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******** 083. Tag: Donnerstag 95-11-09 ********

83.1 Emerald

Emerald. 2000 Meter über dem Meer der Welthöhle. Ein kleines Dorf, noch kleiner als Omcald. Bewohnt, aber nicht sehr: Es gibt leerstehende Hütten, wie ich später erfahre. Menschen kommen uns entgegen. Es haben sich noch nicht viele Neuigkeiten bis hierher durchgesprochen. Sie schauen verwundert und erwartungsvoll, aber ohne Argwohn.

Während Ganvoch die ersten Erklärungen abgibt, nehme ich die erschöpfte Irene in den Arm, damit sie sich anlehnen kann.

"Heute geht es wohl nicht weiter!" sage ich.

"Wie spät?" fragt sie.

"0 Uhr gerade vorbei. Noch 8 Stunden bis zur Schlafperiode. Du wirst dich aber wohl vorher ausruhen können. Heute gehen wir nicht mehr weiter, denke ich."

"0 Uhr. Welcher Tag?"

"Neunter November. Warum fragtst du?"

"Man verliert den Überblick. Vielleicht geht deine Uhr auch nicht mehr richtig."

"Digitaltechnik. Geht entweder richtig oder überhaupt nicht. Um ein paar Sekunden kann man diskutieren, aber es ist jetzt sicher ganz bestimmt der neunte November."

Irene setzt sich auf den Boden. Ich versuche, den Weg anzusehen, den wir gekommen sind, aber jetzt steht der Waldrand davor. Nur die Wand der mächtigen Felssäule ragt gleich hinter dem Dorf auf, nur durch einen schmalen Waldstreifen von der Lichtung, auf der das Dorf steht, getrennt. Oben, einige tausend Meter über unseren Köpfen, verschwindet der Überhang, der durch die Säulengabelung gebildet wird, in der grauen Schicht der Leuchtenden Wolken. Soweit sind wir also wenigstens gekommen.

Neunter November schon. Assoziationen. Reichskristallnacht. Maueröffnung der DDR. Wann war das? Erst sechs Jahre ist das her. Und die kleine Ewigkeit, die wir in dieser Welt sind.

"Herwig, das ist Ohmdinga. Er kennt sich in dieser Gegend am besten aus. Er wird dir etwas über euren weiteren Weg erzählen!" unterbricht Ganvoch meine Meditation. Ein kahlköpfiger Mann tritt auf mich zu. Er dürfte knapp über 50 sein. Typ 'John Silver', so, wie ich ihn einmal in einer Fernsehserie dargestellt gesehen habe. Sein zunächst serviles Verhalten bestätigt diesen Eindruck auch. Es erleichtert aber auch die Wahl der Kommunikationsrichtung: Er erzählt mir mehr als ich ihm. Dabei wollen die Umstehenden, die sich rasch versammeln, doch sicher alle wissen, was wir für Leute sind, woher wir kommen und was sich im Moment in den tiefergelegenen Regionen dieser Insel abspielt.

Was ich jetzt erfahre ist in sich plausibel. Diese Felssäule ist irgendwann gespalten worden, und zwar durch immense Verdrillungskräfte. So deutet Ohmdinga das jedenfalls an. Wie diese Torsionskräfte zustande gekommen sind, weiß er allerdings auch nicht. Jedenfalls zieht sich durch einen großen Teil des Querschnittes dieser Säule ein schräger Spalt, der einige hundert Meter von hier beginnt und in dem man die Gabelung dieser Säule erreichen kann. Wie es von da aus weitergeht weiß Ohmdinga nicht - genaugenommen bezweifelt er, daß es von dort aus überhaupt irgendwohin weitergeht. Er weiß auch nichts von Toten Städten.

Ob Kletterhilfen in dem Spalt sind? Nein, natürlich nicht. Man kann ihn ja so durchsteigen, und außerdem muß man ihn ja nicht durchsteigen. Dazu gibt es keinen denkbaren Grund.

Da meldet sich in der Runde - inzwischen muß sich das gesamte Dorf um uns herum versammelt haben - eine Frau in mittlerem Alter zu Wort. Sie hat schon einmal etwas von den Toten Städten gehört. Großartig. Ich frage nach. Fehlanzeige - das ist auch schon alles, was sie weiß. Sie weiß nicht einmal, wo diese Städte sein sollten. Über den Leuchtenden Wolken? Nein. Das kann sie sich nicht vorstellen. Sie hat es eben nur schon einmal gehört. Wunderbar. Hoffentlich ist mein freundliches Lächeln überzeugend genug. Aber nicht so überzeugend, daß noch mehr redundante Informationen aus purer Freundlichkeit beigesteuert werden.

Chreich steht abseits, und Ganvoch redet auf sie ein. Worum es geht weiß ich nicht. Jemand hat Irene mit etwas zu essen versorgt. Erinnert mich daran, daß ich auch Hunger habe. Als ich Irene beim Essen etwas zu genau zusehe, fällt das unseren Gastgebern auf. Wir werden näher an die Hütten heran genötigt. Es dauert nicht lange, und jeder ist versorgt. Das gesamte Dorf sitzt mit uns in einer großen Runde beisammen. Und wir müssen erzählen und erzählen und erzählen.

In einem Dorf wie diesem passiert nicht viel. Noch weniger als in den größeren Dörfern weiter unten am Meer, die bessere Verbindungswege untereinander haben. Die Einwohner Emeralds betrachten sich selbst als sehr am Rand der Welt liegend. Die 'Welt' ist zum großen Teil für sie der Rest der Insel. Darüber hinaus ist nur das Meer. Daß heißt also, daß das, was wir zu erzählen haben, ungemein spannend und unterhaltend ist.

Nun haben wir ja nicht nur unsere Reiseerlebnisse zu erzählen, sondern auch etwas über diese Schiffe, die diese Inseln angesteuert haben und die Gefahr bedeuten können. Dazu die Ankündigung, daß sich bald auch weitere Sachinor aus den tiefer gelegenen Dörfern hier blicken lassen werden. Und dann die entfernte Möglichkeit, daß die Besatzungen dieser Schiffe sich so weit auf dieser Insel verteilen, daß sie sogar bis hierher kommen könnten. Was dann? Die Beunruhigung darüber scheint, trotz mancher besorgter Blicke, nicht sehr groß zu sein. Aber ich kann diese Bergbewohner nicht durchschauen. Die Ankunft dieser Fremden ist wegen der interessanten Dinge, die sie erzählen, ein Volksfest. Alles andere tritt dahinter erst einmal zurück. Gefahren? Welche Gefahren sollten sich bis hierher verirren?

Und vielleicht haben sie recht. Rhogom würde ich schon zutrauen, die Flucht der Bewohner der tieferen Dörfer geschickt und überlegt zu organisieren. Er denkt sicher daran, die Strickleiter, an der wir so viele Schwierigkeiten hatten, zu entfernen, nachdem alle sie passiert haben. Wenn dieser Vorgang nicht beobachtet wird, dann ist dieses Bergtal vor jeder Entdeckung absolut sicher. Und wenn er beobachtet wird, dann braucht es sehr viel Motivation und Geschick, diesen Überhang zu überwinden. Wir werden es erfahren, wenn Rhogom erst hier auftaucht.

Irgendwann kommt das Gespräch auf den Sturm, der jetzt erst einige Tage zurückliegt und deshalb noch in guter Erinnerung ist. Nachdem ich erzählt habe, wie es dabei den Saurierfänger zerpflückt hat, bekomme ich natürlich in aller Ausführlichkeit zu hören, wie es den Einwohnern von Emerald ergangen ist. Sie bemühen sich, auch für sich die Wirkungen des Sturmes drastisch darzustellen, aber wenn man genau hinhört, dann ist das nicht der Fall. Wenige Bäume sind umgerissen worden, von Blitzen wurde Emerald sowieso wegen seiner geschützten Lage ganz verschont. Aber interessanter ist da schon der Hinweis, daß solche Stürme öfter vorkommen. Es ist natürlich schwer, quantitative Angaben zu erfahren. Was ich herausdestilliere ist eine mittlere Häufigkeit, die etwa einem Sturm alle 50 Tage entspricht. Vielleicht ist es aber auch ein Sturm alle 200 Tage oder alle 20 Tage. - Die Sachinor haben es auch nicht so mit der numerischen Präzision.

Der eine Sturm, den wir vor einigen Tagen erlebt haben, und die starke Schwankung in der Obergrenze der Leuchtenden Wolkendecke, die ich mit Charmion zusammen auf Casabones gesehen habe und die ich schon damals auf entfernte, heftige meteorologische Vorgänge zurückgeführt habe, sind meine einzigen selbsterlebten Hinweise, die zu Häufigkeitsangaben uminterpretiert werden können. Das würde etwa mit dem zusammenpassen, was die Sachinor mir erzählen.

Außerdem hat der Urwald auf der ganzen Insel durch den Sturm wenig Schaden genommen. Das sähe bei einem Jahrhundertsturm ganz anders aus. Aber häufigeres Auftreten von Stürmen würde jedesmal einen gewissen, kleinen Anteil der Bäume umlegen. Das Bild entspräche dann dem üblichen Anteil gestürzter Bäume in einem sich selbst überlassenen Urwald und wäre nicht weiter auffällig. Genau so sieht der Urwald auf dieser Insel aus. Überall.

Ich frage nach dem 'Donnernden Meer'. Dieser Begriff ist hier völlig unbekannt. Dabei ist es ja möglich, daß diese Insel am Rande oder im Donnernden Meer liegt. Ich frage nach, ob etwas über einen sauren Geschmack der Luft während oder nach einem solchen Gewitter bekannt ist, oder ob andere Phänomene, die sich die Sachinor nicht erklären können, aufgetreten sind. Dabei denke ich an die Hypothese der Kohlendioxid-Ausbrüche im Donnernden Meer.

Nichts dergleichen ist bekannt. Aus eigenem Erleben sowieso nicht, und Erzählungen von Reisenden sind ja selten genug.

Ich will Irene nicht beunruhigen und verliere deshalb auch kein Wort darüber, aber natürlich weiß ich jetzt, daß ständig eine gewisse Sturmwahrscheinlichkeit besteht. Diese könnte pro Tag etwa ein bis zwei Prozent betragen. Ein Sturm während des Aufstieges zurück in unsere Welt wäre natürlich sehr gefährlich. Auch unser Abstieg in diese Welt war deshalb sehr gefährdet, aber wir haben eben einfach Glück gehabt. Und einen großen Abstand zum Donnernden Meer, was die Sturmhäufigkeit wohl beeinflußt.

Ein paar Tage werden wir für den Weg nach oben wohl mindestens brauchen. Das heißt, mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu zehn könnten wir Schwierigkeiten mit dem Wetter kriegen. Andererseits denke ich, daß das Wettergeschehen über den Leuchtenden Wolken aufhört.

Diesen ganzen Tag, bis 8 Uhr, dem Beginn der Schlafperiode, läßt sich niemand sonst aus den tiefgelegenen Dörfern blicken. Dafür setzen sporadische Regenschauer ein, und Nebel kommt auf. Das würde das Übernachten im Freien unangenehm machen. Aber es gibt ja in in Emerald leerstehende Hütten. Eine davon wird für uns frei und sauber gemacht. Ganvoch und Senegan kommen in anderen Hütten unter, aber Irene, Chreich und ich bekommen diese Hütte zugewiesen. Sogar drei Lager, die aus Zweig- und Grasbündeln gemacht worden sind, werden für uns in diese Hütte hineingelegt.

Irene mustert Chreich sehr mißtrauisch. Mir ist es auch nicht angenehm, sie in unserer Hütte zu haben, aber was soll ich machen? Außerdem glaube ich nicht an ernsthafte Schwierigkeiten. Was hätte Chreich davon, wenn sie uns auf irgendeine Weise schädigt? - Außerdem bleibt der Eingang dieser Hütte offen, so daß jederzeit von draußen jemand beobachten kann, was hier drinnen geschieht. Es sieht so aus, als ob diese Wigwam-artigen Hütten normalerweise gar nicht zu schließen sind. Ich muß noch einmal nachfragen. Zumindestens während eines Sturmes könnte der Wind sich ja im Hütteninneren fangen und so die Hütte umreißen.

Ein Lager bleibt frei, weil Irene und ich uns ein Lager teilen. Weil das aber sehr schmal ist, kommen wir rasch auf die Idee, das freie Lager an meinem längsseits anzulegen. Auf diese Weise machen wir uns unser Doppelbett.

83.2 Chreich's Annäherung

Gerade wollen wir uns hinlegen, da steht Chreich auf und schiebt ihr Lager ebenfalls herüber, um es neben das unsere zu legen. Irene sieht mich entsetzt an.

"Was wird das?" frage ich.

"Soll das nicht so sein?" fragt Chreich verwundert, "Ihr macht es doch auch so!"

"Wir gehören zusammen!" versuche ich, zu erklären.

"Wir nicht?"

"Zeitweilig ja. Zeitweilig bilden wir eine Gruppe. Aber diese ist meine Frau! Das ist etwas besonderes!"

Chreich kniet in der Mitte unserer Hütte, ihr Lager in der Hand, so, wie sie angefangen hat, es herüber zu schieben. Sie versteht nicht.

"Aber du ist doch der Kommandant?"

"Bin ich das? Es gibt keinen Saurierfänger mehr, und von der Besatzung bist nur du übriggeblieben. Ich glaube nicht, daß man noch davon reden kann, daß ich der Kommandant bin. Ganz besonders nicht mehr, wenn wir diese Welt verlassen!"

Chreich überlegt.

"Ich möchte nahe mit meiner Frau zusammen sein und mit niemandem sonst. Das ist üblich in unserer Welt. Bitte!" Ich zeige auf die gegenüberliegende Wand der Hütte.

Chreich schiebt ihr Lager zurück.

"Ich muß ihr was Nettes sagen," sage ich rasch in Deutsch zu Irene, "sonst gibt es noch Schwierigkeiten!"

Irene nickt und ich stehe auf und gehe zu Chreich hinüber.

"Chreich! Es hat nichts mit dir zu tun! Wirklich! Du warst ein gutes Besatzungsmitglied, und ich habe nie etwas Nachteiliges über dich gehört!"

Daß sie mir auf dem Saurierfänger überhaupt nicht aufgefallen ist gehört jetzt nicht hierher. Ich sehe in ihre Augen und versuche, mir zum wievielten Male vorzustellen, was eine Granitbeißerin vom Leben haben will. Kann ich mir Chreich als Kommandantin eines Saurierfängers vorstellen? Hat sie das in ihrer Lebensplanung erwogen? Kann ich sie mir als Mutter vorstellen? Wo ich nicht einmal aus eigener Anschauung weiß, wie Mutterschaft und Erziehung von Kindern bei den Granitbeißern aussieht.

Ihr Gesichtsausdruck ist nicht deutbar. Ist da Verachtung eines Kommandanten, der sich so gar nicht wie eine normale Kommandantin eines Saurierfängers verhält, weil er eben 'bloß' ein Mann ist? Ist da Sorge um ihre persönliche Zukunft? Ist da Angst? Ist da unbefriedigte Sexualität, oder ein Verlangen nach Zärtlichkeit, das wohl in der Granitbeißerwelt selten in einer harmonischen Weise Erfüllung findet? Vielleicht sollte ich einfach mal fragen:

"Was wirst du tun, wenn wir diese Welt verlassen haben, Chreich?"

"Ich denke, ich komme mit euch mit?" Diesmal, jetzt erst, zeichnet sich eine Spur von Erschrecken auf ihrem Gesicht.

Oh. Daran hätte ich natürlich denken sollen. Vielleicht habe ich nicht daran gedacht, weil es mir lieber gewesen wäre, wenn Charmion uns nach oben begleitet hätte. Oder wenigstens Chrejene. Chreich war und ist für mich bis jetzt ein farbloses Nichts. Aber natürlich. Eine Bindung an ihren Kommandanten, wer weiß aus welchen Gründen, die stärker ist als ich erwartet habe. Perspektivlosigkeit hier unten. Vielleicht hat sie sich selbst schon zusammengereimt, daß ihre Aussichten, von dieser Insel herunterzukommen, nicht besonders groß sind, auch wenn zur Zeit fremde Schiffe an der Küste ankern. - Aber halt - das weiß sie ja nicht! Wir haben ja peinlichst drauf geachtet, daß sie es nicht bemerkt!

Soll ich es ihr sagen? Würde sie dann sofort zurückgehen? Oder sollen wir ihre Kooperation noch auf einem Teil unseres Weges in Anspruch nehmen und es deshalb weiter verschweigen? Aber dann könnten die fremden Schiffe schon längst wieder weg sein. Wie grausam wäre es von mir, ihr zu sagen: 'Hör mal, vor einigen Tagen hättest du die Gelegenheit gehabt, diese Insel zu verlassen. Aber wir haben es dir nicht gesagt, ätsch!'.

Nein, von den Schiffen sollte ich ihr nichts sagen. Egoistisches Motiv, wahrscheinlich. Ihre Hilfe wäre uns beim Aufstieg wirklich recht.

Denk nach, Herwig! Bring die Bausteine zusammen! Chreich ist nicht Chrejene und schon gar nicht Charmion. Bei Charmion und Chrejene hättest du Skrupel gehabt, sie in unsere Welt hinaufzubringen, weil sie dort nicht zurecht gekommen wären. Aber Chreich, die dir nicht besonders sympathisch ist - wenn sie mitkommen will? Kann dir ja egal sein, ob sie oben scheitert. Es scheitern ja so viele Menschen im Leben.

Das Problem hat viele Aspekte. Ich wollte doch, bis auf eine fiktive Reisebeschreibung, die Existenz dieser Welt geheimhalten. Geht das noch, wenn Chreich mit uns bis in unsere Welt gelangen sollte?

"Du willst wirklich mit uns mit?"

"Ja."

"Und was versprichst du dir davon?"

"Ich weiß nicht."

"Und warum willst du dann mit uns kommen, wenn du es nicht weißt?"

"Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll."

Ich versuche, ihr die Perspektiven ihres Hierbleibens auszuleuchten, so gut ich das kann. Aber das gelingt nicht. Bei den Sachinor will sie nicht bleiben, aus welchen Gründen auch immer. Die Sachinor selber wollen das ja auch nicht. Die Wahrscheinlichkeit, je wieder in ihrem Leben zurück nach Grom zu kommen hält sie für gering, selbst, als ich ihr die Idee eines selbstgebauten hochseetüchtigen Bootes vorschlage. Soviel handwerkliches und seemännisches Geschick traut sie sich nicht zu. Und Grom, das bedeutet für sie weiterhin eine subalterne Stellung, vielleicht auf einem anderen Saurierfänger. Ihre Fähigkeiten, ihre Ambitionen und ihre Herkunft reichen nicht für mehr. Und daß sich eine Granitbeißerin per definitionem in der oberen Hälfte der sozialen Pyramide befindet, weil die untere Hälfte ja vollständig von der männlichen Bevölkerung eingenommen wird, bedeutet für sie nichts, weil es schon immer so war. - Dieses ist aber bei den Sachinor anders, und das mag doch einer ihrer unbewußten Gründe sein, nicht bei den Sachinor bleiben zu wollen.

"Irene!" sage ich laut in Deutsch, derweil ich Chreich aus nächster Nähe ins Gesicht sehe, "Ich glaube, wir nehmen sie mit."

"Warum das denn?" fragt Irene herüber.

"Es könnte unsere Chancen verbessern. Ganz einfach und egoistisch gesagt. Ich glaube nicht, daß es für sie gut ist. Aber sie will es so."

Ich merke schon, daß ich für Irene das noch besser begründen muß. "Ich werde jetzt ausprobieren," sage ich, immer noch in Deutsch, "wie groß ihre Motivation, mit uns mitzukommen, wirklich ist. Ich erzähle ihr einfach von den Schiffen!"

"Ob das gut ist?" fragt Irene.

"Sowie mehr Flüchtlinge aus den unteren Dörfern hier auftauchen, kann man es sowieso nicht mehr vor ihr geheimhalten. Eigentlich müßte sie sogar vorhin schon, als wir in diesem Dorf ankamen, etwas gemerkt haben - wir haben doch über alles mögliche geredet!"

"Hast du nicht gemerkt, daß Ganvoch immer in der Nähe von Chreich war? Immer, wenn das Thema auf die Schiffe kam, hat er intensiv mit ihr geredet! Wenn er das nicht getan hätte, wüßte sie schon längst etwas! Du hättest es nicht verhindert!"

"Oh!"

"Er ist sogar einmal mit ihr im Wald verschwunden! Für fast eine halbe Stunde!"

"Donnerwetter! Da habe ich nichts davon gemerkt. Er zeigt wirklich Einsatz!"

Zunächst frage ich Chreich vorsichtig aus, ob sie etwas von der Lage in den unteren Dörfern weiß. Tatsächlich - sie weiß nichts. Was sie weiß ist, daß demnächst noch mehr Menschen hier ankommen werden - wahrscheinlich wenigstens. Aber sie glaubt, daß es sich um Besuche aus irgendwelchen anderen Gründen handelt.

Dann erfahre ich noch, daß Ganvoch ihr etwas von einer mißglückten Invasion von fremden Schiffen erzählt hat, die schon einige Jahre zurückliegt. Das lasse ich mir genau erzählen. Mein Verdacht bestätigt sich rasch: Ganvoch hat ihr genau das erzählt, was jetzt gerade geschieht - aber er hat es ihr als ein vergangenes Ereignis verkauft, eines, von dem immer noch geredet wird. Genial! So wird sie nicht einmal Verdacht schöpfen, wenn sie diese oder jene Satzfetzen zu hören bekommt, die sich auf die gegenwärtige Situation beziehen.

Ich erfahre auch, daß Ganvoch tatsächlich vor einigen Stunden mit ihr geschlafen hat. Aber sie mißt dem keine Bedeutung bei. Man braucht eben ab und zu einen Orgasmus, um gesund zu bleiben und sich wohl zu fühlen. Besser häufiger als weniger häufig. Aber ohne geht es auch. Und sie hätte es auch überlebt, wenn ich mit ihr erst in der Säulengabel dazu gekommen wäre. Übrigens nimmt sie mit keinem Gedanken an, daß ich mich da jetzt anders entscheiden könnte. Das wird also etwas problematisch, wenn wir sie mitnehmen.

Ich denke, wir verschieben ihre Aufklärung über die tatsächliche Lage auf morgen. Ich muß noch über die beste Strategie nachdenken, außerdem muß ich Ganvoch befragen. Wenn Chreich die Fakten erfährt, und wenn sie sich darauf entscheidet, hierzubleiben, dann hat er nämlich das Problem am Hals.

"Paß auf," sage ich zu Chreich, "wenn du willst, kannst du an unserer Seite schlafen. Aber wir werden heute nacht nicht miteinander spielen. Ist das dir so recht?"

Sie nickt. Ich stehe auf, und sie schiebt ihr Lager wieder zu unserem hinüber. Irene sieht sehr kritisch drein.

"Irene, du mußt das ein paar Tage tolerieren, daß ich nett zu ihr bin. Denk daran - ich tue es auch für dich! - Ich fürchte, es kann sehr wichtig werden!" sage ich ihr auf Deutsch.

Wir liegen dann in gemischter Reihenfolge: Irene an der Hüttenwand, dann ich, dann Chreich. Irene wendet mir den Rücken zu - das ist bei ihr keine Zurückweisung, sondern die implizite Aufforderung, sie zu umarmen. Zu mehr wird es aber nicht kommen, weil Chreich so nahe ist.

Es kommt aber zu mehr. Kaum, daß ich Irene in den Armen habe und anfange, ihr den Rücken zu kratzen, weil ich weiß, daß sie das gerne mag, fühle ich mich selber von hinten umarmt. Chreich hat sich ihre Schlafposition gesucht und gefunden.

Irene merkt an meinen Reaktionen, daß etwas nicht stimmt. Sie sieht sich um:

"Was wird das denn? Ein flotter Dreier?" fragt sie, auch auf Deutsch.

"Psst, nein! Es hat wohl nichts zu bedeuten, glaube ich!"

Irene schaut sehr zweifelnd drein. Chreich blinzelt schon schläfrig.

"Leg dich wieder hin. Es wird nichts passieren!"

Irene ist wenig überzeugt und legt sich deshalb auf die andere Seite, mir zugewandt.

Vielleicht wird das eine unangenehme Nacht. Bei dieser schwülen Hitze sollte man ständig größere Teile der Körperoberfläche frei haben, um die Körperwärme abführen zu können. Das ist eine schwer zu erfüllende Forderung, wenn man gleichzeitig von beiden Seiten von zwei Frauen umarmt wird. Dazu weiß ich nur zu gut, daß es einer Granitbeißerin überhaupt nichts ausmacht, uns im Schlafe die Kehle zuzudrücken, wenn sie es für richtig hält. Wir müssen Chreich bei Laune halten! Ich hoffe, Irene ist das mit hinreichender Deutlichkeit klar.

Jedenfalls dauert es sehr lange, bis Irene und ich einschlafen. Nur Chreich ist sehr rasch weggetreten. Sie ist auch die einzige die sich durch den strengen Körpergeruch nicht gestört fühlt - weil es nämlich ihr eigener ist.

Und im Schlafe sieht sie ein bißchen wie ein glückliches, kleines Kind aus. Vielleicht erlebt sie im Traume Visionen einer auch für eine Granitbeißerin attraktiveren Welt.

83.3 Scheidewege

Wir bekommen schon etwas Schlaf. Aber noch vor 17 Uhr wache ich auf, weil Irene sich unruhig wälzt. Ist sie schon länger wach?

"Was ist denn?" frage ich in einem leisen Tonfall, der sie nicht aufwecken würde, wenn sie schliefe.

"Ich denke nur nach." flüstert sie.

"Worüber?"

"Über alles."

"Aha."

So genau wollte ich es nun nicht wissen.

"Hast du Angst vor dem Aufstieg?" frage ich.

"Ja. Natürlich. Aber das ist es nicht."

"Sondern?"

"Ich denke daran, wie es weitergehen soll, wenn wir es schaffen."

"Wie es weitergehen soll? Wir fahren nach Hause. Wir sind jetzt wenig mehr als 80 Tage weg. Zu wenig, um schon für tot erklärt zu sein. Nein, wenn wir es schaffen, dann werden wir unsere Plätze wieder einnehmen können. Denke ich."

"Das ist es nicht. Ich denke an das ganz andere Leben hier."

Also jetzt ist es soweit. Sie überlegt, ob wir hierbleiben sollten. Ich frage ganz direkt danach.

"Nein," sagt sie, "das ist es nicht. Ich würde mich hier nicht wohlfühlen. Du auch nicht. Schon wegen der Hitze."

"Aber?"

"Ich weiß nicht. Es ist alles so seltsam."

"Inwiefern?"

"Ich weiß nicht, ob wir unser Leben bisher richtig gemacht haben."

"Das sind aber schwerwiegende philosophische Fragen!"

"Ich meine das ernst!" wird Irene fast böse.

"Ja, das glaube ich schon. Aber wieso kommst du erst jetzt darauf? Ich habe eigentlich dauernd unsere oder meine Art zu leben in Frage gestellt, dann aber immer wieder festgestellt, daß wir wohl genau in der gesellschaftlichen Evolutionsnische hocken, die für uns angemessen ist."

"Was heißt das?"

"Was willst du mit deinem Leben machen, wenn du nicht das tätest, was du jetzt tust - ich meine, beruflich tust, wenn wir nicht hier unten wären?"

"Ich weiß nicht."

"Siehst du! Etwas konkretes weißt du nicht! Du hast nur das diffuse Gefühl, es könnte auch anders sein!"

"Vielleicht!" gibt Irene zu.

"Du bist nicht die einzige, die dieses Gefühl hat. Wollen wir mal ein Beispiel machen? Stell dir vor, jemand hätte uns vor drei Monaten eine Forschungsstelle angeboten. Mitarbeit bei einer Expedition in eine bis dahin unbekannte, gigantische Höhle, in der es eine Welt für sich gibt. Nicht ganz ungefährlich. Hättest du die Stelle angenommen?"

"Natürlich nicht."

"Siehst du. Ich auch nicht. Wir sind nicht aus dem Stoff, aus dem man Forschungsreisende und Abenteurer macht. Du machst deinen Job in deiner Bank und ich programmiere in meiner Firma. Wir lassen uns nicht einmal den frischen Wind der Marktwirtschaft um die Nase wehen, so als kleine Angestellte in diesen großen, bürokratischen Firmen. Wir kriegen unser Freßchen und machen dafür unsere Kunststückchen, die wir gelernt haben. Manchmal, am Wochenende, machen wir etwas ganz tolles. Dann gehen wir in die Berge, auf einen Klettersteig. Obwohl wir zum Überleben in der freien Natur genauso wenig qualifiziert sind. Wie hättest du bei deinen Kollegen deine ersten Klettersteig-Begehungen rumerzählt! - Das ist es, was wir gerade noch können und was wir uns freiwillig zutrauen. Daß wir hier sind, das war nicht unsere Entscheidung."

"Wir hätten nicht in das Loch reingehen müssen!"

"Bei dem Schneesturm?"

Chreich rekelt sich.

"Wir wecken sie auf!" flüstert Irene.

"Wenn schon. Sie ist früher eingeschlafen als wir. Also. An welche Alternativen denkst du? Wollen wir andere Alternativen durchspielen?"

"Ach, du verstehst mich nicht!" Irene dreht sich wieder um und wendet mir den Rücken zu. Nun gut. Dann werden wir noch ein paar Minuten Schlaf einfahren können, bevor das Dorf aufwacht. Wenn Irene sagt, daß ich sie nicht verstehe, bedeutet das meistens das faktische Ende eines Gespräches.

83.4 Das Gespenst am Waldrand

Soviele Minuten sind es nicht mehr. Zwar bleibt das Dorf zunächst über 17 Uhr hinaus eine ganze Weile ruhig, aber dann geschieht irgend etwas. Von weit her ruft jemand. Schade. Gerade war ich wieder am Einschlafen.

"Da kommt jemand!" sage ich und richte mich auf, "Auf! Hoffentlich sind es nicht die ..." ein kurzer Blick auf Chreich. Fast hätte ich mich verplappert.

Ich bin der erste, der aus unserer Hütte raus ist. Einige andere Dorfbewohner sind jetzt auch schon aufgestanden, unter ihnen Ganvoch.

Drei Männer kommen uns vom Waldrand entgegen. Ich kenne keinen von ihnen. Sie sind auf dem Pfad gekommen, auf dem wir gestern ebenfalls dieses Dorf erreicht haben. Einer trägt ein Kind auf dem Arm, und ein anderer hat einen notdürftig verbundenen Oberkörper. Von seinem linken Arm ist nur noch ein Stumpf übrig. Er ist in sehr schlechter Verfassung. Der dritte trägt ein Bündel, wahrscheinlich mit Marschverpflegung.

Als sie uns sehen, gehen sie mit beschleunigtem Schritt auf uns zu. Der mit dem fehlenden Arm kommt plötzlich ins Torkeln und stürzt. Er bleibt reglos liegen.

"Mein Gott!" sagt die Irene hinter mir.

"Das sind Rechgan und Mosk aus Obirald!" sagt Ganvoch, der dem einen das Kind abnimmt, "aber wer ist das?" Dabei deutet er auf den liegenden Schwerverletzten.

"Gaster. Ihm ist der Arm vor wenigen Stunden abgeschlagen worden, als wir in der Rampkin-Wand waren." antwortet der, den Ganvoch mit Mosk bezeichnet hat.

Zwei Frauen kümmern sich um den Liegenden. "Die Rampkin-Wand?" frage ich.

Ganvoch sieht mich an: "Das ist die Wand mit der Strickleiter. Da sind wir auch durchgekommen!"

"Er ist tot!" sagt eine der Frauen in eine der kleinen Gesprächspausen hinein.

"Er hat soviel Blut verloren." sagt Mosk. Er kniet sich neben dem Toten hin und sagt überhaupt nichts mehr. Ist er auch verletzt?

"Es war sein Bruder!" sagt Rechgan leise zu uns.

"Wie ist es denn passiert?" fragt Ganvoch, "Komm. Ruh dich aus."

"Dafür haben wir nicht mehr sehr viel Zeit!"

Ich trete zu Irene, während die anderen Dorfbewohner sich um das Kind und die beiden Männer kümmern.

"Irene!" sage ich eindringlich, "das ist übel! Der da hat seinen Arm bei der Wand mit der Strickleiter verloren!"

"Warum denn? Wie denn?"

"Das weiß ich nicht! Ich habe das Gefühl, daß diese Leute von den fremden Schiffen schon weiter sind als wir - als Ganvoch - das noch gestern für möglich gehalten hat!"

Chreich steht neben unserem Hütteneingang. Ich trete auf sie zu: "Geht dir ein Licht auf?"

Sie sieht mich wortlos an.

"Hat dir Ganvoch etwas von diesen zehn Schiffen erzählt?"

Sie nickt: "Es passiert jetzt, nicht wahr? Ich hatte ihn falsch verstanden. Ich dachte, das ist schon lange her ..."

"Das war Absicht. Du solltest es nicht wissen. Also, Chreich, ganz schnell: Denk nach: Auf den Schiffen, auf einigen davon, sind wahrscheinlich Granitbeißer. Du könntest mit ihnen wieder nach Grom fahren! Willst du das? Es sind deine Leute! Oder willst du mit uns kommen? Denk nach und entscheide dich!"

"Ich brauche nicht nachzudenken. Ich gehe mit euch!"

"Aber du könntest nach Hause zurück!"

"Nein. Ich habe zugelassen, daß meine Kommandantin durch einen - durch einen Mann - abgesetzt wurde, und ich habe nichts dagegen unternommen. Ich kann nie mehr nach Hause zurück! - Sie würden mich töten, wenn das herauskommt."

"Oh. So ist das. Ich verstehe."

Für Chreich ist diese Welt verbaut. Die Sachinor wollen sie nicht, und nach Hause kann sie nicht mehr. Sie muß tatsächlich mit uns gehen. Ich wende mich an Irene:

"Und du? Hast du immer noch Überlegungen, in dieser Welt zu bleiben?"

Irene wirft einen Blick auf die einarmige Leiche: "Ich wollte noch nie in dieser Welt bleiben. Hast du das etwa so verstanden?"

"Ich will nur sicher gehen. Okay. Also:" Ich nehme die Hände beider Frauen in die meinen - eine vielleicht etwas theatralische Geste, aber sie müssen verstehen, daß es jetzt brenzlig wird: "Ich glaube, wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir hören uns jetzt erst einmal an, was überhaupt passiert ist, dann packen wir unsere Sachen und bitten Ohmdinga, uns ganz schnell zu dem Spalt zu führen! Einverstanden?"

Beide nicken. Dann sieht Irene plötzlich mit schreckgeweiteten Augen in Richtung Waldrand: "Wir packen unsere Sachen gleich!"

Ich sehe mich auch um. Am Waldrand steht ein Gespenst:

Osont.

Er ist im Augenblick wieder verschwunden. Vielleicht hat er uns gesehen. Vielleicht war er der erste seiner Gruppe. Vielleicht weiß er, daß unsere Kampfkraft besser ist als die der harmlosen Dorfbewohner. Deshalb wird er erst mit Verstärkung zurückkommen. Wieviel Zeit gibt uns das? Minuten? Sekunden?

"Irene, du hast recht! Schnell."

83.5 Fluchtvorbereitung

Im Augenblick sind wir wieder in unserer Hütte, alle drei. Nichts liegenlassen, alles einpacken. Lagerstatt durchschütteln. Da ist nichts. Wir brauchen noch mehr Lebensmittel, sonst schaffen wir es nicht. Wer trägt die Seile? Ganvoch hat seine hier bei uns reingelegt, und seine Tragebeutel auch.

Ich bin wieder raus aus der Hütte. Wo ist Ohmdinga? Natürlich, bei den anderen. Haben die auch schon gemerkt, daß da noch ein Fremder am Waldrand aufgetaucht ist? Sollte ich es ihnen sagen?

"Ohmdinga! Komm bitte mit! Wir müssen aufbrechen! Sofort!" Fast gewaltsam reiße ich ihn aus der Runde weg.

"Warum so plötzlich?"

"Später. Wir brauchen Proviant. Siehst du die Leuchtenden Wolken dort? Wir werden etwa dreimal höher steigen müssen, bis wir zu Hause sind! - Soviel Proviant brauchen wir."

"Ihr geht alle drei?"

"Ja."

"Ich komme bis zur Gabel mit."

"In deinem Alter?"

"So alt bin ich noch nicht."

Ohmdinga verschwindet in einem anderen Zelt.

"Was macht er?" fragt Irene. Immer wieder läßt sie ihre angstvollen Blicke über den Waldrand schweifen.

"Ich weiß nicht. Vielleicht kümmert er sich um Proviant. Hoffe ich. Du hast doch gehört - er will mitkommen!"

"Habt ihr soviel Angst vor diesem Mann, der da stand?" fragt Chreich verwundert.

"Ja. Er ist ein Teufel. Wenn du ihm mal gegenübertreten solltest, tu dir keinen Zwang an - töte ihn!"

"Warum?"

"Ich erzähl's dir noch - wenn wir unterwegs sind."

"Nehmen wir die Schwerter mit?" fragt Irene.

"Erstmal ja. Vielleicht kann Ohmdinga sie wieder mit nach unten nehmen."

"Vielleicht brauchen die Leute aus dem Dorf die Schwerter dringender?" gibt Chreich zu bedenken, "und uns würden sie beim Klettern nur behindern."

"Da hast du recht. Wir haben ja noch die Messer. Das sollte reichen. Wenn uns jemand folgte, dann hätten wir sowieso wenig Chancen. - Okay. Lassen wir ihnen die Schwerter hier."

Ohmdinga taucht wieder mit vier prallgefüllten Beuteln von der Größe eines kleinen Rucksackes auf. "Jeder einen!" sagt er.

"Wir haben schon Rucksäcke!"

"Nehmt die Beutel vor die Brust. Später, wenn sie leerer sind, könnt ihr umladen. Jetzt hole ich noch Seile."

"Wir haben aber schon ..." will ich sagen, aber er ist schon weg.

"Ich glaube, wir können bald umladen. In unseren Rucksäcken ist ja Platz, weil unser eigener Proviant längst alle ist." meint Irene.

"Nicht hier - erst müssen wir einmal aus dem Dorf weg!" sage ich, "hier mache ich nichts mehr, was kompliziert ist und Zeit kostet!"

Ohmdinga taucht wieder mit einigen Seilrollen auf. Ist er vielleicht deshalb besonders eifrig, weil endlich einmal etwas Aufregendes passiert?

Ich zeige auf unsere Hütte: "Da liegen unsere Schwerter. Kannst du dafür sorgen, daß Ganvoch sie erhält? Ihr werdet sie vielleicht brauchen!"

"Ich weiß!" sagt Ohmdinga, greift die Schwerter und verschwindet wieder. 30 Sekunden später ist er wieder da.

"Du weißt?" frage ich verwundert.

"Hier können jederzeit Fremde auftauchen."

"Ist schon passiert. Vor einigen Minuten!" Ich deute auf den Waldrand: "Aber er hat sich wieder zurückgezogen. Wahrscheinlich war er der erste seiner Gruppe. Er wartet sicher auf Verstärkung."

"Dann machen wir uns sofort auf den Weg. Habt ihr alles?"

"Ja." Der zusätzliche Beutel vor der Brust wird weder das Marschieren noch das Klettern einfacher machen. "Irene, deinen Beutel essen wir zuerst leer!"

Es ist 18:30 Uhr, als wir uns auf den Weg machen. Kurz zuvor hat Ohmdinga Ganvoch die schlechten Neuigkeiten rasch noch erzählt.

83.6 Der Kampf um Emerald

Zunächst gehen wir durch das Dorf. Verwunderte Blicke folgen uns, aber nur Ganvoch springt auf und kommt zu uns herüber. Er geht neben uns her, weil wir keine Zeit verlieren wollen, und er weiß das.

"Hat man dir gesagt, daß ..." frage ich.

"Jaja. Gerade eben. Sie sind schon da. Wie du bemerkt hast, ist unsere Runde da schon nicht mehr vollzählig. Einige sind mit ihren Waffen rund um das Dorf in den Wäldern."

"Oh, wie geschickt! Aber unterschätzt die Angreifer nicht!"

"Du kennst sie?"

"Ja. Ich bin jetzt sicher. Den einen, den ich gesehen habe, mit dem habe ich eine persönliche Rechnung. Aber es werden mehr kommen. Und die sind ihrerseits ja auch auf der Flucht. Vielleicht solltet ihr euch ganz in die Wälder schlagen und warten, bis sie sich gegenseitig umgebracht haben!"

"Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Unsere Leute in den unteren Dörfern waren nicht ganz erfolglos. Die Leute von den Schiffen haben schon Verluste gehabt. Unsere eigenen allerdings auch."

"Tatsächlich? Aber trotzdem sind schon welche bis hierher gekommen! - Es könnte auch sein, daß sie schon in den Wäldern rundherum stecken und das Dorf beobachten."

Wir sind am Rand der Lichtung angekommen, auf der das Dorf Emerald steht. Nach ein paar weiteren Metern kann man uns vom Dorf aus nicht mehr sehen. Die Wand der Felssäule ist keine 50 Meter mehr entfernt.

Ganvoch bleibt stehen. "Ich muß zurück!" sagt er.

"Dann lebe wohl," sage ich, "und viel Glück. Ihr werdet es brauchen!"

"So, wie ich es verstanden habe, werdet ihr es auch brauchen! Euer Weg ist schwer und ungewiß."

"Ja. Aber wir werden mit Bedacht vorgehen können. Ihr dagegen habt nicht mehr viel Zeit zum Überlegen, wenn es erst los geht!"

Wir sehen uns einen Moment lang an. Was kann ich ihm noch sagen, was für das Volk der Sachinor wichtig ist? Was kann ich ihn noch fragen, was für uns wichtig sein könnte? - Es wird uns sicher zu spät einfallen, was man noch hätte sagen oder fragen müssen, wie das eben immer der Fall ist bei endgültigen Abschieden.

Da hören wir plötzlich Stimmengewirr und Schreie aus dem Dorf.

"Es geht los. Los, haut ab! Macht schon!" sagt Ganvoch. Er zieht sein Schwert und rennt in Richtung Dorf davon. Das ist das letzte, was ich von ihm sehe.

Ich glaube, es ist mein Schwert, das er jetzt hat. Hoffentlich hilft es ihm.

83.7 Der Säulenpfad und der Waldsee

Ohmdinga führt uns auf dem kaum erkennbaren Pfad weiter, zunächst genau auf die Felssäule zu. Plötzlich stehen wir wieder an einem Waldrand. Die Felssäule ist von einer bodenlos tiefen Schlucht von etwa drei Metern Breite eingefaßt. Damit haben wir nicht gerechnet.

"Da rechts geht es weiter!" sagt Ohmdinga. Wir gehen auf der Kante der Schlucht an unserer Seite entlang. Keiner sagt ein Wort. Wir wissen nicht, ob sich hier in den Wäldern auch schon jemand von den Schiffen aufhält. Ich glaube es allerdings nicht - wahrscheinlich ist es so, daß Osont's Leute auf der Flucht vor der Besatzung der sieben verfolgenden Schiffe ist, und jetzt sind die ersten gerade in Emerald angekommen. Sie müssen ungewöhnliche Anstrengungen hinter sich haben, aber ich weiß auch, daß sie zu jeder Schandtat bereit sind, um ihr Leben zu retten. Wenn ich doch etwas mehr wüßte! Aber noch erzählt Ohmdinga nichts, weil wir erst etwas mehr Abstand zwischen uns und das Dorf bringen müssen - wir brauchen unseren Atem.

Immer noch hören wir das Geschrei durch die Bäume dringen, das erst allmählich schwächer wird, je weiter wir kommen. Es geht nun steil aufwärts - das ist der Ausläufer des Bergrückens an der anderen Seite des Terrassentales, gegenüber von dem Grat, über den wir Emerald erreicht haben. Immer ist zu unserer Linken die Schlucht, die die Felssäule von uns trennt. Immer ist ihre Breite zwischen zwei und drei Metern - zuviel für uns. Ohne weitere Hilfsmittel werden wir da nicht hinüber kommen.

Ich überlege mir, wie diese Schlucht wohl zustande gekommen ist. Vielleicht hat das mit denselben Vorgängen etwas zu tun, die den Spalt geschaffen haben, den wir gleich hinaufsteigen werden? Ohmdinga hat etwas von einer 'Verdrehung' der Säule angedeutet. Vielleicht haben diese Vorgänge die Schlucht erzeugt? Im Vergleich zum Gesamtdurchmesser der Säule hat diese Schlucht nur ein Tausendstel ihres Durchmessers. Aber auch über diese Frage kann man nur spekulieren. Genaues werden wir wohl nicht erfahren.

Irene keucht schwer. Ich nehme ihr den Proviantbeutel ab. Noch geht das, noch klettern wir ja nicht. Ein dankbarer Blick, aber sie sagt nichts. Dazu fehlt ihr im Moment der Atem.

Nun biegt Ohmdinga wieder in den Wald ab. Wir entfernen uns von der Felssäule und der Schlucht um sie herum, allerdings nicht weit. Wir erreichen einen kleinen, zwischen im Walde verborgenen Felsbrocken eingeschlossenen Teich mit klarem, tiefen Wasser. Seine Abmessungen sind vielleicht acht mal zwölf Meter, mehr nicht. Fast romantisch.

"Hier sind wir sicher," sagt Ohmdinga, "hier können wir unsere Vorräte geschickter packen." Er zeigt auf den Teich: "Da sind wir als Kinder oft geschwommen - es ist schon so lange her." sagt er. Einen Moment lang hält er inne, so, als ob er versucht, sich an lange zurückliegende Kindheitsereignisse zurückzuerinnern. Vielleicht will er aber auch nur zu Atem kommen.

Jetzt, wo wir beim Gehen nicht mehr keuchen müssen, können wir besser horchen. Aber die direkte akustische Verbindung nach Emerald ist wohl schon unterbrochen. Ich glaube, immer noch fernes Geschrei zu hören, aber eigentlich ist diese Wahrnehmung schon unter der Hörschwelle.

Wir füllen unsere Wasserflaschen und die Wasserbeutel, die Ohmdinga in den Proviantbeuteln untergebracht hat. Im Prinzip ist Wasser in dieser feuchten Welt kein Problem. Und wenn wir tatsächlich später und weiter oben der Braunen Quelle folgen können, dann werden wir auch dort die Trinkwasserversorgung vereinfachen können. Das ist übrigens ein Vorteil der Braunen Quellen: Bei den Salzigen Quellen wäre das nicht möglich gewesen, wenn es sich tatsächlich um etwas Ähnliches wie Meerwasser gehandelt hätte.

Während wir unsere Gepäckverteilung abstimmen, erzählt Ohmdinga, was er noch von den beiden Männern, Rechgan und Mosk, gehört hat.

Die Schiffe sind tatsächlich gelandet, und die Hypothese, daß die sieben größeren Schiffe den drei kleineren gefolgt sind, war wohl auch richtig. Muß richtig gewesen sein, da es sich ja bei den Verfolgten um Osont's Leute gehandelt hat, wie ich jetzt definitiv weiß. Die Besatzung der drei Schiffe hat sehr rasch eines der Dörfer gefunden, nämlich Obirald. Das ist einige Kilometer östlich von Rubald, aber auch nur wenige hundert Meter über dem Meer gelegen.

Die Einwohner von Obirald waren erst kurz zuvor gewarnt worden. Sie hatten noch zu wenig Zeit gehabt, irgendwelche Vorkehrungen zu treffen. Plötzlich war das ganze Dorf voller fremder, bewaffneter Männer. Sie wollten Vorräte und Wegeauskunft. Dazu haben sie sich anmaßend und brutal aufgeführt.

Dann gab es gleich Vergewaltigungen und bewaffnete Auseinandersetzungen. Natürlich waren die Einwohner von Obirald den Angreifern hoffnungslos unterlegen. Den meisten gelang es, die Flucht zu ergreifen. Die Angreifer jedoch, die ja selbst auf der Flucht waren, verfolgten sie sofort, weil offenbar ihre logische Überlegung war, daß sie auf diese Weise in die besten Verstecke auf der Insel geführt werden würden. Es gelang den Sachinor nicht einmal, diese Menschen so an den gefährlichen Stellen scheitern zu lassen, wie Ganvoch sich das vorgestellt und Rhogom das wahrscheinlich organisiert hat.

Ohmdinga meint, daß diese Ereignisse ziemlich sicher an Rubald vorbeigegangen sind, und wahrscheinlich auch an Omcald. Aber die Angreifer haben ihren Weg über die Geröllebene vor der Rampkin-Wand genommen. Das heißt, wenn sie am Anfang bei ihrer Eroberung der Insel etwas schneller vorgegangen wären, dann hätten sie auch uns genau dort in der vorletzten Schlafperiode überraschen können.

"Wieviele sind es denn?" frage ich.

Ohmdinga erzählt, daß eine Gruppe von fliehenden Einwohnern von Obirald, die Gruppe, zu denen Gaster, Mosk und Rechgan gehört haben, kurz vor der Rampkin-Wand von den Angreifern eingeholt wurden. Das müssen etwa 20 gewesen sein. Die Einwohner von Obirald haben versucht, über die Wand zu entkommen. Aber Osont's Leute sind sofort hinterher. Zu dem Zeitpunkt tauchten dann schon Gruppen von Granitbeißerinnen von den sieben Schiffen auf der Geröllebene auf. - Es muß ziemlich ekelhafte Kämpfe in der Rampkin-Wand gegeben haben, aber Ohmdinga weiß darüber keine Einzelheiten.

"Das ist schlimm," sage ich, "das heißt ja, daß über kurz oder lang eine ganze Menge Menschen in Emerald sind!"

Ich sehe, daß Chreich die Luft langsam einzieht. "Über kurz," sagt sie, "riecht ihr das nicht?"

Jetzt, wo sie es sagt, riechen wir es auch: Feuer.

"Emerald brennt." sage ich.

Ohmdinga sieht zu Boden. "Wie gut, daß meine Frau das nicht mehr erleben muß!" sagt er.

"Ist sie ..."

"Ja. Sie ist schon lange tot. Und meine Söhne leben hinter den Bergen - dort." Er deutet in die Richtung, die ich für Westen halte.

"Dann sind sie sicherer als wir - das ist weit weg vom Landeplatz." versuche ich, Ohmdinga zu beruhigen, "Ihr werdet Emerald wieder aufbauen, wenn die Fremden erst weg sind. Und diesen Teich werden sie nicht verbrennen."

"Wenn sie weggehen."

"Das werden sie. Was sollten sie sonst auf dieser Insel suchen? Wir sind doch mit den Granitbeißern gefahren. Das da unten, das sind Saurierfangschiffe. Die sind nur hier, um die Leute von den drei kleineren Schiffen zu jagen, warum auch immer. Andere Interessen haben die hier nicht. Es gibt schließlich auf dieser Insel keine Großsaurier. Dazu, solche zu fangen, sind diese Schiffe aber gebaut worden. Höchstens, daß ab und zu diese Gewässer von solchen Schiffen aufgesucht werden, um Fischsaurier zu jagen. Ich weiß aber nicht, ob es hier welche gibt. Also, langfristig werden sie euch in Ruhe lassen. Da bin ich sicher."

Ohmdinga nickt. Vielleicht überzeugt ihn das. Ich denke, es ist jetzt nicht gut, wenn ich über die möglichen kannibalistischen Interessen der Granitbeißer spekuliere. Außerdem leben auch dazu wirklich zuwenig Menschen auf dieser Insel. Deshalb bin ich ziemlich sicher, daß die Granitbeißer wieder verschwinden werden, wenn sie das Problem mit Osont's Leuten gelöst haben - also wenn sie alle gefangen oder umgebracht haben.

"Ihr denkt sicher," sagt Ohmdinga, "daß ich feige bin, weil ich euch den Weg nach oben zeigen will und so nicht bei den Kämpfen dabei sein muß."

"Nein, das denken wir nicht!" sage ich schnell.

"Es ist aber so. Ich bin feige. Ich habe bis eben gedacht, ich tue es nur, um die Gegend in der Säulengabel zu prüfen, ob wir uns dahin zurückziehen könnten. Aber das ist sehr weit hergeholt. Alte und Kranke und kleine Kinder können nicht im Spalt nach oben klettern. Oder nur mit sehr viel Zeit und mit sehr viel Hilfe - beides haben wir nicht. Also war das nur ein vorgeschobener Grund. Ich wollte weg."

"Das ist keine Feigheit!" sage ich, "Denn es wäre vielleicht das klügste gewesen, wenn ihr euch alle auf die Flucht begeben hättet - ständig! Im Kampf seid ihr ihnen natürlich unterlegen - Osont's Leuten, und den Granitbeißerinnen erst recht. Aber ihr hättet sie durch die schwersten Gegenden führen können, damit sie sich erschöpfen, damit sie Gelegenheit haben, sich gegenseitig umzubringen, damit sie abstürzen. - Naja, dieser Vorschlag kommt jetzt natürlich zu spät. Man hätte ein paar Tage früher planen müssen. Ich hätte ja auch nicht gedacht, daß diese Menschen so schnell ins Landesinnere vorstoßen würden. - Aber feige bist du nicht. Nicht mehr als wir. Uns ist ja auch jetzt erst eingefallen, daß wir uns beeilen müssen."

Ohmdinga sieht mich dankbar an.

"Eigentlich sind wir doch wieder marschbereit, oder?" frage ich. Es gibt keine Einwände. Also packen wir wieder auf.

Wir haben jetzt wenigstens erreicht, daß Irene's zusätzlicher Beutel leer ist und in ihrem Rucksack verstaut werden konnte. Chreich, Ohmdinga und ich haben hingegen noch schwer zu tragen.

Bevor wir losgehen, leiste ich mir noch einen Blick auf Uhr und Höhenmesser: Es ist 22 Uhr, und unsere Höhe ist wieder 8400 Meter unter NN, also 2100 Meter über dem Meer - so hoch, wie wir auf dem Grat waren.

Während wir weiter dem unebenen Waldpfad folgen, werfe ich seitlich einen Blick auf Chreich. Wie hätte ich mir gewünscht, daß es Charmion gewesen wäre, die jetzt mit uns geht!

"Bist du schon mal über den Leuchtenden Wolken gewesen? "frage ich sie.

"Nein, nie!"

"Dann sieht dir diese Welt noch einmal an. Über den Leuchtenden Wolken sieht es ganz anders aus. Und wenn du erst bis in unsere Welt mitkommst, dann steht dir noch eine Überraschung bevor! Es wird zum Beispiel bei uns regelmäßig völlig dunkel. Und an unserem Himmel steht, wenn es nicht dunkel ist, ein so grelles Licht, daß man es nicht ansehen darf, ohne zu erblinden! Und das ist nicht alles. Wir ..."

"Kannst du nicht die Schnauze halten?" fragt Irene aufbrausend, "Sie wird es schon noch zu sehen bekommen!"

"Ist ja schon gut."

Schweigend marschieren wir weiter. Hat es nicht geheißen, der Einstieg in den Spalt ist nur einige hundert Meter von Emerald entfernt? Jetzt sieht es aber so aus, als ob Ohmdinga uns um einen größeren Teil des Säulenumfanges herumführt.

Sehr schnell kommen wir nicht vorwärts. Es geht wieder in ein Hochtal hinab. Zeitweise laufen wir über eine Geröllhalde, und als wir dabei wieder der Säulenwand nahekommen, bemerke ich, daß es entweder keine Schlucht mehr gibt, oder daß dieses Geröll diese Schlucht an dieser Stelle vollständig aufgefüllt hat. Wahscheinlich ist das letztere der Fall, denn am Grunde dieses Tales müssen wir wieder in dichten Urwald eindringen. Da es jetzt keine Pfade mehr gibt, müssen wir wieder in Richtung Säule ausweichen. Die Schlucht ist wieder da, aber auf ihrer Kante kommt man relativ gut voran.

Eigentlich komisch - sollte der Urwald nicht die Schluchtkante besser bewachsen haben? Vielleicht liegt es daran, daß die Bodenfeuchtigkeit an der Schluchtkante schneller abläuft. Die Geröllhalde, die die Schlucht ausgefüllt hat, hat ja gezeigt, daß es sich bei der Schlucht um eine sehr alte Formation handelt. Also jedenfalls alt genug, um sich von Geröll auffüllen zu lassen. Zehntausend Jahre? Hunderttausend? Eine Million? Wie schnell bildet sich Geröll, ohne Frostverwitterung? - Wie schnell hat sich die Säule gebildet?

Allmählich verliere ich die Orientierung, wie weit wir schon um die Säule herum sind. Die Krümmung einer so dicken Felssäule ist kaum merkbar, wenn man an ihr entlang marschiert, und da wir auch ständig mit sehr wechselnden Geschwindigkeiten marschieren, kommt einem jedes Gefühl für die zurückgelegte Entfernung abhanden. Während wir marschieren, hole ich den Kompaß heraus. Wir werden bald an der östlichsten Seite der Säule sein. Also haben wir bald ein Viertel des Säulenumfanges hinter uns gebracht. Das sind einige Kilometer, nicht einige hundert Meter, wie uns Ohmdinga versprochen hat.

Plötzlich beschleicht mich wieder ein panischer Gedanke: Es gibt keinen Spalt! Ohmdinga hat sich nur wichtig gemacht! Und jetzt ist ihm dieser Marsch gerade recht, um sich vor den Kämpfen zu drücken! Und wir sind weiter von jedem Rückweg in unsere Welt entfernt als je zuvor!

Ich sage nichts. Wozu die anderen aufregen? Wenn Ohmdinga uns reinlegt, dann reicht ein Wink von mir, und Chreich wird ihn zerreißen. Vielleicht tut sie das auch ohne einen Wink. Unser aller Zukunftsaussichten sind dann nämlich sehr schwarz.

Wieder steigen wir einen neuen Bergrücken hinauf. Links die Schlucht, knapp außerhalb Pinkelreichweite die Wand der Säule. Rechts Urwald. Wenn einer von uns unachtsam ist, dann fällt er oder sie in die Tiefe. Ich kann nicht erkennen, wie tief diese Schlucht ist. Sie wird unten ganz dunkel - ich traue mich aber nicht, mich zu weit hinüberzulehnen.

Dann endlich zeichnet sich voraus an der rauhen Wand der Säule etwas ab. Es sieht aus wie ein großer, schmaler Schatten. Und doch dauert es noch zehn Minuten, bis wir endlich da sind. 0 Uhr ist gerade vorbei.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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