Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



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******** 086. Tag: Sonntag 95-11-12 ********

86.1 Stimmen

Um 2 Uhr wachen wir gleichzeitig auf. Nicht ohne Grund:

"Pst!" sagt Chreich, "Ich höre etwas!"

Wahrscheinlich sind wir alle davon aufgewacht, obwohl das Geräusch fast an der Hörschwelle liegt.

Gedämpft, von weit her, ist lautes Streiten zu vernehmen. Es sind die erregten und aufgebrachten Stimmen von Männern. Worüber sie streiten, das kann man nicht verstehen.

"Was meinst du, wieweit das weg ist?" frage ich Chreich leise. Sie meint 1250 Schritt, oder weniger, wenn ein Hindernis zwischen uns und der Schallquelle ist.

"Das ist etwa ein Kilometer!" sage ich zu Irene.

"Wie gut, daß sie nicht ihr Lager direkt am Schluchtausgang aufgeschlagen haben!" meint Irene.

"Das haben sie aus demselben Grund wie wir vermieden. Allerdings hätte es natürlich sein können, daß wir auf der Suche nach einem Lagerplatz in ihr Lager hineingestolpert wären!"

Vielleicht sollte man es unterlassen, die Konsequenzen dieses Gedankenganges weiter zu verfolgen.

Chreich richtet sich vorsichtig auf, kniet sich hin, horcht, steht dann ganz auf.

"Ihr könnt aufstehen," sagt sie, "das ist soweit weg - die können uns nicht sehen."

"Aber seht ihr," sage ich, "als wir das Lager gestern aufschlugen, da haben sie geschlafen. Jetzt haben sie Zeit zum Streiten, und nicht die mindeste Befürchtung, daß jemand in Hörweite ist."

"Ja, schon. Sie rechnen nicht mit den Granitbeißerinnen von den sieben Schiffen. Aber sie sollten doch wissen, daß wir hier irgendwo sind - nach ihrer wahrscheinlichen Ansicht sind wir zwar vor ihnen, aber immer noch möglicherweise in der Nähe!" wirft Chreich ein.

"Du hast schon selbst ganz richtig vermutet, daß man sie nicht überschätzen soll. Sie müssen nicht logisch handeln. Vielleicht fühlen sie sich einfach stark. Aber gesetzt den Fall, sie sind zielstrebig vorgegangen und gerannt wie die Weltmeister, weil sie uns einholen wollten. Das haben sie aber nicht getan. Sie haben nicht einmal eine Spur von uns gefunden. Sie denken, daß wir nicht hier sind, und daß sie deshalb selbst auch auf dem falschen Weg sind. Jetzt suchen sie einen Schuldigen. Unter sich. Sähe ihnen ähnlich!"

"Horch!" unterbricht Chreich, "Axtschläge! Oder Hammerschläge! Hört ihr das?"

Sie hat recht. Minutenlang versuchen wir, zu ergründen, was da geschieht. Derweil überlege ich mir, warum wir wohl nicht mehr über den indirekten Weg hören - reflektierter Schall über die Höhlendecke. Vielleicht liegt das an Zufälligkeiten ihrer Form, vielleicht an dem Temperaturgradienten in der Luft über dieser Dämmerungsebene. Schließlich hat dieser Raum immer noch eine gewaltige Ausdehnung. Die Akustik der herüberhallenden Schläge ist fast wie unter freiem Himmel. Deshalb, und wegen der geringen Geräuschstärke, kann man auch nicht entscheiden, ob dort Stahl auf Stein schlägt, oder Stein auf Holz, oder Stahl auf Holz.

"Es ist ziemlich genau in der Richtung, aus der der eingetrocknete Bach kommt!" sagt Irene.

"Jemand schreit!" sagt Chreich.

"So? Habe ich nicht gehört."

"Doch, doch! Schreien und Lachen. - Sie foltern einen der ihrigen."

"Sieht ihnen ähnlich," sage ich, "Sie brauchen einen Sündenbock für irgend etwas."

"Vielleicht sollten wir näher ran, um rauszukriegen, in welcher Richtung sie abmarschieren. Das werden sie ja irgendwann tun. Und wenn sie sich dann leise verhalten, dann kriegen wir nicht mit, was sie machen."

"Vielleicht sollten wir das tunlichst sein lassen," entgegne ich, "In diesem Dämmerlicht stolpert einer von uns über kurz oder lang, und dann haben sie uns! Wir müssen uns immer knapp außerhalb ihrer akustischen Reichweite bewegen. Außerdem müssen wir unseren Schlafrhythmus synchronisieren, aus ganz genau denselben Gründen!"

"Du meinst, wir sollen warten?" fragt Chreich.

"Erstmal ja. Bis es still wird. Da Osont und seine Leute tagsüber nicht von alleine still werden, heißt das dann, daß sie weitergezogen sind. Dann können wir hinterher!"

"Aber das heißt doch, daß wir sie immer vor uns haben!"

"Weiß ich doch! Dafür kann ich doch auch nichts!"

"Diese Ebene," mein Chreich, "wäre eine gute Gelegenheit, sie zu umgehen und zu überholen!"

"Aber dann sind wir doch die Gejagten! Sogar, wenn sie gar nicht mehr glauben, uns vor sich zu haben! Wir müssen immer weit genug vor ihnen bleiben, und wir müssen schnell genug sein. Das geht irgendwann schief!"

"Ja, was schlägst du denn vor?" fragt Chreich, "Du willst doch in deine Welt zurück!"

"Ich glaube, daß sie irgendwann umkehren werden."

"Und warum sollten sie das?"

Das weiß ich auch nicht so genau. Ich zucke mit den Schultern.

"Wenn sie uns nämlich entgegenkommen, und wir sind gerade an so einem Ort wie in der Schlucht eben, dann sehen wir alt aus." stellt Chreich fest. Sie hat recht. Aber ich weiß nicht die beste Strategie. Vielleicht gibt es keine.

Nebenbei überlege ich mir, woher Chreich den Ausdruck 'alt aussehen' in dieser Bedeutung aufgeschnappt hat. Da muß ich irgendwann eine deutsche Redewendung ins Xonchen übernommen haben, und das hat ihr gefallen. Oder gibt es dieselbe Wendung im Xonchen? Das Prinzip der paläontologischen Konvergenz für die evolutionäre Entwicklung von Sprachwendungen?

"Wir müssen eben immer irgendwie in Hörweite bleiben, damit wir wissen, was sie machen. Dann können wir rechtzeitig darauf reagieren. Und in so einer Schlucht wie die, durch die wir gerade gekommen sind, sollten wir wohl kein Nachtlager aufschlagen."

"Wenn wir immer die Wahl haben. Wenn aber ..."

"Seid doch mal still!" sagt die Irene, "Wenn ihr nicht soviel reden würdet, dann würdet ihr merken, daß die Stimmen näher kommen!"

Wir erstarren sofort in Lautlosigkeit.

Irene hat recht. Die Stimmen sind zwar nicht lauter geworden, aber sie lachen und schreien nicht mehr, sondern reden in normalem Umgangston. Sie sollten also deutlich leiser geworden sein. Sind sie aber nicht. Oder wenigstens nicht soviel, wie man es erwarten würde.

"Sie kommen zurück!" sagt Irene. Was sie doch alles in dieser Welt gelernt hat: Vor drei Monaten wäre ihr das gar nicht aufgefallen, und sie hätte auch etwas länger gebraucht, um die drohenden Implikationen zu begreifen.

"Hinlegen!" zischt Chreich.

In der Sekunde danach liegen wir in unserer Mulde. Stehend könnten wir mit unseren Oberkörpern für jemanden am Schluchtausgang eine Silhouette gegen den hellen Horizont gebildet haben, aber jetzt sind wir vollständig in Deckung. Wir werden nicht gesehen, wir sehen aber auch nichts. Nur das ferne Reden hören wir. Und Irene hat recht: Es kommt näher.

Minutenlang bewegen wir uns nicht. Eine Viertelstunde. Fast kann man einzelne Worte verstehen, und Steine rollen unter den Tritten der Männer. Vielleicht zehn, zwölf Mann, soweit man das nach Gehör beurteilen kann. Osont's Grüppchen ist ganz schön zusammengeschmolzen. Was sie nun wohl vorhaben? Vielleicht wissen sie es selber nicht. Nur dieser Weg hier schien ihnen offenbar überhaupt keine brauchbare Alternative. Es kann gut sein, daß sie nichts anderes als die Dunkelheit davon abgehalten hat, weiterzugehen. Vielleicht sind sie zu der Ansicht gelangt, daß ihre Informationen über einen weiteren Weg falsch sind, und daß sie sich woanders besser durchschlagen können.

"Jedenfalls glauben sie nicht, daß die Granitbeißerinnen hinter ihnen her sind!" sagt die Irene, als die Stimmen, eine nach der anderen, abflauen und verhallen. Die Gruppe hat die Schlucht erreicht.

"So." sagt Chreich, "dann möchte ich wissen, was sie glauben werden, was mit diesem Schwert passiert ist!"

"Auweh! Du hast recht!" sage ich, "Das wird ihnen auffallen."

Chreich denkt kurz nach. "Sie müssen nicht unbedingt auf die Idee kommen, daß ihnen jemand hierher gefolgt ist. Sie können auch annehmen, daß derjenige, der das Schwert genommen hat, noch irgendwo im Gabelurwald hockt."

"Auf jeden Fall haben wir Zeit. Vier Stunden haben wir selbst durch die Schlucht gebraucht. Sagen wir, sie brauchen drei, wenn sie schnell sind. Dann merken sie, daß das Schwert nicht mehr da ist. Schlimmster Fall: Sie kehren gleich um. Glaube ich nicht, könnte aber im Prinzip sein. Noch einmal drei Stunden, bis sie wieder hier sind. Sechs Stunden. Da sollten wir ganz ordentlich weiter kommen. Okay?"

Die beiden Frauen nicken.

"Dann auf! Futtern können wir im Gehen."

86.2 Rache am Braunen Wasser

Nach ein paar Minuten sind wir wieder am Schluchtausgang und horchen hinein. Nichts. Osont's Leute sind schon weit genug, völlig außer Hörweite, jedenfalls für die normale Gesprächslautstärke. Natürlich habe ich wieder die Vision, daß sie da drinnen, in der dunklen Schlucht, hocken könnten und uns jetzt ganz genau gegen den helleren Hintergrund sehen. Aber das ist doch Blödsinn. Warum sollten sie auf die Idee kommen?

"Okay," flüstere ich, "also den Bach entlang. Aber leise!"

Je weiter wir uns von dem Schluchtausgang entfernen, desto sicherer fühlen wir uns. Mit jedem Meter müßte ein Geräusch, das wir versehentlich verursachen und das uns gefährlich werden könnte, lauter sein. Schließlich, nach einiger Zeit, müßten wir uns schon anstrengen, um uns zu verraten.

"Irene," sage ich irgendwann, "Denk dran! Wir sind höher als 4800 Meter unter dem Meeresspiegel! Mehr als die Hälfte haben wir!"

Ich kann in der Dämmerung nicht erkennen, ob Irene sich dadurch angespornt fühlt. Chreich kann unserer Begeisterung wahrscheinlich gar nicht folgen.

Und dann knistern plötzlich vertrocknete Zweige unter unseren Füßen. Seltsam: Wir sind doch schon in der ariden Zone der Welthöhle. Da sollte nichts wachsen und auch nichts in der Vergangenheit gewachsen sein. Und trotzdem: Rechts und links gibt es immer mehr Flechten, Schachtelhalme, Farne und niedrige Büsche. Ich habe den Eindruck daß durchaus nicht alle davon tot und vertrocknet sind. Aber sie müssen bei diesen geringen Lichtmengen entweder einen verdammt langsamen Stoffwechsel haben, oder sie müssen irgendeine andere Energiequelle angezapft haben. Große Blätter, um die geringen Lichtmengen zu verwerten, kann ich nämlich nicht sehen. Leider können wir das jetzt nicht genau untersuchen.

Dann wird das Bachbett schwammig. Die Flechten zu unseren Füßen fühlen sich feucht an.

"Merkt ihr das?" fragt Chreich. Natürlich merken wir es. Das Braune Wasser! Es ist nicht ausgetrocknet, sondern nur um soviel schwächer geworden daß es diese Gegend mitten auf der Dämmerungsebene gerade eben erreicht. Deshalb ist hier eine rudimentäre Vegetation.

Jede Minute erwarten wir, daß wir im Bachbett in die erste Pfütze offenen Wassers hineinpatschen. Erkennen kann man das in der Dämmerung vorher kaum. Ich achte sehr darauf, wo ich hintrete, deshalb bin ich ziemlich überrascht, als ich in Chreich, die in diesem Moment vorne geht, hineinrenne.

"Pst! da ist jemand!" flüstert sie.

"Wo?" hauche ich zurück, nicht lauter als sie. Irene hat angstvoll meine Hand ergriffen.

"Nicht weit. Da vorne. Er hat gestöhnt!"

"Wie weit?"

Chreich deutet etwa 50 Meter an. Ist doch ein Teil von Osont's Gruppe noch hier? Dann können sie uns schon bemerkt haben.

Mit katzenartiger Gewandtheit springt Chreich nach vorne, das Schwert kampfbereit in der Hand. Wie gut, daß wir es gefunden haben! Die bewaffnete Chreich ist zwei oder drei Männern von Osont's Gruppe ebenbürtig. Ich habe zwar auch mein Messer in der Hand, aber ich fürchte, auch nach drei Monaten unter den Granitbeißern habe ich mich nicht gerade zur Kämpfernatur gewandelt.

Es sind weniger als 50 Meter, und nun hören wir das Geräusch auch. Vor uns liegt jemand auf dem Boden. Ein einziger. Ich habe nicht das Gefühl, daß es ein Hinterhalt ist. Sekunden später stehen wir vor dem Mann auf dem Boden.

"Großer Gott," sage ich, "es ist Osont!"

Bei der Nennung seines Namens schlägt er die Augen auf, scheint mich aber nicht zu erkennen. Sie haben ihn fürchterlich zugerichtet.

Die vier größten Geröllblöcke, die in der näheren Umgebung zu finden waren, alle so schwer, daß einige Männer erforderlich sind, sie zu bewegen, sind ihm auf die Gliedmaßen gerollt worden, auf Arme und Beine. Zuvor sind diese offenbar wohl durch schwere, stumpfe Schläge, die wahrscheinlich mit kleineren Felsbrocken ausgeführt wurden, vielfach gebrochen worden. Damit sind sie auf Dauer völlig unbrauchbar, selbst, wenn er diese Tortur überleben sollte. Wird er aber nicht. Das Crushing-Syndrom würde schon dafür sorgen, selbst, wenn wir ihn jetzt von den vier großen Felsbrocken befreien würden. Nierenversagen - Exitus. Ginge ganz schnell.

Die Absicht war wohl, ihn hier hilflos langsam verrecken zu lassen, denn aus eigener Kraft kommt er hier nicht mehr frei. Wahrscheinlich hätten sie ihn gekreuzigt, wenn es hier geeignete Holzbalken gegeben hätte.

"Das ist Osont?" fragt Irene.

"Ja. Hattest du ihn nicht in Emerald gesehen? Das ist Osont. Der hat die Kreuzigung von Charmion auf dem Gewissen."

"Das fällt dir jetzt natürlich ein." sagt Irene vorwurfsvoll.

"Ja doch! Das fällt mir jetzt allerdings ein. Wenn du dabeigewesen ..."

werde ich lauter, aber Chreich winkt uns zu schweigen. Sie hat recht - Wenn Osont's Leute sich so ihres Anführers entledigt haben, dann könnte es passieren, daß doch noch jemand irgendwann wieder hierherkommt, um sich zu vergewissern, daß er wirklich tot ist.

Osont selber scheint uns überhaupt nicht wahrzunehmen. Er hat auch noch andere Verletzungen. Es sieht aus, als sei er nach allen Regeln der Kunst verprügelt worden. Vielleicht hat er sogar Rippenbrüche, der hastigen, flachen Atmung nach zu urteilen, und einige Wunden sind deutlich Schnittwunden. Pleuralerguß, Gehirnerschütterung, multiple Frakturen, Blutverlust durch zahlreiche stumpfe und scharfe Traumata, Erschöpfung und Dehydrierung. Die, die ihn so zugerichtet haben, hätten ihn fast schon umgebracht. Sie mußten sich wohl Mühe geben, es nicht gleich zu tun. Jedenfalls haben sie ganze Arbeit geleistet.

"Und was nun?" flüstert Chreich, "Herwig, du hast doch eine Rechnung mit ihm, oder? Dir muß das, was sie mit ihm gemacht haben, doch nur zu recht sein, oder?"

Ich nicke. Wenn mir jetzt Mitleid mit dieser gequälten Kreatur aufsteigen sollte, dann brauche ich nur an Charmion zu denken, und schon vergeht das wieder.

"Wir sollten ihn noch befragen!" schlage ich vor. Wir versuchen es, aber es gelingt nicht. Irgendwie ist er noch ansprechbar, aber er redet nur wirres Zeug. Deshalb geben wir unsere Bemühungen schnell wieder auf.

"Ich denke immer noch, daß man ihm helfen sollte - aber wahrscheinlich geht das nicht mehr!" schlägt Irene vor.

"Nein," sagt Chreich bestimmt, "wir dürfen hier keine Spuren hinterlassen. Und wir müssen weiter. Wir wissen nicht, ob jemand von denen doch noch mal hierherkommt. Der muß unter den Steinen bleiben. So wie er jetzt daliegt."

Eine Weile sagen wir nichts. Es ist ein schlechtes Gefühl, nicht helfen zu dürfen, weil man sich dann selbst gefährdet, nicht helfen zu können mangels medizinischer Ausrüstung und Kenntnissen, und eigentlich auch nicht helfen zu wollen.

"Wenn wir so einfach weggehen," überlegt Chreich laut, "und es kommt noch jemand von denen vorbei, dann wäre es nicht gut, wenn er noch lebt. Er könnte noch einen klareren Moment haben und uns verraten!"

"Heißt das," fragt Irene nach einigen Sekunden, die sie gebraucht hat, um die Implikationen zu begreifen, "daß du ihn gleich umbringen wirst? Einen Wehrlosen?"

"Nicht so, daß man es sieht."

"Aber du kannst doch nicht einfach ..."

"Wir müssen."

"Herwig, was sagst du dazu?"

"Irene, wir wollen doch nach Hause! Und diese Leute sind gefährlich. - Außerdem stirbt er sowieso. Unvermeidbar. Wir würden lediglich seine Leiden verkürzen."

Wenn ich an Charmion denke, ist das nicht gerade das, was ich ihm wünsche. Aber Chreich hat recht: Osont darf nicht reden. Auch wenn es im Moment so aussieht, als würde er das sowieso nie wieder können, egal, was wir tun oder lassen. Und die Wahrscheinlichkeit, daß jemand von denen zurückkommt, während Osont noch lebt, ist auch nicht besonders groß. - Er könnte aber widerstandsfähiger sein als es im Moment aussieht.

"Willst du es tun?" fragt Chreich.

"Wieso ich?"

"Charmion war doch dein Mädchen!"

"Ich bin sein Mädchen!" wird Irene wieder laut.

"Halt doch einmal den Mund, Irene! Das ist doch jetzt kein Platz für Eifersuchtsszenen! - Ich habe was mit Charmion gehabt, ja! Und wie! Und der hat sie gekreuzigt! - Ich habe - verdammt noch einmal - ich habe es mir immer gewünscht, ihn zur Strecke zu bringen. - Aber ich habe zuviel Konzessionen gemacht. Ich hatte nicht den Mumm dazu. - Jetzt haben es andere gemacht. Nun gut! Ich wünsche es ihm, wegen Charmion, und ich wünsche es ihm nicht, weil er ein Mensch ist. Ich weiß nicht, was ich wünsche. - Das ist doch nur noch ein Wrack!"

"Dann tu ich es." sagt Chreich, "Mir macht das nichts. Am besten, man erstickt ihn mit ..."

"Nein," sage ich. "Nein. Du nicht. - ich habe es Charmion versprochen."

"Tatsächlich?" fragt Irene.

"Ich weiß nicht mehr genau. Ich habe es versprochen, aber da war sie wohl nicht mehr am Leben. Aber ich habe es ihr doch an ihrem Hinrichtungskreuz versprochen. - Himmel, ich weiß es nicht mehr!"

"Seid leise!" zischt Chreich.

Osont krümmt sich und gurgelt trocken. Die Felsbrocken halten ihn fest.

"Dann tu es." sagt Chreich nach einer Weile.

So. Herwig, jetzt ist es soweit. Euthanasie. Bei klarem Bewußtsein. Du hast schon mehrere Menschen umgebracht, seit du in der Granitbeißerwelt warst. Aber das war immer aus einer sich schnell entwickelnden Situation heraus. Jetzt mußt du das überlegt machen.

Denk nach: Du bist für euch drei verantwortlich. Jeder von euch dreien ist das auch. Chreich macht es, wenn du es nicht machst. Da kennt sie gar nichts. Überlege es dir. Was tust du denn, wenn du es tust? Du kürzt seine Leiden ab. Das ist eine Art Barmherzigkeit. Die einzige Barmherzigkeit, die noch möglich ist. Wir können ja keine Intensivstation aus dem Boden stampfen. Also kann man es so auffassen. Und du bringst ihn mit deinen eigenen Händen um. Wie du es immer wolltest, in den Gewaltphantasien, die jeder Mensch hat, aber die nur sehr selten zur Ausführung gelangen. Du hast es Charmion versprochen. Du mußt dich sogar beeilen, denn sonst stirbt er vorher, und du hast das Versprechen durch Untätigkeit gebrochen.

Jetzt keine grundsätzlichen Überlegungen über den Wert des Lebens. Er stirbt, und du ziehst diesen Vorgang lediglich etwas vor. Vielleicht nur um Minuten. Ist das ein Mord? - In dieser Welt wird Blut mit Blut bezahlt, und solange ihr in dieser Welt seid, habt ihr diese Währungskonventionen einzuhalten. Unsere 'zivilisierten' Gesetze gelten hier nicht. Oder wurde Charmion auf Grund dieser Gesetze gequält und getötet? Na also. Tu es!

"Na?" fragt Chreich.

Ich knie mich zwischen den beiden Felsbrocken, die seinen rechten Arm und sein rechtes Bein festhalten, hin. Mit dem Zeigefinger und dem Daumen der linken Hand drücke ich seine Nasenflügel zusammen, die rechte Hand lege ich ihm über den blutverschmierten Mund, so, daß dieser ganz abgedichtet wird.

"Zähl einer von euch bis 600 und sagt mir Bescheid, wenn ihr fertig seid!" sage ich.

Nicht nachdenken. Einfach tun. Unser Strafrecht kennt die 'Angemessenheit der Mittel', wenn der Staatsbürger Gewalt anwenden muß. Ist das hier angemessen? Spielen hier nicht Angemessenheit und Wahrscheinlichkeitsrechnung ineinander? Wenn es sicher wäre, daß jemand von Osont's Gruppe zurückkommt, während er noch lebt, und wenn es dann ebenso sicher wäre, daß wir mit dieser Gruppe Auseinandersetzungen haben, die unser Leben bedrohen, und wenn wir uns dem nicht durch schnelle Flucht entziehen könnten, dann wäre es vielleicht angemessen. Aber all diese 'wenn's sind mit kleinen Wahrscheinlichkeitsfaktoren behaftet. Nach unserem Recht wäre es nicht mehr angemessen.

Aber nach unserem Recht hätte ich auch vielleicht etwas nachhaltiger versuchen müssen, Charmion zu retten. Es gibt so etwas wie eine Nothilfeverpflichtung. Der habe ich mich aber nicht gestellt. Aus Feigheit. Und Ausreden habe ich mir gemacht, damals dieselben wie jetzt: Ich muß Irene sicher nach Hause bringen.

Außerdem: wieso sollte gerade ich aus dieser Sache mit dem Bewußtsein herauskommen, alles richtig gemacht zu haben? Wieso sollte ich den Luxus eines guten Gewissens genießen dürfen? Nach allem, was geschehen ist? Juristisch wird man mir nichts anhaben können. Ich könnte diese Sequenz in dem Buch, das ich schreiben will, verschweigen. Und wenn ich es nicht tue, dann ist es immer noch eine fiktive Geschichte. Weil ja niemand glauben wird, daß es sich um eine wahre Begebenheit handelt.

Und wenn man mir diese Geschichte als Tatsachenbericht doch glaubt? Wie ist es dann mit dem Tatbestand der Rechtfertigung von Gewalt? 'Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte sind unzulässig.' Genau das tue ich jetzt aber. Ich bin Ausnahmerichter und Ausnahmescharfrichter in einem. Wobei man die Zuständigkeit unserer Gerichte für das, was jetzt geschieht, natürlich diskutieren könnte. Die Granitbeißer unterstehen nicht unserer Verfassung. Ich aber. Wird ein interessantes juristisches Problem. - Vielleicht ist das alles an den Haaren herbeigezogen. Aber ich muß mir darüber klar werden, ob und was ich über unsere Reise berichten werde. Denn angenommen, man kauft mir diese Reisebeschreibung als Fiktion ab. Und dann, eines Tages, wird die Welt der Granitbeißer entdeckt. Dann stehe ich dumm da.

Osont wehrt sich kaum. Ein gesunder Mensch würde sich mit allen Kräften hin und her winden, um wieder Luft zu bekommen. Osont windet sich zwar auch, aber die Bewegungen sind nicht sehr kräftig, und in keinem Moment besteht die Gefahr, daß ich auch nur einen Kubikzentimeter Luft durchlasse. Es ist ganz leicht, ihn zu ersticken.

Trotzdem dauert es lange. Meine Gedanken sausen umeinander, um mich von dem Geschehen abzulenken. Ich spüre die Bewegungen seiner Lippen und seiner Zunge auf meiner rechten Handfläche. Begreift er, was mit ihm geschieht? Immer wieder reißt er die Augen auf - irgend etwas hindert ihn daran, das dauernd zu tun. Und wenn er sie offen hat, dann habe ich nicht immer den Eindruck, daß er mich sieht. Oder daß er versteht, was er sieht.

Herwig, denk dran: Er darf nicht mehr leben. Er weiß, daß wir hier waren. Und er hat Charmion gekreuzigt. Er hat sie bei lebendigem Leibe verfaulen lassen. Er hat das schönste Mädchen, das je in der Welthöhle gelebt hat, in einen stinkenden Kadaver verwandelt. Nun ist er dran. Zahltag. Unsere Gerichte sind nicht zuständig. Du bist zuständig. Das ist dein Job. Das macht man hier so. Die Granitbeißer haben hier die Spielregeln gemacht. Danach spielt ihr das Spiel mit - und dann macht ihr, daß ihr wegkommt. So schnell ihr könnt.

Es müssen einige Minuten vergehen, bis er still wird. Der Kampf hat nicht lange gedauert. Er war eben schon ein bedauernswertes Wrack. Vielleicht ist es wirklich nicht notwendig, was wir hier tun. Was ich hier tue. Oder vielleicht doch. Oder nicht. Oder doch. - Oder nicht. Oder doch.

Jetzt, wo Osont sich nicht mehr wehrt, liegt eine bleierne Stille über der Dämmerungsebene. Irene sieht mir beim Töten zu. Das wird sie nicht vergessen. Ich auch nicht. Ihr Mann tötet einen Menschen. Überlegt und vorsätzlich und - naja - kaltblütig. Vielleicht hätte man ja andere Alternativen finden können. Wenn man Zeit gehabt hätte, zum Nachdenken.

Aber Charmion, die am Kreuz verfaulte, werde ich auch nicht vergessen. Osont, du hast es genossen! - Es tut mir leid, daß ich deinen Tod nicht so genießen kann. Vielleicht wäre es jetzt angemessen. Es wäre leichter, wenn ich mit Lust morden könnte. Ich kann es nicht. Da drinnen, in mir, ist alles tot, wenn ich versuche, an Charmion zu denken. Ein Skotom der Erinnerungen. Es hält Einzelheiten ihres Todes von meinem Bewußtsein fern. Alles, was war, kondensiert sich zu der einen Erkenntnis: Es ist recht, was ich tue. Ich kann nicht anders. Ich darf nicht anders. Ich bin der Notrichter.

Ich weiß nicht, wie lange ich so gesessen habe, mit beiden Händen Osont erstickt haltend. "Sechshundert!" sagt Irene. Langsam nehme ich meine Hände von der Leiche.

"Sieh du mal nach, ob er wirklich tot ist!" bitte ich Chreich. Granitbeißerinnen haben da eine gewisse Erfahrung. Chreich untersucht Osont zielstrebig und schnell. Puls, Atmung, Pupillenreflexe. Alles weg.

"Er ist tot. Ganz sicher." sagt sie und steht auf. "Und man sieht nicht, daß jemand nachgeholfen hat. Das ist wichtig. - Gut gemacht, Herwig."

Wir suchen noch die Umgebung des Platzes, wo Osont's Leiche liegt, ab. Es könnte ja sein, daß sich am Lagerplatz von Osont's Leuten noch irgendein wertvoller Hinweis finden läßt.

Das ist nicht der Fall. Außer einigen Essensresten finden wir überhaupt nichts. Nicht einmal sein Schwert. Das haben sie mitgenommen. Warum wohl, wenn sie sich vorher eines überflüssigen Schwertes entledigt haben?

Dann, als wir nichts Besonderes feststellen, machen wir uns wieder auf den Weg. Es ist 4:15 Uhr.

Im Weggehen sehe ich mich nicht um. Ich will jetzt überhaupt an nichts denken.

86.3 Klamottenwechsel

Schon einige hundert Meter weiter treten wir in die ersten Pfützen, und im Bachbett ist alles feucht und modrig. Auf den Ufersteinen liegt ein schmieriger, brauner Schleim. Im angetrockneten Zustand wäre das der braune Belag, den wir schon länger im Bachbett bemerkt haben. Beidseitig des Bachlaufes gibt es immer noch breite Streifen von verkrüppeltem Pflanzenwuchs, von dem wir nicht feststellen können, ob es sich um abgestorbene oder um lebende Pflanzen handelt.

Vielleicht ist die Schicht der Leuchtenden Wolken gelegentlich um einige hundert Meter höher - dann müßte die Dämmerungsebene besser beleuchtet sein, und vielleicht würden die Leuchtenden Wolken sogar über den Rand der Dämmerungsebene quellen und hier vorbeitreiben, so daß gelegentlich die Beleuchtungsstärke herrscht, die ich auch auf Casabones beobachtet habe. Aber wenn das so ist, dann wird es sehr selten der Fall sein. Vielleicht nur, wenn heftige Wetterereignisse die Schichtung der Luft in der Welthöhle kurzzeitig stören.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum Osont's Gruppe hier zunächst so zielstrebig vorgedrungen ist: Als Nachwirkung einer Wetterschwankung, vielleicht sogar des Sturmes vor einigen Tagen, war es vor kurzem auf der Dämmerungsebene noch sehr viel heller. Wir selber haben das gerade eben verpaßt. - Dann haben sie gemerkt, daß es immer dunkler wird und sind in Panik geraten und umgekehrt. Nachdem sie Osont abserviert hatten.

Die Dämmerungsebene hat einen Durchmesser von vielen Kilometern. Der Bach ist jetzt gut ausgebildet, und gelegentlich hört man sein Murmeln, wenn er über kleine Stromschnellen fließt. Rechts und links ist die Kante der Dämmerungsebene noch einige Kilometer weit weg, ebenso genau vor uns. Das ist bei unserer jetzigen Marschrichtung wieder genau im Norden, wie ich feststelle. Nur links vor uns ist der Horizont unterbrochen. Dort beginnt das Gelände anzusteigen. Es sieht so aus, als ob der Bach von dort herkommt. Ich bilde mir auch ein, daß von dort ein fernes Rauschen kommt, erzeugt durch zahllose kleine Wasserfällchen, die dieser Bach bildet.

Der ansteigende Hang ist zunächst besser beleuchtet, weil das Licht vom Horizont unter einem günstigeren Winkel auf diesen einfällt. Das erzeugt den subjektiven Eindruck, wieder hellere Regionen der Welthöhle zu erreichen, obwohl das natürlich gar nicht der Fall ist. Der Hang steigt jedoch in ein nachtschwarzes Gewölbe auf, das immer besser in Sicht kommt, je weiter wir uns diesem Hang nähern. Das obere Drittel dieses Hanges, das gerade noch brauchbar beleuchtet ist, ist steil. Je näher wir kommen, desto steiler sieht es aus.

Um 8 Uhr erreichen wir den Fuß dieses Hanges. Die Höhe ist 4650 Meter unter NN. Das heißt, daß wir in den letzten Stunden seit der Mitte der Schlucht nur 150 Meter Höhe gewonnen haben. Von nun an steigen wir aber wieder schneller. Allerdings nicht sehr viel schneller, weil der Hang immer noch steinig und uneben ist, und die Irene kann auch nicht so schnell.

Nun begleitet uns auch dauernd das Gemurmel des Baches, der einen steinigen Hang natürlich nicht mehr geräuschlos hinunterfließen kann. Das ist gut so: Wir können unseren Wegweiser nicht nur sehen, sondern auch überall hören.

Drei Stunden später sind wir auf einer Höhe von 4200 Metern unter NN angekommen. Das sind etwa 500 Meter über dem durchschnittlichen Niveau der Dämmerungsebene und etwa ebensoviel unter dem Niveau der tiefsten Teile der Höhlendecke über der Dämmerungsebene.

Wir machen eine Pause, nicht nur wegen der Erschöpfung. Wir wollen auch einen sehr genauen Blick auf die Dämmerungsebene werfen. Bewegt sich irgendwo etwas? Hat irgendwo jemand Feuer gemacht? Hören wir vielleicht etwas? Ich laufe ein paar hundert Meter horizontal am Hang entlang, von den anderen und vom Gemurmel des Baches weg, um zu horchen. Wie Parabolschüsseln lege ich meine Hände hinter die Ohren, um deren Richtwirkung zu verbessern und die Ebene da unten lauschend zu bestreichen.

Ich nehme nichts Ungewöhnliches wahr. Auch Chreich hört und sieht nichts Besonderes. Osont's Richtplatz ist schon viele Kilometer weit entfernt. Jemanden, der sich dort bewegt, würden wir sowieso nicht sehen. Und umgekehrt wohl auch nicht, obwohl wir hier in etwas besserem Licht stehen. Noch. Wenn ich das schwarze Gewölbe über uns, oben hinter der Oberkante des Hanges ansehe, dann weiß ich, daß wir den größten Teil des Weges ohne die Benutzung der Dynamolampen hinter uns gebracht haben.

Um 12 Uhr brechen wir wieder auf. "Wir sollten heute schon in 5 Stunden unser Nachtlager aufschlagen, um wieder in den üblichen Schlafrhythmus hineinzufinden!" schlage ich vor. Danach muß ich wieder eine Weile Chreich unsere Zeitrechnung erklären. Sie ist es gewohnt, zu schlafen, wenn sie müde ist, und wenn die Umstände das Schlafen zulassen. Und das ist eben aus uns unbekannten Gründen an diesen 27 Stunden-Rhythmus gebunden.

Vielleicht, denke ich, werden wir, wenn wir erst wieder oben sind, mit größerem Abstand über all diese ungelösten Fragen nachdenken können, und vielleicht werden mir dann Antworten auf manche dieser Fragen eher einfallen.

Nachdem wir weitere hundert Höhenmeter geschafft haben, erreichen wir den steilen Teil des Hanges. Nicht so steil wie die Felswand, die wir auf dem Weg nach Emerald durchsteigen mußten - Rampkin-Wand hat sie, glaube ich, geheißen - aber steil genug, um sich den Weg sorgsam aussuchen zu müssen, um sich nicht zu versteigen. Anseilen ist aber nicht nötig. Nur Konzentration. Und Chreich hat einen bemerkenswerten Instinkt, die am leichtesten zu durchsteigenden Stellen zu finden.

Trotzdem gewinnen wir sehr langsam an Höhe. Kurz nach 13 Uhr steht der Höhenmesser wieder auf Null. Das heißt, er geht jetzt in seine letzte Runde. 4000 Meter unter NN. Wo immer wir herauskommen - wenn wir herauskommen - es kann nicht mehr als 5 Kilometer über uns sein. Horizontal auf gutem Boden kann ich das in 25 Minuten durchlaufen.

Um 16 Uhr haben wir dann den steilen Teil dieses Hanges hinter uns gebracht. Die Höhe ist 3700 Meter unter dem Meeresspiegel, und die Ränder des dunklen Gewölbes über uns werden uns, wenn wir noch weiter steigen werden, die Sicht auf die Dämmerungsebene und auf das Licht, das uns vom Rand der Dämmerungsebene aus erreicht, wegnehmen. Der weitere Weg geht über eine leicht geneigte, steinige Ebene geradewegs in die Dunkelheit hinein, immer dem Bach entlang. Dieses Gewölbe hat eine Spannweite von vielleicht einem Kilometer und eine Höhe von etwa zweihundert Metern. Genau läßt sich das aber nicht feststellen. Je schwächer die Beleuchtung ist, desto schwieriger wird das Abschätzen von Größenordnungen. Dieses Gewölbe scheint sich weiter hinten zu verengen, aber auch das kann man kaum erkennen.

Chreich ist sehr unruhig. Es ist nicht nur die drohende Dunkelheit. Die Temperatur hat weiter abgenommen. Es sind zwar immer noch deutlich über 25 Grad, und bei der Temperatur wird einem beim Klettern schon warm, auch, wenn man nur leicht angezogen ist. Aber wir klettern jetzt nicht mehr, außerdem hat unser Organismus sich seit drei Monaten mit einer viel zu hohen Umgebungstemperatur herumschlagen müssen. Und wenn wir hier unser Nachtlager aufschlagen wollen, werden wir die Kühle schon spüren, wenn wir auf nacktem Fels liegen müssen.

Chreich, die ihr ganzes Leben unter den tropischen Bedingungen der Welthöhle verbracht hat, geht es schlimmer. Obwohl die Temperatur bis jetzt sehr langsam abgenommen hat, sehe ich, daß sie gelegentlich zittert und sich dauernd bewegt. Ihr Körper weiß nichts vom Frieren. Da müssen wir etwas tun. Immerhin hat sie bis jetzt überhaupt nicht auf die Einlösung meines Versprechens bestanden. Den Appetit nach Sexualität scheint es ihr verschlagen zu haben. Ein deutliches Streß-Symptom. Und es wird noch schlimmer werden, weil die Umgebungsbedingungen sich noch viel weiter von dem entfernen werden, was sie gewohnt ist.

Was, wenn sie ihre Entscheidung, mit uns zu kommen, revidieren sollte?

Wir gehen auf der oberen Kante des Hanges einige hundert Meter weiter nach links, um uns einen Platz zum Schlafen zu suchen. Dadurch sind wir weit genug vom Bach und von den vielen kleinen Wasserfällen im Hang entfernt, so daß uns deren Geräusche nicht unbedingt die Geräusche eventuell anmarschierender anderer Menschen übertönen werden. Außerdem werden diese Menschen nicht gerade über uns stolpern, wenn wir unser Lager seitlich vom Wege aufschlagen. - Allerdings glaube ich nicht ernsthaft, daß uns jemand folgen sollte. Osont's Leute versprechen sich nichts davon, und selbst wenn, dann würden sie schon von unten sehen, daß sie ab hier oben künstliches Licht brauchen. So etwas werden sie wohl kaum bei sich haben. Und die Abnahme der Temperatur mit der Höhe werden sie ja auch schon bemerkt haben - das wird ihnen genauso unangenehm sein wie Chreich.

Inzwischen werden sie gemerkt haben, daß das Schwert, das sie zurückgelassen haben, verschwunden ist. Welche Schlüsse sie auch daraus ziehen - für uns wird es keine Relevanz mehr haben. - Wenn wir nicht gezwungen sind, umzukehren.

"Klamottenwechsel!" sage ich, als wir uns auf einen guten, sichtgeschützten Platz geeinigt haben, "Sonst wird es uns heute nacht zu kühl!"

Wir legen unsere Rucksäcke und Tragebeutel ab und fangen an, in deren Inhalt zu kramen. Chreich sieht interessiert zu.

"Chreich hat Busen. Wahrscheinlich wird ihr deshalb dein Reservepullover besser passen als meiner. Dafür kriegt sie von mir die Reservejeans. Als Unterhose tut es meine Badehose." stelle ich fest.

"Haben wir nicht mit," sagt Irene, "aber für den Fall, daß wir durchregnen, habe ich richtige Unterhosen zur Reserve mit!"

"Noch besser. Haben wir irgend etwas unterwegs verloren oder weggeschmissen?"

"Nein. Muß alles noch da sein. Wenn wir nicht bestohlen worden sind. Aber das hätte ich gemerkt. - Auch in der Zeit, wo du auf dem Gefangenenberg warst, haben sie unser Eigentum respektiert. - Oder sie waren nicht interessiert."

Irene kramt in ihrem und in meinem Rucksack herum. Schließlich hat sie meine Klamotten auch verstaut, als wir uns trennten, damals, als ich mich mit Charmion und den anderen nach Casabones aufmachte.

"Reserve-BH habe ich nicht." mein Irene.

"Braucht sie nicht. Was ist mit Gürtel für die Jeans?"

"Ist dran. Der Textilgürtel, den du nicht magst."

"Dann ist sie vollständig. - Chreich, komm einmal her zu uns!"

Wir zeigen ihr die Kleidungsstücke, die wir für sie vorgesehen haben. Gleichzeitig ziehen wir uns um, damit sie sieht, wie das aussieht. Sie sieht sehr skeptisch drein. Langsam, wenig überzeugt, zieht sie ihren Lederstreifenrock aus, dann die Lederjacke.

"Wollen wir das Zeug eigentlich hierlassen?" frage ich, "Wir werden es zu Hause kaum brauchen. Und es ist elendiglich durchgeschwitzt und stinkt!"

"Wir stinken auch!" sagt Irene pragmatisch, "Aber vielleicht will sie ihr Zeug nicht hierlassen?"

Wir sehen Chreich an. Sie hält das Schwert in der Hand. Das werden wir auch nicht gut transportieren können. Andererseits wäre das ein schönes Erinnerungsstück.

Wenn wir auf ein Erinnerungsstück Wert legten.

"Willst du es behalten?" frage ich, "Brauchen wirst du es nicht mehr!"

"Sicher?"

"Sicher. - Wir können es natürlich später liegenlassen, wenn es dir absolut im Wege sein sollte."

Wir einigen uns darauf, an der Kante des Abhanges einen Steinmann zu errichten, unter dem wir die Tracht der Granitbeißer und das Schwert verstecken. Für die leise Wahrscheinlichkeit, daß wir wieder zurückmüssen, und sei es nur, um einen geringfügig anderen Weg einzuschlagen.

"Lassen wir noch etwas zurück?" frage ich. Niemandem fällt etwas ein.

Als wir mit dem Steinmann fertig sind, beginnt Chreich, sich diese für sie so ungewöhnlichen Kleidungsstücke anzuziehen. Das führt schon bei der Unterhose, die eine von meinen ist, zu Verwunderung. Chreich will wissen, wozu der kleine Schlitz gut ist. Der sieht nämlich so aus, als sei er absichtlich da eingearbeitet worden.

"Ist er auch!" sage ich und erkläre die Funktion eines Hosenschlitzes. Sie findet das fürchterlich komisch. Klar, bei dem Lederstreifenrock der Granitbeißer ist das einfacher und für beide Geschlechter gleich: man hockt sich hin, hält eventuell einige der Lederstreifen so zur Seite, daß man nicht draufpinkelt oder draufscheißt, und das ist alles. Aus diesem Grunde hat sie auch bei der Jeans einen hohen Erklärungsbedarf. Ich habe mir eigentlich nie Gedanken darüber gemacht, was für ein kompliziertes Kleidungsstück eine Jeanshose ist. Chreich findet die Hosentaschen praktisch, aber für viele Zwecke seien sie doch wohl zu klein. Und um ihr Messer zu tragen verwendet sie ihren gewohnten Tragegürtel weiter. Das allerdings tun wir auch.

Sie vermutet auch, daß der Stoff nicht so reißfest ist, wie sie es von ihren Lederklamotten her gewöhnt ist. Das können wir ihr durchaus bestätigen. Die Ledertracht der Granitbeißerinnen ist eben so stabil, daß zum Beispiel schwere und sogar gefährliche Schürfverletzungen, etwa durch einen Absturz, möglich sind, während die Lederklamotten funktionsfähig und vollständig bleiben. Bei unserer Kleidung ist es umgekehrt: In den meisten Situationen, in denen eine Jeans zerrissen wird, wird deren Träger nicht zerrissen. Chreich muß eben in Zukunft etwas aufpassen.

Vielleicht denkt sie jetzt auch daran, daß unsere Art von Kleidung keinerlei Schutz vor Schwerthieben bietet. Das ist bei der Kleidung der Granitbeißerinnen ja sehr wesentlich. Aber es wird ab jetzt keine Rolle mehr spielen, und sie sagt auch nichts.

Mit dem Pullover hat sie keine Probleme. Wahrscheinlich wird sie ihn bei jedem zweiten Male noch eine Zeitlang falsch herum anziehen. Ich nehme an, daß sie für einen BH noch einen Lehrgang gebraucht hätte.

Dann stehen wir da und sehen wieder wie Mitteleuropäer aus. Für Irene und mich ist das wie ein Versprechen eines bald bevorstehenden Verlassens dieser Welt. Chreich sieht sehr unglücklich aus. Aber vom Äußeren würde sie einem kaum bemerkenswert erscheinen, wenn sie einem so in den Straßen von München entgegenkäme.

"Wenn wir erst in unserer Welt sind, dann werden wir dir etwas besorgen, was dir besser steht und vielleicht auch bequemer ist!" sagt Irene und zupft noch an Chreich herum.

"Ja. Reizwäsche, zum Beispiel!" Fast hätte Irene mir eine gelangt. Wir haben unterschiedliche Auffassungen von Humor.

"Ist es wenigstens warm?" fragt Irene. Chreich nickt.

"Gut," sage ich befriedigt, "dann können wir uns ja hinhauen."

Vor dem entgültigen Einschlafen räumen wir allerdings noch unser Gepäck so um, daß wir mit unseren Rucksäcken und mit einem rucksackähnlichen Tragebeutel für Chreich auskommen. Proviant haben wir noch für Tage. Wenn wir einen Weg finden, reicht es leicht. Zusätzlich werden wir noch die Seile tragen, das ist dann aber auch alles.

Wie ich es erwartet habe, nehmen wir Chreich beim Schlafen in die Mitte. Irene hätte den mittleren Platz wohl auch ganz gerne. Damit steht wohl fest, daß ich ihn nicht mehr bekommen werde.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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