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******** 081. Tag: Dienstag 95-11-07 ********

81.1 Die Legenden der Sachinor

Vor langer Zeit, sagt Ganvoch, so lange, wie man es sich kaum vorstellen kann, gab es nichts, nur den in alle Richtungen unendlich ausgedehnten Fels. Und weil dies so war, war die Welt in gewissem Sinne vollkommen und hätte für alle Zeiten so bleiben können, denn was ist stabiler und dauerhafter als Fels?

Dann gab es jedoch ein großes Ereignis, das alles veränderte. Ein Riß fuhr durch die ganze Welt und trennte den Fels voneinander. Das war, nach dem Verständnis der Sachinor, der Schöpfungsakt: Ein Riß im allseitig unendlich ausgedehnten Weltfels.

Der Riß weitete sich, und tatsächlich wäre die Welt als Ganzes zerbrochen, wenn nicht rechtzeitig die Säulen entstanden wären. Diese haben den Riß fixiert und gestützt.

Wie diese Säulen jetzt genau entstanden sind, sagt Ganvoch aber nicht. Als dieses aber geschehen war, war die Welt wieder stabil und die Welthöhlen hatten im wesentlichen ihre heutige Form und Topographie. - Dieses Wort verwendet er natürlich nicht, aber genau das meint er.

Ganvoch sagt aber auch, daß die Welthöhlen permanent bedroht sind. Da sind immer noch die Kräfte, die die Welthöhle zerstören wollen - zerdrücken oder weiter auseinanderreißen - und die Säulen, die sich diesem entgegenstemmen. Solange diese Kräfte im Gleichgewicht sind, passiert nichts. Aber es heißt, daß irgendwann, am Ende der Zeit vielleicht, die zerstörerischen Kräfte wieder überwiegen werden. Und dann wird die Welt - die Welthöhle - unter unendlich viel Gestein zerquetscht und zertrümmert. Wann das sein wird, sagt Ganvoch, weiß niemand zu sagen.

Es geht nicht ganz klar aus Ganvoch's Worten hervor, ob die bedrohenden Kräfte nun reine physikalische Kräfte sein sollen, oder ob man sich da irgendwelche metaphysischen Kräfte am Werk vorstellt. Es wäre ja denkbar, daß die Existenz der Welthöhle ein Resultat des noch nicht endgültig ausgefochtenen Kampfes zwischen Gut und Böse ist - oder so ähnlich. Aber gerade bei diesen eschatologischen Erläuterungen verwendet Ganvoch so viele unbekannte Xonchen-Worte, daß ich eigentlich nur einen ungefähren Eindruck von dem bekomme, was er meint.

Durch die Höhlen, die so entstanden waren, sagt Ganvoch, fegten zuerst Feuer und Meere von glühenden, flüssigen Gesteinen, und dann unvorstellbar große Mengen von Wasser. Beide Perioden dauerten sehr lang. Von dem Wasser sind die Meere übriggeblieben, und von dem Feuer die ewig Leuchtenden Wolken. Ist das nicht Beweis genug, daß diese Geschichte richtig ist? - So hätte es für alle Zeiten bleiben können. Aber das Wasser auf den Felsen und das Licht aus den Wolken erzeugten schließlich die Pflanzen und die Tiere. Auch das, sagt Ganvoch, ist leicht zu beweisen: Wenn immer man Pflanzen Wasser oder Licht vorenthält, dann sterben sie.

Und als die Welthöhle vollständig belebt war, da öffnete sich ein Spalt aus einer anderen Welt, und die Urahnen der Menschen betraten diese Welthöhle.

"Aus was für einer anderen Welt?" frage ich.

"Naja, aus einer anderen Welt eben!"

"War die Schöpfung durch diesen Riß denn nicht allumfassend?"

Gemeine Frage. Ganvoch denkt über das Konzept einer möglichen Konkurrenzschöpfung nach. Er gibt zu, daß er sich auch schon einmal darüber gewundert hat, aber wenn es so erzählt wird, dann muß es wohl stimmen.

Die Argumentation ist uns nicht unbekannt. Menschen, die das Alte Testament zu wörtlich nehmen, stolpern über ähnliche logische Fallen. Aber welchen Vorwurf kann man Ganvoch machen - er kann nichts dafür, daß er in diesem Gedankengut aufgewachsen ist. Eine nicht naturwissenschaftliche Erklärung dieser Welthöhle wird immer Widersprüche haben, und eine vollständige Erklärung im Rahmen der Naturwissenschaft ist mir ja auch noch nicht eingefallen. Und an Widersprüche kann man sich gut gewöhnen, wie ich weiß: Sonst wäre es ja nicht möglich gewesen, daß sich bei uns die Spuren einer persönlichen, ethischen Wahrheit im Laufe der Geschichte in so einer dogmatischen und undemokratischen und der Wahrheitssuchung abgeneigten Institution wie den Amtskirchen kondensieren, obwohl die logische interne Konsistenz deren Dogmata von einem aufgeweckten vierjährigen Kind widerlegt werden kann.

"Also, die Menschen kamen von woanders?" will ich die Erzählung wieder in Gang bringen.

Ganvoch erzählt weiter, sogar während wir uns stellenweise wieder mit einem seilgespannten Weg zwischen den Bäumen begnügen müssen. Man gewöhnt sich aber daran, und solange die für diese Wegkonstruktion benutzten Bäume nicht allzuweit auseinanderstehen, ist die Verdrillungsneigung dieses Weges zu gering, um das Vorwärtskommen ernsthaft zu behindern. Beunruhigender ist da schon die Tatsache, daß der Seilweg auch steile, waldbewachsene Hänge kreuzt, so daß der Boden senkrecht unter dem Seilweg sehr weit entfernt ist. Wie weit, das sieht man allerdings nicht, da der direkte Blick durch die Bäume unter uns an solchen Stellen meistens versperrt wird. Wenn man doch einmal etwas weiter sieht, dann merken wir, daß dieser Weg stellenweise auch ganz schön ausgesetzt ist. Man merkt es nur bei dem dichten Bewuchs nicht so.

Bei der Gelegenheit fällt mir auf, wie dick bereits die Hornhaut auf Fingern und Handflächen geworden ist, seit wir uns in der Welt der Granitbeißer befinden. Man lernt es eben, zuzupacken, wenn das eigene Leben davon abhängt. Das war inzwischen ja oft genug der Fall. Merkwürdig, daß ich gerade jetzt daran denken muß, daß diese Hornhaut mir ganz schön lästig wäre, wenn ich eine Computertastatur oder eine Maus bedienen müßte.

Die Menschen kamen also in die Welt und verteilten sich. Aus dieser Zeit gibt es viele Erzählungen. Ganvoch gibt zu, daß er überhaupt nicht alle dieser Erzählungen kennt. Und er weiß, daß viele Dinge vergessen worden sind. Aber das große Bild ist, daß die Verteilung der Menschen in den Welthöhlen ein langdauernder Prozess war - über viele Generationen hinweg. Natürlich, Zeit für viele Abenteuer, Kriege, Vertreibungen, weite Reisen, zahllose persönliche Schicksale. Zeiten, in denen sich Königreiche bildeten und wieder zerfielen und sogar völlig in die Vergessenheit gerieten. - Ich habe den Eindruck, daß die Geschichte der Bewohner der Welthöhle einen ähnlichen Detailreichtum haben könnte wie die Geschichte der Zivilisation auf der Erdoberfläche - nur die Überlieferungsmechanismen sind hier nicht so stark wirksam. Es ist mehr vergessen worden als bei uns.

"Und damals haben auch die Erbauer der Toten Städte gelebt?" frage ich dazwischen.

"Nein." sagt Ganvoch zögernd, "Das nicht."

"Sondern?"

"Die waren schon da!"

Das muß ich jetzt erst einmal verdauen.

"Die Erbauer der Toten Städte sind also noch früher in diese Welt gekommen?"

"Ich weiß es nicht." sagt Ganvoch.

"Waren es überhaupt Menschen?"

Eine Zeitlang konzentrieren wir uns schweigend auf den Weg. Ganvoch scheint nachzudenken.

"Das weiß ich auch nicht." sagt er schließlich, "Ich glaube, niemand weiß es."

Das ist ein ganz neuer, faszinierender Gedanke, den ich mir wohl schon mal überlegt, aber gleich wieder als zu abwegig verworfen habe. Die Erbauer der Toten Städte keine Menschen! Hat die Evolution in den Welthöhlen tatsächlich eine andere intelligente Spezies hervorgebracht? Und warum ist diese Art wieder gescheitert? - Oder, noch phantastischer, kam diese intelligente Art von woanders her? Außerirdische, die sich nicht auf der Erdoberfläche, sondern aus irgendeinem Grunde in den Welthöhlen niedergelassen haben, die dann ihre Hochtechnologie verloren haben und irgendwann nicht mehr überlebensfähig waren? - Wirklich sehr weit hergeholt. Es gibt Autoren, die machen aus solchen Spekulationen ganze Bücher. Da will ich nicht mitmachen. Aber das erste Szenario, nämlich das einer anderen, nichtmenschlichen, intelligenten Art, die es einmal hier gegeben haben könnte, scheint mir denkbar.

Noch ein phantastischer Gedanke: Gibt es diese Wesen eventuell noch heute? Ganvoch kann nichts darüber wissen, denn sonst hätte er etwas darüber gesagt. - Aber was wäre das für eine Sensation! Unser Alleinvertretungsanspruch vor der Schöpfung wäre, im Lichte sicheren Wissens von anderen, intelligenten Lebewesen, dahin. Zu nichts zerstoben. Was ich schon immer vermutet habe, seitdem ich neuronale Systeme kapierte, würde evident und für jedermann einsichtig werden: Intelligenz kann sich mit großer Wahrscheinlichkeit evolutionär entwickeln. Welche philosophischen Theorien, welche Religionen würden daran zerbrechen! - Wir waren nicht einmal auf dem Planeten Erde die einzigen, um wieviel weniger wahrscheinlich sind wir es dann im Kosmos!

Allmählich platze ich vor Neugier, was wir wohl vorgefunden hätten, wenn wir diese Burg oder diese Stadt, die wir ganz am Anfang passiert haben, als wir in die Welthöhle hinunterstiegen, untersucht hätten. Und das erste Mal denke ich auch daran, daß es eines Tages doch eine wohlausgerüstete, wissenschaftliche Expedition geben könnte, die die Antworten auf diese Fragen suchen soll, unter anderem auch dort. Ob ich dabei sein werde? Ob ich mich, nach diesem Abenteuer, trotzdem zu einer Teilnahme entschließen würde?

Aber habe ich mir nicht oft genug überlegt, daß unsere Zivilisation die Welt der Granitbeißer besser nicht finden sollte? Das sollte ich bloß für ein bißchen Neugier nicht aufs Spiel setzen. Halt dich zurück, Herwig. Es sind nicht nur wissenschaftliche Expeditionen, die diese Welt stören und zerstören könnten. Wer weiß, was hier für Bodenschätze zu holen sind. Und einen Rohstoff, der auf der Erdoberfläche in vielen Regionen knapp ist, gibt es hier im Überfluß: Süßwasser. Allein das würde, vom wirtschaftlichen Standpunkt, eine Ausbeutung dieser Welt rechtfertigen. Noch schlimmer die mögliche Verwendung dieser Welthöhle als Endlager für Müll aller Art. Und dann werden alle Kulturen hier zerstört: Die Granitbeißer, die Sachinor, die Erbauer der Toten Städte, wenn es sie noch geben sollte, und wer weiß, welche sonst noch.

Nein, das darf nicht sein. Die einzige Ausbeutung dieser Welt wird eine fiktive Reisebeschreibung sein, die ich - vielleicht - verfassen werde, wenn wir zurückkommen. Ein paar Dinge werde ich systematisch fälschen. Jedenfalls nehme ich mir das jetzt vor. Vielleicht verschiebe ich das Datum unseres Abenteuers, vielleicht manipuliere ich die Beschreibung unseres Einstieges ganz zu Anfang so, daß niemand diesen Einstieg finden kann. Ich weiß noch nicht. Mal sehen.

Was die weiteren Erzählungen von Ganvoch betrifft, so werfen sie nicht sehr viel Licht auf die geologische Geschichte der Welthöhlen. Da waren auch zu viele Widersprüche drin. Dafür kann er natürlich nichts. Wenn dort ein Echo einer geologischen Wahrheit ist, dann kann das sehr verschlüsselt sein. An unserer biblischen Schöpfungsgeschichte muß man ja auch sehr flexibel heruminterpretieren, um Analogien zu den wirklichen Vorgängen zu finden.

Dann wird Ganvoch zu müde, um weiterzuerzählen. 2 Uhr ist vorbei, der normale Beginn der Schlafperiode. Ich nutze die Gelegenheit, Augen und Ohren offenzuhalten, um rauszukriegen, was während der Schlafperiode anders ist.

Ich finde nichts. Die Tiere des Urwaldes, die die immer hörbare Geräuschkulisse bilden, nehmen jedenfalls nicht am 27-Stunden Rhythmus teil. Aber das habe ich ja schon früher gemerkt.

So um 3 Uhr kommen wir im schon schlafenden Rubald an. Ohne die anderen Dorfbewohner zu stören, verziehen wir uns sofort in die uns zugewiesenen Schlafplätze. Unsere Rucksäcke sind unberührt und nicht geöffnet worden. Ich hatte es eigentlich auch nicht erwartet.

Vor dem Einschlafen denke ich noch an die Dinge, die Ganvoch uns erzählt hat. Ich frage mich, ob die gelegentlichen Kontakte, die zwischen der Welthöhle und der Erdoberfläche nicht nur in der Biosphäre der Welthöhle ihre Spuren hinterlassen haben, sondern ob es auch umgekehrt sein könnte: Ein Einfluß der Welthöhle auf die Biosphäre der Erdoberfläche. Vielleicht sogar einen deutlichen Einfluß.

Manche Schätzungen sagen, daß ein Asteroid von einem Kilometer Durchmesser und mehr etwa alle 300 Tausend Jahre auf der Erde einschlägt. Schließlich wurde ja schon versucht, das Aussterben der Saurier aus der Erdoberfläche so zu erklären. Was, wenn gelegentliche Einschläge großer Himmelskörper nicht nur die jeweiligen höheren, spezialisierten Lebensformen auslöschen, sondern sogar die ganze Erdoberfläche steril zurücklassen? Denkbar ist es, und der Mechanismus ist einfach: Die Ejekta des Einschlages werden den ganzen Planeten umkreisen und überall Sekundäreinschläge verursachen. Überall würden auf diese Weise in kurzer Zeit große Energiemengen in die Atmosphäre eingetragen. Erhitzung auf viele hundert Grad wäre möglich. Die ganze Atmosphäre ein einziges, planetenumspannendes Flammenmeer. Und deshalb eventuell sogar eine völlige Auslöschung des Lebens auf der ganzen Erde. Die Evolution müßte noch einmal von vorne anfangen.

Wenn nicht ein Reservoir von Leben dem Holocaust entkommen wäre. Die Tiefsee. Und mehr noch die Welthöhle. Oder die Welthöhlen, wenn es mehrere geben sollte. Eine Verbreitung des Lebens von dort aus zurück auf die Erdoberfläche. Wiederbelebung in geologisch kurzen Zeiträumen.

Vielleicht ist eine langfristige, ungestörte Entwicklung des Lebens in einem Sonnensystem wie dem unseren auf der Oberfläche eines Planeten sogar gar nicht möglich, wenn es keine Welthöhle oder ein ähnliches Refugium für das Leben gibt, eben weil planetenumspannende Katastrophen dazu zu oft eintreten. Eine abenteuerliche Theorie. Die Frage nach unserer eigenen Existenz fände eine ihrer Antworten hier.

Eine Theorie unter vielen. Im Prinzip möglich, aber nicht sehr plausibel. Die Fossilien der Erdoberfläche zeigen eine zu kontinuierliche Entwicklung des Lebens, so daß ich an eine globale Gesamtvernichtung des Lebens nicht glauben kann. Bloß, weil die Welthöhle ein Refugium für das Leben bei gewissen Katastrophen bietet, muß sie diese Funktion ja nicht unbedingt tatsächlich wahrgenommen haben.

Andererseits fällt mir das Prinzip ein, das die Paläontologen 'Konvergenz' nennen. Die einfache Tatsache nämlich, daß sich unter ähnlichen Umweltbedingungen auch ähnlich aussehende und ähnlich funktionierende Lebewesen entwickeln, die entwicklungsgeschichtlich sehr wenig miteinander zu tun haben. Bei manchen Tierarten, die sich auf verschiedenen Kontinenten evolutionär entwickelt haben, kann man das feststellen. Es ist eben so, daß die Evolution auf die Frage nach der Existenz unter ähnlichen Bedingungen ähnliche Antworten gibt.

Diese Konvergenz ist ja eventuell nicht nur in räumlich getrennten Biosphären beobachtbar, sondern auch in zeitlich getrennten Biosphären. Vielleicht täuscht das Prinzip der Konvergenz eine Kontinuität vor, wo gar keine ist? Ist es das? Die weltumspannende Katastrophe, die Wiederbelebung des Planeten aus der Welthöhle und der Tiefsee, die beide davongekommen sind, und die Entwicklung von neuen Lebewesen, die denen vor der Katastrophe sehr ähnlich sind. Ist das nicht möglich? So lückenhaft, wie unsere Fossilien sind, kann dieser Sachverhalt den Paläontologen immer noch mit Glanz und Gloria entgangen sein.

Was gäbe es da noch für prinzipielle Möglichkeiten! Wenn die Erbauer der Toten Städte tatsächlich nichtmenschliche Intelligenzen sind, die sich in anderen Erdzeitaltern entwickelt haben, dann können diese eventuell sogar die Erdoberfläche in einer früheren Epoche bewohnt haben. Die Idee ist mir ja eigentlich schon früher gekommen. Was wäre denn von ihnen übriggeblieben, wenn das schon vor hunderten Millionen Jahren der Fall war? Vielleicht sogar vor den Zeiten der Saurier? Im Perm? Im Karbon? Könnten Artefakte solche Zeiträume überdauern? Was für eine faszinierende Idee - Zivilisationen zu einer Zeit, von der wir bisher glaubten, daß das Leben gerade erst dabei war, das feste Land zu erobern!

Noch etwas kommt mir in den Sinn. Wenn die Evolution als Antwort auf die Frage der Existenz so ab und zu die Entwicklung intelligenter Lebewesen erzwingt, vielleicht sogar so zwingend, daß das auf der Erde und auf jedem ähnlichen Planeten schon ein paarmal der Fall gewesen ist, dann wird dasselbe evolutionäre Prinzip wahrscheinlich auch einen ähnlichen Bauplan erzwungen haben - diese Wesen könnten uns entfernt ähnlich sehen. Vielleicht aufrechter Gang. Gesichtsanordnung so ähnlich wie bei uns. Greifhand. Was weiß ich. Hier, auf der Erde, in anderen Zeitaltern, oder auf anderen, bewohnbaren Planeten zu genau diesem Zeitpunkt. Alles ist möglich. Alles muß möglich sein. Auch das ist paläontologische Konvergenz - Dieses Prinzip gilt für Intelligenz, Phantasie und Begabung genauso wie für Ohrlängen, Fellfarbe und Nestpflege.

Und, nebenbei, unter den unendlich vielen Planeten des Kosmos muß auch jeder Grad der Ähnlichkeit mit uns Menschen realisiert sein. Man stelle sich das einmal vor! Lebewesen, die wie Menschen aussehen - oder vielleicht sogar besser. In einigen Fällen. Wenn sie zweigeschlechtlich sind, dann könnten sie sogar die attraktivsten Frauen haben, mit den lieblichsten Zügen und den aufregendsten Formen!

Naja, das ist eine Sache für eine bestimmte Art von pubertärer Phantasie. Die Wahrscheinlichkeit für Lebewesen, die Menschen so ähnlich sind, ist mikroskopisch klein. Die Erbauer der Toten Städte sind es sicher nicht. Sie könnten nach unseren Maßstäben sogar Monstren sein. Im Prinzip jedenfalls.

Und, denke ich, wenn die Entwicklung der Intelligenz so wahrscheinlich ist, daß das schon ein paarmal passiert ist, dann ist es auch möglich, daß bestimmte Katastrophen, die in der Vergangenheit den Lebensraum Erde immer mal wieder heimgesucht haben, zum Teil gar nicht natürlichen Ursprunges waren. Intelligenz ist ein sehr instabiles Konzept: Die damit versehene Lebensform wird schnell zu mächtig. In geologischen Begriffen sehr schnell. Sehen wir doch gerade. Und dann passiert irgend etwas. Krieg. Ökologischer Holocaust wegen Überbevölkerung. Und aus ist es mit dem Lebensraum.

Die Entwicklung der Intelligenz wäre so etwas wie eine globale Epilepsie. Die Analogie zwischen gesellschaftlichen Vorgängen und den neuronalen Vorgängen in einem einzigen Cortex, die immer wieder nützlich ist und neue Erkenntnisse bringt, legt das nahe. Die Schnelligkeit der Entwicklung der Zivilisation in geologischem Zeitmaßstab entspricht der Schnelligkeit der Entwicklung eines epileptischen Anfalls. Die ausufernde Macht durch die technologischen Resourcen einer Zivilisation entspricht dem kippenden Gleichgewicht von bestimmten Neurotransmittern. Die kurzzeitig nicht mehr wirksamen Stabilisierungsmechanismen entsprechen sich auch einander: In einer Zivilisation ist das die Überwindung des materiellen Mangels, in einem Cortex der Gleichgewichtszustand zwischen allen Neurotransmittern. Das alles führt zu Chaos. Bei der Epilepsie ist das der große Krampfanfall, für eine Zivilisation sind das Kriege, Umweltzerstörung und ausufernde Überbevölkerung.

Man kommt immer zu demselben Ergebnis, mit und ohne solche Analogieschlüsse. Eine Zivilisation trägt nicht nur den Keim ihrer eigenen Auslöschung in sich, sondern sogar noch die Möglichkeit einer weitergehenden Zerstörung des eigenen Lebensraumes.

Wenn das alles so ist, dann ist der Geist ein lebensfeindliches Konzept. Ich mag diese Idee nicht. Aber die prinzipielle Möglichkeit besteht.

Vielleicht, denke ich, bekommen wir doch noch ein paar Antworten, solange wir hier sind. Jedenfalls muß man alles mal überdenken. Beruhigt und aufgeregt zugleich und dazu tief erschöpft schlafe ich irgendwann ein.

81.2 Die fremden Schiffe

Es ist schon deutlich nach 11 Uhr, als wir aufwachen. Wir genießen die Muße, mit der hier alles geschieht, und lassen uns mit dem Aufstehen Zeit. Allerdings muß ich ein paarmal ein paar böse Worte zu den Kindern sagen, die nicht müde werden, zu uns hineinzusehen. Es hilft nicht viel - der Fremde, der sich aufregt, weil man ihn ansieht, ist deshalb um so interessanter. Erst recht, als er Schimpfworte in einer den Kindern unbekannten Sprache nachschiebt. Irene findet das ganz lustig, also entweder die Kinder oder mich, und so stehe ich entnervt auf.

Heute dauert das geruhsame Dorfleben nicht lang. Um 14 Uhr taucht eine Gruppe von drei Männern und drei Frauen auf. Sofort ist Unruhe im Dorf. Wir spüren sofort: Da ist etwas passiert.

Unter diesen sechs ist Rhogom, den man uns gegenüber schon erwähnt hat. Rhogom ist vielleicht 50, von untersetzter, athletischer Statur, grauhaarig und graubärtig, und er scheint eine Art Bürgermeister in Rubald zu sein, was allerdings in der Praxis kaum etwas bedeutet - Wahrscheinlich ist er die letzte Entscheidungsinstanz bei streitigen Fragen und derjenige, der zu den meisten Bewohnern des Dorfes am meisten Kommunikation pflegt. Wir stehen uns kurz nach dessen Ankunft gegenüber, und ich erfahre, daß Rhogom mit einem minimalen Aufwand an Fragen das über uns erfährt, was für ihn jetzt zu wissen notwendig ist. Außerdem hat er selbst die interessanteren Neuigkeiten:

Am Horizont sind Schiffe aufgetaucht!

Diese Schiffe haben, so erfahren wir, Kurs auf diese Insel genommen. Sie sind zwar noch weit weg, aber inzwischen sind Rhogom und die fünf anderen ja auch schon eine Weile unterwegs, um zurück in dieses Dorf zu gelangen. Von hier aus kann man die Schiffe nicht sehen. Sie kommen aus einer anderen Richtung als der, aus der wir gekommen sind.

"Sind es drei Schiffe?" frage ich. Ich denke da an Osont's Flotte. Aber das ist ja eigentlich unmöglich. Wie sollte der wissen, in welcher Richtung er uns folgen sollte?

"Es sind zehn. Drei kleine vorneweg, und sieben größere, die die drei kleineren zu jagen scheinen. So sieht es jedenfalls aus." erklärt Rhogom.

"Oh." Mehr fällt mir dazu nicht ein. "Was ist sonst noch zu erkennen?"

"Auf die Entfernung nichts besonderes. Außer, daß sie quer zum Wind fahren. Das ist doch eigentlich unmöglich!"

Jetzt muß ich mal nachdenken. Nach Rhogom's Beschreibung kommen die Schiffe aus dem Osten. Der Wind weht aber immer noch nach Norden. Sie müssen also über Kielschwerter oder etwas ähnliches verfügen. Oder die Windrichtung weit draußen auf See ist inzwischen eine andere, was ich aber für unwahrscheinlich halte.

Ich habe zwar die Kielschwerter auf Osont's Schiffen mehrfach angesprochen und vorbereitet, aber wir haben die Kielschwerter ja nie gebaut. Hat Osont, nachdem ich sie verlassen habe, diese Arbeiten doch noch in die Wege geleitet? Und warum?

Es wäre immer noch plausibel, daß es so ist. Aber wieso haben die verfolgenden Schiffe ebenfalls solche Einrichtungen? Die Granitbeißer kennen das doch nicht? Sollten sie in der kurzen Zeit etwas gelernt haben? Vielleicht, nachdem Osont's Flotte bis in die Nähe von Grom vorgestoßen und dort auf unerwarteten Widerstand gestoßen ist? Vielleicht hat man auf den Granitbeißerschiffen sehr schnell die richtige Idee gehabt, als sie gesehen haben, daß diese drei Freibeuterschiffe in eine ganz unerwartete und eigentlich unmögliche Richtung fliehen? Vielleicht hat man da sehr schnell etwas improvisiert? Und das, was man improvisiert hat, waren eben Kielschwerter. - Ich denke an Charmion: Die Intelligenz für solche Geistesblitze ist sicherlich so ab und zu bei den Granitbeißerinnen vorhanden.

Aber es ist eigentlich für diese Vorgänge bis jetzt nicht genügend Zeit gewesen. Vielleicht liege ich auch ganz falsch: Ich nehme an, daß es sich bei den drei Schiffen vorneweg, die nach Rhogom's Aussagen von den anderen sieben gejagt werden, um Osont's Schiffe handelt. Das muß ja nicht sein.

"Hast du den Eindruck, daß die Verfolger aufholen?" frage ich.

"Ja. Aber nicht, bevor sie diese Insel erreichen."

"Aha. Dann könnte es sein, daß die Verfolgten, wer immer es ist, sich hier in Sicherheit bringen wollen."

Und das würde die Lage auf dieser Insel etwas kompliziert machen. Zwar halten sich höchstwahrscheinlich ehemalige Besatzungsmitglieder des Saurierfängers hier auf, aber das hat bis jetzt noch keine konkreten Auswirkungen auf uns gehabt. Aber wenn zwei Gruppen diese Insel ansteuern, von denen die eine aus irgendeinem Grunde die andere verfolgt, dann könnte das Probleme aufwerfen.

"Wie groß sind denn diese Schiffe?" versuche ich, herauszukriegen. Wenn ich Rhogom's Erklärungen richtig interpretiere, dann sind die Verfolger Schiffe von der Größenordnung des Saurierfängers, und bei den Verfolgten könnte es sich durchaus um Osont's kleine Rest-Flotte handeln.

"Das sind ziemlich viele Menschen." stelle ich fest.

"Du kennst sie also?" fragt Rhogom besorgt.

"Nicht unbedingt. Und wenn, dann nur die drei vorderen Schiffe. Auf jeden Fall bin ich beunruhigt."

Rhogom nickt. Er ist noch mehr beunruhigt. Er denkt an die vielen Menschen in den Dörfern der Sachinor. Es sind ja seine Leute.

"Werdet ihr euch wieder in den höher gelegenen Dörfern verstecken? Ich habe erfahren, daß ihr das auch getan habt, als wir uns dieser Insel näherten!"

"Ihr wart nur ein Schiff. Und ihr habt euch sehr unentschlossen verhalten. Da kommen aber zehn. Und die kommen nicht in Frieden - sieht jedenfalls nicht so aus. Das macht schon einen Unterschied. Da müssen wir ganz besonders vorsichtig sein."

Es entsteht sehr rasch ein Konsensus, daß die Bewohner aller tiefgelegenen Dörfer - das sind ja nur ein paar - sich wieder vorsichtshalber in Sicherheit bringen sollten. Zusätzlich diskutiert Rhogom weitere Maßnahmen, etwa das Unkenntlich-Machen von Wegen und dergleichen. Ich begreife, daß da eine Stärke der Seilwege, die zwischen den Bäumen aufgespannt worden sind, liegen könnte: Ein paar Messerschnitte, und so ein Weg ist auf hundert Meter spurlos verschwunden - als ob es ihn nie gegeben hätte. Gerade denke ich daran, daß ich Rhogom darauf hinweisen sollte, halte mich dann aber zurück. Bloß den Sachinor keine für sie selbstverständlichen Tricks verraten! Da würde ich mich lächerlich machen. Wahrscheinlich.

Aber ich bringe das Thema dann wieder auf unser eigenes Anliegen. Der Weg nach oben. Rhogom hört mir aufmerksam zu. Interessant: Wenn er die Existenz einer Welt hoch über den Welthöhlen für unmöglich hält, dann läßt er mich es jetzt nicht merken. Er kommentiert diesen Punkt, der für ihn doch sehr erstaunlich sein müßte, in keinster Weise. Überhaupt müßte er als intelligenter Mann, der er offenbar ist, noch eine Menge Fragen an uns und über uns haben. Aber jetzt ist nicht die Zeit dazu, und er weiß das.

"Ja," sagt er, "es gibt eine Braune Quelle. Salzig ist sie nicht. Es ist merkwürdig, daß du davon weißt - nicht einmal hier wissen alle davon, weil es eigentlich nicht interessant ist. - Du mußt weit gereist sein!"

"Und die Quelle ist hier, auf dieser Insel?"

"Nein. Sie kommt nicht bis hier runter. Da!" Er zeigt nach oben, "Da, wo diese Säule sich teilt, in der Gabel, liegt ein Urwald in ewigem Nebel. Von einer der Seitensäulen kommt ein solches braunes Wasser herunter, aber es verliert sich in jenem Urwald. Es kommt nicht hier unten an."

"Und woher weißt du das?" frage ich, vorsichtig, um auf jeden Fall keinen Unglauben anzudeuten.

"Es gibt einen Weg nach da oben. Einen sehr gefährlichen Weg. Es ist schon lange her, daß ihn jemand gegangen ist."

"Einer von eurem Volk?"

Rhogom zögert: "Das weiß ich nicht. Es war, bevor ich denken konnte."

"Und du kennst den Weg?"

"Ich kenne den Einstieg. Weiter bin ich nie gekommen. Wozu hätte ich das tun sollen?"

"Kannst du uns hinführen? Oder hinführen lassen?"

Rhogom sieht mich lange an. Auch die anderen schweigen.

"Du willst uns wieder verlassen?"

"Ich muß."

"Warum?"

"Ich bin nicht von dieser Welt. Ich kann hier nicht leben!"

"Aber du lebst doch jetzt auch hier!"

"Weil ich - weil wir" ich nehme Irene in meine Arme, "in Hoffnung leben. In der Hoffnung, unsere eigene Welt einmal wieder erreichen zu können. Da ist unser Zuhause. Da sind unsere Leute!"

Rhogom sieht sich um. Wortlose Beratung der Umstehenden.

"Wir kennen euch nicht. Und wir kennen euch doch. Ihr seid nicht wie die 'Bösen Frauen'. Ihr flieht vor ihnen, und deshalb seid ihr unsere Freunde. Wenn ihr es wolltet, dann könntet ihr in unserer Mitte leben. Für immer. - Aber ich sehe, ihr müßt fort. Es ist euer Wille. Deshalb werden wir euch helfen, soweit wir können. Wir werden jetzt selber die hochgelegenen Dörfer aufsuchen. Ihr kommt mit. Von da an geht es für euch dann weiter."

"Danke, Rhogom!" sage ich. Weil mir nicht mehr als das einfällt. Irene zittert in meinen Armen. Sollte ich mit ihr über das Angebot, das Rhogom uns gemacht hat, nämlich hierzubleiben, noch einmal sprechen?

81.3 Taktischer Rückzug

Zwei Bewohner des Dorfes, junge Burschen, machen sich im Laufschritt auf den Weg, um die benachbarten Dörfer zu erreichen. Schließlich muß sichergestellt werden, daß man überall koordiniert handelt. Nur ein einziges Dorf, das nicht evakuiert wird, könnte einen lebendigen Wegweiser zu den anderen Dörfern bilden. Das darf nicht sein. Die Dörfer hier unten, selbst, wenn sie von Fremden gefunden werden sollten, müssen einen seit langem verlassenen Eindruck machen.

Das wird sofort in die Wege geleitet. Und nicht nur das. Schon nach Minuten bricht eine Gruppe von Männern auf, die die wenigen Alten und Kranken und einige Kinder des Dorfes auf den weniger gefährlichen Wegen in die höheren Dörfer bringen soll. Sie brauchen schließlich die meiste Zeit dazu.

Irene und ich setzen unsere Rucksäcke auf und beteiligen uns an der 'Zerstörung' des Dorfes. Es muß viel getan werden.

Feuerstellen werden gelöscht, die Asche und die Kohle wird teilweise fein verteilt in den Urwald geworfen. Dann wird Sand und Dreck über die Feuerstellen geworfen, das ganze wird zertreten und zerstreut. Ebenso wird das Innere der meisten Hütten behandelt. Schlaflager dürfen nicht mehr als solche erkennbar sein. Hüttenwände werden teilweise eingerissen - aber so, daß die Schäden leicht und schnell wieder behebbar sind. Trotzdem machen diese Hütten dadurch sehr rasch einen seit langem verlassenen Eindruck.

Ganvoch hat alles von seiner ruhigen, überlegten Art abgeworfen. Er handelt wohl immer noch überlegt, aber schnell und mit Einfallsreichtum. Er ist es, der auf die Idee kommt, auf den Gassen zwischen den Hütten und in den Eingängen der Hütten rasch einige Kräuter an unregelmäßig ausgesuchten Stellen anzupflanzen. Andere Männer haben das Dorf verlassen, um die Wege weiter unten ebenso zu behandeln, zum Beispiel den Weg zu der Hafenbucht, auf dem wir von dem kleinen Mädchen zu diesem Dorf gebracht wurden.

Hinten, in dem Wald zwischen den zusammenrückenden Felsen, ist eine längliche Grube mit einem Sitzbalken davor. Man kann diese Grube riechen, wenn man in ihre Nähe kommt, und diese Balkenkonstruktion ist in vielen Armeen der Welt als 'Donnerbalken' bekannt. Klar, in einem Dorf dieser Größe kann nicht mehr jeder, wo es ihm beliebt, seine Notdurft im Wald irgendwo in der Nähe des Dorfes verrichten. Da muß man sich schon auf eine Stelle zum Scheißen einigen. Genau diese Stelle läßt aber deutlich erkennen, daß dieses Dorf noch vor kurzem bewohnt wurde. Also muß auch diese Grube zugeschüttet und unkenntlich gemacht werden, und der blankgewetzte Balken wird in tiefen Buschwerk am Fuße eines Felsens verborgen.

Zerbrochene irdene Töpfe werden malerisch am Dorfrand und auf den Gassen verteilt und teilweise mit Sand überschüttet. Alles andere an Hab und Gut - viel ist es ja nicht, was die Sachinor haben - wird gebündelt und gepackt.

Soviel habe ich, seit wir in dieser Welt sind, noch nie körperlich gearbeitet. Ich bin naß vor Schweiß. Nicht feucht, nein, naß. Wenn diese Leute uns helfen, denke ich, dann müssen wir ihnen auch etwas zur Hand gehen. Die Sachinor haben nur diese eine Insel. Es ist wichtig für sie, daß die Fremdlinge auf den Schiffen nicht hierbleiben. Und das läßt sich am besten dadurch erreichen, daß es für niemanden etwas auf der Insel zu holen gibt. Daß es nicht einmal so aussieht, als ob es etwas zu holen geben könnte.

81.4 Chreich

Es ist 21 Uhr. Eine Gruppe von drei Männern aus einem anderen Dorf taucht auf. In ihrer Begleitung ist eine Frau von vielleicht 30 Jahren in der Ledertracht der Granitbeißer. Sie ist entwaffnet worden. Einer der Männer hat eine böse, notdürftig verbundene Verletzung auf dem Oberarm.

Sie bringen die Frau sofort zu mir. Natürlich ist sie von meiner Besatzung, aber ich kenne nicht einmal ihren Namen. Sie gibt sich immer noch besonders hochmütig - na klar, es ist völlig unter ihrer Würde, von Männern gefangengenommen zu werden. Aber auf dem Saurierfänger wurde sie in letzter Zeit ja auch von einem Mann kommandiert, und daran erinnert sie sich, als sie mich sieht. Sie scheint überrascht.

"Wie heißt du?" frage ich, "Wie hast du den Sturm überlebt?" Ich bemühe mich um einen strengen Tonfall, damit sie gleich weiß, woran sie ist.

Es ist Chreich. Ich habe den Namen schon gehört, sie ist mir aber nie besonders aufgefallen. Nicht einmal wegen ihrer für eine Granitbeißerin ungewöhnlich hellen Haare - wahrscheinlich ist sie sogar blond, wenn sie auf die Idee käme, sie einmal zu waschen.

Sie hat einen ähnlichen Aufgabenbereich gehabt wie Chrejene, bevor ich sie beförderte. Während des Sturmes ist sie frühzeitig von Bord gespült worden. Die elektrischen Schocks naher Blitzeinschläge hat sie zwar gespürt, so gespürt, daß sie zeitweise wie gelähmt war und zu ertrinken drohte. Trotzdem hat sie es gerade noch geschafft, an Land zu schwimmen. Eine Zeitlang hat sie sich im Urwald an der Küste am Leben erhalten. Irgendwann hat sie die rauchenden, auseinandertreibenden Reste des Wracks gesehen und festgestellt, daß sie wahrscheinlich die einzige Überlebende des Sturmes ist. Von unserer Floßfahrt vom Wrack zu der Anlegebucht hat sie nichts mitgekriegt, und es ist ihr auch völlig entgangen, daß diese Insel bewohnt ist.

"Hast du dein Schwert verloren?" frage ich.

"Nein. Mir wurde es eben von diesen Leuten da abgenommen!"

Ich erfahre, daß sie ganz plötzlich und unerwartet auf einen der Pfade im Urwald stieß. Wenig später kamen ihr drei Läufer entgegen, die auf den Weg in dieses Dorf waren. Diese muß sie wohl etwas undiplomatisch angesprochen haben. Jedenfalls ist es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Chreich meinte wohl, leicht mit diesen drei unbewaffneten Männern fertig zu werden. Allerdings war sie sehr erschöpft, und so hat sie nur einen erfolgreichen Schlag führen können. Danach wurde ihr das Schwert aus der Hand gedreht.

Rhogom hat sich zu uns gestellt und hört uns schweigend zu. Auch er weiß: Wenn Chreich ihr Schwert noch hat, dann muß mindestens noch eine weitere Frau der Besatzung des Saurierfängers auf der Insel sein. Ich winke ihn zur Seite.

"Rhogom," sage ich, so leise, das Chreich es nicht hören kann, "es tut mir leid. Aber diese Frauen haben andere Loyalitätsvorstellungen. Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Insbesondere, wenn sie erfahren, daß die Schiffe, die diese Insel ansteuern, von Grom sein könnten. Sie werden alles dranlegen, auf diese Schiffe zu gelangen. Und dann ist euer Plan mit dem Exodus in die hochgelegenen Dörfer Makulatur."

"Du meinst, wir müßten sie gefangennehmen?" fragt Rhogom beunruhigt.

"Diese, und die andere, die sich noch irgendwo herumtreiben muß. Und das ist sehr schlecht. Das heißt nämlich, daß dauernd jemand auf sie aufpassen muß. Und auf die andere, wenn wir sie finden. Was besser wäre."

"Wir können sie nicht suchen!" sagt Rhogom, "Wer soll das tun? Jeder hat jetzt wichtigeres zu tun!"

Wir sehen uns an. Wir haben beide den gleichen Gedanken. Aus verschiedenen Gründen wollen wir dem aber nicht weiter nachgehen. Die Sachinor töten Menschen nicht unnötigerweise, weil es sich überhaupt nicht mit ihrer Art und mit ihrer Ethik verträgt, und ich habe gegen diese Lösung auch einen Widerwillen - trotz allem, was passiert ist. Und dazu kommt, daß ich als ehemaliger Kommandant gewissermaßen eine Fürsorgepflicht gegenüber meiner ehemaligen Besatzung habe - auch wenn ich dieser bis jetzt nicht in überragendem Maße nachgekommen bin.

"Können wir sie einsperren?" frage ich und weiß doch schon die Antwort. Die Sachinor haben keine festen Gebäude, die für so etwas geeignet sind. "Jedenfalls so lange, wie die Fremden von den Schiffen auf der Insel sind. Wenn sie überhaupt die Insel betreten."

"Das werden sie," sagt Rhogom, "warum sollten sie sonst so zielstrebig hierherfahren?"

Er denkt kurz nach: "Ich muß sie ständig bewachen lassen. Von einigen jungen, kräftigen Männern!"

"Nein, Rhogom! Stell dir das nicht zu einfach vor! Diese Granitbeißerinnen, oder die 'Bösen Frauen', wie ihr sie nennt, lernen schon als Kind Kampftechniken! Glaub mir, ich habe gesehen, wie eine einzige Frau einen großen Fischsaurier angriff und fertigmachte!"

"Ja?"

"Ja! Die sind so. Was vielleicht machbar ist, ist, sie ständig gefesselt zu halten. Aber wir müssen sie ja von hier wegbringen. Sie muß auch in die hochgelegenen Dörfer. Und da kann man nicht gefesselt raufklettern. Und niemand wird sie tragen wollen. Und sie sollte nichts von den ankommenden Schiffen erfahren, wenn sie es nicht schon weiß."

"Ich glaube, der Transport nach oben, das wäre nicht das Problem," sagt Rhogom, "da brauchen wir sie nicht zu fesseln. Wenn sie da ausreißt, dann verirrt sie sich. Dann stürzt sie irgendwann ab. Außerdem geben wir ihr irgend etwas Schweres, aber Unwichtiges zu tragen. Wenn sie dann in einer größeren Gruppe geht, dann sollte es möglich sein. Und nachher wird sie wieder in Fesseln gelegt."

"Meinst du tatsächlich?"

"Ja."

"Okay. So machen wir's. Aber wir müssen die Augen aufhalten, Rhogom!"

"Was mir mehr Sorgen macht, ist, wie wir sie auf Dauer behandeln!"

"Ich glaube, sie wird kaum Ärger machen, wenn die fremden Schiffe erst wieder weg sind. Oder wenn sie nie davon erfährt."

"Ich wünschte, es wäre so."

"Kann sie nicht hierbleiben? So, wie ihr es uns angeboten habt?"

"Eine von den Bösen Frauen?" Rhogom sieht mich an, als ob ich ihm einen abartigen Antrag gemacht hätte. Das war es wahrscheinlich auch.

"Ich habe nicht nachgedacht. Entschuldige. - Vielleicht kann man ihr ein Floß geben, und sie soll sich nach Grom durchschlagen!"

"Und aller Welt verraten, daß wir hier leben!"

"Ich habe schon wieder nicht nachgedacht."

"Wir müssen es ja nicht gleich entscheiden." sagt Rhogom, "Warten wir erst einmal ab, was uns die nähere Zukunft bringt."

Wir gehen wieder zu Chreich, die versucht hat, aus einigen Dutzend Metern Entfernung unserem Gespräch zu folgen. Es ist ihr nicht gelungen. Aber sie hat nicht versucht, wegzulaufen.

Ich befrage sie noch weiter. Von den Schiffen weiß sie noch nichts. Deshalb werde ich nacheinander alle anderen instruieren, damit niemand sich verplappert. Reiner Zufall, daß das bis jetzt noch nicht geschehen ist. Aber was, wenn Chreich aus den Vorbereitungen der Evakuierung schließt, daß etwas Ungewöhnliches im Gange ist? Sie muß es bemerken, denn sie hat ja Augen im Kopf.

Es wird jetzt gleich eine Trägergruppe gebildet, mit der Chreich das Dorf Rubald verlassen soll. Irene und ich sollen schon dabei sein. Rhogom wird später nachkommen, wenn in den tiefgelegenen Dörfern alles bereit ist. Aber Ganvoch ist dabei, und der junge Mann mit der Schwertverletzung im Oberarm. Senegan heißt er, und er darf jetzt das Schwert, das ihn verletzte, tragen und behalten. Das ist eine gute Lösung: So friedlich, wie die Sachinor sind, so sauer können sie auch sein. Senegan wird seinen wenigstens zeitweise unbrauchbar gemachten Oberarm rächen wollen. Chreich tut besser daran, ihm keine Gelegenheit dazu zu geben.

Wir bekommen noch zusätzliches Material zu tragen, außer Irene, die mit ihrem Rucksack bei Bergwanderungen schon voll ausgelastet ist. Aber ich kriege ein Seil, das ich irgendwie über der Schulter tragen muß. Wir werden es noch brauchen, sagt Ganvoch. Später. - Das kann ja heiter werden.

Unsere Gruppe verläßt das Dorf Rubald um 23 Uhr. Wir verabschieden uns herzlich von Rhogom, obwohl es sicher ist, daß wir uns bald wiedersehen werden.

Kurz bevor wir losgehen, packe ich noch einmal unter den kritischen Blicken von Rhogom und Ganvoch den Höhenmesser aus, um ihn abzulesen. 1800 Meter zeigt er an, das sind also 10200 Meter Tiefe. Oder 300 Meter über dem Meeresspiegel der Welthöhle.

"Was ist das?" fragt Ganvoch verwundert.

"Es zeigt die Höhe an, in der man sich befindet!"

Ich zeige ihm den Zeiger. Später, erkläre ich, wenn wir höher sind, werde ich ihm das Ding noch einmal zeigen, er soll sich also die Stellung des Zeigers merken. Mit der Beschriftung kann er ja nichts anfangen. Ich habe auch den Eindruck, daß er mir nicht glaubt. Oder er sieht nicht den Nutzen eines solchen Gerätes ein, so wie auch Ochaum meinte, daß eine genaue Uhr nichts wäre, was man unbedingt braucht. Deshalb packe ich das Gerät wieder ein.

Auf geht's. Zunächst geht es den Weg entlang, den wir schon kennen: Den abenteuerlichen Weg nach Omcald.

"Es ist doch das letzte Mal!" sage ich zu Irene, die das gar nicht angenehm findet.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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