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******** 084. Tag: Freitag 95-11-10 ********
84.1 Tarzan
"So. Das ist er. Was habe ich gesagt?" Ohmdinga steht da, als erwarte er eine Belohnung.
"Und wie kommen wir hinüber?" frage ich. Darauf weiß Ohmdinga keine Antwort.
Der Spalt ist genau uns gegenüber, durch drei Meter Schlucht von uns getrennt. Er ist etwas schräg, hat einen Durchmesser von etwas mehr als einem Meter und scheint von links unten nach rechts oben zu führen, soweit das Auge reicht. Und er hat keine hintere Begrenzung. Als ob er weit in die Säule hineinführt.
Dieser Spalt ist fast senkrecht. Normalerweise hätten wir keine Chance, da drinnen zu klettern, in einem so steilen Kamin, selbst wenn wir so nur wenige Meter überwinden müßten. Es sind aber einige tausend Meter, die wir so steigen müssen.
Aber die Wände dieses Spaltes sind nicht glatt. Sie sind stufig aufgebrochen, die gebildeten, unregelmäßigen Stufen haben senkrechte und waagerechte Flächen. Dabei sind, gemäß der Steilheit dieses Spaltes, die senkrechten Flächen fünfmal so groß wie die waagerechten. Das heißt, es gibt 40 Zentimeter hohe Stufen, die einen Tritt von 8 Zentimeter Breite bilden, genauso wie Stufen von 50 zu 10 Zentimetern oder 20 zu vier Zentimetern. Und überall ist die gegenüberliegende Spaltwand, die genau solche Stufen, nur eben in hängender Form, hat, gerade so weit entfernt, daß man sich mit langem Arm dort abstützen kann. Vielleicht ist diese Struktur beim Aufbrechen des Spaltes durch bestimmtes Zusammenwirken der Richtung der Kraftfelder mit der Richtung kristallographischer Ebenen entstanden. Vielleicht auch nicht.
"Geht der Spalt denn durch die ganze Säule hindurch?" frage ich. "Weiß ich nicht." sagt Ohmdinga. Fast scheint er eingeschnappt, daß ich über die großartige Führung zu diesem Spalt hinaus noch mehr von ihm wissen will. Vielleicht unterstelle ich ihm das auch nur, und er ist nur müde vom marschieren.
Der Spalt jedenfalls sieht machbar aus. Natürlich, wer erst ins Stürzen gekommen ist, wird in ihm zerschlagen, wenn man sich nicht sehr schnell irgendwo festhält, und das noch in der ersten Sekunde. Aber wenn man nicht stürzt - es ist so wie an vielen Stellen, die wir in der Granitbeißerwelt gesehen haben: Ein paar Meter über dem Boden einer Turnhalle wäre es trivial.
"Wie kommen wir hinüber?" frage ich noch einmal, und: "Bleibt es bis oben so?"
"Es bleibt so. Wir sollten uns zusätzlich anseilen, wenn wir erst drüben sind." sagt Ohmdinga.
"Wenn wir drüben sind. Wie machen wir das?" Ohmdinga fühlt sich auch jetzt noch nicht für die Lösung dieses Problemes zuständig.
Chreich wirft den Kopf in den Nacken: "Das ist nicht weiter schwierig."
"Nein?" Ich folge ihren Blicken. Sie betrachtet die Bäume, die auf unserer Seite der Schlucht wachsen. Direkt gegenüber des Spaltes steht ein recht hoher, weit ausladender Baum, der ihren Gefallen findet. Ohne Umschweife steigt sie hinauf.
"Müssen wir da auch hinauf?" fragt Irene besorgt. Vielleicht denkt sie daran, daß man aus dieser Baumkrone in den Spalt hinüberwechseln könnte. Die äußersten Äste der Baumkrone reichen zwar in einer Höhe von acht oder neun Metern bis auf einen Meter an den Spalt heran, aber das bildet noch lange keinen gangbaren Weg.
"Nein, ich glaube, sie hat etwas anderes vor!" sage ich.
Hat sie auch. Sie schlingt oben eines der mitgebrachten Seile über eine Astgabel, die noch stark genug und möglichst nahe an der Felswand ist. Dann klettert sie an dem doppelt genommenen Seil wieder herunter.
"Ich glaube, das läuft auf die 'Tarzan'-Methode hinaus!" sage ich.
"Ich kann nicht an einem Seil hochklettern! Das bringe ich nicht!"
"Brauchst du wahrscheinlich auch nicht. Sieh nur, was sie macht!"
Chreich winkt uns, zur Seite zu treten. Sie nimmt nur ein paar Schritt Anlauf. Ohne sich besonders zu sichern schwingt sie sich, beide Seile in den Händen haltend, zum Spalt hinüber. Von einem Moment zum anderen steht sie, etwa einen Meter höher als wir, drüben in dem Spalt. In der nächsten Sekunde schwingt sie sich zurück, als ob es nichts wäre. Schon steht sie wieder neben uns.
"Das kann ich nicht!" sagt die Irene.
"Aber ich!" sagt Chreich, überlegen grinsend. Sie faßt das Seil wieder fester. "Steig auf mich drauf!" schlägt sie Irene vor.
"Nur zu!" ermuntere ich Irene, "Sie läßt dich nicht fallen!"
"Und wenn es nicht geht?"
"Dann kommt ihr gleich wieder zurück!"
Irene ist nicht überzeugt.
"Du setzt dich einfach auf ihre Schultern und hältst dich mit aller Kraft an dem Seil fest!"
"Und wenn der Ast bricht?"
"Kletter rauf und sieh ihn dir an!"
Es dauert eine ganze Weile, bis wir Irene auf Chreich's Schultern haben.
"Versuche, sie nicht mit deinen Oberschenkeln zu erwürgen!" schlage ich vor.
"Nein, versuche es besser doch!" sagt Chreich mit einem schrägen Blick nach oben, "du kannst mir nicht ernsthaft schaden, aber du mußt dich mit Händen und Beinen mit aller Kraft festklammern. Das kann ich nicht für dich tun. Verstanden?"
Irene, die auf Chreich hockt wie ein Schüler, der auf dem Schulhof das Reiter-Abwerfen-Spiel spielt, nickt.
"Also. Zudrücken. Und festhalten. Ja, so! - Ich muß ein paarmal probependeln!"
Ehe Irene protestieren kann, tritt Chreich zurück und nimmt Anlauf. Ein mächtiger Ast über uns schüttelt sich unter dem plötzlichen Gewicht von zwei Personen, hält aber. Chreich setzt drüben nur kurz ihre Füße auf einer der Stufen auf - dann sausen beide Frauen schon wieder zurück. Aus dem Schwung heraus läuft Chreich noch einmal an. "Kopf einziehen!" ruft sie, als sie sich zum zweiten Mal auf den Spalt zu bewegen.
In der nächsten Sekunde ist es geschehen. Chreich steht drüben im Spalt, auf ihren Schultern die verkrampfte Irene. Dabei hat sie gar keinen Grund dazu - sie lehnt an der Spaltwand, und einer ihrer Füße liegt schon auf einer geeigneten Stufe auf. Die Irene hält das jetzt schlaffe Seil in der Hand. Es braucht nur noch einige wenige Gebrauchsanweisungen von Chreich, und die Irene steht sicher im Spalt. Chreich läßt sie ein paar Stufen höher gehen, weil sie für die nächste Fuhre Platz braucht.
Als sie wieder bei uns drüben ist, stellt sie sich vor mich hin:
"Kannst du es alleine? Oder soll ich dich auch rüber bringen?"
"Bist du böse, wenn ich nichts riskieren möchte? Es ist besser, wenn du mich rüberbringst, genau wie meine Frau!"
"Spielen wir dann miteinander, wenn wir oben sind?" fragt sie, einen Tonfall leiser, so daß Irene es nicht deutlich von drüben hören kann. "Du hast es versprochen!"
Chreich hat schon ein Gespür dafür, wann man in einer schlechten Verhandlungsposition ist! "Wenn ich es versprochen habe ..." sage ich gedehnt. In unserem Rechtssystem bezeichnet man das als 'Unzucht mit Abhängigen' und 'Nötigung'. Andererseits will ich ja auch in den Spalt rüber - deshalb lasse ich mich auf keine Diskussion ein.
"Gut." Wie Irene muß ich ihr auf den Nacken steigen. Die ganze Prozedur wiederholt sich. Vorher nehme ich mir vor, während des Hinüberschwingens in die Tiefe zu sehen, um von diesem einmaligen Ereignis beeindruckende Erinnerungen mitzunehmen. Aber ich bringe es nicht über mich. Dafür begreife ich, wie sie es gemacht hat, daß der Zug des Seiles ihren Passagier nicht gleich beim Ankommen wieder in die Schlucht zurückreißt: Sowie sie in dem Spalt ihren Fuß aufsetzt, steigt sie rasch ein paar Schritte nach oben. Dadurch wird das Seil kraftlos, und ihr Passagier, der noch Schwung in Richtung Spalt hat, erreicht diesen ohne Probleme und bleibt dort. Es ist für sie keine große Tat, mit ein paar geschickten Griffen ihren Passagier so hinzudrehen, daß er auf eigenen Füßen steht, bevor er noch begriffen hat, wie sie das zustande gebracht hat. Es sieht fast leicht aus. Geübt ist geübt!
Sie holt Ohmdinga auf dieselbe Weise rüber, dann birgt sie das Seil, indem sie das eine Ende loßläßt und am anderen zieht. Danach turnt sie etwas um uns herum, um uns anzuseilen. Sie macht den Seilersten, dann kommt Irene, dann ich, dann Ohmdinga. Etwa jeweils neun Meter Seil trennen uns, und den provisorischen Sitzgurt kann sie genauso routiniert knüpfen wie Ganvoch es getan hat.
Ganvoch. Hoffentlich lebt er noch.
Um 0:45 Uhr sind wir endlich abmarschbereit. Der Höhenmesser sagt 8350 Meter unter NN, also 2150 Meter über dem Meer. Sorgfältig verstaue ich ihn wieder.
84.2 Im Kamin
Unser Marsch ist nicht sehr schnell aber zügig. Chreich steigt, soweit das Seil sie läßt. Dann folgt Irene, bis sie direkt unter ihr steht. Dann bin ich dran und mache es genauso. Dann Ohmdinga. Bei diesem Rhythmus klettern wir alle nur ein Viertel der Zeit. Natürlich könnte Chreich schon wieder etwas früher die nächste Seillänge klettern, aber sie schätzt unsere Klettererfahrung wohl nicht allzu hoch ein. Deshalb klettert nur einer zur Zeit, und damit basta.
Da jeder von uns in diesem Gelände und bei diesem Vorgehen vierzig Zentimeter pro Sekunde steigen kann, erreichen wir eine effektive Steiggeschwindigkeit von 360 Meter pro Stunde ohne Pausen. Wahrscheinlich wird es weniger werden, wenn wir erst etwas müder sind. Das Auf- und Ab der Landschaft vor dem Spalteinstieg hat uns schon etwas geschlaucht. Dort sind wir hunderte von Metern gestiegen, die wir dann wieder verschenken mußten.
Andererseits ist jedem von uns klar, daß es in dem Spalt kein Übernachten gibt. Wir müssen in eins und ohne Aufenthalt durch. Jeder von uns, ohne Ausnahme.
Wir halten uns in einer Entfernung von etwa einem halben bis zwei Metern von der Spaltöffnung. Das wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, wo die besten Stufen sind.
Um 2 Uhr steht mein Höhenmesser auf Null. 8000 Meter unter NN, 2500 Meter über dem Meer. Irene quittiert meine Neuigkeit mit Kopfnicken.
Da wir wegen der schmalen Form der meisten Stufen seitlich klettern, belasten wir unsere Beine asymmetrisch. Aber ich möchte eigentlich schon aus dem Spalt heraussehen, zusehen, wie die Landschaft in die Tiefe fällt, der weite Blick aufs Meer, das jetzt mindestens genauso tief unter uns ist wie die Leuchtenden Wolken über uns. Ich suche das Meer nach Schiffen ab, finde aber nichts. Auch das Land der Insel zeigt nicht den mindesten Hinweis auf menschliche Besiedlung.
Es gibt heute sporadische Wolkenbänke unter den Leuchtenden Wolken, teilweise auch schon tiefer als wir selbst. Deshalb kann ich nicht jede Stelle des Horizontes sehen. Und wenn ich zu lange sehe und nicht bemerke, daß Chreich und Irene bereits ihre Seillänge weitergeklettert sind, dann gibt es eine böse Bemerkung.
"Kannst du noch, Irene?" frage ich. Für sie ist das Klettertempo recht hoch. "Laß dir Zeit. Klettere langsam."
Das tut sie auch. In den folgenden Stunden schaffen wir in jeder Stunde etwa 250 Meter. Um vier Uhr haben wir eine Tiefe von 7500 Meter unter NN, um 6 Uhr sind es nur noch 7000 Meter.
Der Spalt verändert sich glücklicherweise nur wenig. Wir alle spüren wohl schon ein bißchen die Erschöpfung, und Irene spürt es ein bißchen mehr. Es sollten aber keine 2000 Meter mehr bis zum nächsten Nachtlager sein, weil die Gabelung der Säule, die Achselhöhle gewissermaßen, noch unter der Schicht der leuchtenden Wolken ist.
Pause. Essen, trinken. Besonders trinken. Keiner von uns darf dehydrieren. Wir steigen noch langsamer. Gleichmäßig, stundenlang. Um 11 Uhr haben wir erst 6000 Meter unter NN erreicht. Eigentlich wäre jetzt der Beginn der Schlafperiode.
Der Spalt hat sich die ganze Zeit lang kaum verändert. Das ist gut so, denn wenn zum Beispiel die Winkel der Stufen sich verändern würden, dann könnte aus dieser technisch vergleichsweise einfachen Klettertour eine Unmöglichkeit werden. Es reichte zum Beispiel aus, daß die Stufen zu stark abschüssig werden. Werden sie aber nicht. Wenn man von einzelnen, beschädigten oder unregelmäßigen Bruchkanten absieht, dann haben immer noch die allermeisten dieser Stufen waagerechte Trittflächen. Allerdings gibt es ab und zu Stufen, die durch mehr oder weniger gut sichtbare Risse von der Spaltwand getrennt sind. Das sind vermutlich solche, die bei der Entstehung dieses Spaltes fast an der anderen Spaltwand haften geblieben wären. Natürlich ist es besser, zu vermeiden, auf solche unsicher aussehenden Stufen zu treten.
Eigentlich, denke ich mir, sollte man erwarten, daß häufiger mal Steine aus den Spaltwänden herausbrechen. Auch während der Entstehung dieses Spaltes muß das ja vielfach geschehen sein. Das heißt aber, daß ab und zu kleine Steine auf den Stufen liegen sollten. Das ist aber nicht der Fall. Wahrscheinlich ist der Spalt oft von Stürmen saubergeblasen worden. Dann müßten weiter drinnen eventuell noch Steine auf den Stufen liegen. Wir haben aber keine Veranlassung, uns zu weit von der Außenseite der Felssäule zu entfernen.
Auch der Spaltdurchmesser hat sich kaum verändert und ist eigentlich zum Klettern ideal. Die gegenüberliegende Spaltwand ist nahe genug dran, um sich an ihr abzustützen, und weit genug weg, um sich nicht dauernd den Kopf anzustoßen. Ich denke mir, daß nur wenig mehr Kletterroutine ausreicht, um diesen Spalt als einen idealen, einfachen Weg zu empfinden. Aber daraus den Schluß zu ziehen, daß er irgendwie künstlich bearbeitet wurde, ist zu voreilig. Wenn man an einer solchen Säule einen solchen Kaminkletterweg künstlich angelegt hätte, dann hätte man natürlich nicht einen endlos tiefen Spalt in die Säulenwand geschlagen, und man würde Treppenstufen mit regelmäßigem Abstand erwarten.
Kurz nach 11 Uhr passiert wieder einmal etwas Besonderes. Aus der gegenüberliegenden Spaltwand ist ein großes Stück herausgebrochen. Groß wie eine Turnhalle und nur mit angenähert quaderförmigen Abmessungen. Für etwa 20 Meter können wir uns deshalb nicht an der gegenüberliegenden Spaltwand abstützen. Diese große Höhle ist aber auch nicht als Rastplatz geeignet, weil ihr Boden viel zu abschüssig ist. Nicht einmal pflanzlicher Bewuchs hat sich hier festgesetzt. Um es präziser zu sagen, hatte das herausgebrochene Stück eher die Form eines Pyramidenstumpfes, dessen Basisfläche die Außenwand bildete. - Das muß ganz schön gekracht haben, als dieses Stück nach einem Fall von über 2000 Metern unten in den Bergen der Säulengabelinsel aufschlug. Wenn wir unten der Rundung der Säule nur wenige hundert Meter weiter gefolgt wären, dann hätten wir es vielleicht finden können.
Zwar ist es einfach, diese zwanzig Meter ohne die Hilfe der gegenüberliegenden Spaltwand zu durchsteigen. Aber der beunruhigende Gedanke ist: Was wäre gewesen, wenn das Stück an unserer Seite herausgebrochen wäre?
Aber da finde ich schnell die Antwort: Das wäre eben ein Fall gewesen, wo man weiter im Spaltinneren hätte klettern müssen. Unproblematisch. Aber daß ich nicht gleich drauf gekommen bin, deutet darauf hin, daß ich auch schon viel müder geworden bin. Wie muß es da erst Irene gehen!
Ich frage sie nicht, ob sie noch kann. Auf keinen Fall darf ich das tun. Sie MUSS können! Wir können hier nicht schlafen. Es sei denn, eine solche Grotte wie eben taucht auf unserer Seite des Spaltes auf, und diese Grotte hat einen hinreichend ebenen Boden, und kein Flugsaurier hat diese Grotte als Nistplatz in Besitz genommen.
Wir klettern weiter, langsamer als zuvor. Immer, wenn ich verfolge, wie die Irene über mir ihre Seillänge durchsteigt, dann sehe ich, daß Chreich das Seil, das sie mit Irene verbindet, straff hält. Das hat sie vor einigen Stunden noch nicht getan. Sie zieht die Irene, nimmt ihr so einen Teil ihres Gewichts ab. Einen Moment lang durchschwappt mich eine warme Sympathiewelle für Chreich. Aber natürlich macht sie das aus bloßem Eigennutz: Wenn die Irene nicht mehr kann, dann sind wir alle in großen Schwierigkeiten. Aus demselben Grund höre ich jetzt öfter, daß Chreich Irene auffordert, langsamer und vorsichtiger zu klettern.
Genauso habe ich es des öfteren gemacht, wenn ich mit der Irene in den Bergen gewandert bin. Wo es technisch möglich ist, ziehen oder schieben - auch wenn man nur geringe Kräfte auf diese Weise austauschen kann - und künstlich bremsen. Ich erinnere mich an einen Tag vor acht oder neun Jahren, wo wir Roß- und Buchenstein in den Tegernseer Bergen von Bayerwald im Weißach-Tal aus bestiegen haben. Das sind etwa 800 Meter Höhenunterschied. Kein schwieriger Weg, nur eben steil. Der Tag war heiß, und die Irene war nicht gut beieinander. Es sah so aus, als ob sie es nicht schaffen würde. Sie beklagte sich und wollte umkehren. Da wir schon zwei Drittel des Höhenunterschiedes bewältigt hatten, erschien mir das nicht sinnvoll. Wenn man müde und mit unkoordinierten Bewegungen einen steilen Pfad hinuntergeht, dann ist die Sturzgefahr erst recht erhöht.
Also habe ich einfach die Führung übernommen. Bis dahin hatte ich Irene vor mir gehen lassen, damit sie sich das Tempo nach Belieben aussuchen konnte. Ich konnte mich ja auf jedes Tempo einstellen, das sie vorlegte. Nun aber gab ich das Tempo vor, denn es war mit klar, daß sie für ihren eigenen Zustand ein zu hohes Steigtempo einschlägt.
Und ich ging langsam. Sehr langsam. Schritt - Pause - Schritt - Pause - Schritt - Pause - Schritt. Es ist schwer, so langsam zu gehen. Man muß sich sehr konzentrieren. Aber auf diese Weise zwang ich Irene, die mich auf dem schmalen Weg nicht gut überholen konnte, ebenso langsam zu gehen - weit unter dem Leistungslevel, der ihr soviele Schwierigkeiten machte. Und dadurch ermöglichte ich, daß sie sich erholte, obwohl wir noch weiter an Höhe gewannen, wenn auch langsam. Jedenfalls haben wir die Tegernseer Hütte zwischen jenen beiden Berggipfeln problemlos erreicht. Und beim Runtergehen war die Irene wieder so in Form wie immer.
Genau diesen Trick wendet Chreich jetzt auch an. Ob bewußt oder nicht, weiß ich nicht. Natürlich sparen wir anderen durch diese Verlangsamung auch unsere Kräfte. Und warum sollten wir auch so schnell Höhe gewinnen - in den letzten Stunden waren wir ja viel schneller als auf unserem Weg nach unten vor zwölf Wochen!
Ich selber halte mich mit dem Gedanken aufrecht, daß wir ja keine tausend Meter mehr vor uns haben können. Das allermeiste haben wir ja schon geschafft. Wenn keine unüberwindlichen Hindernisse mehr kommen, dann müßten wir eigentlich bald das Ziel für heute, nämlich den Urwald in der Säulengabel erreicht haben.
Eigentlich müßten wir auch schon längst in der Höhe der Gabelung der Felssäule angekommen sein. Das würde man daran merken, daß die Säulenaußenwand zu einem Überhang wird. Wird sie aber nicht. Nun ja, das kann daran liegen, daß wir, indem wir dem Spalt folgen, uns allmählich auf die Nordseite der Säule begeben haben. Die beiden Arme der Säulengabel spreizen sich aber ungefähr nach Ost und West.
Dann aber müßte man erwarten, daß wir innerhalb einiger weiterer hundert Meter in die Gabel einsteigen. Die Säulenaußenwand müßte dann von der Senkrechten abweichen und weniger steil werden. Das ist aber auch noch nicht festzustellen.
Da ich häufig nach oben sehe, nicht nur wegen der Irene, sondern auch, weil ich frühzeitig jede Veränderung des Weges sehen will, fällt mir schließlich auf, daß sich dort in der Tat etwas verändert. Als ich verstehe, was ich sehe, will ich es nicht glauben. Chreich muß es auch schon gesehen haben, aber sie klettert noch kommentarlos weiter. Irene ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um schon etwas bemerkt zu haben, und auch Ohmdinga, der unter mir klettert, sieht in den Kletterpausen nur noch starr vor sich hin. Er hat schon lange nichts mehr gesagt.
Um 13 Uhr ist es soweit: Der Spalt ist zu Ende. Es geht nicht weiter. Routinemäßig sehe ich auf den Höhenmesser: 5800 Meter unter NN, also 4700 Meter über dem Meer. Darauf können wir uns was einbilden.
"Was jetzt?" frage ich. Die Irene sieht mich an. In ihren Augen steht Angst. Ihre Hände zittern. Wir müssen dringend irgendwo rasten.
84.3 Infarkt?
Chreich sieht an uns vorbei, um Ohmdinga direkt zu fragen: "Wieso geht es hier nicht weiter?"
"Es geht hier weiter!" sagt Ohmdinga erschöpft, "Da bin ich sicher!"
"Bist du denn selbst schon einmal hier gewesen?"
"Nein. Aber ich habe genaue Erzählungen gehört."
"Ist das etwa deine ganze Expertise?"
"Ja!"
"Ach. - Dann sind wir bis jetzt von einem Ortsunkundigen geführt worden!"
Ohmdinga ist eingeschnappt: "Es geht weiter. Ich weiß es nicht genau. Aber man kann das Plateau in der Gabel erreichen! Bestimmt!"
"Weiter innen?" fragt Chreich und deutet auf das dunkle Spaltinnere. Ich halte das für unwahrscheinlich. Schon ein paar Dutzend Meter weiter drinnen bräuchte man eine Lichtquelle. Ohmdinga zuckt nur mit den Schultern, als ob ihn das nichts mehr anginge. Sogar ihn erschöpft das Diskutieren. Dabei geht uns das alle an.
Einen Moment lang fällt mir auf, daß Ohmdinga gar nicht gut aussieht. Sein Gesicht ist blau verfärbt, sogar seine Lippen sind blaß, und er scheint zu zittern. Schweiß bedeckt ihn überall. Eigentlich sieht er so aus, als sei er noch schlimmer dran als Irene. Naja, unter diesen Umständen sehen wir wohl alle ja nicht besonders gut aus. Bei einem über Fünfzigjährigen fällt es vielleicht nur besonders auf.
"Herwig, was jetzt?" fragt die Irene, "Ich kann nicht mehr! Bitte!"
Was soll ich sagen? Wenn wir hier nichts finden, dann müssen wir zurück. Das schafft die Irene nicht mehr. Ich überlege, ob man eventuell einen Viertelstundenschlaf für jeden organisieren könnte, während die anderen drei ihn festhalten. Das bringt schon etwas, wie man aus Experimenten mit Verkehrspiloten weiß. Wenn wir wirklich wieder absteigen müssen, dann müssen wir etwas ähnliches wohl tun. Hoffentlich glaubt Chreich mir das. Sie ist noch am fitesten und am wachsten von uns allen.
Ich sehe mir das Spaltende genauer an. Der Spalt hat hier gewissermaßen ein schräges, unregelmäßiges Dach. Chreich klettert höher und betastet es. Dabei nähert sie sich der Außenwand.
"Sei vorsichtig!" sage ich. Sie blickt nur kurz zur Seite. Dann schiebt sie ihren Kopf ins Freie, blickt an der Felssäule in die Tiefe, dann nach rechts und links, dann über sich.
"Aha." sagt sie. Ich höre es nur dumpf, weil sie von uns wegspricht und der Schall sich ins Freie verliert.
"Was?" frage ich.
Chreich löst das Seil von sich und gibt das Ende Irene, ohne mir zu antworten. "Ich komme gleich wieder!" sagt sie, "Bleibt, wo ihr seid!"
Dann klettert sie zu der höchsten Stufe, die ganz an der Außenwand der Säule anschließt. Sie greift über die Kante, dreht sich mit dem Rücken zur Außenwand und tritt einen Schritt zurück. Zentimeterweise schieben sich ihre Füße mit den Fersen über den Abgrund. Es sieht so aus, als ob sie außerhalb des Spaltes über ihrem Kopf einen Halt hat. Aber es sieht auch entsetzlich gefährlich aus.
Nach wenigen Schritten ist sie schräg über uns verschwunden. Wahrscheinlich könnte ich sie noch sehen, wenn ich näher an den Rand des Spaltes treten würde. Dazu habe ich im Moment einfach nicht den Mumm.
Allmählich aber begreife ich, was sie da wohl sehen könnte. Der Spalt ist nicht zu Ende. Er setzt sich lediglich mit einem anderen Durchmesser fort, nämlich mit dem Durchmesser Null. Das geht aber nur, wenn ein zweiter Spalt sich mit diesem hier trifft. Dann liegt nämlich der Fels von oben wie ein spitzwinkliger Keil zwischen den an diesem Keil anliegenden Felsflächen. Dieser Keil endet dann gewissermaßen mit seiner Schneide genau in diesem Spalt. Und weil der Keil keinen Platz zwischen sich und den Felsflächen mehr läßt, setzt sich unser bisheriger Spalt eben mit dem Durchmesser Null fort.
Allerdings ist es immer noch möglich, daß dieser Keil um eine gewisse Distanz nach außen oder nach innen verschoben ist. Dann bleibt an der Außenwand nämlich ein treppenförmiger Sims übrig. Wenn das ein überhängender Sims ist, dann nützt das natürlich gar nichts. Aber im anderen Fall könnte man auf diesem Sims weitersteigen. Kommt drauf an, wie breit der Sims ist.
Ich betrachte das Spaltende unter diesem Gesichtspunkt. In der Tat: Die den Spalt abschließende Felsdecke scheint um fünf Zentimeter nach innen versetzt zu sein. Damit könnte es außen am Fels einen fünf Zentimeter breiten Sims geben, der genauso steil ist wie dieser Spalt bis jetzt.
Fünf Zentimeter! Wie sollen wir das schaffen! Wie soll die Irene das schaffen? Angstvoll sehen wir nach oben. Jeden Moment könnte draußen Chreich vorbeifallen. Sie kann ja auch nicht hexen und Wege dort finden, wo es keine gibt. Oder auf einem fünf Zentimeter breiten Sims stehen, wenn der Schwerpunkt des eigenen Körpers nicht auf fünf Zentimeter an die Felswand herangeführt werden kann. Oder kann er das? Nein, das kann er nicht. Bei Irene und Ohmdinga erst recht nicht - beide sind übergewichtig.
Minuten vergehen. Nichts passiert. Wo ist Chreich abgeblieben? Was tun wir, wenn sie nicht zurückkommt? Wie lange warten wir auf sie? Sie hat gesagt 'gleich', und daß wir hierbleiben sollen. Offenbar hat sie nicht den mindesten Zweifel, daß sie zurückkommen wird. Wenn wir doch alle so klettern könnten wie eine Granitbeißerin!
Weil es so lange dauert, überlege ich mir, welche Komplikationen das Zusammentreffen dieser beiden Spalten noch haben kann. Das sind ja Risse in dieser Felssäule, und Risse sind Schwachstellen. Die Säule ist geschwächt. Andererseits steht sie noch. Möglicherweise sind durch das Entstehen dieser Risse mechanische Spannungen abgebaut worden, so wie man beobachten kann, daß manche Porzellanteller, die einen Sprung haben, seltsamerweise am längsten halten.
Irene hat dicht über mir ihren Kopf auf die Stufen gelegt. Wegen der Steilheit des Spaltes ist das hier möglich. Ich steige ein paar Schritt, bis ich fast neben ihr stehe.
"Bloß nicht einschlafen, Irene! Wir werden es schaffen, aber jetzt nicht einschlafen!"
"Ich schlafe nicht!" zischt sie böse. "Es ist deine Schuld. Ohne dich wären wir jetzt nicht hier!"
"Gut, gut." Ich sage nichts mehr. Wenn ihr Wut auf mich hilft, wach zu bleiben, dann soll sie wütend auf mich sein. Ich lasse mich deshalb nicht auf eine Diskussion über Schuld oder Nichtschuld oder über die genaue Interpretation ihrer Worte ein. Vielleicht muß ich das in naher Zukunft tun, um sie damit wach zu halten. Oder um mich so wach zu halten.
Über unseren Köpfen ist ein Geräusch. Chreich's Füße tauchen im äußersten Winkel des Spaltes auf, Schritt für Schritt geht sie auf der Außenkante tiefer, bis wir sie ganz sehen und sie sich wieder ganz in den schützenden Spalt hineinschiebt. Sie sieht - paradox, aber es ist so - zufrieden aus.
"Das ist der Weg, den wir gehen müssen! Hier, diese Außenkante dieses Kamins führt immer weiter über den Fels, genauso, wie sie hier aussieht. Sie ist eben nur etwa so breit."
Sie deutet dabei mit ihrer Hand eine Breite von sieben Zentimetern an. Sieben Zentimeter! Wieviel leichter wird es dadurch, als wenn es nur fünf wären? Fünfzig Zentimeter, denke ich, und es wäre überhaupt kein Problem. Auch vierzig. Sogar dreißig wären noch akzeptabel. Aber es sind bloß sieben!
Ohmdinga ächzt. "Das kann ich nicht!" sagt er. Vielleicht wird Irene das auch gleich sagen.
"Ich habe noch nicht alles gesagt!" fährt Chreich fort, "Da sind nämlich Griffe in den Fels eingeschlagen! Ein guter Wegführer hätte das gewußt und uns nicht solange im unklaren gelassen!"
Ich sehe Ohmdinga nicht an, um ihn diese Kritik nicht noch schwerer verdauen zu lassen.
"Es dauert dann gar nicht mehr lange, bis die Wand sich neigt. Dann wird es ganz einfach. Sie geht dann in einen Hang über, und oben kann man dann schon den Urwald sehen - wenn er sich nicht gerade im Nebel versteckt. Was uns auch schon vorher passieren kann."
Da hat sie recht - wir sind so dicht unter der Schicht der Leuchtenden Wolken, daß deren tiefste Ausläufer schon bis in unsere Höhe hinunterreichen. Mit plötzlichem Nebel müssen wir also von jetzt an jederzeit rechnen.
"Wir haben's also praktisch schon geschafft." sagt Chreich, "Wenn es ebenerdig wäre, dann könnte man die Strecke bis zu den ersten Büschen mit angehaltenem Atem laufen!"
Sie sieht Irene an. "Irene," sage ich, "nur noch einen Moment Konzentration! Dann können wir bald schlafen!"
Ich wage nicht zu fragen: 'Schaffst du es? Traust du es dir zu?' Sie hat ja keine Wahl. Und ich auch nicht. Jeder von uns kann die 'Nähmaschine' kriegen, den Zustand panikartiger, unkontrollierter Zitterbewegungen, die Unfähigkeit, logisch und gezielt zu handeln und auch die einfachsten sinnvollen Dinge zu tun.
Als ich der Irene ins Gesicht sehe, habe ich aber den Eindruck, daß sie vielleicht sogar für die Panik zu erschöpft ist. Geht das? Ein ermüdungsbedingtes Narkotisieren der Gefahrenwahrnehmung? Und was ist denn die größere Gefahr, die Panik oder die Ermüdung mit ihren Folgeerscheinungen? Vielleicht läßt es sich neurologisch verstehen, daß Ermüdung irgendwann nur noch intellektuelle Aktivität für das Allernotwendigste übrigläßt, so daß für Furcht und Panik kein Platz mehr ist. Ein absoluter psychologischer Ausnahmezustand. Wahrscheinlich ein sehr instabiler, temporärer Zustand. Wir müssen schnell machen.
Chreich seilt sich wieder an. Offenbar meint sie, daß unsere Reihenfolge im Seil so in Ordnung ist, denn sonst hätte sie etwas anderes vorgeschlagen. Sie nickt Irene zu:
"Ich zeige dir die Griffe," sagt sie, "du zeigst sie dann Herwig, der zeigt sie Ohmdinga. Das ist doch ganz einfach. Okay?"
Als Chreich wieder nach oben steigt und Irene gleich hinter sich her führt, sieht Irene mich einen Moment lang an. Ein Blick, als ob sie zur Schlachtbank geführt wird.
"Wir bleiben auf jeden Fall zusammen!" sage ich und deute auf das Seil, das uns verbindet. Das ist natürlich nicht unbedingt beruhigend - ich glaube nicht, daß wir in dieser Wand einen von uns, der stürzt, auffangen können. Aber auf Irene haben solche Floskeln manchmal einen motivierenden Einfluß.
"Nie wieder gehe ich mit dir auf die Zugspitze!" sagt sie. "Nie wieder." bestätige ich. - Keinen Streit anfangen!
Chreich turnt geschickter als bei ihrem ersten Erkundungsversuch. Sie führt Irene an die Außenkante heran, bedeutet ihr, sich umzudrehen und mit den Füßen weiter zurückzugehen, bis ihre Fersen über dem Abgrund sind. Dann muß sie, den Kopf schief unter der Spaltdecke geduckt, mit dem einen Arm außen an der Säulenwand entlang fahren, bis sie den ersten Griff gefunden hat, der da bald kommen soll.
"Sieh es dir gut an, Herwig, du mußt es genauso machen!" ruft Chreich, von der ich kaum noch etwas sehe.
Tapfere Irene. Sie hat irgendwo Halt, schiebt jetzt ihren Kopf unter der Kante hinweg nach außen, dann ihre andere Hand, dabei kommen sich ihre Arme und ihr Kopf in die Quere. Irgendwie schafft sie es dann doch. Mehrmals denke ich, daß sie fällt. Aber sie fällt nicht. So etwas dummes macht meine Irene nicht!
Dann sehe ich nur noch ihre Beine, sehe, wie sie die höheren Stufen sucht. Nun bin ich dran. Na los. Du kannst das auch, Herwig!
Es ist schwer, den Abgrund im Nacken zu spüren und ihn doch zu ignorieren. '30 Zentimeter über dem Boden einer Turnhalle', denke ich, und schon hängt mein Arsch im Freien. Mit der linken Hand stütze ich mich noch an der Spaltdecke ab, mit der Rechten taste ich über die Felswand über mir. Irene führt meine Finger zu dem ersten Loch. Eine wunderbare Griffmulde, deren Öffnung enger ist als ihre Ausdehnung ein paar Zentimeter im Fels drin. Das ist ein sehr guter Halt, wenn er nicht ausreißt. Ganz klar: Diese Mulde ist künstlich. Das erste künstliche, was wir auf diesem Aufstieg vorfinden.
Trotzdem ist es eine große Überwindung, den Kopf aus dem Spalt herauszubringen. Dann aber sehe ich über mir eine zweite geeignete Griffmulde, und wenig später habe ich meine linke Hand in derselben. Nun kann ich mich etwas weiter aufrichten, denn 30 Zentimeter höher ist schon die nächste Griffmulde.
"Da hat sich jemand viel Mühe gegeben!" sage ich. Aber ich bin fast erleichtert, und vielleicht hört man das jetzt auch in meiner Stimme. An jeder Stelle zwei solche Mulden in der Hand zu haben, wenn man einen Fuß bewegen muß ist schon sehr angenehm. Insbesondere auch deshalb, weil der steiltreppige Sims in keiner Weise bearbeitet wurde. Es sind also nicht alle Tritte so besonders ideal.
"Kon-zen-trier-ren!" sage ich zu mir selbst, aber so, daß Irene es hören kann: Genau das müssen wir jetzt in jeder Zehntelsekunde tun.
Nun stehe ich sicher. "Ohmdinga - du bist dran!" rufe ich nach unten.
"Nein!" wimmert es zurück.
"Was heißt 'nein'? Du bist dran!"
"Ich kann nicht!"
"Warum denn nicht? Natürlich kannst du! Sogar meine Frau kann es!"
Wenn ich runtersehe, kann ich nur gerade die Kanten des Spaltes, den wir gekommen sind, sehen. Aber Ohmdinga ist zuweit im Spalt drin. Und wenn ich noch weiter nach hinten sehe ...
"Mein Gott ..." murmele ich. Wie aus dem Flugzeug. Und diese endlose Wand, die sich von meinen Füßen bis da unten erstreckt. Die säulennahen Berge kann man, solange sie bewaldet sind, fast überhaupt nicht mehr als solche erkennen, und hinter den niedrigen Vorgebirgen ist die Küste überraschend nahe, in jeder Richtung.
"Du mußt ihn genau leiten!" ruft Chreich an Irene vorbei mir zu. "Außerdem mußt du noch etwas höher, damit er Platz hat!"
"Bin ja schon dabei!" Herwig, ignoriere die Landschaft da unten. Der Fels in deiner Hand ist wichtig, der Fels ist dein Freund, er ist sicher und zuverlässig, und das mußt du auch dem Ohmdinga vermitteln!
"Du mußt jetzt soweit raufklettern, daß du mit deinem Schädel die Spaltdecke berührst! Hast du verstanden?"
"Ich habe Schmerzen!" kommt es dumpf zurück.
"Ach Unsinn! Wo denn?"
"In der Brust!"
"So? Hast du das schon einmal gehabt?"
"Ja. Aber nicht so schlimm!"
Was nun? Stimmt das? Sind das psychosomatische Schmerzen? Angina Pectoris? Koronar-Anämie? Oder schon ein richtiger Infarkt? Oder bloß eine Ausrede?
"Wo in der Brust?" frage ich.
"In der Mitte. Oben."
"Trinke etwas und sage mir, ob es besser wird!"
Eine Zeitlang ist Ruhe.
"Trinkst du?" frage ich.
"Ja."
"Herwig, ich kann nicht ewig hier stehen!" ruft die Irene.
"Ich kann doch nichts dafür! Ohmdinga will nicht weiter!"
"Er muß!" ruft Chreich.
"Ohmdinga!" rufe ich nach unten, "Wird es besser?"
"Nein. Schlechter. Ich habe Angst. Es ist was mit meinem Herzen! Ich kriege kaum noch Luft!"
Ich erinnere mich, daß Ohmdinga zyanotisch ausgesehen hat, als ich ihn zum letzten Male gesehen habe. Wenn es nun wahr ist? Ist doch möglich, in seinem Alter! Wir dürfen es nicht riskieren, mit einem Seilgefährten, der jederzeit ohnmächtig werden kann, diese Wand zu durchsteigen. Wenn einer stürzt, dann stürzen alle!
"Irene," sage ich in Deutsch, "wenn er recht hat, dann hat er einen Infarkt. Was heißt 'Herzinfarkt' auf Xonchen?"
"Weiß ich nicht. Herwig, ich will hier weg!"
"Ja doch! Sag Chreich, daß Ohmdinga's Herz dabei ist, kaputtzugehen - aber leise, so daß er es nicht hört! Frag sie, was wir tun sollen!"
Herwig, du schiebst schon wieder die Verantwortung weg. Du weiß doch ganz genau, was du tun mußt. Aber natürlich, das Unausweichliche sich von anderen bestätigen lassen ist ja nicht falsch, oder?
"Ohmdinga! Hörst du mich noch? Ohmdinga? OHMDINGA!"
Er sagt nichts, aber ich glaube, schweres, arythmisches Atmen zu hören.
Zwecklos. Wir kriegen ihn hier nie wieder runter, wenn er wirklich einen Infarkt haben sollte. Ich sehe Irene an. Sollen wir unsere Rückkehr in unsere Welt wegen Ohmdinga gefährden? Wo wir schon so weit gekommen sind?
"Chreich sagt, du mußt ihn losschneiden. Klemm das Seil locker unter den Gürtel, so daß es rausrutscht, wenn er stürzt - dann merkt er es vorher nicht. Oh Herwig, du brauchst dazu ja deine Hände!"
"Eine brauche ich dazu. Das geht noch. Nur zum Halten des abgeschnittenen Seiles brauche ich noch eine."
"Dann geht es nicht?"
"Doch. Ich schneide es bis auf eine einzige Faser durch. Frag Chreich, was sie davon hält!"
Noch während Irene mit Chreich redet, fange ich an, mit meinem Messer Ohmdinga's Seil durchzuschneiden, vergewissere mich vorher aber mehrfach, daß ich nicht aus lauter Unaufmerksamkeit das Sicherungsseil für Irene erwische.
Herwig, weißt du, was du da eigentlich tust? Du läßt einen kranken Bergkameraden im Stich! Genauso würde man das formulieren! Jeder, der davon hört, würde das tun! - Aber wenn du es nicht tust - er kann jede Sekunde das Bewußtsein verlieren. Und dann würde er euch mitreißen, sogar jetzt schon, wo er noch in dem Spalt da drinnen hockt.
Das Durchschneiden dauert lange. Ich drücke das Seil auf den Fels, um ein besseres Widerlager zu haben. Dann geht es besser.
"Chreich sagt, es ist in Ordnung, so, wie du es vorhast!" flüstert Irene mir zu.
"Aber wir versuchen noch einmal, ihn zum Mitgehen zu bewegen!" sage ich, "Sonst müßte ich ihn gleich ganz abschneiden!"
"Ja, aber wir müssen weiter, ich kann nicht mehr!" sagt die Irene mit flehendem Unterton, "Gleich! - Schnell, Herwig!"
"Ohmdinga!" rufe ich nach unten, "wir MÜSSEN weiter! Kommst du nun oder nicht? Ich sage dir, was du tun mußt!"
Einen Moment lang hören wir gar nichts. Ich stecke das Messer wieder an meine Seite.
Da pendelt plötzlich das Seil aus dem Spalt hinaus. Ohmdinga hat sich losgemacht! Er sagt etwas, aber ich höre nichts. In demselben Moment reißen die zwei letzten Fasern, die ich übriggelassen habe, durch den plötzlichen Ruck, und das neun Meter lange Seilstück fällt in die Tiefe.
"Chreich!" rufe ich laut, "Ohmdinga kommt nicht mit! Die nächsten Schritte!"
Wie könnte er jetzt noch mitkommen. Wenn er noch bei Bewußtsein ist, dann hat er mitgekriegt, daß gleichzeitig mit seiner eigenen Lösung vom Sicherungsseil wir ihn auch aufgegeben haben. Und wenn er nicht mehr bei Bewußtsein ist, dann wird er sowieso jede Sekunde in dem Spalt in die Tiefe stürzen. Ich will nicht, daß die Irene das mitkriegt und dadurch auch nur einen Moment an Konzentration verliert.
"Kon-zen-trier-ren!" sage ich laut, zum wiederholten Male, und noch lauter: "Ohmdinga! Wir gehen weiter! - Lebe wohl!" - Es kommt keine Antwort.
'Geh nach Hause zu deinen Leuten! Werde wieder gesund!' will ich noch sagen, aber tue es dann doch nicht. Es klänge doch wie Hohn. Außerdem muß ich mich auch auf's Festhalten konzentrieren.
84.4 Panik
Zügig klettern wir weiter, immer nur einer zur Zeit. Zähne zusammenbeißen. Herwig, sei vorbereitet, daß du da gleich ein Poltern aus der Tiefe des Spaltes hören könntest! Du weißt, was es bedeutet. Nein, erst muß du, müßt ihr alle die Krümmung der Wand, von der Chreich gesprochen hat, erreichen. Dann hört ihr nichts mehr, und die Irene wird nicht durch ein überraschendes Geräusch abgelenkt werden können. Und du auch nicht.
Es dauert länger, als ich dachte. Vielleicht hat Chreich ein paar Meter verschwiegen. Ich habe Angst. Ich habe mindestens genausoviel Angst, wie ich es Irene unterstellt habe. Wie alt sind diese Griffmulden? Wieviel Regen ist auf sie gefallen? Wieviel Mikrorisse sind im Stein? Wenn eine Griffmulde bricht, hast du dann genügend Geistesgegenwart, dich an der anderen festzuhalten, ohne plötzliche Bewegungen, die dir die Beine vom Sims herunterhebeln können? Wenn Irene stürzt, könnt ihr sie halten? Dieses Seil ist nicht elastisch, es wird einen enormen Ruck geben. Erst bei Chreich. Und dann mußt du sie beide halten. Kannst du das? Nein, das kannst du nicht. Es wäre die bessere Strategie gewesen, sich an dieser Stelle nicht anzuseilen. - Oh, halt dich bloß fest!
Was wirst du denken, wenn ihr doch stürzt? Wie lange wird euch die Zeit vorkommen, bis ihr unten seid? Werdet ihr an der Felswand entlangschrammen? Kannst du zu Irene noch etwas sagen? Und was solltest du sagen?
Ich will diese Abenteuer nicht mehr haben. Ich will diese Abgründe unter mir nicht mehr haben. Ich will nicht mehr, daß mich das Gewicht meines Rucksacks nach hinten zieht. Ich will nicht mehr, daß der andere Tragebeutel mir ständig im Wege ist und sich dauernd zwischen mich und die Felswand zu drängen versucht. Ich will ebenen Boden. Ich will hier weg. Ich bin kein Granitbeißer. Ich bin kein Abenteurer. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Wie hat dieser Leutnant das in dem U-Boot gesagt, als sie vor Gibraltar gesunken waren und keine Hoffnung mehr zu haben meinten, zu überleben? 'Ich habe es ja selbst so gewollt: Einmal vor Unerbittlichem stehen. - Wo keines Mutter sich nach uns umsieht, kein Weib unseren Weg kreuzt, wo nur die Wirklichkeit herrscht, grausam und groß. - Ich war ganz besoffen davon. - Das ist jetzt die Wirklichkeit.'
Ich bin nicht besoffen von der Wirklichkeit. Ich habe nur Angst. Ich weiß, daß es ausweglose Situationen gibt. Das brauche ich mir nicht zu beweisen, indem ich mich in dieselbe hineinbegebe. - Und überhaupt, Weiber haben meinen Weg hier unten genug gekreuzt, das hat nur Schwierigkeiten gemacht! Auch die Irene - könnte ruhig etwas leichter sein. Gerade jetzt. Himmel, ich habe Angst. Ich will nicht abstürzen. Der in seinem U-Boot hatte ja keine Ahnung, was Probleme sind! Schließlich sind sie doch wieder raufgekommen. Die hatten Zeit zum Überlegen. Wenn uns hier aber ein Fehler passiert ...
Irgendwann werden die Griffmulden schlechter, und ich merke es erst dadurch, daß wir deshalb durchaus nicht unsicherer in der Wand hängen - mein Körperschwerpunkt scheint über meinen Füßen zu sein. Ich sehe die Wand unter mir auch nicht mehr, und ebensowenig die Landschaft der Insel direkt am Fuß der Säule. Die Wand ist nicht mehr senkrecht, die Steigung nimmt ab!
Gleichzeitig allerdings gibt es die ersten Nebelschwaden. Noch sehen wir die meiste Zeit die Wälder in der Tiefe, die See - wenn wir unseren Blick dahin richten - aber so ab und zu treiben graue Vorhänge vorbei. Sie werden rasch dichter. Allmählich flaut auch bei mir die Panik wieder ab. Wir sind immer noch nicht abgestürzt. Vielleicht ein Wink des Schicksals, daß man so etwas tatsächlich schaffen kann, wenn man überlegt vorgeht.
Trotzdem müssen wir nach wie vor aufpassen, wo wir hintreten. Nach wie vor ist da nur der sieben Zentimeter schmale Sims, der Stufen von 30 bis 60 Zentimetern Höhe bietet. Immer wieder muß man rechts an sich herunterschauen, um sicherzustellen, daß der Fuß sicher aufsitzt. Die Grifflöcher sind inzwischen nur mehr nicht mehr als das: einfache Löcher. Fünf Zentimeter breit, drei Zentimeter hoch und ebenso tief, grob in den Fels gehauen. Und es werden weniger. Wer immer diesen Weg hier bearbeitet hat, so daß er für uns gangbar wurde, hat sich nicht mehr Mühe gemacht als unbedingt notwendig.
"Konzentrieren, Irene! Wir haben es noch nicht geschafft! Immer, wenn man anfängt, sich am Schluß sicher zu fühlen, dann macht man noch schlimme Fehler!"
"Halt doch die Schnauze!" sagt sie.
"Es ist nicht mehr so schlimm hier!" sagt Chreich von vorne, "hier würde ich euch beide halten, wenn ihr stürzt!"
"Ich will es aber nicht ausprobieren! - Und schlafen können wir hier auch noch nicht."
"Nein. Schlafen können wir hier noch nicht." sagt Chreich mit einem ganz seltsamen Gesichtsausdruck. Da fällt mir wieder das Versprechen ein.
Nun ist die Steigung nur noch 60 Grad. Es gibt die ersten Moosflecken, und die meiste Zeit sind wir jetzt im Nebel. Und jede Sekunde ermahne ich mich zur Aufmerksamkeit. Jetzt bloß keinen Fehler machen, wo wir uns mit jeder Sekunde vom Abgrund entfernen.
Jetzt ist Ohmdinga vielleicht schon tot. Ganz sicher sogar. Wenn er wirklich einen Infarkt hatte. Wenn nicht, dann kann es sein, daß er wieder absteigt. Oder wenn er nicht auf uns hört? Wenn er doch noch versucht, im Alleingang diesen Weg zu gehen? Er würde sich verdammt konzentrieren müssen. Und das bei seinem Zustand. - Ich fürchte, wir werden nie erfahren, wie es für ihn ausgegangen ist.
Und wenn er doch absteigt? Wird er dann unten erzählen, daß wir das Sicherungsseil losgeschmissen haben? Daß wir ihn, daß ich ihn im Stich gelassen habe? Ich habe kein Recht, zu wünschen, daß er es nicht tun möge. Ich habe nicht einmal ein Recht, zu wünschen, daß er doch noch seine Heimat wiedersehen möge, weil ein Wunsch an der Wirklichkeit nichts ändert und höchstens meiner eigenen Gemütsverfassung zugute käme.
Wenn Ohmdinga wieder lebendig hinunterkommt, dann werden wir einen letzten, sehr nachteiligen Eindruck bei den Sachinor hinterlassen.
45 Grad Hangneigung. Moose und Flechten überall, die ersten Büsche kommen in Sicht. Chreich geht bereits aufrecht. Auch Irene richtet sich vorsichtig auf, steigt weiter, ebenso ich. Wir passieren die ersten Büsche. Ein paar Dutzend Meter weiter fängt Chreich an, während des Gehens das Sicherungsseil zu lösen und aufzurollen. Ich tue dasselbe, nur Irene nicht. Sie stolpert nur noch vorwärts, mit zunehmend unkoordinierten Schritten. Aber jetzt darf sie das. Wer jetzt zu Boden fällt, rollt nicht mehr den Hang hinunter. Dazu ist er schon zu flach und zu sehr bewachsen.
Wir haben es geschafft.
Bald darauf findet Chreich einen grasigen, von Büschen umstandenen Platz, der als Lager geeignet erscheint. Er ist immer noch abschüssig, aber wenig. Keine Gefahr, während des Schlafens ins Rollen zu kommen. "Hier?" fragt sie. Ich nicke.
"Irene! Hinlegen! Schlafen!" sage ich. Irene sieht mich mit einem weichen Blick an. Dann stürzt sie zu Boden. Chreich ist schneller als ich und fängt sie auf.
Ich befühle ihren Puls, prüfe die Atmung. Beides flach und schnell. "Total erschöpft." sage ich, "wir werden eine längere Schlafpause machen müssen."
Ich fühle mich genauso. Wir haben jetzt etwas geleistet, was ungefähr der Besteigung von Casabones entsprach, und teilweise waren wir recht schnell. Ich inspiziere Uhr und Höhenmesser: 16 Uhr, und 5500 Meter Tiefe. Also 5000 Meter über der Meeresoberfläche der Welthöhle.
5000 Meter, das fällt mir jetzt ein, heißt auch, daß der Luftdruck um den Faktor zwei abgenommen haben muß. Kann gut sein, daß wir die Folgen des verminderten Sauerstoffpartialdruckes jetzt eine Zeitlang zu spüren bekommen, bis wir uns auf die neuen klimatischen Randbedingungen eingestellt haben. Gerade, wenn man erschöpft ist, sollte man das erwarten. Eigentlich müßte es sogar Chreich spüren, die ja ihr ganzes Leben unter dem hohen Druck auf der Meereshöhe der Welthöhle verbracht hat.
"Ob es hier aggressive Tiere gibt?" frage ich im Einschlafen, mitten auf der kleinen Lichtung liegend, die reglose Irene umarmend.
"Sie sollen es nur probieren!" murmelt Chreich, die an meiner anderen Seite liegt. Auch ihr ist die Anstrengung anzumerken. Jedenfalls hat sie keine Lust mehr, auf das Versprechen einzugehen. Schnell sind wir eingeschlafen. Fünf Stunden später, als unsere innere Uhr das eigentlich vorgesehen hat.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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