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******** 085. Tag: Samstag 95-11-11 ********

85.1 Der Gabelsäulenurwald

Ich wache um 2 Uhr auf, wovon, weiß ich nicht. Es ist in der Umgebung dieser Lichtung ruhig, und die beiden Frauen, die mich von beiden Seiten umarmen, schlafen noch. Aber mir ist es etwas zu warm - vielleicht bin ich deshalb früher aufgewacht.

Ich schiebe die beiden vorsichtig etwas von mir weg, um mehr Luftzirkulation zwischen uns zu ermöglichen. Aber ich bleibe liegen. Zeit zum Meditieren, oder zum Wiedereinschlafen.

Wieso ist es mir eigentlich genauso warm, wenn der Luftdruck nur noch halb so groß ist wie fünf Kilometer tiefer? Unter den Leuchtenden Wolken gibt es kaum Temperaturgradienten mit der Höhe. Aber wie ist es denn mit der Wärmeleitfähigkeit eines Gases in Abhängigkeit vom Druck? Jemand, der Physik studiert hat, sollte das eigentlich besser wissen. Aber einen Moment lang bin ich tatsächlich unsicher. Es ist so lange her, daß ich mich damit beschäftigt habe.

Wie war das noch? Halber Druck heißt doppelte freie Weglänge der Gasmoleküle. Also halb so viele Teilchen, die Energie doppelt soweit transportieren können. Wenn ich mich richtig erinnere, heben sich diese beiden Effekte gerade auf, und so ist die Wärmeleitfähigkeit eines Gases vom Druck unabhängig. Jedenfalls bei diesen Drucken hier.

Die Luftfeuchtigkeit ist auch genauso hoch wie unten, nämlich 100 Prozent. Nur die Wärmekapazität des Gases ist bei halbem Druck halb so groß, und das spielt bei dem Wärmeverlust des Körpers durch Konvektion eine Rolle. Aber da die Temperaturen unter den Leuchtenden Wolken immer in der Nähe der Körpertemperatur eines Menschen ist, merke ich auch dadurch von den Druckunterschieden zwischen hier und unten am Meer nichts.

Naja, nur wenig höher wird es mit der Hitze dann besser. Wenn ich mich richtig erinnere. Nach so langem Aufenthalt in den Tropen wird es uns vielleicht sogar etwas kühl werden. Und - ein kurzer Blick auf die schlafende Chreich - wir werden ihr etwas zum Anziehen abgeben müssen. Das wird leicht möglich sein, denn wir haben ja Reservepullover in unseren Rucksäcken seit 12 Wochen mitgeschleppt. - Ja, Chreich, das wird für dich eine der ersten Konsequenzen der Entscheidung, mit uns zu gehen, werden! Weitere werden noch kommen.

Eigentlich, denke ich dann, ist es ja ein bißchen gefährlich, was wir gestern gemacht haben. Nicht die Kletterei - die ja sowieso. Aber danach. Kaum, daß wir einen geeigneten Platz gefunden haben, ließen wir uns einfach zum Schlafen fallen. Verständlich. Aber nicht entschuldbar.

Was wissen wir denn von dem kleinen Biotop in dieser Säulengabelung? Nichts. Wir kennen nicht die Raubtiere, wir wissen nicht, ob es hier größere Flugsaurier gibt - das wäre immerhin wahrscheinlich, denn unten auf der Insel gibt es welche, auch wenn wir das Glück hatten, nichts von ihnen zu sehen. Und die könnten im Prinzip bis hierher kommen. Oder, wer weiß, vielleicht auch nicht, denn sie könnten mit der geringeren Luftdichte auch ihre Schwierigkeiten haben. Die Flugsaurier, die wir gesehen haben, waren ja teilweise sehr viel massiver als die, die uns die Paläobiologen ausgegraben haben. Die Evolution hat diese Entwicklung in der vierfach so hohen Luftdichte ja ermöglicht. Diese Tiere würden vielleicht hier gar nicht fliegen können, oder nur mit großen Schwierigkeiten. Oder nur kurzzeitig.

Andererseits erinnere ich mich an den Rhchochchider, bei dessen Bekämpfung Chechmirch während der Ersteigung von Casabones umgekommen ist. Das war ein Riesenvieh, und der Vorfall ereignete sich etwa nur 2000 bis 2500 Meter tiefer als dieser Platz. Und dieser Rhchochchider sah nicht so aus, als ob er in der dünneren Luft Schwierigkeiten gehabt hätte. Er hatte da immerhin ein Nest.

Kaum auszudenken, was passiert wäre, wenn ein Flugsaurier für uns Interesse gezeigt hätte, während wir da draußen an der Wand hingen! In einem Film oder einem Buch würde man genau das wegen der Spannungssteigerung passieren lassen. Aber in der Wirklichkeit, die von Murphy's Gesetz beherrscht wird, versagt sogar, aufgrund des Murphy'schen Gesetzes ab und zu das Murphy'sche Gesetz selbst, und die Flugsaurier tauchen nicht gerade dann auf, wenn man sie am allerwenigsten brauchen kann. Nicht immer. Kann noch passieren. Noch sind wir nicht zu Hause.

Ohne aufzustehen sehe ich mich um. Es ist kein Tier zu sehen, das uns in diesem Moment bedrohen könnte. Aber der Urwald hier oben erzeugt den üblichen Geräuschhintergrund, obwohl er insgesamt nur wenige Quadratkilometer groß sein kann. Eine vielfaltige Fauna gibt es also. Wer weiß, vielleicht sind wir während unseres Schlafes auch inspiziert worden.

Weit kann ich allerdings im Moment sowieso nicht sehen, weil der Nebel viel verbirgt. Einige der benachbarten Bäume verschwinden die meiste Zeit hinter grauen Schleiern. Wir sind eben in den Leuchtenden Wolken. Bald werden wir über ihnen sein.

Ohmdinga fällt mir ein. Für ihn hat es sich längst entschieden. Wenn er am Leben geblieben ist, dann kann er in dieser Zeit den Abstieg locker geschafft haben. Hatte er genug Seil bei sich, um dann die Schlucht unten am Fuße der Säule zu überqueren? Allein, und ohne Chreich's Hilfe? Das hatte er doch schon beim Aufstieg genausowenig geschafft wie wir. Und da war er noch vergleichsweise leistungsfähig. Wie würde man das überhaupt am zweckmäßigsten anstellen, wenn man alleine ist?

Was könnte er denn sonst machen, überlege ich mir. In dem Spalt noch weiter nach unten klettern. Irgendwo tief unten muß es dann möglich sein, die Schlucht zu überqueren, entweder, weil sie voll Wasser ist, oder voll Geröll, oder weil sie schmal genug wird. Aber wie kommt er dann an der anderen Schluchtwand wieder hinauf? Und wenn das Überqueren der Schlucht erst in einer Tiefe möglich ist, in der er nicht mehr genug Licht hat, um überhaupt irgend etwas zu tun?

Dann denke ich daran, daß er dem Grunde der Schlucht bis dahin folgen könnte, wo diese von dem Geröll ganz aufgefüllt worden ist. Da sollte es dann einen besteigbaren Hang geben. Dieser Gedanke beruhigt mich wieder etwas.

Ich habe es mir gestern gar nicht überlegt, wieviele Fragezeichen es für jemanden gibt, der allein umkehren muß. Aber ob das etwas geändert hätte, wenn ich daran gedacht hätte? Schließlich, wir hingen in der Wand, und wir wollten nicht durch irgendwelche Faxen von Ohmdinga aufgehalten werden - egal, ob er nun für diese 'Faxen' verantwortlich war oder nicht.

Ein bißchen Herzschmerzen, vielleicht wirklich bloß eine Angina Pectoris, und die daraus resultierende Notwendigkeit, sich auf der Stelle auszuruhen und zu schonen - in einer Situation, wo dieses überhaupt nicht möglich ist. Schon ist es vorbei. Der bloße Anflug einer Krankheit, unter normalen Umständen vielleicht nicht einmal eine ernsthafte Krankheit - und in dieser Welt tritt man von der Bühne ab.

Nein, ich bin mir sicher. Ohmdinga ist tot.

Irene rührt sich neben mir, schmiegt sich an mich, fängt dann plötzlich an zu zittern. Dann wacht sie auf, sieht mich mit entsetzten Augen an. Ich kann erraten, wovon sie geträumt hat.

"Bleibe ruhig, Irene! Du kannst weiterschlafen! Wir haben es geschafft! Wir sind doch sicher! Wir können hier nirgends abstürzen."

Sie begreift, wo sie ist, und setzt sich auf.

"Du hast von der Wand geträumt, vom Aufstieg, nicht wahr?" frage ich in Deutsch.

Sie nickt. Auch Chreich schlägt die Augen auf.

"Ob wir hier je wieder wegkommen?" fragt Irene.

"Sicher. Wir haben fast die Hälfte des Höhenunterschiedes bis oben geschafft! Irene, denk dran, wie weit wir schon gekommen sind! Vielleicht nur noch ein paar Tage! Außerdem: Jetzt sind wir gerade erst 12 Wochen unterwegs! 84 Tage. Viel mehr werden es nicht mehr werden. Drei Monate. Was wären drei Monate, wenn wir sie zu Hause verbracht hätten? Wie nichts wären sie verflogen! - Sicher sind schon behördliche Aktionen gestartet, um uns zu suchen. Kriminalistische Ermittlungen. Unsere Arbeitgeber werden schon die Gehaltszahlungen eingestellt haben, und wenig später unsere Banken die Überweisungen der Miete. Aber beides dauert seine Zeit. Es ist zu wenig Zeit vergangen, um schon unsere Wohnungen aufgelöst zu haben. So schnell machen die Hubers das nicht. Auch unseren Arbeitsplatz bekommen wir wieder. Wir schaffen es! Du wirst sehen."

"Was redet ihr da?" fragt Chreich in Xonchen, sich jetzt ebenfalls hinsetzend.

"Wir haben doch eine andere Sprache, da, wo wir herkommen! Die ist für uns immer noch etwas einfacher." sage ich zu ihr, "Es ist nicht deshalb, um etwas vor dir zu verheimlichen. Aber du hast eben noch geschlafen."

"So?" sagt sie. Ich erinnere mich an das Versprechen. Ich will nicht, daß sie mich gerade jetzt daran erinnert. Deshalb stehe ich rasch auf.

"Ich habe Hunger!" stelle ich fest. Sollte die beiden auf dieselbe Idee bringen, denn gestern, vor dem Einschlafen, haben wir nichts mehr gegessen. Der Trick funktioniert auch.

"Also erst einmal," sage ich wenig später, mit vollem Mund kauend, "müssen wir dieses Stückchen Urwald absuchen. Ein paar neue Vorräte einpacken, Trinkwasser und die Braunen Quellen suchen. - Hoffentlich haben Ohmdinga und Rhogom recht gehabt!"

"Dann wäre es besser und ungefährlicher, den Rand dieses Urwaldes abzusuchen. Und zwar den Rand in Richtung auf die beiden Schenkel der Säulengabel zu. Da müssen die Braunen Quellen ja irgendwo runter kommen!" korrigiert Chreich mich. Da hat sie recht. Ist auch ungefährlicher.

Sonst reden wir wenig, nicht nur, weil man mit vollem Munde nicht so besonders virtuos reden kann. Aber es ist auch die körperliche und emotionale Erschöpfung, die immer noch in uns allen drinsteckt. Und wie der weitere Weg aussieht, das wissen wir schon überhaupt nicht. Also können wir auch nicht darüber reden.

Als wir zusammenpacken, erzählt Chreich mir noch, wie blaß wir gestern ausgesehen hatten, wie zittrig wir uns bewegt haben. Auch ich. Und sie hat wohl gemerkt, daß ich in der Wand einen mühsam kontrollierten Panikanfall gehabt hatte.

"Ich hatte Angst." sagt sie, "An der Stelle hätte keiner von euch den Halt verlieren dürfen. Das hätte ich wahrscheinlich nicht halten können."

Irene und ich stehen wie ertappte Schulkinder da. Ich besonders.

Kurz darauf machen wir uns auf den Weg. Unser Schlafplatz war an der Nordseite der Säule und des Säulengabelurwaldes. Nach Osten und nach Westen sollten jeweils die beiden Arme der Säulengabel hinaufführen. Wegen des Nebels können wir das aber nicht sehen. Die beste Strategie ist also die, die wir nun einschlagen: Wir marschieren in östlicher Richtung los, also tangential zu dem Urwald zu unserer Rechten. Links geht es bergab, auf die Steilwand zu, die wir heraufgekommen sind. Wenn es anfängt, zu unserer Linken bergauf zu gehen, dann ist dort der östliche Arm der Gabelung. Wenn das jedoch nicht passiert und wir statt dessen selbst anfangen, Höhe zu gewinnen, dann sind wir bereits im Begriff, diesen Gabelungsarm selbst zu besteigen. Dann müssen wir uns nach rechts in den Urwald hineinschlagen, weil wir ja das Braune Wasser finden müssen. Es kann sein, daß wir Orientierungsschwierigkeiten haben werden, weil wir ja nicht wissen, wieweit der Urwald sich die Hänge der Gabelarme hinaufzieht.

Wenn wir das Braune Wasser aber so nicht finden, dann müssen wir an der Südseite des Urwaldes vorbei den anderen Gabelungsarm erreichen. Da wenden wir dann dieselbe Suchstrategie noch einmal an. Und wenn wir dort nichts finden - aber daran mag ich gar nicht denken.

Der Urwald zu unserer Rechten wird lockerer und scheint anzusteigen. Also müssen wir da rüber. Laut Kompaß marschieren wir bald darauf genau nach Süden, und das Gelände steigt jetzt zu unserer Linken an. Wir sind richtig.

Was wir nicht finden ist die Spur eines Wasserlaufes. Aber wenigstens ist der Urwald so locker, daß wir rasch vorwärts kommen. Einige dichte Buschzonen müssen wir trotzdem zeitraubend umgehen. Wir sehen ab und zu einzelne Vögel durch den Nebel gleiten und wieder in ihm verschwinden, und manchmal raschelt einige Meter von uns entfernt kleines Getier durch das Gebüsch. Zu sehen bekommen wir wenig. Wahrscheinlich gibt es hier kaum Tiere, die uns gefährlich werden könnten: Es gibt da Zusammenhänge zwischen der Größe eines Raubtieres und der Größe eines Jagdrevieres, das es benötigt. Allerdings erinnere ich mich noch gut an das kleine, gefräßige Tier, mit dem wir ganz am Anfang, vor 12 Wochen, zusammengeraten sind.

Während des Marschierens finde ich Maisbeerenstauden und fange an, im Gehen zu pflücken. Chreich quittiert das mit einem Naserümpfen, sagt aber nichts. Irene macht bald mit. Wir wollen schließlich noch länger etwas zu essen haben.

Dann wendet sich unsere Marschrichtung nach Westen. Wir müssen jetzt genau gegenüber der Stelle sein, an der wir geschlafen haben. Wir marschieren weiter und finden den anderen Gabelungsarm genauso problemlos. Obwohl wir uns jetzt in nördlicher Richtung bewegen, sieht alles ganz ähnlich aus wie auf der anderen Seite des Urwaldes: Rechts wird der Urwald dichter, und links geht es bergauf, und der Urwald ist dort lockerer.

Wir finden immer noch keinen Wasserlauf. Schließlich sind wir wieder auf der Nordseite des Säulengabelurwaldes und bewegen uns auf unseren Schlafplatz zu. Was nun? Irene sieht mich mit einer Mischung zwischen Hilflosigkeit und Vorwurfsbereitschaft an.

"Wir müssen höher auf die Gabelarme hinauf!" sagt Chreich, die das bemerkt, "Es kann ja sein, daß es sich um einen sehr schwachen Wasserlauf handelt, der sich beim Erreichen der Vegetationszone rasch verläuft."

"Woher weißt du denn, daß die Vegetationszone über den leuchtenden Wolken aufhören wird?" frage ich verwundert.

"Du hast es doch oft genug erzählt!"

Habe ich das? Naja, wahrscheinlich.

"Guck mal die Büsche da vorne! Erkennt ihr sie?" fragt die Irene und deutet nach vorne. Wir kommen wieder an unserem Übernachtungsplatz an.

85.2 Hinterlassenschaften

Wenige Sekunden später stehen wir verwundert still.

"Komisch," sage ich, "ich kann mich nicht erinnern, daß einer von euch sich da hingehockt hat!"

Die beiden Frauen schütteln den Kopf. Beide sehen, genauso verblüfft wie ich, das kleine braune Häuflein mitten auf dem freien Platz, auf dem wir geschlafen haben, an.

"Also mal im Ernst. Mir ist es egal, wo ihr hinscheißt - schließlich waren wir ja der Meinung, nicht wieder hierherzukommen. Aber ich muß es wissen: Hat jemand von euch dort mitten auf unseren Platz geschissen?"

Beide Frauen schütteln den Kopf.

"Wirklich nicht?"

"Nein!" sagt Irene.

"Ich auch nicht. Ich habe es wenig später gemacht, als wir schon unterwegs waren. Und ihr auch. Ich kann mich erinnern, wie ihr zur Seite getreten seid und euch hingehockt habt. Es ist auch keiner von uns einen Moment lang zurückgeblieben, als wir abmarschiert sind. Also war es keiner von uns. - Das ist doch unser Platz, oder?"

Wir treten näher. Der Haufen sieht definitiv menschlich aus. Riecht auch so. Keine paar Stunden ist er alt. Und die Flechten und Moose rundherum sind niedergedrückt. Da haben wir stundenlang geschlafen. Das ist ohne jeden Zweifel unser Platz.

"Chreich," frage ich, "du kennst dich aus in der Tierwelt. Kann das ein Tier sein?"

Sie schüttelt den Kopf: "So genau kann ich das auch nicht sagen. Zweifellos kann es ein Mensch gewesen sein. Der Menge und dem Aussehen nach. Aber ich weiß nicht, ob es doch ein Tier geben könnte, das etwas ähnliches produziert. - Ich habe mein Leben nicht damit verbracht, alle Sorten von Scheiße anzusehen!"

"Wer hat das schon." sage ich. Seltsam. Ich sehe mich um, ob wir eventuell beobachtet werden. Das ist natürlich ziemlich sinnlos, denn wenn uns jemand beobachtete, der nicht gesehen zu werden wünscht, dann ist das leicht zu erreichen. Und soviel, wie wir bis jetzt geredet haben, ist es auch leicht möglich gewesen, uns ohne direktem Sichtkontakt zu folgen.

"Eingeborene? Hier oben?" vermute ich.

"Hat keiner unten etwas drüber gewußt. Sie hätten es uns doch gesagt! Obwohl - die künstlichen Griffmulden da im Fels ..." sagt Chreich.

"Ja. Und ich glaube auch nicht recht, daß dieses Gebiet hier oben groß genug ist, um auf Dauer eine Gruppe Menschen zu ernähren. - Aber da kann ich mich natürlich auch irren."

Dann sagt wieder keiner ein Wort. Alle denken das Gleiche.

Ohmdinga.

"Aber wenn es zum Beispiel Ohmdinga wäre - warum zeigt er sich dann nicht?" fragt Irene.

"Entweder, er hat es noch vor - das hieße, daß er lange nach uns doch noch ganz allein den Wanddurchstieg gewagt hat - vielleicht, nachdem er sich irgendwie in dem Spalt gründlich erholt hat, oder ..."

"Oder?"

"Oder er ist sauer auf uns, weil er denkt, daß wir ihn im Stich gelassen haben. - Haben wir ja auch."

"Sollen wir ihn rufen?" fragt die Irene.

"Nein." sagt Chreich schnell und entschieden, "Falls es nicht Ohmdinga ist, sondern Eingeborene oder sonst irgend jemand anderes, sollten wir nicht rufen. Und wenn es Ohmdinga ist, und er tatsächlich mit uns nicht zusammentreffen will, dann machen wir es ihm nur einfacher, wenn wir ihm durch Rufen unseren Standort verraten."

"Und wenn er doch mit uns zusammmentreffen will?" fragt Irene.

"Ja," pflichte ich bei, "es könnte ja sein, daß er keinen Groll gegen uns hegt. Daß er einsieht, daß wir keine anderen Handlungsmöglichkeiten hatten!"

Chreich schüttelt den Kopf. "Wenn er in der Nähe ist, weil er uns folgt, dann hindert ihn nichts daran, jetzt auf uns zuzugehen und sich zu zeigen. Aber er tut es nicht. Also: Entweder, er hat uns noch nicht gefunden, seit er heute morgen, nach uns, diesen Platz erreicht hat, oder er hält sich verborgen. Dann aber haben wir auch keinen Grund, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er würde es zu verhindern wissen."

"Eine andere Möglichkeit:" sage ich, "Er war tatsächlich so krank, wie er meinte. Aber er hat trotzdem den Wanddurchstieg noch geschafft. Und jetzt liegt er irgendwo hier und stirbt oder ist schon gestorben!"

"Das Leben ist eben grausam!" stellt Chreich fest.

"Wir auch." murmele ich.

"Und vielleicht er auch?" sagt Chreich in scharfem Ton, "Er hat immerhin ein Messer bei sich. Und wie man Pfeil und Bogen herstellt, das wissen alle Sachinor gut genug. Das kann jeder von ihnen. Willst du irgendwann einen Pfeil in den Rücken? Ganz unerwartet?"

"Den würde ich auch nicht im Rücken haben wollen, wenn ich ihn erwartet hätte," entgegne ich, "aber du hast recht, Chreich: Wir sollten uns fortmachen. So schnell wie möglich."

"Ohne das Braune Wasser?" fragt Irene, "Wir haben doch nichts gefunden!"

"Wir suchen jetzt beide Gabelarme höher am Hang ab. Vielleicht so hoch, wie die Vegetation reicht. Das heißt natürlich, daß wir eventuell wieder Höhe herschenken müssen, wenn wir diese Hänge wieder heruntersteigen."

Chreich nickt. "Und wir sollten die Augen aufhalten!" sagt sie, "Die ganze Zeit."

"Und trotzdem," sagt Irene, "ich traue Ohmdinga nicht zu, daß er etwas gegen uns unternimmt. Nicht einmal, wenn wir ihm gegenüber uns ins Unrecht gesetzt haben."

Ich sage nichts. In solchen Dingen hat Irene häufig recht.

85.3 Irene's Schwert

Es ist kurz nach 7 Uhr, als wir uns wieder auf den Weg machen, jetzt in Gegenrichtung. Wir sind diesmal leiser und mustern die Umgebung sehr genau.

Diese Säule hat einen Durchmesser von etwa drei Kilometern. Das heißt, daß der Urwald in dieser Gabel einen geringeren Durchmesser hat. Wir haben ihn eben, von oben gesehen, im Uhrzeigersinn umkreist. Mit allen Umwegen waren das so etwa 10 Kilometer. Dazu haben wir drei Stunden gebraucht.

Ich überlege mir wahrscheinlich genau dasselbe wie Chreich. Ob Irene sich solche taktischen Gedanken macht, weiß ich nicht - für 'Geländespiele' fehlt ihr der Killerinstinkt. - Also ich überlege mir, daß es einen Unterschied macht, wann ein eventueller Verfolger unseren Platz gefunden hat.

Das kann zum Beispiel noch vor unserem Aufwachen geschehen sein. Dann hat unser Verfolger uns netterweise nicht umgebracht, konnte sich aber in der Nähe verborgen halten und anfangen, uns zu folgen, sowie wir losmarschierten. Er tut dieses dann auch jetzt noch. Sofern er überhaupt daran interessiert ist, uns zu folgen.

Wenn unser Verfolger jedoch deutlich später als zum Zeitpunkt unseres Abmarsches unseren Platz erreicht hat, dann waren wir schon außer Hörweite. Wenn er dann nicht der ganz große Spurenleser war oder über ein außerordentlich gutes und geübtes Gehör verfügte, dann konnte er uns nicht folgen. Also ist er dann entweder seiner Wege gegangen, und wir könnten nur zufällig auf ihn treffen. Oder er hat in der Nähe dieses Platzes gewartet, ob wir zurückkommen.

Beides ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Denn wenn wir schon fort waren, dann konnte unser Verfolger aus den niedergedrückten Pflanzen an unserem Platz nicht auf unsere Identität schließen.

Und überhaupt - der Platz hat ja ein paar Meter Durchmesser. Wieso hockt man sich mitten auf einem solchen Platz zum Scheißen nieder? Doch nur, wenn man sich vollkommen sicher fühlt. Würde man sich sicher fühlen, wenn man gerade dabei ist, jemanden zu verfolgen? Jemanden, der zum Beispiel jede Sekunde umkehren kann, weil er auf diesem Platz etwas vergessen zu haben glaubt? Sieht das nicht eher so aus, als sei dem Scheißenden völlig entgangen, daß kurz zuvor jemand anderes auf diesem Platz war?

Nein. Ich glaube, daß wir nicht verfolgt werden. Ich sage das auch den anderen. Chreich zuckt auf meine Erläuterungen hin mit den Schultern.

"Sie wissen, daß wir ein Ziel haben. Wir kehren nicht so einfach um. Das kann sich jeder Verfolger ausrechnen."

"'Sie'? Rechnest du damit, daß es mehrere sind? Wer sollte das sein?"

"Ich weiß nicht. Die Leute von den Schiffen?"

"Unangenehmer Gedanke!"

"Gibt es Leute da unten in den Dörfern, die wissen, wo wir hinwollen?" fragt Chreich.

"Ja, sicher. Wir haben mit manchen drüber gesprochen."

"Aha. Dann werden die Leute von den Schiffen das inzwischen auch wissen. Und vergiß nicht: Es handelt sich um zwei Gruppen. Wie du erzählt hast. Die eine jagt die andere. Gnadenlos. Und die Gejagten sind restlos unterlegen! Wenn die erfahren, daß es einen Fluchtweg nach oben gibt, was glaubst du, was dann passiert?"

"Du meinst, daß ..."

"Ja."

"Osont's Leute - Hier?"

"Gut möglich."

"Aber diesen gefährlichen Aufstieg?"

"So gefährlich ist er nicht." Chreich deutet auf uns beide: "Ihr habt irgendwie ein verängstigtes Verhältnis zur Höhe. Das ist uns fremd. Und die Leute da unten wurden gejagt. 'Freibeuterei', so ist doch das Wort, das du mir erzählt hast, was bezeichnet, was diese Leute machen wollten, oder? Piraterie?"

"Das ist nur eine Vermutung - Osont's Leute hatten noch nichts dergleichen angestellt, als ich sie verließ!"

"Eine Vermutung," stellt Chreich fest, "reicht in Grom für viele Aktionen schon aus."

"Sie müssen immens schnell reagiert haben, in Grom."

"Ja, warum denn nicht? Sie brauchten doch nur in der Nähe von Grom aufzutauchen. Die Schiffe wären sofort erkannt worden. Sie waren doch alle bei Casabones gestohlen worden! Und wenn sie sich dann irgendwie merkwürdig verhalten ..."

"Geht die Jagd sofort los." ergänze ich. Ja. Sie kann recht haben. Osont habe ich gesehen, es sind also Osont's Leute, und eine Flotte aus Grom ist hinter ihnen her. Sieben Schiffe der Granitbeißerinnen jagen drei Piratenschiffe. Männer, dazu noch ehemalige Gefangene. Eine unglaubliche Herausforderung Grom's. Sie konnten es nicht zulassen, diese Schiffe entkommen zu lassen. Sogar das schnelle Lernerlebnis mit den Kielschwertern spricht dafür. Die Motivation mußte ungeheuer sein - schon die Anzahl der Verfolgerschiffe zeigt das.

"Die armen Sachinor!" sage ich, "Sie werden da in eine Sache hineingezogen, die sie überhaupt nichts angeht. Aber - Chreich - wer hindert die Granitbeißerinnen, hinter Osont's Leuten hinterherzuklettern, wenn sie sie so dringend haben wollen? Und was werden sie mit ihnen überhaupt machen wollen?"

"Deine erste Frage: Nichts hindert sie. Wenn sie bemerkt haben, wohin sie fliehen. Außerdem gibt es im Spalt ja einen Wegweiser."

"Ohmdinga?"

"Ja. Ob tot oder lebendig - er wird in beiden Fällen beiden Gruppen den richtigen Weg weisen."

"Nicht, wenn er abgestürzt ist."

"Dann sind da blutige Stufen. Viele blutige Stufen. Ich glaube nicht, daß er einen Riesensprung aus dem Spalt heraus getan hat. Und sogar dann hätte jemand ihn fallen sehen können."

"Also so ist das. Osont's Leute sind schon hier. Und die Granitbeißerinnen über kurz oder lang auch. Vielleicht wenigstens. Schöne Scheiße. Warum haben sie uns nicht umgebracht? Warum versuchen sie es jetzt nicht? Wir sind ihnen doch unterlegen?"

"Erstens wissen wir nicht, ob sie uns schon zu Gesicht bekommen haben und ob sie deshalb wissen, wo wir sind. Wenn sie uns aber verfolgen, dann werden sie uns nichts tun. Denn sie wissen, daß wir ein Ziel haben. Und dahin wollen sie auch, weil sie glauben, je weiter wir gehen, desto sicherer sind sie, wenn sie mit uns gehen, vor ihren eigenen Verfolgern!"

"Wenn das so ist, dann beschatten sie uns."

"Ja." sagt Chreich. "Vielleicht. Und was deine zweite Frage von vorhin betrifft, nämlich, was sie mit der Gruppe von Osont machen wollen, wenn sie sie erst haben - ist das nicht klar?"

"Vollstreckungskreuz?"

"Vollstreckungskreuz. Schön langsam. Willst du Einzelheiten wissen?"

"Nein. Will ich nicht. Die weiß ich schon."

Bei der Erwähnung des Vollstreckungskreuzes muß ich natürlich an Charmion denken. Natürlich, zugegeben, es wäre mir gar nicht so unlieb, wenn Osont ans Kreuz geschlagen würde. Das wäre die Vergeltung für Charmion's Hinrichtung. Aber es gäbe keinen sicheren Weg für uns, es zu erfahren oder gar dabei zuzusehen. Selbst, wenn wir Osont's Leuten entkommen - den Granitbeißerinnen dürfen wir auch nicht in die Hände fallen. Alle drei nicht. Ich habe das Kommando über den Saurierfänger gewaltsam übernommen, und die anderen beiden haben mich dabei unterstützt oder wenigstens nicht daran gehindert. Und in Osont's Gruppe war ich auch. Und dann noch das, was sie bei den Sachinor an Informationen über uns herausgepresst haben. Nein. Das ist zuviel Belastungsmaterial. Wir dürfen ihnen nicht in die Hände fallen.

Im Gehen nehme ich Irene's Hand und drücke sie. Sie versteht es schon. Wir leben im Moment sehr gefährlich. Immer noch. Hört es denn nicht auf?

Wir sind nun an dem westlichen Gabelarm sehr hoch gestiegen. Der Hang wird immer steiler, und über uns scheint er in unwegsame Schrofen überzugehen. Wir begehen die ganze Länge dieser Wände. Aber nirgends ist ein Hinweis auf ein fließendes Wasser. Und Weganlagen, wenn ich darauf gehofft haben sollte, gibt es auch nicht. Außerdem sind wir nicht hoch genug, um die Obergrenze der Leuchtenden Wolken zu erreichen. Dann könnte man weiter sehen und sich besser orientieren. Diese Wände lassen ein Weiterklettern zwar zu, aber das ist sinnlos, wenn es die falschen sind. Schließlich steigen wir über den Südosthang dieses Gabelarmes wieder ab.

Ich glaube nicht, daß uns jetzt jemand folgt. Das könnte man in diesem Nebel nicht unauffällig genug machen. Wir bewegen uns dazu auch zu schnell und reden zu selten. Meistens, wenn wir etwas zu sagen haben, bleiben wir stehen und reden mit gedämpfter Stimme miteinander.

Diesmal queren wir den Südhang südlich des Gabelurwaldes sehr weit unten, wo er schon unangenehm steil ist. Das unangenehmste ist das klare Bewußtsein, daß, je tiefer man kommt, dieser um so steiler wird, bis er schließlich in den Steilhang der Säulenwand übergeht. Wenn man hier abstürzt, dann schlägt man in oder in der Nähe von Emerald auf. Diese Seite des Gabelurwaldes und diesen Hang haben wir auch von unten, vom Saurierfänger aus gesehen - damals war die Wolkenuntergrenze etwas höher. Jetzt ist dort alles milchig trübe zu. Sicht vierzig Meter. Wohin wir auch auf diesem Plateau gehen.

Während des Weitergehens passiert zunächst nicht viel, und ich lasse meine Gedanken treiben. In solchen Situationen folgt man manchmal den ungewöhnlichsten Assoziationsketten. 'Emerald', zum Beispiel, ist nicht nur der Name des Dorfes da unten, sondern auch die Bezeichnung für einen Edelstein, den ich selbst überhaupt nicht kenne. Er kam in einem 'Adventure'-Spiel vor. Vor 16 Jahren habe ich zum ersten Male auf diesem Institutsrechner, der uns damals zur Verfügung stand, dieses Adventurespiel kennengelernt. Das war noch ein reines Text-Abenteuer in englischer Sprache, ohne jede Graphik. Aber meine Phantasie hat das reichlich wieder wettgemacht.

Man gab mit kurzen Kommandos ein, was man so tat und wohin man zu gehen beabsichtigte, und der Rechner teilte einem dann mit, was daraufhin geschah. Wieviel Zeit habe ich damals verbracht, mich durch dieses gigantische Höhlensystem hindurchzufinden, ständig auf der Flucht vor aggressiven Zwergen, die grundlos mit Messern und Äxten werfen, und Piraten, die einem die Schätze, die man da so sammeln muß, wieder abnehmen. Wieviel Zeit habe ich damit verbracht, an interessanten Orten dieser Höhle weiterzukommen, von denen ich später erfahren habe, daß es da überhaupt nicht weitergeht. Wie oft habe ich mir überlegt, was es für ein phantastisches Abenteuer wäre, in eine solche Höhle in Wirklichkeit einzusteigen. Sogar geträumt habe ich davon!

Aber daß es in Wirklichkeit ein Höhlensystem gibt, gegenüber diesem das Adventure-Spiel nur ein müder Abklatsch ist, das hätte ich mir nicht im entferntesten träumen lassen. Das hätte ich auch nicht geglaubt, wenn es mir jemand erzählt hätte. Schließlich sprechen ja alle geologischen Fakten und Prinzipien gegen die Existenz einer solchen Höhle. Alle Fakten bis auf eines: Daß es diese Höhle tatsächlich gibt. Die Überlegenheit der Wirklichkeit über alle Theorie. - Wenn dies denn die Wirklichkeit ist und nicht ein Traum. Das weiß ich vielleicht ja nicht. Wie der Spruch, der mir immer wieder in den Sinn kommt: Life is a dream, a little more coherent than most. Für das Bewußtsein gibt es da keine prinzipiellen Unterschiede.

Flüchtig denke ich daran, daß ich das beabsichtigte Buch auch als Abenteuerspiel für PCs schreiben könnte. Aber ich glaube, das werde ich nicht tun. Die Programmierschwierigkeiten würden dann zu sehr vom eigentlichen Inhalt ablenken.

Es geht wieder aufwärts. Der Südwesthang des östlichen Gabelarmes. Wir kommen wieder ins Schnaufen, bleiben aber oft genug stehen. Nicht nur wegen des Ausruhens. Wir horchen gespannt in den Nebel hinein. Nichts. Wenn irgendwo auf diesem Plateau, in diesem begrenzten Urwaldgebiet, jemand laut riefe oder auch nur laut spricht, dann müßten wir es hören. Das tut aber niemand. Entweder, sie sind sehr diszipliniert. Oder wir reden die ganze Zeit von Gespenstern, und niemand ist hinter uns her, und der Haufen Scheiße war von einem Tier.

Oder es ist doch Ohmdinga. Mit größer werdendem zeitlichen Abstand fällt es mir immer schwerer, die Erinnerung an sein überanstrengtes Gesicht zu reproduzieren. Ist er krank gewesen? Ist er es nicht? Ist er uns doch gefolgt? Warum? Ist ihm klar gewesen, was ihn bei unseren Verfolgern erwarten kann? Ist es nicht so, daß auch ein kranker Sachinor, genau wie eine kranke Granitbeißerin, sich auf ausgesetzten Wegen immer noch viel wohler als wir fühlen und deshalb diesen Weg in Kauf nehmen würde? Aber dann hätte Ohmdinga ja auch gleich mit uns weiterklettern können. Oder nicht? Ich weiß es nicht.

Zunächst ist die östliche Säulengabel ein Spiegelbild der westlichen. Es wird mit steigender Höhe immer steiler, und der Urwald wird immer lockerer. Als ein Weitersteigen nicht mehr möglich ist, weil wir dann in genau solche Schrofen einsteigen müßten wie an der gegenüberliegenden Seite, auf dem anderen Gabelarm, queren wir nach Norden, die Höhe haltend.

Kaum, daß wir einige hundert Meter gegangen sind, fällt uns plötzlich etwas auf: Die Schrofen über uns sind wieder von dichterem Buschwerk bewachsen. In jeder Felsritze und auf jeder halbwegs ebenen Fläche haben niedere Büsche Fuß gefaßt. Man sieht, trotz der Steilheit des Hanges, kaum noch nackten Fels.

Weiter unten jedoch, wo wir vor Stunden in Gegenrichtung gegangen sind, wird der Hang wieder unauffällig. Was ist es, was den Pflanzen hier bessere Bedingungen bietet als an der entsprechenden Stelle auf dem anderen Gabelarm? Ist es unser Braunes Wasser? Wir finden nach wie vor keinen Wasserlauf.

Dann aber finden wir, daß einige der freien Felsflächen braun angefärbt sind. Ich kratze, und eine trockene, bräunliche Schicht löst sich ab. Darunter hat der Fels seine übliche Farbe.

"Wißt ihr was?" sage ich, "Das ist das Braune Wasser. Es ist ausgetrocknet. Das ist es!"

"Meinst du wirklich?" fragt Irene enttäuscht.

"Seht es euch doch an!"

"Das heißt also, wir kommen nicht weiter?"

"Das würde ich nicht sagen," meldet sich Chreich zu Wort, "wenn dieses Braune Wasser überall soviel Spuren hinterlassen hat wie hier, dann können wir dem gut folgen!"

"Dann müssen wir aber da rauf!" sagt die Irene.

"Wir suchen noch den Rest des Hanges ab. Aber wahrscheinlich müssen wir da rauf. Ganz genau." sagt Chreich und wirft den Kopf in den Nacken. "Es ist nicht schwer."

"Für dich ist ja überhaupt nichts schwer!" protestiert Irene.

"Irene!" ermahne ich. Sie soll Chreich nicht sauer fahren.

"Doch, doch. Für mich ist vieles schwer. Zum Beispiel ..." sie sieht uns an, "Zum Beispiel ist es schwer für mich, zu erraten, wo dieses Schwert herkommt."

"Welches Schwert?" frage ich verwundert.

"Wie lange stehen wir schon hier und sehen den Fels an!"

Ich mustere die Wand vor uns ganz genau. "Ich seh kein Schwert!"

"Ich schon!"

"Nun sag schon!"

"Da!" Chreich deutet abwärts. Tatsächlich, zwei Dutzend Meter unter unserem Standpunkt steckt ein Schwert senkrecht im Boden. Wie ein Gefallenenkreuz.

"Ihr seid vielleicht aufmerksam! Da hätten zehn Bogenschützen mit angelegten Pfeilen stehen können, und ihr hättet es nicht gemerkt!"

Ich sage dazu nichts, weil sie ja recht hat. Ich laufe die paar Schritte den Hang runter, um es mir anzusehen.

"Das hat jemand absichtlich hier reingesteckt!" sage ich, als ich es herausziehe. Ich säubere die Klinge von der Erde. Sie ist noch blank. Ich bringe das Schwert nach oben und zeige es Chreich.

"Das ist genauso ein Schwert, wie wir sie auf dem Saurierfänger benutzt haben!" sage ich, "Ein Granitbeißerschwert!"

Chreich nickt.

"Kann ich es mal haben?" sagt Irene mit einer ungewohnten Lebendigkeit und nimmt Chreich das Schwert aus der Hand. Sie betrachtet es genau.

"Es ist meins!" sagt sie schließlich.

"Was?"

"Es ist meins. Ich erkenne es wieder. Da, diese Flecken. Habe ich nie abgekriegt. Diese Scharte hier. Und die da. Ich habe immer wieder versucht, es sauber zu machen. Aber das da ist ein Gemisch von Rost, Dreck und angetrocknetem Blut."

"Bist du sicher?"

"Ja. Oft genug und lange genug habe ich es angesehen und mir vorgestellt, wie es ist, es doch wirklich im Ernst benutzen zu müssen. Und was Cherkrochj damit schon getan hat."

"Wieso Cherkrochj?" fragt Chreich, "Was hat die damit zu tun?"

"Es war das Schwert der Kommandantin. Ich habe es Irene gegeben. Irene, bist du wirklich ganz sicher?"

"Meinst du, ich spinne?"

"Wie soll dein Schwert hierherkommen?"

"Ist doch eigentlich klar." sagt Chreich zu mir, "Du hast es doch den Sachinor überlassen?"

"Ja. Ich habe unsere Schwerter Ohmdinga gegeben. Der sollte sie Ganvoch bringen. Hat er auch getan. Später habe ich dann noch mein eigenes Schwert in der Hand von Ganvoch gesehen - kurz bevor wir uns endgültig auf den Weg gemacht haben. - Und Ohmdinga hätte kein Schwert mitnehmen können. Das hätten wir gemerkt, wenn er versucht hätte, einen so sperrigen Gegenstand mitzunehmen. Warum hätte er es auch tun sollen?"

"An Ohmdinga dachte ich auch nicht. Die Schwerter sind wohl den Leuten von Osont in die Hände gefallen. Die haben sie dann mitgenommen."

"Das heißt also," sage ich, "daß sie schon hier waren. Jenseits allen Zweifels. Aber warum steckt es da im Boden?"

Chreich zeigt die Felsen hinauf. "Entweder als Wegweiser für Nachkommende. Das glaube ich aber nicht, denn den Granitbeißerinnen werden sie nicht verraten wollen, welchen Weg sie genommen haben. Ich glaube, sie hatten zu viele Schwerter, mit den erbeuteten zusammen. Deshalb haben sie eines zurückgelassen. Und ..." Chreich betont diesen Punkt ganz besonders, "das heißt natürlich auch, daß wir uns auf eine ganz neue Situation einrichten müssen: Sie sind vor uns! Sie haben uns überholt. Während wir die große Runde um den Gabelurwald herum gemacht haben. - Als ob sie genau gewußt haben, wo sie hingehen müssen. Merkwürdig."

Irene hantiert mit dem Schwert herum. Sie weiß nicht, wie sie es transportieren soll. Wir haben ja keine Tragegurte mehr.

"Und vielleicht," fährt Chreich fort, "glauben sie noch, daß wir vor ihnen sind. Das weiß ich aber nicht."

"Dann ist es aber unklug, diesen Wegweiser hierzulassen, wenn sie niemanden auf ihre Fährte locken wollen!"

"Sind Osont's Leute durchgehend klug?" fragt Chreich.

"Nein. Osont selber, ja. Ihm sollte das nicht passieren. Aber die anderen. Mmh. Kann schon sein, daß einer von denen, die weiter hinten marschierten, und der das Schwert tragen sollte, sich beim Anblick der Felsen davon befreit hat. Osont hat es nicht bemerkt, sonst hätte er es verhindert. Oder es besser versteckt, wenn sie es schon los werden mußten."

"Es könnte natürlich sein," fährt Chreich fort, "daß dieses Schwert ein Wegweiser ist, der uns bewußt in die Irre führen soll!"

"Das sähe Osont ähnlich!" führe ich den Gedanken weiter, "Aber er müßte damit rechnen, daß irgendwelche Verfolger ihm genau diese Absicht unterstellen. Nein. Ich glaube es nicht. Es ist zu unsicher, welcher Verfolger das Schwert wie interpretiert. Deshalb glaube ich die erste Version: Jemand hat es nicht mehr haben wollen."

"Okay. Wir können nicht mehr herauskriegen." faßt Chreich zusammen, "Suchen wir noch den Rest des Hanges ab. Irene, ich trage das Schwert wohl besser. Ich weiß, wie ich es ohne Schwertscheide transportieren kann. Oder willst du es behalten? Es ist ja deins!"

Irene schüttelt energisch den Kopf. Sie ist froh, daß sie das Ding los wird.

Während wir weitergehen, überlege ich mir dann aber noch, daß Osont sehr wohl gesehen haben könnte, daß jemand dieses Schwert hiergelassen hat und trotzdem keine Einwände dagegen hatte. Dann muß er sich vollkommen sicher gewesen sein, daß niemand ihnen folgte, auch die Granitbeißerinnen nicht. Wenn er sich aber sicher ist, daß die Granitbeißerinnen ihm und seinen Leuten nicht folgen, dann muß er sich sicher gewesen sein, daß die Sachinor den Granitbeißerinnen nichts mehr verraten konnten, insbesondere den Aufstieg hierher nicht.

Das hieße, er hat alle Sachinor zum Schweigen gebracht ...

Vielleicht sehe ich zu schwarz. Ich rede mit Chreich nicht mehr drüber, weil sie sicher in ähnlichen Bahnen denkt. Wir wissen einfach nicht, ob die Granitbeißerinnen auch hierher kommen können oder nicht. Deshalb müssen wir das Schlimmste annehmen.

Die weitere Inspektion des Hanges der Ostgabel bringt nichts Neues. Die Vegetationsänderung durch das ausgetrocknete Braune Wasser in den Felsschrofen bildet einen kaum hundert Meter breiten Streifen. Ist da mal sehr viel Wasser heruntergeflossen, oder hat der Bach, als es ihn noch gab, sich des öfteren verlagert? Wir können es jetzt nicht mehr sagen. Wir können nur eines feststellen: Wir müssen da rauf.

Wir suchen auch noch den Hang um die Schwertfundstelle herum genauer ab. Aber wir finden sonst nichts, was darauf hinweist, daß jemand außer uns vor kurzem hier war. Auch das Horchen in den Nebel bringt nichts. Wenn Osont's Leute sich unterhalten, dann müssen sie schon sehr weit vor uns entfernt sein. Und die Granitbeißerinnen sind noch nicht da. Denen allerdings wäre zuzutrauen, daß sie sich sehr professionell durch den Nebel anschleichen und plötzlich mit angelegten Waffen um uns herum stehen. Aber auch sie müßten wissen, wo sie eigentlich genau hingehen müssen - genauso wie Osont's Leute. Wieso sind die so zielstrebig hierhergekommen? Haben die andere Informationsquellen gehabt als wir? Sind die einem Mitglied des Volkes der Sachinor begegnet, dem wir nicht begegnet sind, und der wesentlich besser Bescheid wußte? - Alles ist möglich, nichts ist gewiß. Wir können nur weiterklettern.

Chreich schlägt vor, daß wir uns wieder anseilen. Sie will zuerst gehen, dann ich, und dann Irene. Alle sind einverstanden.

Es ist 11 Uhr, als wir in die Schrofen einsteigen. An dieser Stelle haben wir eine Tiefe von 5250 Meter unter NN, also etwa 250 Meter über dem Gabelurwald. Es wäre eine schöne Aussicht, wenn der Nebel nicht wäre. Das wird sich aber bald ändern, denke ich.

Die Wand ist steil, aber es hält sich in Grenzen. Und diese zähen Sträucher haben so gut Wurzeln gefaßt, daß man sich an ihnen gut festhalten kann. Wenn dazu noch nur einer zur Zeit klettert, dann ist es sehr sicher.

Vielleicht zweihundert Meter steigen wir, ohne daß der Charakter des Bewuchses des ausgetrockneten Wasserlaufes sich ändert. Allerdings wird er schmaler. Und dann bildet sich allmählich eine Delle im Hang: Weiter rechts rüber, und ebenso nach links scheint der Hang steiler zu werden als dort, wo wir steigen. Der Unterschied ist noch gering, aber bald werden wir in einem Tal wandern, wenn das so weitergeht.

Und dann passiert das, worauf ich schon gewartet habe: Über unseren Köpfen gibt es dunklere Stellen, die wie Schatten vorbeiziehen, wieder verschwinden und sich neu bilden. Die Beleuchtung, die in einem Nebel eigentlich gleichmäßig von allen Seiten einfallen sollte, wird ungleichmäßig: Es ist, als ob die gleichmäßig rundherum verteilte Lichtquelle sich horizontal und tiefer konzentriert. Von oben kommen die Ausläufer der Nacht auf uns zu. Chreich sieht beunruhigt nach oben.

"Die Wolkenobergrenze, Chreich! Wir werden jetzt ein ganz andersartiges Gebiet betreten!" sage ich. Sie hat ja gesagt, daß sie noch nie so hoch oben in der Welthöhle war.

Das Tälchen, in dem wir steigen, wird ausgeprägter und der Weg weniger steil. Anseilen ist eigentlich nicht mehr nötig. Die Büsche sind jetzt nur noch auf einer Breite von acht Metern zu finden, sie werden jetzt aber kleiner und stehen weiter auseinander. Der Fels selber bekommt eine hellere Farbe, und die braune Verschmutzung ist gut auszumachen. Es ist ganz klar ein früherer Wasserlauf, der braune Ablagerungen hinterlassen hat.

Grauschwarz werden riesige Gewölbe über uns sichtbar, große, schwarze Löcher, in denen man nichts erkennen kann, und die nur noch gelegentlich von einem Wolkenfetzen bedeckt werden. Dazwischen schweben hängende Berge aus schroffen Fels, und man sieht eigentlich nicht ein, warum sie nicht herunterfallen. Sie scheinen sich in den treibenden Nebelfetzen zu bewegen - aber das ist natürlich Unsinn. Der Blick weitet sich zusehends. Immer wieder bleibt Chreich stehen, um sich das sich entwickelnde Panorama anzusehen.

"Es ist wie ein Meer!" sagt sie schließlich voll Verwunderung. Wir haben gerade die Tiefe von 5000 Metern unterschritten - oder überschritten, wie man es nennen will, und die Obergrenze der Leuchtenden Wolken erreicht. Es ist gleich 13 Uhr.

"Dieselbe Tiefe wie beim Abstieg!" sage ich zu Irene. Chreich steht nur und schaut. Immer wieder steigt sie noch ein paar Schritte weiter rauf und schaut wieder. Hier, auf der Höhe der oberen Wolkengrenze, erweitert jeder Meter gewonnene Höhe den Blick.

Im Westen von uns taucht der Rücken der Westgabel aus den Wolken auf, vielleicht vier Kilometer von uns entfernt. Sich verdickend wächst er in die Höhe, den dunklen Regionen der Welthöhle entgegen, sich mit einer schwarzen, drohenden Felsbeule vereinigend. Da geht kein Weg rauf, an keiner Seite - da ist nur Überhang, dessen obere Teile sich in der Dunkelheit in der Höhe verlieren. Überall sonst, in alle Richtungen, sieht man die oberen Abschnitte der Säulen, die die Welthöhle tragen. Überall gabeln und verzweigen sich diese Säulen, es gibt gewaltige, horizontal liegende Berge, die Säulen wie Balken verbinden, es gibt hängende Berge von gigantischen Ausmaßen, denen man nicht ansieht, ob sie mehr getragen werden oder ob sie selbst tragende Elemente sind.

So besonders weit geht der Blick nirgends. Und die hängenden Berge lassen vermuten, daß wir mit weiterem Vorwärtskommen in Richtung der höheren, dunkleren Regionen immer weniger sehen werden. Der Fels der Höhlendecke über unserem Kopf ist keine 2000 Meter entfernt - so gut ich das eben schätzen kann. Das ist nicht sehr gut - es gibt keine Vergleichsmaßstäbe.

Die Weglosigkeit scheint oberstes Konstruktionsgebot dieser hohen Regionen der Welthöhle zu sein. Die Vielfalt der Felsformen ist verwirrend, und sie sind alle unerreichbar, selbst durch die kühnsten alpinen Klettertouren. Ich denke daran, daß sich ein technischer Kletterer mit Haken und Seilen und Felsnägeln und Karabinerhaken letzten Endes überall hochklempnern kann. Aber ist das die angemessene Methode, um sich hier zu bewegen? Wir gehen auf einem Weg, der wahrscheinlich nur durch bloßen geologischen Zufall begehbar ist. Eine Wegenklave in der absoluten Weglosigkeit. Und ein Zwang für jeden anderen, der sich hier bewegen will, genau denselben Weg zu nehmen. Wir müssen weiter.

Das Tal, in dem wir gehen, wird tatsächlich immer weniger steil, und jetzt, wo wir weit sehen können, stellen wir fest, daß dieser östliche Säulengabelarm in zwei Berge mündet, die aus ungewöhnlich hellem Fels bestehen, die aus dem scharzen Himmel herniederwachsen und die zwischen sich ein Tal, das sich zu einer Schlucht verengt, freilassen. Da müssen wir durchgehen, auf dem Boden dieses Tales. Es ist ein dunkles Tal, denn es wird nur von diesem leuchtenden Meer beleuchtet, und ob an der anderen Seite wieder mehr Licht ist, oder überhaupt Licht, das können wir von hier noch nicht erkennen.

"Ängstigt es dich?" frage ich Chreich. Sie schüttelt den Kopf. Aber sie ist sichtlich beeindruckt:

"Ich habe mir immer vorgestellt - ich weiß nicht, was ich mir eigentlich vorgestellt habe. Es ist so ganz anders." Sie schüttelt sich: "Es ist kalt!"

"Noch nicht sehr. Aber die Luft ist hier schon trockener, und wenn man nur leicht naßgeschwitzt ist, dann macht das schon einen Unterschied. Es wird jetzt aber kälter werden, je weiter wir nach oben kommen. - Du wirst dich dran gewöhnen."

Wir machen uns wieder auf den Weg. Nun zeigt es sich, daß innerhalb eines Höhenunterschiedes von nur achtzig Metern der Bewuchs der eingetrockneten Wasserrinne völlig aufhört. Nur das Geröll in der Rinne bleibt braun gefärbt, was sehr deutlich zu sehen ist, da der Fels eine so helle Farbe hat. Die Rinne wird zwar immer flacher, aber das Gehen erfordert trotzdem viel Konzentration, um nicht zu stolpern und sich dabei einen Fuß zu verstauchen und, im Moment genauso wichtig, überflüssige Geräusche zu vermeiden. Allmählich umschließen uns rechts und links immer steiler werdende Felswände, und das Licht, das von hinten auf uns fällt, vermag immer weniger, diese Schlucht zu erhellen. Außerdem legt sich die Stille auf unsere Ohren - die Geräusche des Gabelurwaldes reichen nicht mehr bis hierher.

Bald schon gehen wir auf dem Grunde einer nur von Dämmerlicht erfüllten Schlucht. Vorsichtig sehe ich Chreich an, ob sie, ähnlich wie Charmion, sich in der ungewohnten Dunkelheit unwohl fühlt. Sie läßt nichts dergleichen erkennen, sondern bewegt sich mit gespannter Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich verdrängt die potentielle Gefahr, die von Menschen von Fleisch und Blut ausgeht, alle weniger faßbaren Ängste.

Nun sind die Wände der Schlucht einander auf zwei Meter nahegerückt. Diese Wände sind jetzt so steil, daß sie ohne technische Hilfsmittel für uns nicht mehr besteigbar sind, und der Boden der Schlucht ist nach wie vor von behinderndem Geröll bedeckt. Eine richtige Klamm. Aber ob die Schlucht selber durch dieses ehemalige Gewässer aus diesem hängenden Berg, in dem wir uns jetzt gewissermaßen bewegen, herausgesägt wurde? Die Wände sind wie mit sehr grobem Sandpapier glattgeschliffen. Nur der Boden der Schlucht ist klammartig unwegsam. Ich erinnere mich an die Breitachklamm, an die Partnachklamm und die Höllentalklamm. Andere Klammschluchten kenne ich nicht aus eigener Anschauung, aber diese drei sind in geologisch kurzen Zeiträumen durch die Wasserläufe, die jetzt noch durch sie hindurchfließen, entstanden - um die zehntausend Jahre etwa. Ihre Wände sind unregelmäßig - so, wie sie eben erodiert wurden, bedingt durch wechselnde Gesteinshärte und durch andere Faktoren. Hier, in dieser Klamm, sieht das etwas anders aus.

Gerade, als es so dunkel wird, daß man sich schon verdammt gut konzentrieren muß, wo man hintritt, erreichen wir eine Stelle, an der der Wasserlauf einen Wasserfall gebildet haben muß. Mehr als 15 Höhenmeter sind zu überwinden - diese stellen zwar kein unüberwindliches Hindernis dar, aber wir sind eine ganze Weile konzentriert beschäftigt. Chreich ist für uns beide eine unschätzbare Hilfe - auch jetzt, wo man kaum noch etwas sieht, scheint sie immer noch zu riechen, welchem Felsbrocken man getrost das eigene Gewicht anvertrauen kann und welchem nicht. Wir passieren diese Stelle deshalb ohne wirkliche Gefahr. Aber es kostet uns Zeit. Und nach einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, daß wir uns eigentlich schon längst wieder in der Schlafperiode befinden, die um 14 Uhr angefangen hat.

Aber keiner von uns möchte in dieser Schlucht das Lager aufschlagen - jeder, der vorbeikommt, würde über uns stolpern.

Dann, wie zur Entschädigung, gehen wir eine kleingeröllige Strecke entlang. Allmählich habe ich den Eindruck, daß irgendwo vor uns auch ein diffuser Lichtschimmer ist. Ich bin mir aber noch nicht sicher, und Chreich auch nicht. Für sie ist die Fortbewegung unter diesen Lichtverhältnissen ja sowieso viel ungewohnter als für uns.

85.4 Das Tor des schakalköpfigen Gottes

Dann aber geschieht etwas Merkwürdiges. Die Schlucht verengt sich vor uns ganz plötzlich, aber nicht so, daß es für uns weniger Platz bedeuten würde, sondern es sieht eher aus wie zwei Felsmonumente beiderseits des ausgetrockneten Bachbettes. Während bisher die Wände der Schlucht nach oben immer weiter auseinanderwichen, stehen diese Monumente senkrecht. Und sie haben eine ausgeprägte Formgebung, soweit man das in der Dämmerung erkennen kann.

Als wir näher kommen, sieht Chreich beunruhigt an diesen beiden Felsmonumenten hinauf. Und wir auch.

Es sind Figuren. Mächtige, verwitterte Skulpturen, achtzig Meter hoch, dort oben zwei große ziegenbockartige Köpfe, die sich ansehen, muskulöse Buckel, mit schuppiger Haut bedeckte Gliedmaßen, krallige Hufe, zwischen denen wir hindurch müssen. Und trotzdem: Mit gutem Willen kann man diese Figuren, die die Schlucht wie Schildwachen absperren, immer noch für eine natürliche Formation halten. Da sind zuviele Steine ausgebrochen, zuviele Unregelmäßigkeiten, die kein Bildhauer zulassen würde. Und wer sollte hier diese beiden großen Skulpturen aus dem Fels schlagen, und warum? Ebensogut kann es eine vollkommen natürliche Verengung der Schlucht sein, die vor langer Zeit von dem jetzt ausgetrockneten Bach durchflossen wurde. Aber woher dann die Symmetrie zwischen diesen beiden Figuren? Und was oder wem sehen sie eigentlich ähnlich? So, wie sie jetzt aussehen, könnten sie alles mögliche darstellen, von gehörnten Teufelsdarstellungen zu Darstellungen des ägytischen, schakalköpfigen Gottes Janubis, oder der oder die Künstler haben ihre Vorlagen unter den Sauropoden in dieser Welt gesucht.

"Unheimlich!" sagt Irene gedämpft, "Als ob sie einen nicht durchlassen wollen!"

"Wer sollte uns daran hindern?" fragt Chreich, "Wir gehen einfach weiter und fertig!" Aber auch sie mustert die beiden Kolosse mit wachsamen Blicken.

"Die Erbauer der Toten Städte?" fragt Irene.

"Wenn es künstlich ist - ja. Wahrscheinlich. Oder ganz entfernte Vorfahren der Granitbeißer oder der Sachinor. Oder noch andere, ausgestorbene Völker."

"Und warum sollten sie so etwas tun?" fragt Chreich, "Solche Figuren haben doch keinen praktischen Sinn!"

"In unserer Welt oben gibt es viele Baumonumente, die bei kühler Betrachtung keinen Sinn haben, und die trotzdem mit immensem Aufwand gebaut wurden." sage ich zu Chreich, "Zum Beispiel gab es ein Volk, das seine Könige in riesigen Steinpyramiden, groß wie Berge, begraben hat. Schon während der ganzen Lebenszeit dieser Könige haben Tausende von Sklaven diese Grabstätten errichtet. In diesen Steinpyramiden sind Labyrinthe, damit man die eigentliche Grabkammer nicht gleich findet, wenn man doch einmal in die Pyramide einbricht. Es war sehr aufwendig, das zu tun."

"Und warum haben sie das gemacht?" fragt Chreich, "Mit der Arbeit hätten sie doch sehr viel nützlichere Dinge tun können?"

"Das wirst du schwer verstehen können. Dieses Volk hatte bestimmte Vorstellungen über eine Existenz nach dem Tode. Und sie glaubten, daß man durch geeignete Vorbereitungen in diesem Leben diese jenseitige Existenz beeinflußen könnte. Und da haben eben solche Könige ihre Macht benutzt, um sich diese Bauwerke zu errichten. - Mißbraucht, wenn du so willst."

Nach einer Pause werfe ich noch ein: "Es kann auch ein Bauwerk aus Stein und Holz gewesen sein, und von dem Holz ist nichts mehr übriggeblieben, so daß wir den Zweck dieses Bauwerkes nicht mehr erraten können. Vielleicht. Alles ist möglich."

Eine Zeitlang sind wir still, und der hohle Schall unserer letzten Worte verhallt zwischen den Wänden der Schlucht. Chreich sieht sich beunruhigt um. Wenn wir nicht gehen und auch nicht reden, dann ist es vollkommen still. Es gibt nicht einmal mehr eine Spur des ständigen Hintergrundes der Urwaldlaute, und die schwachen Luftbewegungen hier erzeugen ebenfalls kein Geräusch. Auch das ist für Chreich neu und ungewohnt, genauso wie die Dunkelheit und die Kühle. Und auch wir müssen uns erst wieder an die Stille der Höhlen gewöhnen, nach 12 Wochen da unten.

Natürlich weiß Chreich genauso wie wir, daß wir in der Stille weit hören können, aber daß wir selbst uns auch genauso weit durch unsere eigenen Geräusche verraten können. Im Prinzip gibt es die Möglichkeit eines Hinterhaltes, schon in dieser Schlucht. Und die ganze Zeit, während wir hier gehen, überlege ich mir schon, welches wohl die beste Strategie ist, wenn die Granitbeißerinnen in dieser Schlucht Osont's Leute einholen würden - mit uns dazwischen!

Das ist im Moment vielleicht sehr weit hergeholt. Weder von hinten noch von vorne ist das geringste Geräusch zu hören. Wir sind die einzigen Eindringlinge im Reich der Stille. Und man ist geneigt, zu glauben, daß, wenn schon, man sich den Zorn ganz anderer Wesen zuziehen könnte.

Das ist natürlich Unsinn. "Gehen wir weiter!" sage ich, "ich glaube ohnehin, daß es da vorne wieder heller wird!"

Während wir zwischen den Figuren, die aus der Nähe wie ganz normaler, unbearbeiteter Fels aussehen, durchgehen, sehe ich noch rasch auf Uhr und Höhenmesser: 16 Uhr und 4800 Meter Tiefe. - Ich erinnere mich, daß das so ungefähr die Tiefe der Oberkanten der höchsten Gebäude der Toten Stadt war, die wir beim Abstieg gesehen haben.

85.5 Die Dämmerungsebene

Tatsächlich kommt von nun an mehr Restlicht von vorne als von hinten. Außerdem wird die Steigung sehr gering und der Boden ist nur noch mit wenig Geröll übersät. Das Steintor aus diesen beiden Figuren hat in gewisser Hinsicht die Mitte der Schlucht markiert. Als ob wir jetzt in ein besonderes, verbotenes Gebiet eingedrungen sind.

Es dauert etwas weniger als eine Stunde, bis wir die Schlucht ganz plötzlich wieder verlassen. Wir treten auf eine düstere Ebene hinaus, die von rechts und von links vom Horizont aus durch viel Streulicht beleuchtet ist. Sie macht einen abweisenden und drohenden Eindruck, wie eine Landschaft unter einer Gewitterwolke, die rundherum am Horizont gerade zu Ende ist, so daß von dort das helle Tageslicht hereinscheint. Es ist heller als in der Schlucht, aber natürlich bei weitem nicht so hell wie unter den Leuchtenden Wolken. Eine ständige Dämmerung.

Diese Ebene muß viele Quadratkilometer groß sein. Vielleicht etwa 800 bis 1500 Meter über ihr erstreckt sich das felsige Deckengewölbe, immer wieder durchbrochen von finsteren Höhlungen, in denen man nichts erkennen kann, und die Quelle des Lichtes rundherum, nämlich die Leuchtenden Wolken, kann man von hier aus nicht sehen. Dazu müßte man zum Rand dieser Ebene wandern und dort hinuntersehen. Dort würde man sie wie ein Meer etwa 200 Meter unter sich gegen die Felsen branden sehen.

Diese ganze Ebene müßte man sich als große Steinplatte vorstellen, denke ich, die über den Leuchtenden Wolken in der Schwebe gehalten wird. Das Gipfelplateau eines massiven Berges kann es ja nicht sein, weil wir ja unter den Leuchtenden Wolken weit und breit einen solchen Berg nicht gesehen haben.

Das muß man sich mal wieder vorstellen: eine wahrscheinlich nur einige hundert Meter dicke und einige Kilometer durchmessende Steinplatte, die irgendwo in unseren oberirdischen Gebirgen auf einigen benachbarten Berggipfeln aufsitzt. Ganze Dörfer mit ihren umliegenden Wäldern und Feldern hätten darauf Platz, ganze abgeschlossene Bevölkerungsgruppen könnten da Jahrhunderte leben, ohne irgendeinen Kontakt zur Außenwelt zu haben, so, wie man das auf der Erdoberfläche nur von einigen entlegenen Hochtälern kennt. So etwas gibt es aber nicht. Nicht auf der Oberfläche der Erde. Hier gibt es das.

"Müssen wir hier rüber?" fragt Irene.

"Ja. Wir müssen ja dem ausgetrockneten Bachlauf folgen. - Aber ich glaube, wir sollten uns jetzt etwas für die Nacht suchen."

Das ist leichter gesagt als getan. Die Ebene ist steinig und wird nur von dem sogar bei dieser Dämmerung erkennbaren eingetrockneten Wasserlauf durchbrochen. Ich nehme meinen Kompaß zu Hilfe. Wir sind in diese Schlucht in Richtung Ost gehend eingestiegen, aber die Schlucht hat von uns unbemerkt eine Wendung gemacht. Die Richtung, in der wir aus der Schlucht wieder hinausgetreten sind, ist Nordost.

Wir entscheiden uns, uns zunächst rechts an der Felswand zu halten und einige hundert Meter weit zu gehen. Das ist sinnvoll, weil anzunehmen ist, daß jeder, der hier vorbeikommt, sich an den ausgetrockneten Wasserlauf halten wird. Einige hundert Meter von diesem entfernt finden wir eine steinige Senke, die uns vom Wasserlauf aus genügend Sichtschutz gibt. Dort schlagen wir unser Lager auf.

Wir hängen noch vier Stunden hinter dem 27-Stunden-Schlafrhythmus dieser Welt, und merkwürdig genug: Wir fühlen uns auch so. Müde und zerschlagen. Schon um 18 Uhr sind wir fest eingeschlafen, ich zwischen den beiden Frauen, weil die nicht nebeneinander liegen mögen. Naja. Wenn es erst noch kälter wird, dann wird der Platz in der Mitte der beliebteste werden - bin neugierig, ob ich dann an eine der Außenpositionen verdrängt werde!


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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