Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** 088. Tag: Dienstag 95-11-14 ********

88.1 Tunnel und Bäche

Wir wachen um 5 Uhr auf. Das ist die dem 27-Stunden-Rhythmus gemäße Zeit, und das bringt mich auf eine Idee, die ich beim Essen anspreche:

"Vielleicht sollten wir uns allmählich auf den 24-Stunden Rhythmus umstellen? Wo immer wir raufkommen werden, ich möchte, daß das bei Tageslicht der Fall sein sollte."

Obwohl ich Chreich weder ansehe noch anleuchte, bemerke ich, wie sie ein Gesicht zieht. Sie ist dagegen. Sogar Irene, die manchmal doch die Relevanz von Ausgeschlafenheit für bestimmte anspruchsvolle Tätigkeiten abgestritten hat, ist dagegen.

"Warum wollen wir nicht warten, bis sich uns von selbst ein anderer Rhythmus aufdrängt?" fragt sie. Eigentlich hat sie damit recht. Natürlich kann es dann sein, daß wir zu einem ganz unangenehmen Zeitpunkt rauskommen.

"Und vielleicht wollen wir auch gar nicht tagsüber rauskommen? Wir wissen doch überhaupt nichts - wo wir rauskommen." Hat sie schon wieder recht. Hoffentlich macht sie kein Prinzip daraus. Aus dem Rechthaben, meine ich.

Okay, die Idee, sich jetzt schon an den 24-Stunden-Rhythmus anzupassen ist also gestorben. Ist ja auch egal - so ein bißchen flexibel sollten wir ja in unserem Alter noch sein. Und keiner der Rhythmen des Menschen hat eine strenge Periodik - synchronisieren läßt sich fast alles. Sollte eigentlich jeder an sich selbst bemerkt haben - bis auf die vielen Menschen, die Geld für Biorhythmus-Programme ausgeben oder solche selber herstellen. Es geht uns hier unten ja eigentlich nichts an, aber diese fundamentale Dummheit und dieses elementare Nichtwissen über bestimmte Aspekte der menschlichen Natur ist zum Heulen. - Hier, dieser 27-Stunden-Rhythmus ist bis jetzt der einzige, strenge Rhythmus, den ich beim Menschen - also bei uns - je beobachtet habe. Aber ich würde ein Jahresgehalt darauf verwetten, daß das nur daran liegt, daß wir den Synchronisationsmechanismus nicht kennen.

Bei dem Gedanken an Zeitsynchronisationsprobleme fällt mir die Sommerzeit ein, die ja inzwischen zu Ende ist. Aber nur einen Moment bin ich irritiert. Die hat man ja im letzten Jahr europaweit wieder abgeschafft, fällt mir ein. Endlich. Den Kosten der beiden Synchronisationspunkte im Frühjahr und im Herbst und den Kosten der Verwechslungen dieser beiden Zeitskalen stand kein meßbarer Nutzen gegenüber. Meine Armbanduhr zeigt mir also immer noch die korrekte Zeit an.

Nach dem Essen Morgentoilette. Wasser ist ja genug da. Zum Waschen und zum Reinpissen. Das hört sich nicht hygienisch an, aber es ist unter den gegebenen Umständen das Naheliegenste. So schnell wird hier niemand mehr vorbeikommen, und unsere körperliche Entschlackung auf dem Trockenen zu erledigen würde bedeuten, eine Duftleuchtturm zu hinterlassen, der weit durch den Tunnel auf sich aufmerksam macht und noch viele Tage lang aktiv bleibt, und der danach im Laufe der Jahrtausende vielleicht zu einem Cropolithen wird. Das muß ja nicht sein. - Natürlich waschen wir uns oberhalb der Stelle, die wir als Toilette gebrauchen. Ist ja wohl auch naheliegend.

Der weitere Marsch, den wir nach 6 Uhr antreten, führt zunächst durch den Tunnel, der seinen Querschnitt nicht verändert. Allerdings windet er sich, so daß nur eine ungefähre Angabe über seine Richtung gemacht werden kann, und auch seine Steigung variiert von unmerkbar bis deutlich. Mal schießt das Wasser behende die Rinne entlang, kaum mehr als den Boden bedeckend, mal scheint es in dem breiten und tiefen Becken nahezu still zu stehen, und seine Färbung verhindert dann, daß man den Boden der Rille noch gut anleuchten und betrachten kann.

Um 8 Uhr haben wir etliche Kilometer zurückgelegt. Der Höhenmesser zeigt eine Tiefe von 2350 Meter an. Wir haben also in zwei Stunden gerade 100 Meter erklommen. Das ist wenig, aber wenn wir dieses Steigtempo beibehalten, dann sind wir in fünf Tagen auf Meereshöhe. Spätestens dann muß uns klar werden, wie es weitergeht. - Mir kribbelt es in der Magenhöhle: Bald werden wir einen zweiten Zugang zur Welthöhle kennenlernen! Wo es wohl sein wird? - Wir haben weite Strecken zurückgelegt. Es muß irgendwo in Nordeuropa sein. Glaube ich. Genauer kann man noch nichts sagen.

Zwei Stunden Ereignislosigkeit - in der Welt der Granitbeißer kann man ja nicht erwarten, daß es so bleibt. Plötzlich beginnt ein Treppentunnel. Das wäre ja nicht schlimm. Aber das Wasser tritt aus einem etwa 30 Zentimeter durchmessenden Loch aus der Wand aus. Wir werden ohne Wasserbegleitung weitermarschieren müssen.

Wir bleiben stehen. Das Loch ist kreisrund und sieht künstlich aus. Es ist aber nicht gemauert, sondern wie alles andere hier aus dem Fels herausgearbeitet.

"Es widerspricht ein bißchen der Idee, dem Wasser zu folgen. Unseren Wegweiser sind wir damit los." sage ich.

"Geschwätz." stellt Irene in Deutsch fest.

"Was willst du damit sagen?"

"Das sehen wir doch, daß es nicht weitergeht!"

"Das ist noch lange kein Grund, alles, was ich sage, als 'Geschwätz' zu bezeichnen! Außerdem geht es weiter - da ist die Treppe!"

Irene gibt Ruhe. Ich habe es im Urin: Sie ist auf Streit aus. Was habe ich denn wieder falsch gemacht? Ich bin mir keiner Schuld bewußt. Und wir nähern uns - wahrscheinlich - dem Ende unseres Abenteuers. Da ist doch Euphorie angebracht - statt dessen wird sie quengelig.

Chreich steht hilflos daneben, da sie unsere letzten ausgetauschten Worte dem Sinn nach nicht verstanden hat, dem Tonfall nach aber wohl. Sie sagt auch nichts.

"Jedenfalls gehen wir jetzt da rauf, weil wir ohnehin keine Alternative haben. Was willst du eigentlich? Es ist ein hevorragender Weg! Wir können uns glücklich schätzen, wenn es so bleibt!" sage ich in Xonchen und mit fettgedrucktem Tonfall.

"Wenn es so bleibt."

"Wenn nicht, dann kann ich es auch nicht ändern. Auf geht's. Oder will jemand noch ein Vollbad nehmen?"

Immerhin hält sie den Mund, als wir anfangen, in dem Treppentunnel zu steigen. Ich bin der erste, und ich bemühe mich, trotz aufsteigender Aggression nicht schneller als normal zu gehen. Es ist wesentlich, daß auch Irene nicht vorzeitig erschöpft ist. Auch ein geringes Steigtempo fordert ihr soviel Anstrengung ab, daß sie fortfährt, den Mund zu halten.

So habe ich Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, was ihr wohl wieder über die Leber gelaufen sein mag. Eine reichlich unfruchtbare Beschäftigung - Ich liebe es, meine Gedanken schweifen zu lassen, aber nicht in den Gefilden möglicher Ehestreitthemen.

Es kann sein, daß es eine einfache Assoziation ist: Vor drei Monaten, auf dem Runterweg, gab es auch solche Tunnel. Es gab aber auch diesen widerlichen Klettersteig im Dunkeln, der nur aus Eisenstäben bestand, die aus der Wand ragten - ohne jede Seilsicherung, ohne jede Möglichkeit, sich sonstwo irgendwie wirksam festzuhalten. Kein Grund, anzunehmen, daß wir jetzt noch etwas ähnliches erleben werden - aber vielleicht projiziert Irene die Verantwortlichkeit, daß es eben doch noch sein könnte, auf mich. Ich bin der Prügelknabe für einen potentiellen Alptraum, der wahrscheinlich gar nicht einmal geträumt, geschweige denn Wahrheit werden muß.

Aber was soll ich mich aufregen? Ein Ehemann ist doch sowieso Prügelknabe für vieles. Abreaktionspuffer für die emotionalen Instabilitäten seiner Ehefrau. Es ist doch nicht neu für mich. - In solchen Momenten ist man manchmal geneigt, die inhumane Unterdrückung der Männer bei den Granitbeißerinnen für ein besseres Schicksal zu halten. Da weiß man wenigstens, was man hat, und man hält sich einen gesunden Klassenhaß am Kochen. - Oder auch nicht: Vielen, die ich auf Casabones gesehen habe, mußte man erst beibringen, was Auflehnung und Haß und Kampf ist. Und was habe ich doch an Widerlichkeiten bei den Granitbeißerinnen gesehen - natürlich ist ein normaler Ehekrach das humanere Los. Herwig, laß dich nicht durch die Perspektive täuschen. Hättest ja nicht heiraten müssen, wenn es dir nicht paßt.

Wie Chreich wohl damit fertig werden wird, daß Männer in unserer Welt auch als richtige Menschen zu behandeln sind?

Der Tunnel ist so hoch, daß keiner von uns gebeugt gehen muß, aber seine Breite ist bloß 50 bis 60 Zentimeter. Hintereinandergehen ist also schon notwendig. Dann kommt man gut durch, wenn es auch nicht möglich ist, die Hände beim Gehen in die Hüften zu stemmen und die Ellenbogen abzuwinkeln, um eine möglichst gute Kühlung der Körpers zu erzielen. Eigentlich mache ich das ganz gerne, aber wir müssen ja nicht so rennen, daß wir in Schweiß geraten.

Der Tunnel windet sich, verändert dauernd seine Richtung, so daß es kaum möglich ist, einen Trend herauszulesen, selbst wenn man häufig den Kompaß konsultiert. Auch scheinen Rechts- und Linkskurven gleich häufig zu sein. Ohne Kompaß würde man die Richtungsorientierung restlos verlieren. Ob da eine Absicht hintersteckt?

Nach ein paar Dutzend Minuten kommt ein waagerechtes Tunnelstück, das wieder nach wenigen hundert Metern in einen weiteren Treppentunnel übergeht.

Das passiert immer wieder mal, und als wir um 9 Uhr erneut ein solches horizontales Stück betreten, werden wir über eine Strecke von dreißig Metern wieder von unserem Bach begleitet, der aus einem Loch in der Wand heraustritt, über diese Strecke hinweg uns in seiner Rinne neben dem Weg entgegen fließt und dann wieder in einem gleichartigen Loch verschwindet. Die konstruktive Absicht dahinter ist nicht zu erkennen. Ich unterdrücke den Impuls, mich zu Irene umzudrehen und zu sagen: 'Siehste?'.

Der Höhenmesser sagt, daß wir in einer Tiefe von 2150 Metern sind. Der Treppentunnel, durch den es dann weiter hinaufgeht, unterscheidet sich in nichts von den Tunneln, die wir in der letzten Stunde durchstiegen haben.

Zweimal ist eine Pause nötig, einmal, weil Irene pinkeln muß, das andere Mal will sie eine Handvoll Maisbeeren aus unserem Vorrat essen. Ich habe aber nicht den Eindruck, daß sie den Marschfortschritt künstlich aufhalten will. Sie scheint wirklich nicht gut drauf zu sein. Vielleicht hat sie ja auch ihre Tage - ich bin gar nicht mehr informiert, wie ihr Rhythmus liegt. - Wie der wohl durch den Aufenthalt in der Welthöhle verändert wurde? Ich muß bei Gelegenheit mal nachfragen. - Jedenfalls erreichen wir bei diesem Steigtempo um 10 Uhr eine Tiefe von genau 2000 Metern.

"Noch eine halbe Umdrehung auf dem Höhenmesser, und wir sind in Meereshöhe!" verkünde ich nach hinten, "Das ist soviel wie von Hammersbach zum Zugspitzgipfel! Bloß!" Irene's Reaktion ist gemessen, aber Chreich fragt, ob wir dann oben sind.

"Nicht unbedingt," sage ich, "wir kommen ja wahrscheinlich unter dem Festland heraus. Und das kann im schlimmsten Falle noch eine Höhe von 1000 oder 2000 Metern haben. Ein paar hundert Meter über dem Meeresspiegel sind eigentlich auf jeden Fall zu erwarten. Dazu kommt die Unsicherheit dieses Höhenmessers - ich kann wirklich nicht sagen, ob er die Hochdruckbehandlung der letzten drei Monate übelgenommen hat oder nicht. Er kann sonst was anzeigen. Aber ich denke, allzu falsch liegen wir nicht - wir spüren ja in unseren Knochen, was wir gestiegen sind."

Bald danach durchsteigen wir eine größere Höhle, die wahrscheinlich beim Tunnelbau ausgenutzt wurde, so, wie wir das stellenweise auch vor drei Monaten gesehen haben. Die Treppe ist nach wie vor in ihrer Qualität unverändert, nur die Wände weichen einige Meter zurück, und rechts und links verlaufen parallel zur Treppe abschüssige Steinplatten, aus denen diese Treppe gehauen wurde. Die Höhe dieser Höhle übersteigt nie mehr als ein paar Meter, und nach kaum einer Viertelstunde sind wir durch.

Mir fällt auf, daß diese kleine Höhle, die wir eben passiert haben, nicht mehr 'granitbeißerweltartig' aussah, was immer das sein mag - ich kann nicht genau sagen, woran das lag. Höchstens, daß eine solche Höhle nirgends auf der Welt mehr besonders auffällig gewesen wäre. Keine geologisch nicht erklärbaren Formationen.

Weitere 10 Minuten später passieren wir einen fünf Zentimeter breiten Spalt in der Tunnelwand, durch den wir, wenn wir die Lampen ausgehen lassen, fernes Wasserrauschen hören können - vielleicht unser Bach. Ein kalter Luftzug kommt aus diesem Spalt, gerade eben fühlbar. Während dieses Aufstieges sind uns noch nicht wesentliche Luftströmungen aufgefallen. Ich führe das darauf zurück, daß die engere Geometrie der Tunnel in dieser Gegend im Vergleich zur Region unseres Abstieges Luftbewegungen weitaus eher dämpft. Das gibt mir aber auch Gelegenheit, darüber nachzusinnen, an welche Gefahren wir überhaupt noch nicht gedacht haben - Höhlen oder Tunnelsysteme mit geringem Gasaustausch könnten mit Grubengas gefüllt sein. Reiner Zufall, daß wir diese spezielle Schwierigkeit noch nicht hatten. Oder weise Voraussicht der Erbauer dieses Weges. Ja, und beim Abstieg vor drei Monaten, und bei der Besteigung von Casabones hätten wir das Problem mit dem Grubengas genauso haben können. Kein einziges Mal habe ich daran gedacht. Nicht einmal den beruhigenden Gedanken, daß die Art des Gesteins und die Abwesenheit von Kohlenflözen und dergleichen das Auftreten von Grubengas eher unwahrscheinlich macht, habe ich gefaßt. Wir sind vielleicht ein paar 'umsichtige' Abenteurer!

Um 12 Uhr erreichen wir in 1700 Metern Tiefe ein waagerechtes Stück Gang, das sich wenig später in eine lange geräumige Höhle öffnet. Der Weg schlängelt sich erkennbar und noch leidlich gut ausgebaut zwischen dem Geröll dahin, und immer noch vermissen wir unseren Bach. Da wir nicht wissen, was noch vor uns liegt, entscheiden wir uns für eine Pause. Dazu ist der Platz günstig, da viele große Steinplatten herumliegen, die so aussehen, als seien sie irgendwann aus der Decke herausgebrochen.

Während des Essens, das zum größten Teil wieder in völliger Dunkelheit stattfindet, weil man ja auch im Dunkeln kauen kann, denke ich an die immensen Abmessungen der Welthöhle unter uns, die man, wenn man hier das erste Mal herunterkäme, überhaupt nicht vermuten würde. Einen Hinweis auf das, was vor einem liegt, gibt es für den ahnungslosen Höhlenforscher und Wanderer in der Gegenrichtung genausowenig wie für uns vor drei Monaten. Selbst für uns, die wir von dort kommen, verzerrt sich jetzt, im Nachherein, die Erinnerung. So erscheint mir jetzt die Welthöhle in der Erinnerung taghell. Das war sie aber nicht. Die Leuchtenden Wolken konnten ja nur eine Beleuchtung erzeugen, die einem sehr trüben Tag auf der Erdoberfläche entspricht. Das ist vielleicht für eine Granitbeißerin wie Chreich, die nichts anderes kennt, taghell. Für uns eigentlich nicht. Und trotzdem, wenn ich mir diese lichtdurchfluteten Säulenhallen da unten vorstelle, die sich öffnen wie ein Spalt in glühender Schlacke, wo sich zähe Metallreste wie Fäden von oben nach unten bilden - da durchhuscht mich eine flüchtige Erinnerung: So etwas wie die Welthöhle habe ich doch schon einmal gesehen, wenn auch in viel kleinerem Maßstab. Wo nur?

Ein zähes Material, das unter Zugbelastung reißt und dabei den Riß zunächst noch mit Fäden überbrückt, einige davon dicker, andere dünner. Schlacke, die aus einer Lore ausgekippt eine Halde runterrollt. Lava aus einem Vulkan. Ja, ein schon gestrichenes Butterbrot, das man wieder aufbiegt. Oder Flächen, die man mit Klebstoff bestreicht, zusammendrückt und wieder auseinanderzieht. Das alles kann im Zentimeter- und Millimeterbereich Formationen erzeugen, die den Formationen der Welthöhle ähnlich sind. Was spielt da zusammen? Ein gewisses Verhältnis von Viskosität des Materials und seiner Oberflächenspannung. Kann man daraus eine Erklärung der Existenz der Welthöhle schnitzen?

Hohe Viskosität - vielleicht. Ein Mischmasch von verschiedenen Materialien, einige davon von glasiger Konsistenz, langsam abkühlend, könnte vorübergehend jeden Grad der Zähigkeit annehmen. Aber mit der Oberflächenspannung ist es schon schwieriger. Die kann nicht beliebig groß werden, weil sie durch die Wechselwirkung oberflächennaher Atome mit der Oberfläche selbst entsteht. Eine große Oberflächenspannung brauchte man aber, um die großformatig gerundeten Formen der Säulen in der Welthöhle zu erklären. - Wenn man bei dieser Erklärung wirklich auf die Oberflächenspannung zurückgreifen will.

Und dann: Woher sollte die Kraft kommen, die diesen gigantischen, horizontalen Riß unter der Erdoberfläche auseinanderdrückt? Gas? Unter immensen Überdruck, Wasserdampf vielleicht, der durch diese Höhlen tobt, und zufällig gibt es keine Entweichstelle nach außen. Vielleicht eine bestimmte Art von unüblichem Vulkan, der es nicht bis zur Oberfläche geschafft hat? Wie lange mag es gedauert haben? Vielleicht ist das Wasser in den Meeren da unten das kondensierte ehemalige Treibgas - aber sollte es dann nicht viel mineralhaltiger sein?

Ich denke weiter. Vulkanische Vorgänge. Ungleichmäßige Erwärmung des Gesteins. Langsames Abkühlen. Kriege ich auf diese Weise etwas, das wie eine hohe Oberflächenenergie wirkt? Etwa geringere Oberflächentemperaturen, die zu größerer Viskosität der Oberflächen führen, während die Welthöhle durch den immensen Druck von vielen Milliarden Tonnen Wasserdampf aufgebläht wird? Könnten die Säulen so entstanden sein? Oder gibt es Wärmeleitungsströme, die das Festwerden des Materials in der Welthöhle so strukturieren, daß es während der Entstehung der Welthöhle zu diesen Säulen kommt?

Verrückt, denke ich: Da gibt es in diesem klassischen Adventure-Spiel, das ich vor langer Zeit kennengelernt habe, diesen unterirdischen Vulkan, von dem man erst im Laufe vieler Versuche herauskriegt, daß man mit ihm nichts weiter machen kann als ihn anzusehen. Schade, habe ich damals gedacht, daß so etwas - ein unterirdischer Vulkan - in der Wirklichkeit nicht existieren kann.

Nun bin ich da nicht mehr so sicher.

Dann denke ich an die Legende, die uns Ganvoch von der Entstehung dieser Welt erzählt hat: Erst fegten Feuer und glühende Gesteine durch die Welthöhle, dann unendliche Mengen von Wasser. Eine fast passende Beschreibung!

Und es gibt doch noch andere, ähnliche Vorgänge, die in Verbindung mit Vulkanismus Höhlen erzeugen. Da, auf Lanzarote zum Beispiel, dieses Tunnelsystem, das vom Fuße des Monte Corona bis zum Meer und darunter führt. An diese Höhlen, die durch unterirdisch fließende Lava erzeugt wurden, die außen erstarrte und innen dann ganz wegfloß, habe ich ja schon ganz am Anfang unseres Abenteuers gedacht. Ich hatte damals allerdings eine ähnliche Erklärung wegen der viel größeren Abmessungen der Welthöhle im Vergleich zu den bekannten vulkanischen Höhlen verworfen. Aber das muß ich vielleicht revidieren: Irgendwie muß die Welthöhle ja entstanden sein, und die auf Vulkanismus basierenden Erklärungen sind da immer noch am naheliegendsten. Zusammen mit anderen Erscheinungen.

Vorgänge ähnlich der Verkarstung kann ich allerdings, denke ich jetzt, mit Sicherheit ausschließen. Die Gesteine, die wir gesehen haben, waren nicht wasserlöslich. Gerade bei diesem Aufstieg sieht man es: Wenn man in diesem Fels Wasserrinnen anlegen kann, die vielleicht Tausende von Jahren Wasser führen, ohne sich zu verändern, dann kann man mit denselben Vorgängen auch nicht in Jahrmillionen Höhlen in dieser Größe erzeugen.

Es führt alles wieder zu Abschätzungen über das Alter der Welthöhlen: Dutzende, vielleicht hunderte von Millionen Jahren müssen es sein, weil wir Tiere vorgefunden haben, die aus den Erdzeitaltern Trias, Jura und Kreide stammen und sich deutlich weiterevolutioniert haben. Viel mehr kann es aber auch nicht sein, weil nicht einmal eine Kontinentalplatte solange unverändert überdauern kann. So gibt es Subduktionszonen, wo Platten in die Tiefe geschoben werden. Das würde eine Großformation wie die Welthöhle nicht überdauern. Oder ist der Boden von Mitteleuropa so alt oder schon solange unverändert? Wieder stoße ich an die Grenzen meines dürftigen geologischen Grundwissens.

Wahrscheinlich ist es nur diesen meinen eng gesteckten Wissenslimitationen zu verdanken, daß mir noch andere Erklärungen einfallen, die jeder geschulte Geologe wahrscheinlich belächeln würde. Zum Beispiel: Warum schwimmen die Kontinentalschollen auf dem Erdmantel? Bisherige Meinung, jedenfalls meine: Das Material der Kontinentalschollen hat eine geringere Dichte als der Erdmantel. Das jedenfalls habe ich so gelernt. Aber die Welthöhle muß vermöge ihres gewaltigen Volumens einen großen Beitrag zum Auftrieb dieser Kontinentalscholle leisten. Wieviel das nun ausmacht, dazu fehlen mir genaue Daten - ein paar Meter, ein paar hundert Meter? Regelfall ist, daß unter einem wahllos herausgegriffenen Stück Land keine Welthöhle ist. Das gleichmäßig auf der gesamten Fläche des Kontinentes verteilt gedachte Volumen der Welthöhle entspricht einer Schicht, die so hoch gar nicht sein kann.

Analogieschlüsse zwischen klein und groß sind manchmal ganz nützlich, bei manchen Formationen sogar recht erfolgreich. Einen Stein in Schlamm zu werfen, zum Beispiel, erzeugt manchmal, wenn die Randbedingungen günstig sind, einen flachen Krater mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Mittelberg. Genau wie viele Mond- oder Merkurkrater. Die Ähnlichkeit des Vorgangs ist naheliegend. Aber ein Einschlagskrater ist eine häufige Formation. So etwas wie die Säulen in der Welthöhle, ja die ganze Welthöhle kennen wir bis jetzt noch nicht. Wir haben keine Vergleiche. Alles ist noch Spekulation.

Wasser. Warum haben wir in den Meeren Süßwasser vorgefunden? Wenn dieses Wasser schon so lange eine Rolle in der Welthöhle gespielt hat, dann kann das eigentlich nicht sein. Aber auch da kann ich mir eine plausible Antwort an den Haaren herbeiziehen, wenn es sein muß: Diese Meere können nämlich das Äquivalent unserer Binnenseen sein. Irgendwo anders gibt es in der Welthöhle einen salzigen und mineralhaltigen Ozean, der durch geothermische Einwirkung viel wärmer als der Teil des Ozeans ist, den wir befahren und kennengelernt haben. Dann wird Wasser durch meteorologische Vorgänge von diesem Salzozean wegtransportiert, regnet über den Süßwassermeeren ab und fließt dann aus dem Süßwassermeer an einer bestimmten Stelle wieder in den Salzwasserozean zurück. Dieser Vorgang wäre ohne weiteres in der Lage, in geologischen Zeiträumen die Salzkonzentrationen in zwei benachbarten Ozeanen weit auseinanderdriften zu lassen. Soweit, daß einer dieser Ozeane als Süßwassermeer bezeichnet werden kann. Die Antwort auf diese Frage wird man erst geben können, wenn man die ganze Welthöhle bereist hat.

Seltsam, wie anders man über diese Fragen jetzt nachdenken kann. Es ist die andere Sicht auf die Welthöhle, wenn man nicht mehr in ihr drin, sondern schon ein Stück weit weg ist. Nehme ich an. Der Prozess des Abstrahierens, der zu einem guten Teil ein Wegwerfen von Informationen ist. Das geschieht genau jetzt. Das unmittelbare Erleben der Welthöhle, das Warten auf noch andere bevorstehende mögliche Beobachtungen, die vielleicht Antworten sofort deutlich werden lassen und Erklärungen anbieten können, ist vorbei. Jetzt bleibt nur noch das Reflektieren. Mehr als das, was wir gesehen haben, gibt's nicht mehr.

Vielleicht finden wir doch noch etwas heraus - über die Tatsache hinaus, daß wir überhaupt als einzige lebende Menschen von der Existenz der Welthöhle wissen. Irgendwie verursacht es mir immer einen angenehmen Kitzel, demnächst die Antworten auf viele oder vielleicht alle Fragen zu erhalten. Immerhin, von nun an wissen wir, worauf wir achten müssen. Kein Bericht aus der Geologie, ob im Scientific American oder in der Bild der Wissenschaft, wird mehr ungelesen bleiben, jedes und alles wird auf Zusammenhänge mit der Welthöhle untersucht werden. Wir sind die Einzigen, die darüber nachdenken können. - Oder sind wir das tatsächlich? Wenn noch jemand außer uns von der Welthöhle weiß, wie kann man sich dann mitteilen? Die anderen suchen, die auch dort waren, ohne die Existenz der Welthöhle global zu verraten?

Natürlich, eine Methode habe ich ja bereits anvisiert. Ein Buch drüber schreiben, ein Reisebericht, eine Fantasy-Geschichte. Vielleicht hat das jemand anderes schon gemacht? Ich werde alles darauf abklopfen müssen, was mir in die Hände fällt.

Nur eine Geschichte werde ich nicht abklopfen müssen: Die 'Reise zum Mittelpunkt der Erde', von Jules Verne. Daran habe ich schon öfter während der letzten drei Monate gedacht. Aber in diesem Buch sind zuwenig Dinge zu finden, die etwas mit dem zu tun haben, was wir hier vorgefunden haben. Und Jules Verne hat sehr viel geschrieben. Dieses eine Werk hat ihm nicht mehr bedeutet als die anderen auch. Und warum? Weil er nicht wußte, daß es tatsächlich etwas gibt, was ganz entfernt dem entsprach, was er in diesem Roman beschrieb. Es war für ihn eine erfundene Geschichte wie die anderen auch.

"Du bist so schweigsam!" sagt Chreich plötzlich.

"Wer, ich?"

"Wir sind schon längst fertig!" fügt Irene hinzu.

"Oh, ich war in Gedanken!"

"Dürfen wir darüber etwas erfahren?"

"Ich habe nur über die Welthöhle nachgedacht. Wie sie entstanden sein mag. Aber wir wissen ja nichts. Gehen wir weiter?"

Erst ein bißchen später fällt mir auf, daß das wie eine Ablehnung, überhaupt etwas zu erzählen, geklungen hat. Aber keine der beiden Frauen nimmt daran Anstoß. Jedenfalls sagt keine etwas. Um etwa 13 Uhr machen wir uns wieder auf den Weg.

Wir kommen in dem erreichten Höhlenstück gut voran, was aber auch daran liegt, daß die Steigung gering ist. An einigen Stellen weitet sich die Höhle auf 50 Meter und wird in der Mitte durch gedrungene, unregelmäßige Säulen gestützt. Das sind aber unregelmäßige Säulen, die mit den Säulen in der Welthöhle nichts zu tun haben. Genausogut könnte man von einer Verzweigung der Höhle sprechen. Wenn der Weg nicht da wäre, dann würden wir an solchen Stellen viel Zeit verlieren, um die Anatomie der Höhle zu erfassen, da diese Abmessungen für die Dynamolampen schon wieder etwas groß sind.

Ich erinnere mich an die hinteren Teile der Jettenhöhle westlich vom Harz, die ich vor langer Zeit einmal begangen habe. Da gab es auch so ein Steinrondell, um das man mehrere Male herumklettern mußte, um die Geometrie der Höhle zu erfassen. Ein bißchen erinnert dieser Höhlenabschnitt an die Jettenhöhle, obwohl er soviel tiefer liegt und aus anderem Gestein besteht. Und die Jettenhöhle ist mit ihren 500 Metern Länge natürlich auch viel kleiner.

Ich erinnere mich, daß ich damals eine interessante Idee in die Tat umsetzte, um mir die Höhlengeometrie deutlich zu machen. Wir hatten damals Taschenlampen mit uns, die zwar deutlich heller waren als diese müden Dynamolampen, aber das Problem war dasselbe: Starke Ausleuchtung der Flächen direkt vor den Augen, dadurch bedingte Herabsetzung der Empfindlichkeit der Augen und praktisch völlige Unfähigkeit, in größerer Entfernung etwas zu erkennen geschweige denn die Abmessungen der Höhle mit einem Blick zu erfassen. Eines Tages nahm ich Streichhölzer und einige Packungen Weihnachtsbaumkerzen mit. Im hinteren, ausgedehnten Teil der Höhle angekommen fing ich an, diese alle paar Meter auf den Felsen zu plazieren und anzuzünden, Dutzende und Dutzende. Bis alle Packungen aufgebraucht und alle wesentlichen Teile der Höhle mit Kerzen illuminiert waren.

Der Anblick war eindrucksvoll. Erst jetzt war es möglich, die Abmessungen der Höhle zu erfassen und weit entfernte Stellen zu sehen. Jetzt erst sah ich, wie groß dieser Teil der Höhle war. Und das Licht aus zahllosen Kerzenflammen reichte sogar aus, über allen Felsen einen schwachen Dämmerschein zu legen. Eine seltsame, feierliche und geheimnisvolle Stimmung lag über der Höhle.

Ich hörte Stimmen und verbarg mich - inzwischen kannte ich die Höhle ja recht gut. Irgendjemand drang in die Höhle vor - sie war und ist ja ein ziemlicher Touristenmagnet. Die Stimmen kamen näher und erstarben dann - das, was diese Leute sahen, hatten sie nicht zu sehen erwartet. Ich kann es gut verstehen, wenn einem ein solcher unerwarteter Anblick die Sprache verschlägt.

Ich blieb, bis alle Kerzen niedergebrannt waren. Natürlich versuchte ich, das Erlebnis festzuhalten. Ich machte Zeitaufnahmen, mit verschiedensten Belichtungszeiten. Das brachte recht interessante Ergebnisse, die aber den direkten Eindruck nicht wiedergeben konnten. - Immer noch und immer wieder habe ich mir vorgenommen, noch einmal Osterode am Harz aufzusuchen, wieder in die Jettenhöhle zu gehen und das noch einmal zu machen. Aber mehr als ein Vierteljahrhundert ist ins Land gegangen, und ich habe es nicht getan. Ich weiß nicht einmal, ob die Jettenhöhle nicht inzwischen eingestürzt ist. - Wollte nicht irgendeine Firma den Kalkstein um sie herum abbauen? Irgend so etwas war im Gespräch.

Die Idee der Kerzenilluminierung können wir hier nicht verwenden - nicht nur, weil wir keine Kerzen mit uns haben. Es ist ja sehr zeitaufwendig. Und wir sind nicht zum Spaß hier. Wir müssen weiter.

Es müssen einige Kilometer sein, die wir so zurücklegen - übrigens hauptsächlich in Richtung Nordwest. Die Marschrichtungen bieten in der letzten Zeit keine klare Tendenz.

Um 16 Uhr haben wir eine Tiefe von 1500 Metern. Endlich passiert wieder etwas Besonderes: Die Höhle windet sich zwar weiter, aber der Weg führt auf eine breite Schutthalde hinauf, die die ganze Höhle in zwei weiterführende Arme teilt. Diese Halde verjüngt sich bis zur Höhlendecke auf einige Meter und berührt diese. Dort ist wieder der Einstieg in einen weiteren Treppentunnel. Endlich können wir wieder ordentlich Höhenmeter gewinnen! - Dafür wird es wieder anstrengender, was sich sofort in der Laune von Irene auswirkt.

Der Treppentunnel ist ereignislos. Überhaupt ist die ganze Anlage in letzter Zeit bis jetzt wesentlich einfacher zu begehen als unser Abstieg in die Welthöhle. Wir hoffen, daß es so bleibt. Die endlose Treppe, immer mal wieder von kurzen, horizontalen Wegabschnitten durchbrochen, führt nur ganz selten durch natürliche Hohlräume. Wahrscheinlich gibt es hier so wenig davon.

Trotz des guten Weges ist unsere Steiggeschwindigkeit nicht so besonders. Um 18 Uhr sind wir in 1250 Metern Tiefe, und um 20 Uhr sind es 1000 Meter. So motivierend die runde Zahl ist, so müde ist die Irene. Wir allmählich auch. So erzeugt meine Mitteilung über die 1000 Tiefenmeter kaum ein lebhaftes Echo.

Danach werden wir so langsam, daß wir uns um 21 Uhr, als wir wieder ein horizontales Gangstück erreichen, entscheiden, unser Lager aufzuschlagen. 900 Meter sind wir jetzt tief. Dann können wir uns eben beim Essen Zeit lassen. Waschen geht nicht, weil wir den Bach schon geraume Zeit nicht mehr gesehen haben.

Die Temperatur muß bei etwa 15 Grad liegen. Heute nacht werden wir uns beim Schlafen wohl schon mehr zusammendrängen müssen. Ich erinnere mich, daß wir beim Runterweg so ungefähr in dieser Tiefe die ersten Lichtspuren wahrgenommen haben. Dort, unter dem Wettersteingebirge, hat die Welthöhle ihre Ausläufer in höhere Lagen geschickt als das hier der Fall ist. Es war dort auch deutlich wärmer.

"900 Meter!" sage ich, "Ein Klacks! Unsere tiefsten Bergwerke sind viel tiefer!"

"Und woanders." stellt Irene lakonisch fest. Es klingt desinteressiert. Wir müssen in dem engen Gang unsere Knochen so geschickt nebeneinander positionieren, daß wir uns im Schlafe nicht gegenseitig die Blutzirkulation abdrücken und uns trotzdem gegenseitig leidlich gut wärmen. Das ist jetzt viel wichtiger. Es kann nämlich gut sein, daß wir in der nächsten Schlafperiode bereits in einer Gegend sind, in der wir vor klammer Kälte überhaupt nicht mehr gescheit schlafen können. Chreich schon gar nicht. Sie leidet jetzt schon am allermeisten und wir müssen sie in die Mitte nehmen. Damit haben Irene und ich jetzt gleichermaßen den Genuß ihrer hohen Körpertemperatur von der einen und die Kälte der Wand von der anderen Seite.

Vielleicht sind es auch schon weniger als 15 Grad, denke ich im Einschlafen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite