irgendwelche Schlitze in andere Höhlen sein könnten, die dem Druckausgleich dienen. Oder irgend so etwas. Natürlich kann ich darüber keine ausführlichen Erklärungen abgeben - das einzige, was wir von Zeit zu Zeit einander zurufen ist, daß wir noch am Leben und nicht verlorengegangen sind.
Wie lange diese Fahrt nach oben dauert, kann ich nicht sagen. Wieder kommt so ein zischendes Etwas von oben auf uns zu und stürzt ins Wasser. Gleich danach spüre ich den Druck auf die Ohren größer werden.
"Schlucken!" rufe ich noch, "Immer Schlucken!" Dann habe ich genug mit mir selbst zu tun.
Der Druck steigt schmerzhaft schnell an. Dumpf höre ich Irene schreien, aber meine Ohren funktionieren nicht mehr. Hoffentlich hält sie sich über Wasser - ich kann es nicht mehr tun. Ich kann ihr nicht mehr helfen. Ich weiß selber nicht mehr, wo oben und unten ist. Tut das weh!
Da kracht es über uns - kaum kann ich es wahrnehmen, und eine Sekunde später stürzt Wasser schwer auf uns herab. Jetzt ist es vorbei. Ich schlucke Wasser. Viel Wasser. Was soll man jetzt noch tun? Irgendwie reißt einen das Wasser mit, aber man weiß nicht, wohin. Solange haben wir uns behauptet - und jetzt haben wir keinen Einfluß auf unser Schicksal mehr. Entwürdigend. Der Tod ist immer entwürdigend. Wenn wenigstens - ich greife nach Irene's Hand, aber ich weiß ja nicht, wohin ich greifen soll. Nicht einmal das in dieser Sekunde! Und ich schlucke mehr Wasser. Keine Luft mehr in den Lungen, um zu husten. Sogar die Trommelfelle haben aufgehört zu schmerzen - sie müssen kaputt sein. Naja, kaputte Trommelfelle machen auch nicht toter als üblich. Ich weiß nicht, wie lange ich unter Wasser bin und wann das Ertrinken anfängt. Wie weit ist das Wasser schon in meine Lungen vorgestoßen? Kann man das spüren?
Und dann ärgere ich mich, daß ich in einem Anfall die Nähe Irene's gesucht habe. Dieser Gedanke entsteht in einem Moment in meinem Kopf, nicht ausformuliert, sondern als klarer Begriff: Überleben zuerst! Irene wird ertrinken, genauso wie ich. Jedenfalls sind unsere Chancen ganz gering, und mit pseudoheroischen Taten unter Wasser werden sie nicht größer. Ich muß mich selber retten. Das einzige, was noch entfernt Aussicht auf Realisierung verspricht. Schließlich ist der Wasserdruck nur endlich, also ist in endlicher Distanz über uns irgendwo eine Wasseroberfläche. Da muß ich hin. Das hat Priorität, und als mich etwas an den Knöcheln anstößt, versuche ich, mich zu entfernen. Bloß nirgends festhalten lassen, durch eine Felskante oder so etwas.
Und dann ist wieder Luft da. Um mich herum, noch nicht in meinen Lungen. Das Keuchen und Husten ist widerlich, aber der Körper zwingt es. Er würde auch erzwingen, Wasser einzuatmen, aber es ist tatsächlich Luft, richtige Luft. Zum Kotzen. Ja, das ist es - die Lunge herauskotzen. Luft rundherum, und die Lunge herausgekotzt. Hätte man doch ebensogut unter Wasser bleiben können!
Ich schlucke schon wieder Wasser. Aber ich kann es ausspucken. Wir sind an irgendeiner Oberfläche - oder ich bin es. Ich weiß nicht. Wo sind die anderen. Himmel, eben noch war ich bereit, ohne weiteres die Irene ertrinken zu lassen, wenn ich nur selbst rauskomme. Wo ist sie? Irene? Irene! IRENE!!
Habe ich es gerufen? "Husten!" sagt jemand, aber es ist Chreich. Sie lebt wenigstens. Aber Irene? Herrgott, ich kann nichts hören, nichts sehen! Nur Keuchen.
"Kannst du nicht einmal aufhören, um dich zu schlagen? Sonst kann ich sie nicht halten. Sie kommt schon wieder zu sich." höre ich. Kann man also doch mit kaputten Trommelfellen hören?
"Ährg!" antworte ich. Das Wasser trägt nicht. Da sind zuviele Luftblasen drin. Zu Aufgewühlt. Immer noch ist es so, als wolle jemand einem jede Schwimmbewegung in eine andere Richtung lenken. - Wenn wir irgendwo über Wasser sind, dann kann ich aber eigentlich doch die Augen aufmachen.
Ich sehe ein Licht. Einen tanzenden Punkt. "Licht!" sage ich. Es klingt verständlich. "Ja! Ich habe es gesehen!" Chreich's Stimme. Husten. Schweres Husten. Irene's Husten.
"Ich schaffe es schon. Aber komm mir nicht in die Quere!"
Ich versuche, diszipliniert zu schwimmen, Hustenfrequenz reduzieren, aber nicht einstellen. Es ist Wasser in den Bronchien, und das muß raus. Aber atmen muß ich auch.
Schwimmbewegungen. Spucken. An meinem Handgelenk hängt tatsächlich noch die Dynamolampe. Sie muß voller Wasser sein. Ich lasse sie dort, wo sie ist.
Es ist völlig dunkel. Bis auf dieses Licht, von dem ich nicht weiß, ob es ein Glühwürmchen vor unseren Augen ist oder etwas weiter weg. Es verschwindet wieder, wie hinter Nebel ...
"Wir schwimmen dahin!" sage ich. Kalt. Kann kaum nachdenken. Was habe ich mir schon vorher für diesen Fall überlegt? Für welchen Fall? Daß wir schon oben sind? Sind wir oben? Diese Kälte - woher sonst! Es ist November. Mein Gott, wenn wir jetzt im Wasser erfrieren, und wir wissen nicht einmal, wo!
"Schwimmen, dahin! Irene?"
Sie ächtzt. Wir waren nicht lange genug unter Wasser, um ernsthaft Schaden zu nehmen. Jetzt droht uns Schaden. Die lähmende Kälte dieses Wassers. Wie heißt es? Unter zehn Grad Wassertemperatur soviel Zeit in Minuten wie Grad über Null, bis das Bewußtsein schwindet.
"Schwimmen!" sage ich, "Wir sind ja nicht im Meer!"
Das wenigstens ist sicher. Kein Salzwasser. Aber sind wir in einem unterirdischen See, oder sind wir oben? Ein Binnensee? Diese Kälte! - Wenigstens ebben diese Wirbel ab, die jede Schwimmbewegung sabotieren.
"Sie schwimmt jetzt! Nicht wahr, Irene!" Irene gurgelt Zustimmung. Wir alle schwimmen nun mehr oder weniger koordiniert. Nur das Licht ist weg. Eben war es noch da. Jetzt ist es weg. Wir schwimmen dahin, wo wir glauben, daß das Licht dort gewesen ist. Die Rucksäcke behindern, aber sie erzeugen auch Auftrieb. Ein bißchen wenigstens. Warum eigentlich?
Vielleicht dauert es nur Minuten. Vielleicht zehn Minuten. Die Knie schrammen über Geröll. Ufergeröll - Ein Ufer! Wir können aufstehen.
Es muß neblig sein - daß wir so überhaupt nichts sehen können! Aber es ist irgendwie nicht restlos dunkel. Nicht 'höhlendunkel'! Da ist diffuses Licht, von irgendwo her. Rundherum, überall, aber viel zu schwach, um es sinnvoll zu nutzen.
"Weitergehen. Sonst frieren wir uns tot!" sage ich. Nach zwei Schritten schlagen mir Zweige ins Gesicht. Trotzdem marschiere ich weiter, Arm vors Gesicht, und die anderen stolpern hinter mir her.
Während wir uns durch Büsche schlagen, die uns plötzlich den Weg verstellen, höre ich ein fernes Motorengeräusch. Da kurvt ein PKW durch die Nacht, irgendwo. Ein PKW! Wir sind auf der Erdoberfläche! Wir haben es geschafft! Die aufkommende Euphorie wird schnell von der Kälte erstickt. So lange Zeit auf diesen Augenblick hingearbeitet, und jetzt wäre einem die schwüle Welt der Granitbeißer gerade recht. Dabei kann es ja nicht einmal unter Null sein. Auf dem See eben hätte schließlich eine Eisschicht sein können, im November! Also kann es so kalt nicht sein.
Trotzdem. Diese Kälte. Die Finger werden schon steif. Ich probiere die Lampe. Sie muß doch gehen. Ein paar korrodierte Kontakte sind doch jetzt nicht mehr schlimm, und das Wasser sollte aus den Ritzen des Gehäuses herauslaufen. - Und sie geht. Wir können den Büschen ausweichen. Es ist irgendwie ein Uferwald, aber es ist nicht ausgeprägt sumpfig. Und wir haben jetzt ein bißchen Licht.
Dann ein Weg. Ein Feldweg. Oder so ähnlich. Kurz darauf gehen wir an einem Kanal oder an einem Fluß entlang. Biegen von dort wieder ab, verlieren den Weg wieder, marschieren auf einem Trampelpfad durch niedriges Gebüsch. Graues Licht hinter dem Nebel. Eine Böschung. Wir kommen zu einer Straße, und da ist auch wirklich wieder Licht, eins, mehrere. Straßenlaternen. Die Straße, wir laufen sie entlang, um uns warm zu machen. Scheißkälte - es regnet ja auch. Oder ist der Nebel nur so übertrieben naß? Es geht bergauf. Da steht jemand, unter einer der Laternen, an einer Biegung der Straße. Eine Frau in mittleren Jahren. Als ob sie auf etwas wartet. Auf einen Bus vielleicht, nicht auf uns, denn als sie uns bemerkt, sieht sie uns entsetzt an.
"Entschuldigen Sie, wo sind wir hier?" frage ich, "Wo kann man hier unterkommen? Ein Gasthaus oder so?"
Sie versteht nicht.
"Ein Gasthaus! Wir waren im Wasser! Wir sind ganz naß! Hier, meine Frau wird sich den Tod holen! - Bitte! Ein Hotel?"
Die Frau sieht Irene an. "Good gracious!" sagt sie.
"You speak English? Do you speak English? Could you tell us, please: Where are we? - We need a place to stay - a Hotel, a Bed and Breakfast place or so. Do you understand? - See here - my wife is ill! - Do you understand? - Maybe we need a doctor."
Einen Moment lang habe ich die Befürchtung, daß ich mich verhört haben könnte - sie kann weder Deutsch noch Englisch. Wo sind wir bloß? Englisch kann doch fast jeder!
"Yes ..." sagt sie ganz entgeistert.
"And ... where are we? What is this Lake? This Lake down there?"
"Why," sagt sie und sieht uns an, als ob wir nicht ganz bei Troste wären, "that's the Loch Ness, of course. Always has been!"
"Loch Ness?" Ich wiederhole es, und es fällt nicht leichter, es zu glauben, bloß weil ich es deutlicher ausspreche, "Loch Ness? Irene! - Wir sind in Schottland!"
Irene stößt einen Schrei aus und fällt zu Boden. Gerade noch können wir sie auffangen. Dabei fällt mein Blick auf die Uhr. Erst 19:30 Uhr! War es nicht erst eine Stunde her, daß wir uns anschickten, den Wippstein zu besteigen?
89.4 Foyers B&B
Foyers. Ich kenne es. Wir kennen es. Wir waren im Urlaub hier, vor sieben Jahren. Ich zeigte Irene das erste Mal das schottische Hochland. Damals. Ich war noch früher hier. Vor sechzehn Jahren das erste Mal.
Jetzt sind wir wieder hier, und wir wissen kaum, wie. Missis McPersson, so heißt die Dame, wartete an der Bushaltestelle auf eine Bekannte, um sich nach Inverness mitnehmen zu lassen. Kinobesuch. Der fällt aus - die drei nassen Fremden sind viel interessanter. Es geschieht ja nicht viel in Foyers. Und die beiden Frauen brauchen Hilfe - Irene ist völlig fertig, und auch Chreich setzt die Kälte zu. Ich habe ja gesehen, daß sie sich nicht einmal besonders für die Straßenlaternen interessiert hat, die doch soviel heller sind als unsere Dynamolampen und seltsamerweise keine Bedienung brauchen, niemanden, der da dauernd pumpt, und nichts, was brennt.
Foyers Bay House. Bed & Breakfast. Auch das kennen wir - genau da haben wir vor sieben Jahren Logis genommen, und jetzt tun wir es wieder. Eigentlich wird um diese Jahreszeit nicht mehr vermietet, aber bei uns handelt es sich offenbar um einen Notfall. Wir kriegen zwei Zimmer, weil die Landlady mich natürlich nicht mit zwei Frauen im selben Zimmer übernachten lassen will - das ist schließlich ein ordentliches Haus. Ganz logisch finde ich das nicht, denn schließlich bin ich ja mit Irene verheiratet. Aber ich habe keine Lust, das jetzt auszudiskutieren.
Sie fragt, ob sie einen Arzt rufen soll, aber ich lehne ab, denn inzwischen haben sich die Symptome bei Irene auf die der totalen körperlichen und emotionalen Erschöpfung reduziert. Sie muß schlafen, einfach nur schlafen, in einem trockenen, warmen Bett. Und ein Arzt würde ja auch seltsame Fragen stellen, wenn er Chreich untersuchen würde. Sie hat schließlich eine Körpertemperatur, die für einen Menschen augenblicklich tödlich wäre.
Ich frage um einen elektrischen Heizlüfter, und wir bekommen einen. Die beiden Frauen kriegen ihn in ihr Zimmer. Ich habe sowieso die Absicht, später in der Nacht zu ihnen rüber zu gehen. Wegen der Wärme. Das Doppelbett ist groß genug für uns drei. Da haben wir doch ganz andere Schlafstätten kennengelernt.
Kaum, daß ich Chreich den Heizlüfter erläutert habe, muß ich sie dran hindern, denselben mit ins Bett zu nehmen. Mühsam gelingt es mir, ihr klarzumachen, daß das ganze Zimmer schon noch warm werden wird. Und daß diese Schnur zwischen dem Gerät und der Steckdose keine Verzierung ist und nicht einfach durchgeschnitten wird, wenn man das Gerät woanders hinstellen will. Dann helfe ich ihr, ihre Sachen im Zimmer zum Trocknen zu verteilen.
Irene schläft schon, aber bei Chreich ist das Hauptproblem eigentlich nur die Temperatur. Sie erholt sich sehr schnell. Und ich zeige ihr die Wunder dieser Welt: Die Zimmerbeleuchtung, die man an- und ausschalten kann, das Waschbecken und den Wasserhahn, aus dem sauberes Wasser herauskommt, wann immer man will. Dann über den Flur, der kleine Raum. Die Toilette. Ein Becken, das für sie einem Waschbecken sehr ähnlich sehen mag, aber doch so ganz anderen Zwecken dient. Schnelleinführung in die Benutzung einer Toilette. Unterschied zwischen einer Toilettenschüssel und einem Waschbecken, die sich doch so ähnlich sehen. Muß sein. Chreich scheint es zu verstehen, ohne daß ich es ihr explizit vormachen muß. Hoffentlich. Sonst erleben wir hier, in diesem Haus, noch einige peinliche Szenen.
Aber dann muß ich Organisatorisches regeln, weil ich mich noch am besten von der Hektik der letzten Stunden erholt habe.
Unsere Barschaften. Natürlich gab es keinen Grund, auf die Zugspitze soviele Euroscheckformulare mitzunehmen, denn für eine vielleicht notwendige Übernachtung im Schneeferner-Hotel hätte ein einziger gereicht. Aber ich habe vor der Tour auch nicht extra meine Brieftasche ausgepackt und von allem Überflüssigem befreit. Jetzt haben die drei Formulare die ganze Reise durch die Welthöhle mitgemacht - so richtig gelitten haben sie aber erst in den letzten Stunden. Ich muß sie und ein paar Geldscheine kunstvoll trocknen, ohne sie zu zerreißen. Außerdem durchsuche ich aus demselben Grund Irene's Klamotten nach ihrer Brieftasche. Und schon überschlage ich im Kopf, ob das wohl für die Heimreise ausreichen könnte.
Britische Pfund haben wir natürlich nicht bei uns, aber die Landlady sieht, daß wir doch wohl zahlungsfähig sind, und so fällt es mir nicht schwer, einen Berg von 10-Pence-Münzen zu bekommen. Sie will nicht einmal einen unserer schönen deutschen Geldscheine als Sicherheit haben.
Die 10-Pence Münzen sind jetzt erst einmal das Wichtigste. Denn unten, neben dem Eingang, gibt es ein Payphone.
Chreich, die längst über den Schock hinaus ist, will doch noch nicht schlafen. Wir haben nichts Trockenes zum Anziehen für sie, aber dafür verwendet sie ein paar Pullover mehr. Genaugenommen alle bis auf den, den ich selbst anhabe. Es macht ihr offenbar nichts aus, in den schweren, nassen Klamotten rumzulaufen. Sie kommt mit herunter und sieht entsetzt, wie ich anfange, mit diesem Kasten zu sprechen. Immerhin hindert sie dieses Erstaunen daran, die Dinge in der Lounge zu untersuchen - Das Fernsehgerät dort sieht dem Heizlüfter im ausgeschalteten Zustand ähnlicher als der Kamin. Und wenn sie die Funktion des Kamins doch errät, dann wäre das auch nicht so gut, denn es ist ein elektrischer Kamin, wie in vielen britischen Häusern, und die kann man nicht in Brand setzen, ohne das betreffende Zimmer unbewohnbar zu machen.
Vermieter zuerst. Es ist Mittwoch abend, noch nicht allzu spät. Sollte man noch anrufen können.
Basses Erstaunen an der anderen Seite. Aber unsere Wohnung ist noch da. Ja, natürlich, es war schon Polizei da, um nachzuforschen, irgendwelche Hinweise in der Wohnung zu finden, wo wir abgeblieben sind. Anrufe von unseren Kreditinstituten und Arbeitgebern, auch unserer Eltern. Aber die Mietzahlungen sind immer noch überwiesen worden, und so haben sie noch nichts weiter unternommen. Ob die Wohnung benutzbar ist? Natürlich. Sie haben ja nur die Polizei reingelassen und dann wieder abgeschlossen. Ich höre, wie heilfroh sie sind, daß wir am Leben sind und unseren Platz wieder einnehmen werden. Ich versichere, daß wir genau das vorhaben, und daß alle eventuell noch auftretenden finanziellen Unregelmäßigkeiten korrigiert werden. Dann hänge ich auf, bevor ich auf Einzelheiten unserer langen Abwesenheit kommen muß. Gerade noch, daß ich versichert habe, daß es uns gut geht.
"Chreich," sage ich zu ihr, "zunächst wirst du bei uns wohnen können. Wir werden etwas für dich finden."
"Aha," sagt sie, "das hat der Kasten gesagt? - Und was hat er damit gemacht?" Sie zeigt auf die Münzen, die ich noch in der Hand habe, und die man bei einem internationalen Gespräch recht schnell hintereinander in den Apparat hineinwerfen muß.
"Ich erklär es dir noch, Chreich!" sage ich, "Ich erkläre dir noch viel."
Vor dem nächsten Telephongespräch ist die Landlady wieder da. Ich weiß immer noch nicht, wie sie heißt. Sie hat länger mit der Missis McPersson geredet, aber nicht rausgekriegt, was mit uns eigentlich los ist. Kein Wunder, denn die McPersson hat uns ja aus der Dunkelheit kommen sehen und sonst nichts beobachtet. Jetzt, wo unmittelbare Hilfe nicht mehr nötig ist, will sie schon wissen, was mit uns los ist. Mit anderen Worten - ich brauche eine Cover-Story.
Oder, noch besser, ich fange zuerst an, zu fragen. Wie viele alte englische Muttchens ist diese Dame sicher sehr erbaut, wenn man mit ihr redet und sie dabei genügend häufig zu Worte kommen läßt. 'Genügend häufig', das heißt 'dauernd'. Mal sehen, ob das klappt, wenn ich ihr ein paar Stichworte vorwerfe. Da hätte ich nämlich was.
Vor vielen Jahren hatte es nämlich unten an der Bucht von Foyers auf dem Parkplatz einen Wohnwagen gegeben, und einen gewissen Frank O'Searle, der darinnen wohnte und sein Leben damit zubrachte, nach dem Ungeheuer von Loch Ness Ausschau zu halten und harmlose Touristen in ein Gespräch über das Monster zu verwickeln. Sein Wohnwagen war voll von Photos, und ständig stand eine Kamera mit einem Teleobjektiv schußbereit auf einem Stativ, denn man kann ja nie wissen, ob einem nicht wirklich einmal das vor die Linse kommt, wovon man so fließend erzählen kann.
Der Wohnwagen war schon nicht mehr da, als wir 1988 hier waren, und dieser O'Searle auch nicht. Schon damals, also 1988, habe ich ein junges Mädchen, die in diesem Hause das Essen auftrug, befragt, wo der wohl geblieben ist. Ich erfuhr, daß es sich um einen 'Con-man' gehandelt hat, was immer das ist, und daß er eben nicht mehr da ist. Das war alles. Von anderen habe ich vor sieben Jahren zu diesem Thema überhaupt nichts erfahren - als ob niemand drüber sprechen wollte. Naja, jede community mag da so ihre Leichen im Keller haben. Trotzdem probiere ich es jetzt noch einmal.
Fehlanzeige. Die Landlady weiß auch nichts, oder sie gibt vor, nichts zu wissen. Und nach zwei Sätzen sind wir wieder da, wo sie hinwill: Nämlich, wo wir denn herkommen.
Gleichzeitig mit meinem Gespräch muß ich auch auf Chreich aufpassen. Gerade probiert sie, ob man den Fensterkitt, der die Glasscheiben in der Tür hält, herausbohren kann. Ich stoppe sie, als ich es bemerke. Wie gut, daß sie noch nicht auf die Idee gekommen ist, die Biegesteifigkeit von Fensterglas zu testen! Und die alte Lady sieht sehr erstaunt zu.
"She has not been in this civilization for very long!" sage ich.
"Oh. Interesting. Poor Girl."
"This 'poor girl' is about thirty." stelle ich fest.
"She's feverish, is she? I feel the heat!"
Geht schon los. Ich kann nicht zulassen, daß irgend jemand mit der Information über Chreich's hohe Körpertemperatur hausieren geht. Es darf nicht sein, daß sie letztlich in einem medizinischen Labor endet. Allmählich geht mir auf, daß wir sie als ganz normalen Menschen in die Welt einführen, ja einschmuggeln müssen. Wie macht man das? Wie ist man ohne Geburtsurkunde, Paß und Personalausweis ein normaler Mensch? Ich sehe weitere Schwierigkeiten auf uns zukommen.
"She's feverish indeed, but she has a quite strong nature. She takes it like nothing, you know. Hardly notices it. She wouldn't believe you if you'd tell her that she's ill. Neither she would believe me. - By the way, she can't speak a single word English."
"Oh. I understand." sagt die Alte und versteht nichts.
"We all are entitled to be feverish. Our car went down in the Loch, you see."
"Oh!"
"Yes. I'm afraid there's not a way to recover an object out of a lake that deep."
"I'm afraid it's not," sagt sie, "but how come that you didn't know that it's the Loch Ness indeed?"
Verflucht noch mal. Die McPersson hat doch alles erzählt, was sie gesehen und gehört hat.
"We were not so shure - we got lost. There are other lochs around, you know."
"Yes, Yes, there are, yes, yes. But you seemed even uncertain whether you are in Scottland or somewhere else!"
Die Alte würde eine gute Untersuchungsrichterin machen. Gerade, daß ich unsere Unsicherheit, wo wir waren, teilweise als Scherz verkaufen kann. Aber ich muß so verdammt lange auf sie einreden, daß ich danach keinen Nerv mehr für einen Anruf bei uns zuhause habe. Morgen, sage ich mir. Sonst bleiben sie ohnehin die ganze Nacht wach, meine Eltern und Irene's Eltern.
Dann, als die Alte sich endlich trollt, nehme ich Chreich bei der Hand, zeige ihr, wie man die Topfpflanze wieder in den Topf zurückverfrachtet und daß der Sessel ganz gut auf seinen vier Füßen stehen kann, so wie er es schon vorher getan hat, und dränge sie sanft, mit mir wieder nach oben zu gehen.
"Chreich," sage ich in Xonchen, "nimm es mir nicht übel. Aber du fällst auf. In dieser Welt muß ich dir erst einiges zeigen, bevor du dich sicher bewegen kannst! Und es ist nicht üblich, die Einrichtung in einem Hause, wo man zu Gast ist, auseinanderzunehmen! Dabei kann viel kaputt gehen!"
Chreich sieht mich groß an. Und ich sehe aus den Augenwinkeln, daß die Landlady doch noch in der Tür zu ihren Privaträumen steht und jetzt angestrengt überlegt, welche Sprache das wohl sein könnte. So etwas hat sie wohl noch nie gehört.
Wenigstens eines scheint mir sicher: Niemand hat beobachtet, wie wir da aus dem See herausgekommen sind. Niemand hat das wallende Wasser und die Luftblasen gesehen. Kälte, Nebel und Dunkelheit haben diesen Vorgang völlig verborgen.
Später, als wir es uns zu dritt im Bett bequem machen, denke ich an den seltsamen Ruf des Loch Ness: Das sagenhafte Monster. Die Verbindung zur Welthöhle. Stehen da uralte Fragen vor ihrer Lösung?
Natürlich kann kein Saurier den Weg nach oben gebracht werden, den wir gekommen sind. Völlig unmöglich. Aber alles andere - da muß doch ein Zusammenhang sein! Das kann doch nicht Zufall sein! Hier sind wir am Loch Ness, gerade angekommen aus einer Welt, in der es diese Monster noch gibt!
Ich bin wohl der letzte, der einschläft. Vielleicht liegt das nicht nur an den ungelösten Fragen, sondern an dem 27-Stunden Rhythmus, der uns noch in den Knochen steckt.
Allerdings hat Chreich sich darüber gut hinweggesetzt. Sie schläft wie ein Stein. Genau wie Irene.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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