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******** 080. Tag: Montag 95-11-06 ********

80.1 Die Sachinor

8 Uhr. Langsam baut sich wieder ein gewisser Geräuschpegel aus Reden und Schritten auf. Irdene Geschirre scheppern, irgendwo wird ein Feuer wieder angefacht. Kinder schreien, laufen durch die Gassen zwischen den Hütten, bewerfen sich mit Dreck. Das Dorf erwacht ohne Hektik. Wir auch. Aber gleich aufstehen ist nicht notwendig. Nichts jagt einen hier. Ganvoch hat gestern ja auch tagsüber geschlafen, als wir kamen. Das ist also nicht ehrenrührig und hier üblich. Völlig anders als das organisierte Leben an Bord des Saurierfängers.

Wir können aus unserem Verschlag gut nach draußen sehen, ohne uns zu erheben. Von draußen sind wir aber genauso gut sichtbar. Immer wieder tauchen Kindergesichter auf, sehen zu uns herein, kichern und laufen wieder weg. Bald darauf fangen die mutigsten an, uns Fratzen zu schneiden. Das fällt mir auf den Wecker. Aber andererseits verbreiten gerade diese Kinder eine Atmosphäre von Normalität und Sicherheit. In diesem Ort, bei diesen Menschen, kann man sich geborgen fühlen, obwohl - oder vielleicht auch weil - sie über keine militärischen Fertigkeiten verfügen und offenbar keinerlei solche Ambitionen haben.

Wie wohl Charmion hierher gepaßt hätte? Sie wäre ganz anders geworden, wenn sie hier aufgewachsen wäre. Ich kann es mir kaum vorstellen. - Ich will es aber auch nicht. Der bloße Gedanke an Charmion schmerzt noch immer. Und trotzdem kommt er immer wieder, zu unerwarteten Zeitpunkten, an die Oberfläche des Bewußtseins, der Gedanke: Du hast sie draufgehen lassen. Du hast nichts getan, um sie zu retten.

"Komm, stehen wir auf, mal sehen, was es Neues gibt. Außerdem habe ich Hunger!" sage ich zu Irene. Hintergedanke: Aktivität kann den Gedanken an Charmion verdrängen.

Die nächsten Stunden verbringen wir damit, das Leben im Dorfe kennenzulernen und mit weiteren Dorfbewohnern zu reden. Das bringt nicht viel Überraschungen, sondern bestätigt den Eindruck, den wir schon gestern hatten.

Die Sachinor sind, scheint es, ein friedliches Volk. Sie leben in einigen, wenigen Dörfern auf dieser Insel und haben keinerlei Verbindungen nach außen. Sie wissen, daß es woanders Menschen gibt - wie zum Beispiel die von ihnen gefürchteten 'Bösen Frauen' - aber offenbar hat man 'draußen' vergessen, daß sie hier leben, und ihre abgeschiedene Lage bewahrt sie vor Entdeckung.

Wie sie auf die Insel gekommen sind bleibt im Dunkeln. Aus den widersprüchlichen Informationen darüber schließe ich, daß sie vor vielen Generationen hier gestrandet sind. Sie waren auf der Flucht, aber vor wem und weshalb und womit, das ist auch nicht so restlos klar.

Immer noch erwarten sie Unheil von See her - deshalb auch die Taktik des Verbergens, als der Saurierfänger näherkam. Aber diese Erwartung ist bereits ein Gemisch von Erfahrungen in ferner Vergangenheit und legendenartiger Überlieferung. Immerhin reicht dieses Unbehagen vor der offenen See aus, daß sie kaum Bootsbau und Fischerei entwickelt haben, obwohl die Wetterbedingungen fast immer moderat sind - der Sturm war ja sehr untypisch - und obwohl küstennahe Orte wahrscheinlich doch leichter mit dem Boot zu verbinden sind als zu Fuß. Immerhin, in allem, was sie erzählen, glaube ich, eine latente Furcht vor dem Entdecktwerden durch Fremde zu bemerken, eine Furcht vor der fernen Außenwelt und ein Vertrauen auf die abgeschiedene Lage dieser Insel.

Sie halten sich einem potentiellen Angreifer unterlegen und sind es wohl auch. Das, was sie an Waffen haben, ist bescheiden. Sie kennen Pfeil und Bogen, und diese Schußwaffe ist denen der Granitbeißerinnen ebenbürtig. Aber Schwerter verwenden sie nicht, jedenfalls nicht als Waffe, sondern eher als Haumesser. Messer sind eher nur für Haushaltszwecke in Gebrauch. Woher diese Gegenstände kommen ist auch nicht restlos klar, da sie die Schmiedekunst nicht kennen. Gelegentliche Handelskontakte? Sie haben auch Äxte, aber das sind durchweg Steinäxte. Und am allerhäufigsten sind Schneidgegenstände aus hartem Holz in Gebrauch. Für die Lebensmittelzubereitung reicht das auch. Diese nutzen sich zwar rascher ab, können aber schnell wieder neu hergestellt werden. Der Rohstoff dazu, ein sehr hartes Holz, ist überall auf der Insel zu finden, wenn man die Flora dieser Insel gut kennt. Und das tun alle Sachinor.

Ihre Nahrung ist fast ausschließlich vegetarisch. Allerdings bauen sie nicht im Sinne einer Landwirtschaft irgend etwas an. Es ist einfach so, daß sie die Früchte und Pflanzen des Urwaldes wesentlich besser kennen als die Granitbeißer. Auf diese Weise finden sie genug. Man müßte die Sachinor also als 'Sammler' bezeichnen, oder auch als 'systematische Sammler'. Diese Art der Nahrungsgewinnung reicht auch völlig aus, ihre geringe Zahl zu ernähren.

Eine Folge dieser Sammeltätigkeit ist ein Netz von Pfaden, das sich über Teile der Insel zieht, von Dorf zu Dorf, und in alle Täler und Hänge hinein, die überhaupt erreichbar sind. Diese Pfade sind so unauffällig wie die, auf denen wir gekommen sind, und von See her sind sie nicht zu sehen. Sie müssen natürlich freigehalten werden, was einen gewissen Aufwand erfordert. Und wenn ich es richtig verstehe, gibt es dort sogar eine 'Privateigentum'-Konvention: Wer sich einen Pfad neu baut, oder einen vorhandenen freihält, der darf dort auch zu allererst Früchte sammeln. Ein einfaches Rechtssystem, das zu funktionieren scheint und von niemandem in Frage gestellt wird.

Die Rollenverteilung der Geschlechter ist vorhanden, aber nicht so stark ausgeprägt, wie ich es zuerst vermutet habe. Die Männer sammeln, bauen Pfade, machen Werkzeuge, errichten und reparieren Hütten und beschaffen dafür Rohmaterial, die Frauen kümmern sich um Kinder, Haushalt und Essenszubereitung, flechten Seile und warten das Feuer in der Hütte. Aber umgekehrt geht es auch, und es kommt oft vor. So verschaffen die Sachinor sich ihr Maß an Abwechslung. Dann haben sie noch ihre Geschichten, die sie sich in der vielen freien Zeit, über die sie verfügen, erzählen, und die wir nun durch unsere Erzählungen mit Sicherheit bereichern. Außerdem bemühen sich die jungen Männer des Dorfes, wie wir bald schon bemerken, in rührenden Imponierspielen um die Mädchen. Da heißt es dann: Wer kann am höchsten auf einen Baum oder in eine Felswand klettern. Die Schwindelfreiheit haben die Sachinor offenbar mit den Granitbeißerinnen gemeinsam. Und auch auf dieser Insel muß man häufig genug schwindelfrei und klettergewandt sein.

Überhaupt die freie Zeit. Das ist ein sehr interessanter Punkt, denn die Sachinor haben sehr viel davon. Wir überheblichen Technophilen stellen uns ja vor, daß immer mehr Technologie uns zu immer mehr Produktionseffektivität führt und auf diese Weise die Arbeitszeit einem weltweitem Trend zur Verkürzung unterliegt. Was wir uns da schon auf die erreichte 35-Stunden-Woche einbilden! Die Sachinor aber, wenn ich es richtig beobachte und richtig hochrechne, müssen in einer Woche nicht mehr als 15 bis 20 Stunden irgendwelchen Tätigkeiten nachgehen, die zum Überleben unbedingt notwendig sind, also um sich mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu versorgen. Und das ohne jede nennenswerte Technik!

Ja, wenn ich mich richtig erinnere, haben unsere Archäologen bereits herausgefunden, daß manche Menschengruppen, die vor dreißigtausend Jahren gelebt haben, einen ähnlichen Lebensrythmus hatten. Gewisse Höhlenmalereien in Lascaux wären nie anders entstanden, wenn das nicht der Fall gewesen wäre. Das ist offenbar in der freien Natur möglich, wenn da nicht äußere Randbedingungen wesentlich mehr Aktivität erzwingen, wie etwa Klimaverschlechterungen oder hohe Bevölkerungsdichte, die beide die Resourcensituation ins Katastrophale verschieben können. Oder auch, wenn politische Konfigurationen dem Individuum die freie Zeit rauben, wie es etwa bei den Granitbeißern der Fall ist - die Granitbeißer leben schließlich in derselben Welt wie die Sachinor, aber ich hatte nicht den Eindruck, daß sie über freie Zeit verfügen. Jedenfalls nicht auf dem Saurierfänger. Wie das in Grom aussieht, weiß ich ja nicht.

Jedenfalls, was die individuelle Zeitsouveränität betrifft, brauchen wir uns auf unsere Zivilisation da oben nichts einzubilden.

Religiöse Vorstellungen gibt es kaum, oder nur in ihren Geschichten, von denen wir in der kurzen Zeit ja nur wenige zu hören bekommen. Jedenfalls zitieren sie aus Geschichten, wenn man Fragen stellt wie etwa, was in den höheren Lagen der Welthöhle sei, also über den Leuchtenden Wolken, und sie wissen auch etwas über die Toten Städte, die dort oben sein sollen. Allerdings kennen sie keine einzige konkret. Für Historiker und Archäologen wäre diese Welt und auch dieses Volk ein faszinierendes Betätigungsfeld!

Ich überlege mir, wie die Sachinor wohl ihre Anzahl halten und nicht in die Falle der lokalen Überbevölkerung hineinlaufen. Bei den Granitbeißern war es ja klar. Ihr Hang zur Gewalt und zum Kampf, verbunden mit ihrem tätigen Kannibalismus, reicht aus, ihre Anzahl nicht weiter wachsen zu lassen. Aber wie geschieht das bei den Sachinor? Könnte es sein, daß sie in einer zahlenmäßigen Wachstumsphase sind und die dadurch bedingten Probleme noch nicht erkennen, weil diese Inseln bis jetzt nur zu einem kleinen Teil von ihnen bewohnt ist? - Ich finde es nicht heraus. Auf direkte Fragen erfahre ich, daß hier schon immer genausoviele Menschen gelebt haben sollen wie das jetzt der Fall ist. Das kann ich zwar kaum glauben, aber mehr kann ich erst einmal nicht in Erfahrung bringen.

Irene spielt mit den sieben oder acht Kindern dieses Dorfes. Fast selbstvergessen. Wahrscheinlich vergißt sie dabei wirklich, wo sie ist, und wie fraglich unser Wegkommen aus dieser Welthöhle ist. Aber auch ich mache mir diese Gedanken. Wie schon bei den Granitbeißern frage ich mich, wie es wohl wäre, hier zu bleiben, wenn sich kein Weg nach oben finden lassen sollte. Bei diesen Menschen? Gesetzt den Fall, sie würden uns in ihre Dörfer mit aufnehmen, könnten wir uns hier einleben?

Wir wären die Menschen aus einer anderen Welt, und wir würden es immer bleiben. Wir könnten erstaunliche Dinge berichten und diese oder jene technische Erleichterung 'erfinden'. Wir würden in Frieden leben und brauchten nicht um unser Leben zu fürchten. Wir könnten hier alt werden. Wir würden sammeln, Hütten bauen, Wege in den Urwald schlagen und das Feuer hüten, genau wie sie. Und wenn wir alt sind, wird man es für uns tun - in den Hütten sind alte Menschen, die kaum noch für sich selber sorgen können. Für die wird gesorgt. Es ist nicht wie bei den Granitbeißern, die ich ja immer noch im Verdacht habe, daß sie ihre Alten und Kranken einfach umbringen und aufessen.

Irene denkt im Moment wahrscheinlich nicht so konkret darüber nach. Aber auf einer tieferen, emotionalen und unterbewußten Schicht kann sich bei ihr jetzt, in diesem Moment, genau diese Frage vorbereiten. Was soll ich sagen, wenn sie diese Frage gerade an mich stellt?

Wahrscheinlich würde sie, wenn ich mich mit ihr jetzt darüber unterhielte, vermuten, daß ich wieder meiner Lieblingspassion nachgehe und versuche, ein Haar in der Suppe zu finden. Aber ich versuche es ja nicht - ich befürchte nur, daß da eins sein könnte. Wenn das Volk der Sachinor im Moment so eine einladende Alternative zum Bleiben darstellt, dann kann das daran liegen, daß wir irgend etwas übersehen haben. Wir sind ja noch nicht lange hier. Bei den Granitbeißerinnen wissen wir, was ein Leben unter ihnen für uns schwer erträglich und gefährlich macht. Bei den Sachinor kann sich doch unter der human aussehenden sozialen Oberfläche noch irgend etwas Unerwartetes verstecken. Und ich möchte es nicht erst dann herausfinden, wenn wir bereits unwiderrufliche Entscheidungen bezüglich unseres Hierbleibens gemacht haben.

Es kann irgend etwas sein, was der Gast niemals erfährt, was für die Sachinor aber alltäglich ist. Irgend etwas Widerliches, Abartiges, Grausames. Wie zum Beispiel die weibliche Beschneidung. Ich erinnere mich, vor langer Zeit darüber einen Artikel gelesen zu haben: In einigen schwarzafrikanischen, ich glaube auch islamisch geprägten Ländern oder Kulturen ist es üblich, die Mädchen irgendwann durch unsachgemäß ausgeführten und durch keinerlei medizinische Indikationen gestützte Operationen von ihren äußeren Geschlechtsteilen zu befreien. Verstümmelung oder Entfernung der Schamlippen und der Klitoris. Eine Operation, die, wenn man nicht ihren Komplikationen erliegt, sicherstellt, daß die betreffende Frau in ihrem ganzen Leben keinen Spaß mehr am Geschlechtsverkehr haben wird, eher Schmerzen und Entzündungen.

Und das sind keine Einzelfälle. Es heißt, 80 Millionen Frauen sind davon betroffen - weltweit. 80 Millionen! Das ist Folter! 80 Millionen Menschen zu foltern, das wäre ein Kriegsgrund! Aber gegen wen sollte man diesen Krieg führen? - Ja, und das ist meine Befürchtung bei den Sachinor. Genauso, wie ein flüchtiger Besucher bestimmter islamischer oder afrikanischer Staaten von diesen Praktiken nichts erfahren wird, so kann uns bis jetzt irgend etwas entgangen sein, was uns das Leben zur Hölle machen würde, wenn wir hier blieben.

Es muß ja auch gar nicht etwas so Schlimmes sein. Eingesperrt in diesem beschränkten Kulturkreis könnten wir an wesentlich unwichtigeren Dingen verzweifeln. Es könnte uns so ergehen wie manchen Aussteigern aus europäischen Ländern, die sich etwa auf irgendwelche 'romantischen' Südseeinseln zurückgezogen haben. Man hat davon gehört. Nie haben sie sich in die vorhandene eingeborene Bevölkerung integrieren können, da sie ja vermöge ihres Aufwachsens und ihrer Erziehung die europäische Kultur mit sich tragen. Europäer sind sie aber auch nicht mehr so richtig, wenn sie erst einmal ein paar Jahre des Lebens in so einer ganz fremdartigen Umgebung gelebt haben. Sie sitzen zwischen allen Stühlen - heimatlos und wurzellos.

Ganvoch zeigt mir einen Anstieg in einer der Wände, die das Dorf einschließen. Er sagt, es ist ganz leicht, aber für meinen Geschmack sollte man sowas nicht mehr ohne Sicherung machen. Wir erreichen ein Sims über fünfzig Meter über dem Dorf, und von hier aus kann man über die seewärtigen Bäume gut hinaussehen. Ein Viertel des Horizontes ist sichtbar. - Wenn man hier bliebe, würde man dann, von dieser Stelle aus, das Dasein als faktisch Gefangener deutlich und schmerzhaft empfinden? Mit den Booten der Sachinor kann man dieses Meer schon nicht mehr befahren. Schon das wäre nicht mehr erreichbar: die nächsten Säuleninseln zu erreichen. Ein lebensgefährliches, aufwendiges Unterfangen. Und dann erst der Weg nach Hause.

Und dann: bei den Sachinor zu bleiben hieße natürlich auch, sich an das Klettern zu gewöhnen. Überall in der Welthöhle besteht diese Notwendigkeit. Und an die schwüle Hitze. Die ist auch überall. Für den Rest unseres Lebens. Willst du das, Herwig? Willst du das, Irene? Wollt ihr das alles riskieren? Wahrscheinlich sollte ich mit Irene bald darüber reden.

Vorsichtig klettere ich mit Ganvoch's Hilfe wieder herunter. Er bemerkt, wie beim Hinaufklettern, meine Unsicherheit und ist verständnisvoll. Runterklettern ist immer schwieriger, weil man die Tritte und die Griffe nicht gleich findet.

So vergeht der ganze Tag. Der erste Tag in der Welthöhle, der angenehm ist. Der erste Tag, an dem wir uns geborgen und unter Freunden fühlen. Der erste Tag, der uns nicht in irgendeiner Weise droht. Der erste Tag, wo ich mich nicht nur am intensivsten frage, ob wir hierbleiben sollten, sondern an dem ich mir auch mehrfach vorzustellen versuche, wie es wäre, hier aufgewachsen zu sein. - Aber so wäre es für uns ja nicht. Wir wären für immer die Fremden. Aber die akzeptierten Fremden. Und die Fremden, die immer ein Echo ihrer alten, eigentlichen Heimat in sich tragen. - Kann man so leben? Wahrscheinlich. Vielleicht. Hoffentlich.

Als wir wieder im Dorf ankommen, ist Irene im Gespräch mit einer Frau in ihrem Alter. Ich erfahre, daß ihr Name Pachnjeshin ist, und sie fachsimpeln über Kindererziehung. Irene läßt durchblicken, daß ich bei dem Gespräch unerwünscht bin, weil ich nichts davon verstehe. Soll ich daraus schließen, daß Irene etwas davon versteht? Das wäre mir neu. Wir haben keine Kinder.

Frauen und Logik.

80.2 Von Rubald nach Omcald und zurück

Später am Tag besuchen wir mit Ganvoch zusammen ein anderes Dorf. Er muß dort bestimmte Steine holen, die es hier unten nicht gibt, und er lädt uns ein, ihn zu begleiten. Das Dorf, wo wir jetzt schon fast einen Tag gewesen sind, heißt Rubald, und das, wo wir hinwollen, heißt Omcald. Auf dem Weg werden wir durch ein verlassenes Dorf kommen, das Meracald heißt, erklärt Ganvoch. Ich frage, ob alle Dörfer diese Endsilbe haben, aber Ganvoch fallen sofort ein paar Gegenbeispiele ein. Also so einfache Bildungsgesetze für Namen gibt es hier nicht.

Unsere Rucksäcke lassen wir in Rubald zurück. Das ist mir nicht angenehm, aber wenn wir sie mitnähmen, dann sähe es so aus, als ob wir unseren Gastgebern nicht trauen. Außerdem, sagt Ganvoch, brauchen wir sie nicht, und Gepäck würde uns nur behindern. Also gut. Ich entschließe mich, ihm zu vertrauen.

Irene wäre auf dem Exkurs nach Omcald nicht mitgekommen, wenn man ihr vorher erzählt hätte, wieviel wir steigen müssen. Zunächst ging es in einen Waldpfad hinter Rubald hinein, also weg von der See. Beidseits dieses Waldes rücken die Felswände immer weiter zusammen, und aus dem Weg, der 60 Meter lang sehr schön bequem war, wird plötzlich eine Brücke.

Sehr schnell erfahren wir, daß der Begriff 'Pfad' sehr verschiedenartige Fortbewegungshilfen bezeichnen kann. Zunächst besteht der Pfad aus einem Bretterpfad, der mit Querbalken an den Bäumen rechts und links befestigt ist. Ohne jedes Geländer, natürlich. Rasch haben wir etliche Höhenmeter über dem Waldboden erreicht. Offene Wasserflächen blitzen von unten herauf. Aha. Auf diese Weise wird eine sumpfige Stelle überwunden. Denke ich.

So ist es aber wahrscheinlich nicht. Plötzlich ändert sich die Konstruktion. Es gibt ein Geländer - und nur das.

Der Weg ist jetzt sehr einfach konstruiert. Es handelt sich nur noch um straff gespannte Seilschlingen zwischen benachbarten Bäumen. Wenn zwei davon etwa eineinhalb Meter übereinander gespannt sind, dann geht man auf dem unteren Doppelseil und hält sich am oberen Doppelseil fest. Vom nächsten Baum geht es genauso weiter, nur etwas höher.

Die Bäume sind durch diese Konstruktion nicht so besonders stark belastet, da dieser Seilweg durch die Seilspannung sie ja immer in zwei fast entgegengesetzten Richtungen zu biegen versucht. Und wo mal ein scharfer Knick im Weg ist, da sorgen zusätzliche Seile, die zu anderen Bäumen seitab gespannt worden sind, für die nötige Zugentlastung.

Auf diesem Wege erreichen wir ein schräges Felssims, das dreißig Meter über dem Waldboden ist, und das man anders gar nicht erreichen kann. Auf diesem Sims geht es weiter. Es ist unangenehm steil und ausgesetzt.

Wir geraten rasch in Schweiß. Der Weg ist sehr abwechselungsreich, und nur ganz selten das, was wir uns unter dem Begriff 'Pfad' vorstellen. Eine Kaminkletterei - nach Alpinisten-Maßstab wahrscheinlich eine leichte - gehört genauso dazu wie eine Seilbrücke über eine Schlucht, eine Geröllhalde, auf der man überhaupt nicht vernünftig Halt findet wie ein Steilanstieg an einer Wand, die zwar sehr viele gute Tritte bietet, bei denen es sich aber durchweg um nur in Lehm gefaßte Steine handelt, die jederzeit herausbrechen können.

Ganvoch hilft uns, wo er nur kann. Trotzdem muß meine vorherige Einschätzung, daß dieses der angenehmste Tag unseres bisherigen Aufenthaltes in der Welthöhle ist, revidiert werden. Und die Irene hat es noch viel schwerer als ich, weil ich ein besseres Verhältnis von Körperkraft zu Körpergewicht habe. - Ich hätte nachfragen sollen, als Ganvoch vor dieser Excursion mehr beiläufig meinte, daß unsere Rucksäcke uns behindern würden.

Dafür werden wir ab und zu mit atemberaubenden Aussichten belohnt. Einmal sehen wir Rubald fast genau unter uns, als wir um eine freistehende Felsnase herumklettern, und wenn wir nicht wüßten, daß wir von dort angestiegen sind, dann würden wir das auch für unmöglich halten. Und wenn wir den Kopf in den Nacken werfen, dann sehen wir fast direkt über uns die gewaltige Felsensäule in den Leuchtenden Wolken verschwinden, obwohl deren Fuß noch einige Kilometer von uns entfernt sein muß. Jetzt wüßte ich natürlich gerne, wie hoch wir über Rubald sind, aber der Höhenmesser ist in meinem Rucksack, und der ist noch in Rubald.

Weiter geht es. Plötzlich sind wir wieder in einem Wald, der überhaupt nicht erkennen ließe, daß er nur über solche Klettertouren erreichbar ist. Riesige Felsblöcke liegen da verstreut und zwingen uns zu Umwegen. Ganvoch erzählt uns, daß dieses das verlassene Dorf Meracald ist. Aber so sehr ich die Umgebung mustere, ich kann nichts entdecken, was auf eine frühere Besiedlung hindeutet - keine Hüttenruinen, keine freien Plätze, nichts.

Dann müssen wir unter einer dreißig Meter hohen, überhängenden Kante entlang gehen, und dort, wo ein Wasserfall über diese in den Wald hinabstürzt, finden wir einen weiteren Kamin, in den wir einsteigen müssen. Der ist zuerst glitschig und dunkel, weitet sich aber zu einer Höhle, die durch breite Spalten von oben erleuchtet wird, und diese Höhle kann recht gut durchstiegen werden, weil sie im oberen Teil trockener ist.

Dann sind wir in einem Talgrund und folgen einem Wasserlauf durch sein Geröllbett. Nicht schwierig, aber steil, und man muß dauernd die Hände zu Hilfe nehmen. Berge versperren uns in alle Richtungen die Aussicht. Dann öffnet sich dieses Tal plötzlich weiter, und mit einem Male stehen wir an dem Ufer eines idyllischen Sees. An seinem jenseitigen Ufer stehen die Hütten von Omcald.

"Das war Arbeit!" sage ich, und Irene nickt mir zustimmend zu, "Jammerschade, daß es da keinen anderen, leichteren Weg gibt!"

"Wieso? Gibt es doch!" sagt Ganvoch. Wie gut, daß er in dieser Sekunde nicht Irene ansieht. Ihr Gesichtsausdruck wäre unseren Gastgebern gegenüber mehr als nur eine glatte Unhöflichkeit gewesen.

"Es hätte nur länger gedauert." fährt Ganvoch fort. Dann gehen wir am Ufer entlang auf Omcald zu.

Bis auf seine idyllische, entlegene Lage ist Omcald dem Dorf Rubald sehr ähnlich und auch etwa gleich groß. Es gibt hier ein paar freie Flächen auf den Hängen, die im ersten Moment an Almwiesen erinnern. Bei näherem Hinsehen stellt man dann fest, daß es sich um Klettergewächse mit ledrigen Blättern handelt. Wahrscheinlich haben diese die übrige Vegetation vollständig verdrängt.

Natürlich müssen wir wieder viel erklären, als wir zu dem Dorf kommen. Die Nachricht von den zwei Fremden ist hier zwar schon angekommen, aber diese mit eigenen Augen zu sehen und mit ihnen zu reden ist natürlich etwas anderes. Ganvoch hat seine Steine längst bekommen, aber das Palaver hält uns noch weiter fest. Glücklicherweise hat Ganvoch es selbst eilig, und so gelingt es ihm, uns loszueisen, diplomatischer, als das uns möglich wäre.

"Also dann gehen wir jetzt den einfacheren Weg nach unten?"

Ganvoch nickt. Ich habe wohl etwas Nachdruck in meine Stimme gelegt, und er hat ja gesehen, wie unangenehm uns der Aufstieg war, den er selbst für eine der einfachsten Übungen hält.

Noch bevor wir das verschwundene Dorf Meracald erreichen, biegen wir links ab. Der Pfad ist kaum erkennbar und stellenweise auch ziemlich steil, aber Klettereien sind nicht mehr nötig, und der Pfad ist auch nirgends ausgesetzt. Deshalb geht es auch meistens völlig sichtgeschützt durch den Urwald, so daß wir keine Aussicht haben.

Es geht auf 0 Uhr zu, und Ganvoch meint bedauernd, daß wir wahrscheinlich nicht ganz rechtzeitig zur Schlafperiode wieder in Rubald sein werden. Dafür kommt er in das Erzählen, weil der Weg nicht soviel Aufmerksamkeit erfordert. Schon nach den ersten Sätzen stelle ich meine Ohren auf.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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