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******** 082. Tag: Mittwoch 95-11-08 ********
82.1 Sichtung
Obwohl wir jetzt unsere Rucksäcke bei uns haben, erscheint mir der Weg nicht mehr ganz so schlimm. Eine Gewöhnung ist wohl bereits eingetreten. Auch Irene keucht und schnauft und schwitzt, aber sie zeigt keine Panik, als wir die uns schon bekannten ausgesetzte Stellen passieren.
Nach 0 Uhr kommen wir an der Stelle vorbei, wo wir um eine freistehende Felsnase herumklettern müssen und Rubald tief unter uns sehen. Das ist eine kritische Stelle. Denn von dort aus kann man auch nach Osten sehen. Wir müßten also die Schiffe sehen können.
Ich habe alle Mitglieder dieser Gruppe instruiert, daß das Thema absolut tabu ist, und daß an solchen Stellen, wo wir die Schiffe sehen könnten, niemand auffällig in diese Richtung starren soll. Es halten sich auch alle daran, und an dieser Stelle klettere ich hinter Chreich, um ganz besonders auf sie aufzupassen und sie notfalls abzulenken. Aber Chreich hat erkannt, daß dieser Weg zu gefährlich ist, um an Flucht zu denken, und so paßt sie lieber auf, wo sie ihre Füße hinsetzt. Nicht einmal der Blick runter auf Rubald interessiert sie. Recht so, Chreich!
"Wir müssen unsere Rucksäcke richten. Sie sind ungleichgewichtig gepackt. Geht schon mal vor!" sage ich zu Ganvoch und Senegan, als wir die Felsnase passiert haben. Sie nicken. Sie wissen ganz genau, was wir vorhaben.
Solange die Gruppe noch in Sicht ist, tun wir so, als ob uns das Innere unsere Rucksäcke ganz besonders interessiert. Dann klettern wir geschwind die paar Meter zurück, bis sich die Aussicht nach Osten öffnet.
"Da sind sie, Irene! Siehst du sie?"
Natürlich sieht sie die Schiffe. Sie sind schon recht nahegekommen, wie man von dieser erhöhten Position aus deutlich sieht. Die Höhe der östlichsten Inselspitze haben sie schon erreicht.
"Sie wollen südlich dran vorbeifahren. Sagenhaft. Sie müssen tatsächlich über die Kielschwerter verfügen! Sieh dir diesen Kurswinkel an! - Jedenfalls keine zehn Kilometer mehr, und sie könnten schon zum Beispiel die Hafenbucht finden, die wir auch gefunden haben!"
"Ob sie uns schon sehen können?"
"Hier, wo wir jetzt sind? Nein. Wenn wir von hier aus da auf Deck noch keine Einzelheiten sehen können, dann können sie uns von dort auch nicht sehen. Jedenfalls, solange wir uns nicht bewegen. Und auch dann können sie uns noch nicht als Menschen erkennen, selbst, wenn sie genau in unsere Richtung sehen. Aber es dauert nicht mehr lange, und sie sind nahe genug heran. - Hoffentlich sind die da unten in den Dörfern bald mit dem Aufräumen fertig."
Ich versuche, besonders an den drei vorderen Schiffen irgend etwas Bekanntes zu erkennen. In der Takelage oder so, was immer man auf die Entfernung davon erkennen kann. So gut erinnere ich mich aber nicht an Einzelheiten von Osont's Schiffen, und natürlich kann ein anderes Schiff ganz genau dieselben Eigenheiten der Takelage aufweisen. Ich vermag wirklich nicht zu sagen, ob es sich um Osont's Flotte handelt oder nicht.
"Sieh mal. Die drei Schiffe sind noch acht oder neun Kilometer von uns entfernt. Die Verfolger vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Also fast doppelt so weit. Sie sind aber nicht doppelt so schnell, nur ein bißchen schneller. Die Verfolgten können die Insel also ohne Schwierigkeiten zuerst erreichen, und zwar an großen Teilen der Küste. Sie können sich also sogar noch den Landeplatz aussuchen. Wenn sie sich schnell entscheiden. Also ist völlig klar, was passieren wird."
"Was denn?"
"Da sie überhaupt diese Insel ansteuern, zeigt das, daß sie eine Begegnung auf hoher See vermeiden wollen. Denn sonst würden sie ja einfach vorbei fahren. Die drei Schiffe werden also an der erst- oder zweitbesten Stelle an dieser Insel landen. Das wird in großer Eile geschehen. Sie werden von Bord gehen und sich im Urwald verkriechen. Wahrscheinlich werden sie nur das nötigste mitnehmen können."
"So."
"Ja. Und sie werden nicht verhindern, daß die Verfolger genau wissen, wo sie an Land gegangen sind. Weil sie ihre drei Schiffe nicht so schnell verschwinden lassen können. Die Verfolger werden also an der gleichen Stelle landen. Je nachdem, was sie eigentlich von den Leuten auf den drei Schiffen wollen, werden sie mit mehr oder weniger Motivation die Verfolgung zu Land und im Urwald aufnehmen. Wahrscheinlich mit mehr Motivation, denn sonst würden sie gar nicht erst diese aufwendige Verfolgung machen. Und die Verfolgten auf den drei Schiffen wissen das. Sie werden also die Beine in die Hand nehmen und sich auf dieser Insel weit zurückziehen, soweit wie möglich, um ihren Verfolgern zu entkommen. Und das ist das Schlimme."
"Wieso?"
"Weil ich nicht glaube, daß sie in der Nähe der Küste bleiben werden. Ob sie die evakuierten Dörfer finden werden oder nicht - ich glaube, sie werden versuchen, noch weiter in die Gebirge auf dieser Insel vorzustoßen. Und die Verfolger werden das wissen und hinterherkommen. Weißt du, was das heißt?"
"Daß wir nirgends auf dieser Insel sicher sind." sagt Irene. Jetzt hat sie es verstanden.
"Genau. Und die Sachinor auch nicht. Die höchstens vermöge ihrer Ortskenntnis. Aber wir müssen weiter. So schnell wie möglich."
Bevor wir losgehen, lese ich noch den Höhenmesser ab: 2100 Meter. Das heißt 9900 Meter Tiefe. Rubald ist 300 Meter unter uns, und das Meer 600 Meter. Das wollte ich ja schon wissen, als wir das letzte Mal hier waren.
Als wir uns wieder in Marsch gesetzt haben, um der Gruppe zu folgen, denke ich weiter laut nach:
"Es tut mir natürlich leid für die Sachinor. Aber wir können nichts für sie tun. Und ich möchte nicht, daß wir zwischen die Fronten geraten. Besonders, weil es sich um sehr viele Fronten handelt."
"Welche denn?"
"Ist das nicht klar? Die Verfolger und die Verfolgten da draußen. Dann der Konflikt, der entsteht, wenn eine dieser Gruppen auf die Sachinor stößt. Dann wir. Osont möchte ich schließlich nicht noch einmal begegnen. Oder du? - Na also. Dann sind da noch die beiden Granitbeißerinnen, die gefangengenommene Chreich und die andere, die sich noch irgendwo in den Wäldern rumtreibt, wenn sie noch lebt. - Ne, Irene, wenn es ungünstig verläuft, dann werden die nächsten Tage hier einen beträchtlichen Unterhaltungswert haben. Wir müssen weiter, so schnell wie möglich! Wir müssen hier weg!"
Eine Weile klettern wir schweigend und angestrengt weiter. Die anderen haben einen ganz ordentlichen Vorsprung, und wir holen sie erst ein, als wir in dem Bach im Geröllbett sind, von wo wir bloß noch ein paar hundert Meter bis zu dem See zu steigen haben, wo Omcald liegt.
"Wo bleibt ihr denn so lange?" ruft Ganvoch uns zu, bleibt stehen und läßt die anderen an sich vorbeiklettern. Als wir neben ihm stehen, fragt er. "Und?"
"Warte noch. Laß die anderen etwas weiter gehen!" Ganvoch nickt. Nach einer Minute kann ich ihm dann rasch meine Gedanken erläutern, so wie ich es schon bei Irene getan habe.
"So ist das," sagt er, als ich geendet habe, "du meinst also, auch Omcald und ähnliche Orte sind keine geeignete Zuflucht?"
"Genau das meine ich."
"Nun, es gibt noch höher gelegene Dörfer. Aber im Prinzip könnten sie überall hin. Das stimmt schon."
"Es gibt eine Hoffnung." sage ich und erläutere einige wahrscheinlichkeitstheoretische Ideen, die ich hatte. Wenn all die Wege zu den höher gelegenen Dörfern unkenntlich gemacht werden und alternative Wege nicht mit vernünftigem Aufwand begehbar sind, dann ergibt sich die Wahrscheinlichkeit, daß Fremde die entlegendsten Dörfer erreichen, ja aus der Produktwahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeiten, mit denen man bestimmte verborgene Abzweigungen findet. Und das kann sehr wenig sein.
Ganvoch hält das aber für eine sehr theoretische Überlegung. Wie sollte er auch in Minuten lernen, mit Wahrscheinlichkeitskalkulationen umzugehen, die manche unserer Zeitgenossen da oben in einem ganzen Leben nicht begreifen? Ich vergesse das immer wieder, daß Dinge, die für mich sonnenklar sind, bei anderen Menschen jenseits jeder Begreifbarkeit liegen können. "Wenn sie einen Weg brauchen und keinen finden, dann werden sie weiter suchen bis sie einen gefunden haben. Es hält sie nur auf." erklärt er.
Hat er wahrscheinlich recht.
82.2 Chreich's Bestechung
Um 2 Uhr sind wir in Omcald, das, wie ich jetzt feststelle, in 9600 Meter Tiefe liegt, oder 900 Meter über dem Meer der Welthöhle. Der größte Teil der Gruppe bleibt hier, um mit den Bewohnern von Omcald deren Evakuierung vorzubereiten, so wie wir es in Rubald getan haben. Irene und ich, Ganvoch und Senegan und Chreich gehen weiter.
Zunächst geht es in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Aber statt in dem Geröllbett des Baches wieder abzusteigen, halten wir uns an einen schwer erkennbaren Pfad an der jetzt linken Talwand. Bald sind wir wieder im Urwald, und der Pfad geht steil bergan.
Irene hat Mühe, mitzukommen. Wenn es die anderen nicht sehen und wenn es der Weg erlaubt, dann schiebe oder ziehe ich sie. Ein paar Wattsekunden ausleihen. Das kann ich noch. Aber auch mir fließt der Schweiß reichlich. Wir müssen häufig von den mitgenommenen Vorräten trinken.
Um 4 Uhr erreichen wir eine sanft gerundete Geröllhalde, über die zu gehen sehr schwierig ist, weil man ständig in Gefahr läuft, mit dem Fuß umzuknicken. Eine Kleinigkeit, aber das darf jetzt nicht passieren. Wir könnten dann nicht mehr vernünftig klettern. Ich weise Irene darauf hin, auch wenn ich damit in Gefahr laufe, schulmeisterhaft zu wirken. Aber bei Irene ist die Gefahr des Umknickens ja noch größer.
Aus irgendeinem Grund hat die Vegetation hier nicht so recht Fuß fassen können, und wir können zwischen den niedrigen Bäumen das Meer wieder sehen. Laut Höhenmesser sind wir in einer Tiefe von 9250 Metern, das sind 1250 Meter über dem Meer.
"Mehr als zehn Prozent haben wir schon geschafft!" sage ich zu Irene.
"Zehn Prozent von was?"
"Von dem Höhenunterschied bis zur Erdoberfläche! Ein und ein viertel Kilometer haben wir vom Meer aus geschafft, und insgesamt sind es etwa zehn bis elf Kilometer!"
Ich kann nicht erkennen, ob Irene das als eine gute Nachricht auffaßt. Es ist eigentlich auch keine. Auf einem guten Weg oder etwa einer Treppe einen Kilometer zu steigen ist für einen gesunden Menschen eine Kleinigkeit. In schwierigem Fels sieht das schon anders aus. Und schwieriger Fels ist für uns schon ein unüberwindliches Hindernis. Wir brauchen Wege oder Klettersteige. Noch ist überhaupt nicht raus, ob wir etwas derartiges vorfinden werden. Und über neun Kilometer Höhendifferenz haben wir noch vor uns. Das ist immer noch mehr als die Höhe des höchsten Berges der Erde.
Ganvoch dreht sich zu uns um:
"Schluß für heute. Da vorne sollten wir ein Lager aufschlagen. Wir schaffen es heute nicht mehr bis Emerald."
"Wie heißt das?"
"Emerald! Was ist daran so lustig?"
"Eigentlich nichts. Es gibt eine Edelsteinart, die in unserer Sprache so heißt. Das hat nichts zu bedeuten - ein Zufall. Hier willst du bleiben?"
Senegan sieht sich auch um. Seine Oberarmwunde scheint ihn nicht allzusehr zu behindern - es sah schlimmer aus, am Anfang. Chreich muß wirklich sehr erschöpft gewesen sein, wenn er so glimpflich davon gekommen ist. Gegen Charmion hätten die drei Männer, die Chreich gefangengenommen haben, nicht die Spur einer Chance gehabt.
"Wir brauchen noch einige Stunden. Und wir sollten wach sein."
"Warum?"
"Wirst schon sehen!" sagt Ganvoch wie jemand, der mit einer tollen Überraschung hinter dem Berg hält.
"Gut. Und wie stellst du dir das vor? Mit ihr?" fragt Senegan und deutet auf Chreich.
"Einer muß Wache halten." sagt Ganvoch und zuckt die Schultern.
"Und sie ist morgen die einzige, die ausgeschlafen ist! Kommt ja gar nicht in Frage!" fahre ich dazwischen. Chreich sagt in dieser Diskussion überhaupt nichts. Ich winke sie zu mir. Zusammen treten wir etwas zur Seite.
"Chreich, du möchtest doch zurück nach Grom, oder?"
Sie nickt. Einen Moment schimmert Besorgnis und Bekümmertheit durch ihre Gleichgültigkeit hindurch.
"Gibt es noch etwas, was du möchtest?"
Sie sieht mich fragend an. Sie versteht nicht.
"Spielst du lieber mit Männern oder mit Frauen?"
"Mit Männern - wenn welche da sind."
"Aha. Nun gut. Da sind wir unterschiedlich. Da haben wir ganz verschiedene Interessen. Denn ich spiele lieber mit Frauen."
Mit spitzem Zeigefinger schiebe ich ihre Lederjacke etwas weiter auf, so daß ich ihre Brüste sehen kann. Die Irene guckt eine Idee mißtrauischer, und Chreich sieht zunächst verwundert an sich herunter. Sie hat ein entsetzlich grobes Gesicht, denke ich. Das ist unter den Granitbeißerinnen ja eigentlich kein Nachteil. Aber leidet eine Granitbeißerin darunter, wenn sie häßlich ist? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weiß eine Granitbeißerin so etwas gar nicht, weil ihr 'weibliches' Aussehen kaum einen Einfluß auf ihre Umgebung hat.
Mit spitzem Zeigefinger berühre ich ihre linke Brustwarze. Chreich geht ein Licht auf - diese Geste hat ihr Ziel erreicht.
"Wenn wir unter uns sind - oben, in der Gabelsäule, ja?" schlage ich vor.
Die äußeren Zeichen ihrer Erregung sind unübersehbar. Das wollte ich sehen. Daß ihr ehemaliger Kommandant sich für sie interessieren könnte, damit hat sie überhaupt nicht gerechnet. Da hat sie aber überhaupt nichts dagegen.
Mit raschem Schritt gehe ich zurück zu den anderen. Chreich folgt mir.
"Niemand braucht Wache zu schieben. Es wird nichts passieren. Von ihr droht keine Gefahr." stelle ich kurz fest.
"Und warum nicht?" fragt Ganvoch.
"Ich bin - war - Kommandant des Saurierfängers. Das reicht für sie."
Ganvoch ist nicht überzeugt, aber er sagt nichts.
Als wir uns in den Felsen ein Lager gesucht haben, fragt mich Irene in Deutsch: "Wieso bist du so sicher, daß die nicht etwas vorhat?"
"Weil ich ihr vorgeschlagen habe, mit mir zu schlafen!"
"Was hast du?"
"Ja. Und einen Träger für den ersten Teil des Weges haben wir jetzt auch!"
Nun begreift die Irene: "Du hintergehst sie!"
"Aber feste!"
"Und wenn sie dahinterkommt?"
"Dann sind wir schon oben in der Gabelsäule - wenn wir soweit kommen. Dann lasse ich mir etwas einfallen."
"Du willst sie doch nicht etwa - töten?"
"Nein. - Nicht, wenn es vermeidbar ist. Wir werden sehen."
Gemeinsam sehen wir auf Chreich, die ihr Lager nur etwa vier Meter von uns entfernt gewählt hat. Sie liegt schon und scheint zu schlafen. Jedenfalls hat sie uns den Rücken zugedreht.
"Hoffentlich geht deine Rechnung auf." sagt Irene, "Aber laß dir nicht einfallen, doch etwas mit ihr ..."
"Sieh sie dir doch von nahem an! Da ist mir meine Irene tausendmal lieber!"
Die Irene kuschelt sich an mich. Solche Bemerkungen lassen sie dahinschmelzen wie Eis in der Sonne.
Daß mir plötzlich wieder Charmion einfällt kann sie nicht wissen. Ich sage es ihr auch nicht.
82.3 Die Rampkin-Wand
Um 14 Uhr wachen wir auf. Tatsächlich haben wir alle ruhig durchgeschlafen. Von Chreich ging keinerlei Feindseligkeit aus.
"Die Schiffe müßten schon längst gelandet sein. Wieso warst du so sicher, daß nicht schon während der Schlafperiode diese Leute hier vorbeikommen - Zeit dazu hätten sie ja schon genug gehabt." frage ich Ganvoch, als wir beim Frühstück zusammensitzen.
"Das habe ich im Gefühl. Außerdem wären wir gewarnt worden." Er sagt das voller Überzeugung, so daß ich gar nicht auf die Idee komme, nachzufragen, wer uns wie gewarnt hätte.
Schon um 15 Uhr sind wir wieder auf dem Weg. Noch eine Weile geht es über die locker bewachsene Geröllhalde. Dabei nähern wir uns einer unwegsam aussehenden Felswand. Ganvoch geht sehr zielstrebig drauf zu. Also müssen wir da durch.
Das Geröll wird steiler, die Vegetation bleibt zurück. Der Blick weitet sich auf das gesamte südliche Panorama der Welthöhle. Dafür nimmt uns die Felswand vor uns zusehends den Blick auf die Säule.
Wenn die Schiffe noch da wären, wo sie gestern waren, dann könnten wir sie sehen. Wenn sie an der Insel vorbeigefahren wären, dann wären sie auch noch zu sehen - irgendwo im Westen. Das ist beides nicht der Fall. Also sind sie gelandet und damit durch die bewaldeten Vorgebirge unseren Blicken entzogen.
Dann stehen wir vor der Felswand. Ich sehe, daß es Griffe und Tritte gibt, aber wie lange das so bleiben wird, wenn wir in sie einsteigen, das weiß ich nicht.
Ganvoch sieht meine besorgten Blicke:
"Es ist eigentlich nicht schwer. Sogar Frauen und Kinder schaffen das."
Wie beruhigend. Wir machen noch eine kurze Rast. Es ist 16:30 Uhr, und laut Höhenmesser sind wir in einer Tiefe von 9100 Metern. Also 1400 Meter über dem Meer.
Einen Moment lang sehe ich Chreich von der Seite an, um zu sehen, ob sie auf Ganvoch's Formulierung irgendwie sichtbar reagiert. Aber obwohl diese Formulierung abwertend interpretiert werden kann, läßt sie sich nichts anmerken. Vielleicht war sie auch in Gedanken: Auch sie studiert die Felswand vor uns.
Der Alpinist würde diese Wand wahrscheinlich noch als 'Genußkletterei' bezeichnen. Solange man aufmerksam und konzentriert ist, kann auch nichts passieren. An einigen wenigen Stellen, wo geeignete Griffe und Tritte fehlten, ist der Fels sichtbar bearbeitet worden. Natürlich weiß ich auch, daß der lange Gebrauch dieses Weges durch diese Felswand dazu geführt hat, daß wir wirklich den optimalen und einfachsten Weg gehen. Rechts und links gibt es immer wieder Stellen, die wir einfach nicht schaffen würden. Ohne Ganvoch's Führung säßen wir bald fest. Oder wir müßten große Kraftreserven haben, um viele verschiedene Wege auszuprobieren und die ganze Wand dabei zu erforschen.
Aber wir gewinnen rasch an Höhe. Die Vorgebirge fallen nahezu ins Zweidimensionale zurück, und ganz besonders die Geröllebene, wo wir übernachtet haben. Ich suche, immer, wenn ich anhalten muß, ob ich da unten irgendwo Anzeichen menschlicher Aktivität sehen kann. In den küstennahen Wäldern müssen sich jetzt die Besatzungen der Schiffe ausgedehnte Versteckspiele liefern, oder, wenn sie aufeinanderstoßen, auch weniger harmlose Spiele. Und da sind ja auch immer noch Sachinor, die sich eigentlich auch bald auf den Weg machen müßten. Wenn jetzt jemand die Geröllebene überquerte, dann müßten wir denjenigen sehen. Und derjenige vielleicht uns. Wir sehen aber nichts. Der Urwald versteckt den mörderischen Kampf, der vielleicht jetzt dort abläuft, vor uns.
Es müssen einige hundert Meter sein, die wir erklettern. Also in der Horizontalen nur einige Dutzend Meter, so steil, wie diese Wand ist.
Dann sehe ich über uns einen überhängenden Sims, der über der ganzen Breite dieser Wand verläuft. Keine Möglichkeit, den zu umgehen. Zwei Meter Überhang etwa. Wie sollen wir da rüberkommen? Und trotzdem klettert Ganvoch zielstrebig weiter.
Tatsächlich kommt dann ein Seil in Sicht, das an einer Stelle oben über die Kante des Überhanges hängt. Beim Näherkommen stellt sich heraus, daß es sich um eine Strickleiter handelt, und daß diese auch an ihrem Fußpunkt, etwa 30 Meter unter dem Überhang, an Pflöcken befestigt ist, die in Felsritzen stecken.
Ganvoch dreht sich um: "Es ist einfacher, als es aussieht. Nur oben, wo diese Strickleiter über die Felskante verläuft, ist es schwierig, weil man nicht mehr unter die Trageseile greifen kann. Man kann sich nur noch an den Sprossenseilen festhalten. Da kriegt man die Finger grad noch rum. Mit den Füßen ist es noch etwas schwieriger - man muß aufpassen, damit man nicht von den Sprossen runterrutscht."
"Wieviele Sprossen sind es denn, die so gefährlich sind?" frage ich.
"'Gefährlich' ist übertrieben. Es sind etwa zwanzig. Ich gehe zuerst, um herauszufinden, ob die obere Befestigung noch gut ist. Die muß ab und zu überprüft werden."
"Und wenn sie nicht mehr gut ist?"
"Dann wird euch Senegan wieder diese Wand herunterführen. Irgendwo beim Abstieg würdet ihr dann über das stolpern, was von mir übriggeblieben ist. Es gibt einen anderen Weg nach Emerald, aber der dauert Tage und ist auch nicht ungefährlich."
Ganvoch macht sich ohne Umschweife auf den Weg. Trotz seiner deutlichen Erläuterung über sein mögliches Ende, falls diese Leiter reißen sollte, ist ihm keine Unruhe anzumerken. "Ich rufe, wenn ihr nachkommen sollt!" sagt er. Mit kräftigen Griffen hangelt er sich die Leiter hoch. Die Seile flattern wild und ziehen an den unteren Pflöcken. Er scheint wirklich nicht ernsthaft mit Materialschwierigkeiten zu rechnen!
Er verschwindet recht schnell über die Überhangkante. Für ihn scheint diese Stelle wohl trivial, aber er hat immerhin soviel Vorstellungsvermögen, daß er weiß, daß andere hier Schwierigkeiten haben könnten. Oder er kann sich erinnern, daß er ja auch einmal vor langer Zeit das Klettern hat lernen müssen, und daß er auch Angst gehabt hat. Das ist natürlich nur eine Vermutung.
Es vergeht keine Minute, dann taucht er wieder auf, winkt, und verschwindet wieder.
"Also. Chreich zuerst. Ab!" entscheide ich. Wie zu erwarten hat Chreich keine Schwierigkeiten. Sie hat die Kante genauso schnell überwunden wie Ganvoch.
"Senegan?"
"Besser ihr!" sagt Senegan.
"Schaffst du das überhaupt, mit deiner Verletzung?"
"Kleinigkeit! Ich geh als letzter."
"Wenn du meinst. Irene, willst du vor oder nach mir?"
"Du zuerst?" fragt sie. Ihr ist diese Leiter sehr unheimlich.
"Vielleicht aber sollte ich doch hinter dir klettern, damit ich auf deine Füße aufpassen kann. Du bist nicht stark genug, du kannst dich nicht mit den Armen hochziehen. Du brauchst deine Beine. Und du hast ja gehört: Da oben liegen die Sprossenseile dicht auf den Felsen auf. Mit den Händen brauchst du dich dann nur einfach festzuhalten, aber du mußt dein volles Gewicht auf die Füße verlagern können!"
82.4 Irene's Angst
Irene scheint sich überzeugen zu lassen. Sie greift in die Sprossen und beginnt, zu steigen. Ich komme gleich hinterher, etwa soweit unter ihr, daß sie mir nicht mit ihren Füßen ins Gesicht tritt. Kurz bevor ich selbst in die Sprossen greife, sehe ich mich noch einmal um. Seit wir auf der Insel sind, haben wir zwar noch keine Flugsaurier gesehen, aber nach den ehernen Murphy'schen Gesetzen könnten natürlich genau dann welche auftauchen, wenn man sie überhaupt nicht gebrauchen kann. Und wenn man im Fels rumturnt, dann kann man sie wirklich nicht gebrauchen. Ich denke da an das schreckliche Ende von Chechmirch. Wir haben ja erfahren, daß es welche auf der Insel gibt. Aber es ist weit und breit kein einziges dieser Tiere zu sehen, und so kann ich mich getrost auf den Weg machen. Warum sollten sie gerade in den nächsten Minuten auftauchen, und warum sollten sie sich dann gleich auf uns stürzen? Sowas passiert doch nur in auf Spannung optimierten Romanen und Filmen. Dieses ist aber die Wirklichkeit, die nicht nach choreographischen Gesichtspunkten strukturiert ist.
So eine Strickleiter ist natürlich tückisch. Diese hier geht nicht genau senkrecht nach oben, weil es für die unteren Pflöcke erst etwas seitlich geeignete Felsritzen gegeben hat. Da dreht man sich natürlich immer so, daß die Leiter eine Steigung von mehr als 90 Grad bildet. Gewissermaßen eine Überhangsleiter, schon bevor man den eigentlichen Überhang erreicht hat.
Deshalb versuche ich, um die Leiter herumzuklettern. Aber da Irene schwerer ist als ich, mache ich mir das Leben damit einfacher und nicht ihr. Außerdem ist sie irritiert. Also wieder zurück.
Sie kommt oben an und hält ein.
"Kann man in die Sprossen hineingreifen?" frage ich.
"Ja. Geht schon."
"Okay. Irene, paß jetzt auf! Jedesmal, wenn du mit den Füßen auf eine neue Sprosse steigst, sage ich dir, wenn dein Fuß sicher drin ist. Dann erst kannst du dein Gewicht voll auf diesen Fuß abstützen. Verstehst du das?"
"Ja." Knurrt sie von oben. Wahrscheinlich erwähne ich zu häufig ihr Gewicht. Aber das geht jetzt nicht anders.
"Immer abwechselnd: Eine Hand einen neuen Griff, ein Fuß einen neuen Tritt, so, wie ich es eben gesagt habe! - Die meiste Zeit hast du dann zwei sichere Tritte und zwei sichere Griffe!"
So machen wir's. Vielleicht findet Senegan, der noch unten steht, unsere Kommunikation komisch: "Fuß steht! - Neuen Griff. - Ist der Griff fest? - Fuß nachziehen - Fuß steht! - Neuen Griff. - Ist der Griff fest? - Fuß nachziehen - Fuß steht! - Laß dir Zeit! Niemand treibt uns!"
So ganz stimmt das natürlich nicht, aber das hat uns im Moment nicht zu interessieren.
Jetzt ist sie mit den Händen in Überhanghöhe. Noch ein paar Tritte, und die Sprossen liegen auf dem Fels auf. Es ist nicht mehr möglich, die Sprosse unter den Mittelfuß zu nehmen, wie Irene es bis jetzt gemacht hat.
"Irene! Du darfst den Fuß nicht mit der Ferse absenken! Dann rutschst du raus! Wenn du das nicht tust, dann ist es sicher!"
Ich höre von oben ihr Keuchen. Sie müßte es schaffen. Jeder Mensch hat doch so starke Wadenmuskeln, daß er sich selbst mit den Wadenmuskeln nur eines Beines heben kann. Habe ich bis jetzt geglaubt. Als Irene den ersten Fuß auf der ersten Sprosse mit zuwenig Zehenfreiheit hat, bemerke ich, daß sich ihre Ferse gefährlich senkt.
Ich gehe zwei Schritte weiter rauf, versuche, ihr die Sprosse weiter unter den Schuh zu schieben. Das Granitbeißerschuhwerk ist auch nicht so gut zum Klettern geeignet, wie man annehmen sollte, wenn man die Kletterkünste der Granitbeißer kennt.
"Laß da los!" ruft sie von oben. Ich lasse los.
Sie kann es nicht. So nicht. Was sie vorhat ist, ihre Fußspitze schräg nach vorne unten zwischen Sprosse und Fels zu schieben. Gar nicht so dumm. Auf diese Weise kann sie zwar die Sprosse wieder unter ihren Mittelfuß kriegen, aber es besteht auch die Gefahr, daß sie mit dem Fuß noch weiter hineinrutscht und so die Leiter von dem Felsen abhebt.
Aber das ist nicht die einzige Gefahr, wie ich plötzlich begreife: "Herwig, ich kriege einen Krampf!"
"Im Wadenmuskel?"
"Ja doch!"
Scheiße. So eine einfache Stelle, und solche Probleme.
"Versuch, den Wadenmuskel zu strecken!"
"Das kann ich nicht!"
"Du mußt wieder mit der Fußspitze auf die Sprosse!"
"Das will ich nicht!"
"Du mußt!"
"Nein. Herwig, hilf mir!"
"Halt dich fest!"
"Fällt dir sonst nichts ein?"
"Doch. Irene! Laß es weh tun. Kletter so weiter wie du jetzt klettern wolltest! Fuß immer zwischen Sprosse und Fels. Der Krampf macht die Wadln nicht kaputt! Ignoriere den Schmerz! Also: Mit dem verkrampften Bein stehst du gut. Den anderen Fuß nachziehen!"
Sie tut es und ächzt vor Schmerzen.
"So wie wir oben sind, in ein paar Metern, massiere ich dir die Schmerzen weg! Hast du verstanden!"
Sie ist jetzt einige Tritte weitergestiegen. Ich kann nicht mehr sehen, wo sie die Sprossen greift. Dort biegt sich der Überhang zu weniger als 90 Grat Steigung zurück. Sie muß es bald geschafft haben! Allerdings kann sie jetzt vielleicht nicht mehr ihre eigenen Füße sehen, und ich muß auch laut brüllen, damit sie mich sicher hört. Wie weit man das wohl hören kann?
Da rutscht sie mit dem höheren, dem linken Fuß durch. Wie ich es vorausgesehen habe. Ihr nacktes Schienbein schleift über den Fels. Der andere Fuß steht noch, aber sie dreht ihn wieder ins Waagerechte, weil der linke Fuß dafür Platz geschaffen hat, indem er die Leiter etwas von der Felswand weggedrückt hat.
Irene sagt irgendwas, aber ich kann es nicht verstehen. Wenn sie sich bloß festhält! Sie zappelt mit den Beinen, zieht den linken Unterschenkel wieder aus der Leiter raus. Dadurch drückt sich die Leiter wieder an den Fels ran und die Sprosse unter Irene's rechtem Fuß schiebt sich wie von selbst unter ihre Fußspitze - unter ihre äußerste Fußspitze! Ihre rechte Ferse senkt sich, und dann rutscht sie auch da heraus.
"Um Gottes Willen! Irene! Halt dich fest!"
Ihre beiden Füße pendeln in der Luft, weit von der Leiter entfernt. Wir müssen sie wieder in die Sprossen kriegen, wir müssen, bevor sie nicht mehr genug Kraft in den Fingern hat, um sich festzuhalten!
"Irene, ich fasse jetzt einen deiner Füße an und setze ihn wieder auf die Sprosse! Hörst du? Hör auf, so zu zappeln!"
Jetzt bloß keinen Fehler machen. Ich muß mich selber ja auch festhalten. Ich steige noch eine Sprosse höher, zwänge meinen rechten Unterarm zwischen Sprosse und Fels, greife mit meiner rechten Hand die darüberliegende Sprosse. Das ist reichlich sicher. Dann greife ich mit der linken Hand nach hinten und ergreife einen von Irene's Füßen.
"Nicht, Herwig!" schreit Irene dumpf von oben.
"Du mußt den Fuß auf die ..."
Ihre beiden ihre Füße heben sich. Macht sie einen Klimmzug? Kann sie das jetzt? Gibt ihr die Angst solche Kräfte? Hoffentlich reißen ihr nicht die Bizepssehnen! Ich muß ihren Fuß wieder loslassen.
Innerhalb einiger Sekunden verschwinden Irene's beide Beine über mir.
Ich halte mich an den Sprossen fest, muß wieder zu Atem kommen. Ganvoch. Natürlich. Er hat ihr geholfen, als er gemerkt hat, wie schwer es für sie war. Er hat sie raufgezogen.
Nun ich. Vorsicht, Herwig. Mach jetzt keinen zweiten Notfall. Blamiere nicht die Innung. Du kletterst das jetzt alleine durch. Du hast doch gesehen, wie es geht, und wie es nicht geht. Steige zügig, aber nicht hastig! Du hast schon schwierigere Sachen gemacht, damals, auf der Casabones-Besteigung.
Es geht. Ich kann zwar genausowenig sehen, was ich mit meinen Füßen mache, wie Irene, aber ich habe ein gutes Vorstellungsvermögen und eine genaue Erinnerung an das, was ich eben gesehen habe. Ich halte die Fußsohlen die ganze Zeit leicht nach vorne gesenkt, um weder aus der Leiter herauszurutschen noch in die Lücke zwischen Sprossen und Fels hindurchzurutschen. Es gelingt gut, auch, als ich um die Überhangbiegung herumsteige und mein Arsch weit von der Leiter entfernt im Freien hängt, mit hundert und mehr Metern Luft drunter.
Über dem Überhang ist ein Sims, auf den ich jetzt hinaufklettere. Die beiden Seile der Strickleiter ziehen sich zu einem Seil zusammen und verschwinden in einem Felsspalt hinter diesem Sims. Auf dem leicht abschüssigen Sims sitzen beide, Irene, die sich die Wade knetet, und Chreich, das Seil zwischen sich. Ganvoch steht in einiger Entfernung auf dem Sims - er will weiter.
Irene und Chreich rücken etwas zur Seite, damit ich am Seil entlang kriechen und mich zwischen sie setzen kann.
"Warum wolltest du mich runter ziehen? Du Idiot!" sagt Irene.
"Ich wollte deinen Fuß wieder auf die Leiter bringen! Ich konnte doch nicht wissen, daß Ganvoch dir helfen würde!"
"Chreich hat mir geholfen!"
Ich sehe Chreich zu meiner Linken an. "Oh, Entschuldigung. Du warst das. Du hast meine Frau gerettet. - Ich muß mich bei dir ..."
"Sie hat sich eben so saublöd angestellt!" läßt Chreich mich nicht ausreden, und ich halte den Mund. Schön, wenn einem Danksagungsfloskeln auf diese Weise erspart werden.
Senegan turnt leicht und gelenkig über die Kante vor uns. Seine Verletzung behindert ihn überhaupt nicht. Ganvoch ruft uns an: "Können wir jetzt weiter?"
Ich sehe Irene's Waden an, aber sie wehrt ab: "Geht schon wieder. Wenn man die Fußspitze mit Gewalt anzieht, dann hört es wieder auf. Hat mir der Herwig gezeigt."
"Hat er das?"
"Ja, hat er!"
"Obwohl er dich eben herunterziehen wollte."
Irene sieht mich an: "Versteh doch: Einen Moment lang dachte ich tatsächlich, daß du mich runterziehen wolltest! Ich hatte fürchterliche Angst! Chreich hatte mich gerade an einem Unterarm gefaßt und begonnen, mich hochzuziehen. Hier, sieh!"
Sie zeigt mir ihren linken Unterarm. Chreich's Griff ist deutlich zu sehen.
"Wird schöne blaue Flecken geben!" sage ich.
"Das sind blaue Flecken! Ich dachte, sie bricht mir diese beiden Knochen hier, so hat sie sie zusammengedrückt."
"Elle und Speiche?"
"Ja, so heißen sie wohl."
"Können wir jetzt weiter?" fragt Ganvoch noch einmal.
"Ja!" ruft Irene ihm zu. Sie hat sich schnell gefangen. Ich stehe auch auf.
Während die anderen weitergehen, werfe ich rasch einen Blick auf Höhenmesser und Uhr. Es ist 19:30 Uhr und der Höhenmesser steht auf 3400 Meter auf seiner Skala. Das ist eine Tiefe von 8600 Meter unter Normal Null, und eine Höhe von 1900 Meter über dem Meer da unten. Diese Wand hat uns also 500 Höhenmeter gebracht. Ganz ordentlich.
Etwas anderes interessiert mich aber auch noch: Wie ist eigentlich das Seil, das die Strickleiter trägt, in dieser Spalte befestigt? Ich spähe hinein, wobei ich versuche, mit den Handflächen Streulicht von meinen Augen fernzuhalten.
Es ist dunkel in diesem Spalt. Er weitet sich nach innen auf. Durch diese zwanzig Zentimeter könnte sich niemand hineinzwängen, aber weiter hinten hat er mehr als 50 Zentimeter Durchmesser. Da kann man wahrscheinlich von oben hineinsteigen.
Da ist ein Felsbrocken hinein gefallen, der sich zwischen den 50 Zentimeter voneinander entfernten Spaltwänden verkeilt hat. Um diesen sind mit wildem Chaos Seile verschlungen und verknotet. Das ist alles. Sieht sehr provisorisch aus.
"Wo bleibst du denn?" Jetzt ist es Irene, die mich antreibt. Also gut. Gehen wir.
82.5 Gratwanderung
Der Sims führt bald auf einen schrägen Hang, dem wir weiter nach oben folgen. Unsere Marschrichtung ist genau auf die Felssäule zu. Diese sieht inzwischen näher und größer und bedrohlicher aus. Aber zwischen ihr und uns ist noch ein Bergrücken, den wir überqueren müssen. Aber es sind nicht mehr viele Berge höher als wir. Die Luftlinie bis zur Säule ist vielleicht noch drei Kilometer.
Der schräge Hang wird zu einem gerundeten Bergrücken, der sich dann mehr und mehr zu einem Grat verschärft. Schließlich bleibt Ganvoch stehen.
"Wir seilen uns jetzt an," sagt er, "der Grat vor uns ist doch recht schmal. Ich mache das schon."
Während er uns mit den Seilen verbindet, wobei ich nicht erkennen kann, wie professionell er das nach Alpinistenmaßstäben macht, überlege ich, was ich über Gratbegehungen gehört habe. Kollegen von mir wußten da Bescheid, aber ich habe sowas ja noch nie gemacht.
Wenn bei einer seilgesicherten Gratwanderung einer an einer Seite hinunterstürzt, dann tut sein Nachbar gut daran, sich selbst zur anderen Seite hinunterzustürzen. Dann sollten beide sicher hängen und den Grat in gemeinsamer Arbeit wieder erreichen können. Sagt die Theorie. Dann habe ich aber auch von einem Fall erfahren, wo nachher die Autopsie gezeigt hatte, woran es gelegen hat, daß dieses schöne Konzept doch nicht funktionierte. Die hatten nämlich ein Seil verwendet, das im Geschäft zu lange in der Auslage gelegen hatte und deshalb durch die UV-Bestrahlung etwa 90 Prozent seiner Festigkeit verloren hatte. Als dann dieser Unfall passierte, gab es gerade an der Stelle des Grates eine scharfe Felskante, die das so geschwächte Seil dann sauber durchtrennt hatte. Beide Bergsteiger sind dann ohne Aufenthalt in die Tiefe gestürzt, an jeder Seite des Berges einer. Das hat die Bergungsaktion für die Bergwacht sicher nicht vereinfacht.
Ob es allerdings diese geflochtenen Seile mit einem modernen, hochwertigen Bergsteigerseil aufnehmen können, das darf bezweifelt werden. Ein Bergsteigerseil sollte etwa das 15-fache Gewicht eines Bergsteigers tragen können, bevor es reißt. Mehr ist nicht sinnvoll, weil eine höhere Bremsbeschleunigung dem Bergsteiger, der so in das Seil fällt, sowieso alle Knochen bricht. Abgesehen davon sorgen Elastizität eines Bergsteigerseils und Seilbremse dafür, daß diese hohen Kräfte bei einem Sturz gar nicht auftreten.
Diese Seile hier dürften aber auch diese Kräfte nicht aushalten. Nicht, daß den Sachinor daraus ein Vorwurf zu machen wäre - sie haben ja keine anderen Materialien. Aber die Strategie bei eventuellen Unfällen auf dem Grat wird doch durch solche Überlegungen beeinflußt.
Als zusätzliche Komplikation ist immer noch mit der prinzipiellen Möglichkeit des Auftauchens von aggressiven Flugsaurierarten zu rechnen. Als ich Ganvoch darüber befrage, meint er, das wäre unwahrscheinlich. Und wenn es doch passiert? Ganvoch zuckt die Achseln. Augen offenhalten, meint er. Aus der Situation heraus improvisieren.
Aber immerhin, Ganvoch improvisiert bei jedem von uns einen kombinierten Sitz-Schultergurt. Das ist interessant - die Sachinor müssen eine ganze Menge Erfahrung haben. - Hoffentlich brauchen wir den nicht allzu lange - er ist beim Gehen lästig und scheuert zwischen den Beinen.
Unsere Reihenfolge ist Ganvoch - Chreich - ich - Irene - Senegan. Fast wie am Überhang, den wir gerade passiert haben. Nur Irene ist jetzt hinter mir.
Der Grat wird wirklich abenteuerlich. Innerhalb weniger hundert Meter erreichen wir eine Strecke, wo es sich bei diesem Berg um eine schiefe Schichtung handelt. Nach links fallen 55 Grad steile, glatte Felswände ab, die erst etwa 700 Meter unter uns im Urwald verschwinden, und nach rechts ist es eine unregelmäßige, im Mittel aber senkrechte Felswand von 800 oder 900 Metern. Auf der rechten Seite tief unter uns ist ein völlig unzugängliches, steil ansteigendes Tal. Da sind Seen und buschige Hänge. Ich habe keine Muße, die weitere Aussicht zu genießen.
"Das ist das Tal, in dem Emerald liegt - weiter hinten. Ihr werdet es sehen!" erklärt Ganvoch.
Nun beginnt die Balancierarbeit. Es ist natürlich nicht so, daß wir auf einer scharfen Schneide gehen müssen. Da sind überall flache Stellen, Tritte, Kanten, kleine Spalten. Man findet eigentlich überall Halt. Es ist nicht einmal so, daß künstliche Tritte geschlagen werden mußten - jedenfalls kann ich keine Bearbeitungsspuren entdecken. Nur muß man den Fuß oft genug an Stellen aufsetzen, wo man 15 Zentimeter neben dem Fuß nicht mehr Fels, sondern die Seen da unten sieht.
Dazu kommt dauernd die Neigung, im Zweifelsfall die Füße näher an die linke Seite zu setzen, weil sie einem vergleichsweise ungefährlicher vorkommt. Das ist natürlich falsch. Wer auf dieser schrägen Platte ins Rutschen kommt, dem ist auch nicht mehr zu helfen. 55 Grad ist immerhin auch die Neigung der Felswand, die im Zugspitz-Höllental durch die Steiganlage 'Brett' durchquert wird.
Dieser Grat ist etwa 300 Meter lang, und wir gehen sehr vorsichtig und langsam. An den meisten Stellen geht immer nur einer gleichzeitig, während die vier anderen stehen. Irene bewegt sich jetzt wieder, als ob sie ihr ganzes Leben auf Hochgebirgsgraten verbracht hätte. Hoffentlich ist es echte, erworbene Trittsicherheit und nicht durch Müdigkeit bedingte Gleichgültigkeit.
Dann endlich wird der Fels wieder durchbrochener, und man kann so gehen, daß man von beiden Abhängen gleichzeitig einige Meter weit entfernt ist. Wir können uns wieder von den Seilsicherungen befreien.
22 Uhr, und 8400 Meter unter Normal Null. "2100 Meter über dem Meer!" sage ich zu Irene, aber sie ist zu erschöpft, um sich dadurch aufheitern zu lassen.
Ganvoch hat verstanden, worüber wir reden: "Es wird aber wieder etwas weniger werden, Herwig! Dieses ist die höchste Stelle des Weges nach Emerald."
"Wieviel?"
"Nicht viel. Wir steigen jetzt rechts ab. Siehst du dort?"
Das Tal zu unserer Rechten steigt jetzt terrassenartig an. Es sind längst keine 800 Meter mehr bis zu seinem Grund. Eine der höheren Terrassen ist vielleicht nur noch hundert Meter tiefer als wir. Wir erreichen sie über ein kleines, gerölliges Steiltal, fast ein Spalt, der die Felswand zur Rechten unterbricht. Atemberaubende Ausblicke, viel klettertechnische Handarbeit, aber keine echte Gefahr.
Auf dieser Terrasse finden wir wieder einen rudimentären, meist überwachsenen Pfad, der zwischen den Bäumen dahinführt. Nur wenige Dutzend Meter zu unserer Rechten sind die Hänge dieser Terrasse, von denen Ganvoch sagt, daß es keinen Weg durch sie hindurch gibt, auch wenn es nicht so aussieht. Zu unserer Linken steigen die Wände des Bergzuges auf, dessen Grat wir gerade verlassen haben. Auch auf ihm kann man nicht mehr weitergehen, sagt Ganvoch, und ich sehe durch die Bäume, daß er recht hat: Der Grat links ist in einzelne Zinnen unterteilt. Die Klüfte dazwischen sind unüberwindbar.
Die Wand der Säule ist nun nur noch einige hundert Meter entfernt. Wir müssen bald da sein. Trotzdem sind noch einige zeitraubende Umwege erforderlich, da diese Terrasse auch wieder durch Schluchten gespalten ist. Klettereien sind erforderlich, und an einer Stelle das Begehen einer schwankenden Drei-Seilbrücke. Die Wände, die diese Terrassen abschließen, sind von gelblicher Farbe, was einen merkwürdigen Kontrast mit dem Dunkelgrau des Grates, den wir gerade überschritten haben, den Talwänden und der Felssäule selbst bildet. Es erinnert mich an Buntsandstein, aber an so weiche Sedimentgesteine glaube ich in dieser Umgebung nicht. Als ich einmal einen Brocken dieses Gesteines aufhebe, erscheint er mir auch genauso hart wie Granit.
Ich sehe besorgt Irene an. Sie wird zunehmend motorisch ungeschickter, weil sie doch schon erschöpft ist. "Wir sind bald da!" sage ich mehr als einmal. Aber auch innerhalb einiger hundert Meter Luftlinie kann noch viel passieren.
Nun tritt die rechte Talwand dieses Gebirgstales näher, und bald sind wir auf dem Grunde eines engen, düsteren Tales. Es gibt kein gelbes Gestein mehr. Der Weg schlängelt sich harmlos zwischen Bäumen dahin, ist nun deutlicher zu erkennen, als ob er hier häufiger begangen wird, und es münden andere Pfade von der Seite ein. Dann betreten wir eine Lichtung und erblicken Emerald. Es ist 0 Uhr, und ich stelle fest, daß wir tatsächlich hundert Höhenmeter verloren haben.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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