Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



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******** 079. Tag: Sonntag 95-11-05 ********

79.1 Scheiterhaufen und Totentanz

5 Uhr. Auch ohne die Synchronisation durch die anderen Granitbeißer wachen wir so auf, als ob wir den 27-Stunden Rhythmus dieser Welt im Blut hätten.

Nach der Morgentoilette und dem Essen, das wir unnötig lange ausdehnen, machen wir uns wieder an die Arbeit. Wie ich es vermutet habe, hat sich unsere Position während des Schlafens nur um einige hundert Meter verändert. Unser Abstand von der Küste ist jetzt 300 Meter, und, wie erwartet, ist der Wellengang sehr moderat geworden. Noch ein Tag, und nichts wird mehr auf den Sturm hinweisen. Bis auf dieses Wrack, natürlich. Wie lange es wohl treiben wird, bevor es auch restlos zerfällt?

Wie kriegen wir dieses schwere Floß zu Wasser? Ganz einfach. Erst einmal wird es an einem Seil mit dem Saurierfänger verbunden, damit es uns nicht davontreibt, wenn uns das Wassern gelingen sollte. Dann tragen wir Gerümpel, das wir nicht mehr brauchen, auf die Spitze des Floßes, die über die Bordkante des Saurierfängers hinausragt und stapeln es dort. Diese Aufgabe übernehme ich alleine, damit ich rechtzeitig und ungehindert zur Seite springen kann, wenn das Floß kippt. Schließlich ist es nicht ganz ungefährlich, einige Tonnen Holz hüpfen zu lassen.

Wie zu erwarten kippt das Floß ganz unerwartet, und ein Stapel Bruchholz landet im Wasser. Leider nicht das Floß - es fällt auf das Deck zurück. Allerdings schwebt jetzt nahezu die Hälfte des Floßes über der Bordkante, und beim zweiten Anlauf brauche ich nicht ganz soviel Holz dort zu stapeln, bis es wieder anfängt, zu kippen. Diesmal gelingt es.

Minuten später liegt es längsseits, und wir verladen, was wir brauchen. Das ganze Wrack gehen wir mehrfach ab, um sicher zu sein, nichts zurückzulassen, was irgendwie nützlich werden könnte und was wir mit vernünftigen Aufwand mitnehmen können.

"Karten?" fragt Irene schließlich.

"Nein." sage ich. Erstens will ich nicht noch einmal auf die Brücke, weil ich dort die tote Chrejene sehen müßte, und zweitens sind diese Karten ja so ungenau, daß ich mich mehr auf die Darstellung in meinem Kopf verlassen möchte, wenn wir diese Karten noch einmal brauchen sollten. Und wenn wir an der richtigen Insel sind, dann brauchen wir sie nicht mehr. Außerdem - wo sollen wir sie unterbringen?

Aber weil Irene die Karten erwähnt hat, fällt mir etwas anderes ein. Ich krame in meinem Rucksack herum.

"Was suchst du?"

"Den Höhenmesser. Hast du meinen Rucksack umgeräumt?"

"Nein, ich habe nichts angefaßt, solange du weg warst."

Das stimmt wahrscheinlich auch. Ich finden den Höhenmesser in einer der Seitentaschen, wo ich ihn selbst verstaut habe, als ich ihn zum letzten Male brauchte.

"Mal sehen. Er sagt 1500 Meter. Zweimal hat er sich beim Absteigen vollständig überschlagen, das sind dann also 10500 Meter unter dem Meeresspiegel. 10500 Meter - war das nicht auch unsere letzte Ablesung?"

"Weiß ich nicht mehr," sagt Irene, "ist das wichtig?"

"Alles ist wichtig, was unsere Orientierung betrifft. Mmh. Gut. Dann hat der Höhenmesser also die ganze Zeit seine Anzeige beibehalten. Vielleicht ein Hinweis darauf, daß er tatsächlich unter Bedingungen funktioniert, für die er nicht gemacht ist."

"Warum interessiert dich das ausgerechnet jetzt?"

"Weil wir jetzt noch in der gleichen Tiefe sind wie zu dem Zeitpunkt, als wir den Saurierfänger betraten. Vielleicht ändert sich das, wenn wir an Land gehen. Das ändert sich sogar sicher - sieht dir diese Insel doch an!"

Ich packe den Höhenmesser sorgfältig wieder ein. Dann sehe ich mich noch einmal um, ob noch etwas zu erledigen ist. Mir fällt kaum etwas ein.

"Aber vielleicht sollten wir doch das Schiff verbrennen." meine ich, "wir sind es ihnen schuldig - irgendwie."

Vielleicht sind es alte Klischees, die mich dazu bewegen. Ein brennendes Wikingerschiff als Bestattungsritual. Ein loderndes Feuer als letztes, wenngleich auch vergängliches Denkmal der Gestorbenen.

"Das Holz ist noch so naß!" meint Irene.

"In dieser dichten Atmosphäre brennt es trotzdem. Wegen der hohen Sauerstoffkonzentration. Das geht schon."

Die Feuerstelle in der zerstörten Küche des Saurierfängers ist natürlich erloschen. Aber in dem vielen Trümmerholz auf dem Schiff läßt sich genügend faseriges Material finden, um einen leicht brennbar aussehenden Haufen im Deckshaus unter der Brücke aufzuschichten. Streichhölzer habe wir ja genug, so daß ich mich nicht mit den alternativen Methoden des Feuermachens aufhalten muß.

"Fällt dir noch etwas ein, was wir mitnehmen müssen?" frage ich Irene, "Ich wäre fertig!"

Irene, die schon auf dem Floß steht, Leine in der Hand, schüttelt den Kopf.

"Aber wir können dann nicht mehr zurück!" sagt sie.

"Versteh doch! Dieses Schiff ist nicht viel mehr als eine schwimmende Insel. Zu klein, um für uns von irgendeinem Nutzen zu sein. Alles, was wir hier noch finden könnten, gibt es dort auch." Dabei deute ich auf die nahe Felswand der Säulengabelinsel.

Wenig später ist es mir geglückt, unter der Brücke ein kleines Feuer zu entzünden. Wie zu erwarten wächst es und frißt sich rasch fort.

"Okay. Leinen los!" rufe ich, auf das kleine Floß springend. Damit verlasse ich das Schiff als letzter, wie es sich auch eigentlich für einen Schiffskommandanten gehört - dieser Usus ist ja in unserer Welt da oben etwas in Vergessenheit geraten. Rasch sind die Streichhölzer wieder verstaut, und auch mit den ineffektiven Rudern können wir schnell den notwendigen Sicherheitsabstand zum Wrack des Saurierfängers erreichen. Es ist jetzt 9 Uhr, und wir haben den größten Teil des Tages noch vor uns.

"Wir müßten an der Küste entlang nach Westen. Dort haben wir ja brauchbare Anlegeplätze gesehen!" rufe ich, "Am besten, wir fahren jetzt zwischen dem Ufer und dem Wrack hindurch und immer nahe am Ufer entlang. Sowie die Küste weniger steil ist, können wir wahrscheinlich staken. Das ist weniger anstrengend!"

Genauso machen wir es. Meine Stimmung wenigstens hebt sich wieder - wir können etwas tun, und es geht weiter. Bewegung ist Leben und Hoffnung. Ich weiß nicht, ob Irene das auch so empfindet.

Während sich in der Mitte des Wrackes bereits eine brausende Feuersäule entwickelt, die bereits große Teile der Brücke umfaßt, nähern wir uns der Felswand bis auf wenige Dutzend Meter. Das ist jetzt wegen des geringen Wellengangs völlig ungefährlich. Ich rudere erstmal alleine, und Irene sieht auf das brennende Wrack.

"Da bewegt sich jemand! Auf der Brücke!" sagt sie plötzlich.

"Was?!"

"Da! Sieh doch!"

"Das kann nicht sein!"

Ich unterbreche alle Ruderbewegungen und sehe genau hin. Der Abstand zum Wrack ist jetzt dreihundert Meter. Das heißt, daß man die allerfeinsten Einzelheiten nicht mehr sehen kann. Aber wenn sich jemand auf der Brücke bewegt ...

"Bist du sicher?" frage ich.

"Es war, als ob jemand über den Boden kriecht. Jetzt ist aber wieder Feuer davor!"

Sie sieht mich an: "Sollen wir zurück?"

Die Brücke steht jetzt vollständig in Flammen. Keine Möglichkeit, dort etwas oder jemanden herauszuholen, selbst, wenn wir jetzt schon da wären. Und wir müssen ja erst einmal hinkommen. Die Hitze wird jetzt in der Nähe des Feuers auch unerträglich sein.

"Ich sehe nichts!" sage ich. Ich sehe wirklich nichts. Nicht nur, weil ich nichts sehen will.

War Chrejene nicht tot? Was habe ich denn noch alles überprüft? Ich weiß nicht mehr genau. Habe ich sie tief bewußtlos zurückgelassen? Ist sie jetzt erst, im Feuer, wieder zu Bewußtsein gekommen, nur um ihren Feuertod noch ein bißchen miterleben zu können?

"Vielleicht habe ich mich auch geirrt." sagt Irene, "In so einem Feuer bewegt sich dauernd etwas. Es sah nur eben so aus."

Sie sieht mich an: "Ich hätte nichts sagen sollen."

"Doch. - Schon. - Wenn du recht hättest - Es ist zu spät, sowieso."

Es ist zu spät. Aber im Moment einer solchen Beobachtung kann man das nicht mit derselben Schnelligkeit entscheiden. Ich kann Irene nichts vorwerfen, egal, ob sie sich getäuscht hat oder nicht. Nur mir kann ich etwas vorwerfen. Habe ich nicht genau genug überprüft, ob Chrejene wirklich tot war? Wenn ich es genau genug überprüft hätte, dann wäre ich doch jetzt völlig sicher!

Minutenlang sehen wir dem Feuer zu. Es bildet sich eine mächtige Dampf- und Rauchwolke. Das feuchte Holz erzeugt viele Schwebestoffe, andererseits ist bald alles, was auf der Grundfläche des Saurierfängers steht oder liegt, in Flammen. Ob Chrejene tot war oder nicht - jetzt ist sie es. Sogar der Floßkörper des Saurierfängers selbst wird bald zerfallen, weil Halteseile und Dübel an seiner Oberseite verkohlen. Dann erst wird das Feuer vorbei sein.

Bis dahin möchte ich weg sein. Ich sehe Irene an:

"Wir machen weiter. Was immer es war, was du gesehen hast - es macht keinen Unterschied. Jetzt nicht mehr."

Beim Wegrudern denke ich: Es ist nur eine Granitbeißerin gewesen. Sie geht dich nichts an. Und sie ist tot gewesen. Immer wieder denke ich das. Wie eine Beschwörungsformel. Weil nicht sein kann was nicht sein darf.

79.2 Die Bucht und das Kind

Nach über einem halben Kilometer wird die Küste flacher, und der Urwald reicht bis ans Wasser. Allerdings ist Staken immer noch nicht gut möglich, dazu ist das Ufer noch zu steil, und man müßte auf weniger als zwei Meter an das Ufer ran. Ich möchte aber von diesem Urwald etwas Abstand halten. Immerhin hat eine vorspringende Felskante uns vorübergehend den direkten Blick auf das brennende Wrack genommen, und hören tun wir auch nichts mehr. Der letzte Akt des traurigen Schauspieles der Zerstörung des einst so stolzen Schiffes hat keine Zuschauer.

Ich beeile mich, weil mir auch noch eine andere Idee gekommen ist: Was, wenn noch andere Besatzungsmitglieder, die sich zum Beispiel ans Ufer gerettet haben könnten, überlebt haben und plötzlich auftauchen? Dafür ist dieses Floß zu klein. Ich denke zwar, daß das unwahrscheinlich ist, aber ich möchte kein Risiko eingehen.

Außerdem ist das kein Grund, sich Gewissensbisse zu machen: Wer immer sich schwimmend an der Küste entlang in diesen Urwald gerettet hat, ist in relativer Sicherheit und hat festen Boden unter den Füßen. Das ist für eine Granitbeißerin viel.

Trotzdem ist auch das ein Grund, mißtrauisch den Wald zu beobachten und, solange ich sowieso rudern muß, 20 oder 30 Meter Abstand von den am weitesten über das Wasser ragenden Zweigen zu halten.

Vielleicht liegt es an dieser übertriebenen Befürchtung, daß ich, als wir eine kleine Landnase umrunden, an der aus dem ansteigenden Urwald eine steile, vegetationslose und etwa achtzig Meter hohe Felsnadel aufragt, zwischen dieser Nase und dem grünen Dschungel dahinter aus den Augenwinkeln eine menschenähnliche Gestalt zu sehen glaube. Als ich direkt hinsehe, ist dort aber nichts. Und Irene hat in eine ganz andere Richtung gesehen und überhaupt nichts bemerkt. Ich sage nichts, um sie nicht zu beunruhigen.

Inzwischen sind wir nämlich so lange an nicht mehr felsigem Ufer vorbeigefahren, daß jemand aus meiner Schiffsbesatzung schon viel früher an Land hätte steigen können, ohne Felswände ersteigen zu müssen. Also gibt es entweder Eingeborene auf der Insel, oder jemand aus meiner Besatzung wurde während des Sturmes sehr weit abgetrieben, oder, am wahrscheinlichsten, ich habe mich getäuscht. Schließlich, sollte nicht jemand aus meiner Besatzung versuchen, auf sich aufmerksam zu machen anstatt in Deckung zu gehen?

Wieder eine Landzunge. Das Wrack ist jetzt mehr als zwei Kilometer entfernt. Es wird gerade eben etwas sichtbar und gleicht einem kaum sichtbaren, rauchenden Fleck. Flammen gibt es kaum noch. Es wird jetzt rasch zerfallen, weil die Grundplatte auseinandergefallen ist und alles, was noch brennt, ins Wasser fällt und verlöscht. Auf festem Land würde eine derartig große Holzmenge einen Aschenhaufen bilden, der noch nach zwei Wochen vor sich hin schwelte. Naja, vielleicht nicht hier unten, bei dem hohen Partialdruck des Sauerstoffes.

Wir verlieren das Wrack gleich wieder aus den Augen, als wir die kleine Landzunge umrundet haben.

"Komisch. Eben dachte ich, daß uns da jemand ansieht!" sagt Irene.

"Wo?"

"Da. Wo diese Bäume am Wasser stehen!"

"Da stehen überall Bäume am Wasser!"

Eine ganze Zeitlang versucht Irene, mir den Ort, den sie meint, zu identifizieren. Zeit genug für jeden potentiellen Beobachter, wieder zu verschwinden. Ich sehe auch nichts.

"Von Eingeborenen hat niemand etwas gewußt. Naja, genaugenommen hat niemand von dieser Insel Einzelheiten gewußt, und die Karten haben sich auch nicht bis in diese Gegend erstreckt. Wir müssen damit rechnen, daß es hier auch Menschen gibt."

"Das ist ja gut." meint Irene.

"Wieso ist das gut? Vergiß nicht, daß diese Leute nichts von uns wissen! Sie könnten uns als Feinde betrachten. Wenn sie fremdenfeindlich genug sind, könnten sie uns vom Ufer aus abschießen!"

"Warum sollten sie das tun? Davon haben sie doch nichts!"

"Uns haben sie davon. In dieser Welt ist die Anthropophagie noch üblich, vergiß das nicht!"

"Die was ist hier üblich?"

"Die Menschenfresserei. Der Ausdruck 'Anthropophagie' ist mir jetzt erst eingefallen. Ich habe ihn aus einer strafrechtlichen Würdigung des Märchens 'Hänsel und Gretel'. Wenn wir zurückkommen, gebe ich dir das Buch einmal."

"Wenn wir zurückkommen, will ich nie wieder etwas über Menschenfresserei hören!"

"Schon gut, schon gut."

Noch eine ganze Weile beäugen wir mißtrauisch den Uferdschungel. Aber es gibt nichts Auffälliges mehr. Sogar die Tierstimmen scheinen überall, wo wir vorbeikommen, etwa gleich aktiv zu sein. Ist fast beruhigend. Und als wir wieder an einem himmelhohen Felsgrat vorbeikommen, der es einem Verfolger am Ufer schwerer oder unmöglich machen würde, unserem Floß zu folgen, beruhigen wir uns völlig.

Um 15 Uhr haben wir kaum mehr als vier Kilometer Luftlinie vom Wrack aus zurückgelegt. Vier Kilometer in sechs Stunden ist sehr langsam. Mehr ist aber mit diesem Floß nicht drin. Wir erreichen eine Bucht mit steilen, aber dennoch bewaldeten Wänden. Weit hinten scheint sie in ein schluchtartiges Hochtal überzugehen, und sie verspricht einen geschützen Ankerplatz, den wir aber im Moment eigentlich nicht brauchen. Wenn es Gefahren gibt, dann lauern die eher an Land als auf See.

Die Bucht ist ein vielleicht 300 Meter langer Einschnitt in das Festland, deren gegenüberliegende Ufer 60 Meter voneinander entfernt sind. Man kann also, ohne dem Urwald zu nahe zu kommen, in diese Bucht einfahren. Das tun wir. Schließlich sollten wir die Küste genau untersuchen, damit uns keine Stelle entgeht, die zum endgültigen Landen geeignet wäre.

Schon an der Buchtmündung fällt uns an der rechten Seite ein Felsgrat auf, der die Buchtmündung teilweise abschließt wie eine kleine Mole. Er ist vielleicht 15 Meter lang und an den meisten Stellen nur wenige Dezimeter hoch.

"Warum der wohl nicht bewachsen ist" frage ich mich. Wir steuern das Floß um diesen Grat herum.

"Eigentlich sollte Felsen hier durchgehend bewachsen sein, warum dieser nicht?" sage ich lauter.

"Vielleicht weil die Brandung immer gerade über diese Kante schlägt?" vermutet Irene.

"Mmh. Vielleicht. Aber so selten, wie es hier eine ordentliche Brandung gibt? - Und wenn es eine gibt, dann immer gleich richtig!"

"Aber diese Strudellöcher hat sie erzeugt!" sagt Irene und deutet auf vier Löcher, die auf der buchtseitigen Seite des Felsgrates direkt an der Wasserlinie im Fels sind. Ich schiebe das Floß näher heran. Irene kennt Strudellöcher von einer Schottlandreise her. Manchmal liegt ein runder Felskloß in einer Vertiefung irgendwo am Fuße einer Steilküste und schmirgelt durch die Stürme von Jahrhunderten eine Schale aus.

Diese vier wassergefüllten Löcher haben einen Durchmesser von etwa acht Zentimetern und liegen alle in einer Linie. Ihr Abstand voneinander ist gleich groß: Etwas weniger als ein Meter.

"Das sind keine Strudellöcher. Die sind künstlich!" behaupte ich.

"Sicher?"

"Sicher."

"Und was bedeutet das?"

"Ist doch klar. Diese Insel ist bewohnt!"

"Nicht schon wieder!"

Irene ist nicht sehr begeistert über diese Aussicht. Komisch. Vor wenigen Minuten war sie noch anderer Ansicht. Frauen und Logik!

"... Oder bewohnt gewesen. Diesen Löchern kann man nicht ansehen, wie alt sie sind. Ich würde sagen, daß sie zum Beispiel dazu gedient haben könnten, Pflöcke reinzustecken, um dann daran Boote festzulegen. Schließlich ist dieses ein brauchbarer, geschützter Landeplatz. Und das beruhigt mich."

"Wieso beruhigt dich das?"

"Weil hier keine Pflöcke und keine Boote sind! Ist doch ganz einfach!"

"Und du meinst, deshalb werden wir keinen Eingeborenen begegnen."

Das ist zwar kein zwingender Schluß, aber wenn es Irene beruhigt, dann soll es mir recht sein, und ich widerspreche nicht.

"Jedenfalls können wir beruhigt in die Bucht einfahren. Niemand wird uns den Weg abschneiden!"

Während wir weiterfahren, denke ich immer noch über diese Schlußfolgerungen nach. Sie sind wirklich nicht sehr zwingend.

Erstens hatten wir gerade einen heftigen Sturm. Pflöcke mit daran befestigten Booten können weggerissen worden sein. Oder die Besitzer haben es vorgezogen, das Material vorher in Sicherheit zu bringen.

Zweitens ist diese Bucht als Hafen auch nicht gerade Spitzenlage. Nur ein Viertel ihres Durchmessers wird durch diesen niedrigen Felsgrat abgeriegelt. - Naja, wenn man nichts Besseres hat ...

Aber wenn Boote in Sicherheit gebracht worden sind, oder wenn sie von ihren Anlegestellen losgerissen worden sind, dann sind die Chancen gut, daß wir sie irgendwo in der Bucht finden. Oder daß wir etwas anders finden, was auf menschliche Aktivität zurückzuführen ist.

Das ist aber nicht der Fall. Der Urwald beiderseits der Bucht scheint unberührt, sowohl von Menschen als auch von dem so kurz zurückliegenden Sturm. Das führt mich dann dazu, nachzusinnen, ob diese Löcher vielleicht nicht doch natürlichen Ursprunges sein könnten.

Natürlich fahren wir die Bucht nicht bis zu ihrem Ende ab, weil sie sich dort zu sehr verjüngt. Die überhängenden Bäume erlauben nicht einmal, das Ende der Bucht, von dem das schwache Gurgeln eines kleinen Baches zu hören ist, zu sehen. Wir wollen dem Urwald nicht zu nahe kommen. Deshalb wenden wir dort, wo es gerade noch geht, also etwa 100 Meter vor dem Ende der Bucht. Und deshalb sehen wir es gleichzeitig:

"Ein Kind!" sagt Irene. Gleichzeitig sehe ich es auch.

Mitten auf dem Felsgrat am Eingang der Bucht, den wir vor kurzem passiert und inspiziert haben, steht eine kleine, verlorene Gestalt, die etwas im Arm hält. Aus den 200 Metern Abstand können wir nicht erkennen, was es ist. Dieses Kind könnte zwischen vier und sechs Jahren alt sein, und es sieht in unsere Richtung, ohne sich zu bewegen.

"Wir fahren vorsichtig hin!" entscheide ich, "Langsam. Damit es sich nicht erschreckt!"

"Seit wann bist du bei Kindern so rücksichtsvoll?" fragt Irene.

"Das ist das erste Mal, daß ich bei den Granitbeißern Kinder sehe. Erstens." sage ich, vielleicht unnötig heftig, "Zweitens weiß es vielleicht etwas. Das heißt, wir können etwas über diese Insel erfahren. Und drittens sieht es wie ein Mädchen aus. In dieser Welt spielen Mädchen in dem Alter vermutlich mit Holzschwertern und nicht mit Puppen. Ich bin deshalb nicht rücksichtsvoll. Nur vorsichtig."

"Wo ist da die Logik?"

"Laß die Logik. Stell dich vorne auf das Floß und versuche, vertrauensseelig und mütterlich auszusehen!" schlage ich vor.

Langsam nähern wir uns wieder der Buchtmündung. Irene hockt sich vorne hin, was ich nicht tun kann, weil ich rudern muß. Außerdem sieht sie mehr grimmig als vertrauensseelig oder 'mütterlich' aus. Wahrscheinlich habe ich da einen unpassenden Vergleich gemacht. Ich werde es noch früh genug zu hören bekommen.

Es ist ein Mädchen. Und das, was es im Arm trägt, ist kein Holzschwert, sondern eine Art Holzpuppe. Wenn man genau hinsieht. Mit etwas weniger Phantasie ist es einfach ein Ast, aber das Kind hält diesen Ast wie eine Puppe.

Dieses Mädchen hat eine Art zu großes T-Shirt aus grobem Stoff an. Dieses undefinierbare Kleidungsstück ist vielfach beschädigt und schmutzig. Seine Haare sind wirr und zerzaust, aber da ist ein Haarreif, oder vielleicht ist es auch ein Band, das die Haare aus dem Gesicht heraushält. Sonst hat es nichts bei sich.

Als wir noch dreißig Meter von der Naturmole entfernt sind, höre ich mit dem Rudern auf und lasse das Floß einfach auf die kleine Gestalt zutreiben.

"Ja, wer bist du denn?" fragt die Irene.

"Ich glaube kaum, daß sie Deutsch versteht!" werfe ich ein.

"Wer bist du denn? Wie heißt du denn?" wiederholt Irene in Xonchen.

Das Kind reagiert nicht. Es hält seinen Ast umklammert, drückt ihn an sich und sieht uns mit großen Augen an.

"Willst du nicht mit uns reden?" fragt Irene weiter. Ich überlege, womit man das Kind auftauen könnte. Wir führen nun mal weder Schokolade noch Spielzeug mit uns.

"Vielleicht interessiert es sich für Streichhölzer?" vermute ich mal ins Blaue.

"Laß mal deine Spielereien!" faucht die Irene böse zurück. Das Floß stößt an den Felsgrat und Irene springt auf denselben - zwischen dem Uferurwald und dem Kind. Damit ist der Kleinen der Rückweg abgeschnitten. Ob das geschickt war?

Irene kniet sich vor dem Kind hin. Ob sie darauf geachtet hätte, was aus dem Floß wird, wenn sie allein gewesen wäre?

Kurz darauf hat sie das Kind in ihre Arme genommen. "Siehst du, wie zutraulich es ist!" fragt sie.

"Es ist vor Schreck erstarrt und traut sich nicht, sich zu wehren!" sage ich zynisch und kassiere dafür einen weiteren, bösen Blick von Irene.

Irene redet weiter auf das kleine Mädchen ein, interessiert sich für die 'Puppe', fängt an, dem Kind das Gesicht zu waschen. Ich überlege mir, wie ich das Floß festlegen kann. Vielleicht sollte ich von den vier Löchern Gebrauch machen, aber mir fehlen Pfähle von einem geeigneten Durchmesser. Irene ist bei diesen technischen Problemen im Moment wenig hilfreich. Ich kann alleine sehen, wie ich zurecht komme.

Plötzlich reißt sich das Kleine los und rennt in den Urwald. Die Geschicklichkeit, mit der es über den Grat turnt, beruhigt mich etwas: Hilflos ist dieses Kind nicht. Warum sollte es auch? Es ist ja hier aufgewachsen.

"Jetzt hast du es verscheucht!" klagt Irene mich an.

"Wieso ich? Ich habe doch kein Wort gesagt!"

"Du mit deinem ..." Ich erfahre nicht mehr, auf welche Weise ich das Kind verscheucht haben soll. Es taucht wieder auf. Anstatt der Puppe hat es einen kleinen Holzbalken in der Hand. Dieser hat genau die Größe, die ich für diese Löcher brauchte!

Und genau dafür kriege ich ihn. Das Mädchen schlägt die Augen nieder, als sie mir das Ding gibt. Eine Granitbeißerin, die die Augen niederschlägt, auch wenn es sich um ein kleines Kind handelt? Sehr merkwürdig.

Der Pflock jedenfalls paßt. Er ist feucht, so als ob er entweder an einem feuchten Ort aufbewahrt worden wäre, oder als ob er vor kurzem schon in einem dieser Löcher gesteckt hätte.

Eigentlich sollte man den Pflock mit schmalen Holzkeilen gegen das Rausrutschen aus dem Loch sichern. Aber ich denke, daß es unter Normalbedingungen ausreicht, sich auf das Eigengewicht des Pflockes zu verlassen. Das Boot wird ja nur in horizontaler Richtung an dem Pflock ziehen - dadurch kann er nicht aus dem Loch herausgehoben werden.

Schnell habe ich das Floß gesichert. Ich schultere sofort den Rucksack.

"Wollen wir das nicht erst einmal hierlassen?" fragt Irene, wenig begeistert von der Aussicht, schon wieder etwas tragen zu müssen.

"Nein. Von unseren Sachen dürfen wir uns auf keinen Fall trennen." entscheide ich, "Wir lassen nur die Ruder und die Stakstangen hier. Die sind ohne Floß sowieso nicht nützlich. Und die Seile brauchen wir erst einmal auch nicht. Die sind sowieso zu schwer."

Dann wende ich mich einmal an das Kind, das bisher noch kein Wort gesagt hat.

"Hast du Eltern?" frage ich in Xonchen, "kannst du uns zu ihnen bringen?"

Die Kleine scheint zu verstehen. Sie läuft weg und scheint zu erwarten, daß wir hinterherkommen.

Tatsächlich ist da ein Pfad unter den Bäumen. Bis auf ein paar weitere Pflöcke, die seitlich im Gebüsch aufgestapelt liegen, gibt es aber keinen Hinweis, daß dieser Hafen häufig benutzt wird.

Der Pfad führt auch nicht zu dieser Naturmole hin, sondern an ihr vorbei und folgt dem Ufer um die Bucht herum. Davon haben wir vom Wasser aus nicht das mindeste gesehen! In die Richtung gehen wir aber nicht, sondern in die entgegengesetzte. Schon nach ein paar Dutzend Metern steigt der Pfad steil an. Mit spitzen Zick-zack-Kehren erreicht der Weg rasch eine ordentliche Höhe. Allerdings läßt der dichte Urwald einen weiten Ausblick kaum zu.

Auch die Orientierung wird schwierig. Immer wieder steigen wir am Fuße von Felswänden vorbei, dann geht es wieder über überwachsene Grate, und an einigen Stellen müssen wir durch Felsspalten klettern. Die Kleine, die uns vorausläuft, ist dabei so geschickt und flink, daß wir alten Säcke außer Atem kommen.

Ab und zu verlassen wir ganz unmotiviert den Pfad, um uns kurz darauf auf einem anderen wiederzufinden. Erst denke ich an Abkürzungen, dann aber halte ich es für wahrscheinlicher, daß wir Stellen passiert haben, an denen unerwünschte Fremde erst einmal in die Irre gehen sollen, indem sie einem deutlich sichtbaren Pfad folgen und nicht dem richtigen, der geschickt im Unterholz verborgen wurde. Vielleicht führen die deutlich sichtbaren Pfade sogar zu Fallen, aber weil wir so schnell gehen und weil die Kleine uns immer voraus ist, habe ich keine Gelegenheit, zu fragen. Außerdem hat sie ja immer noch nicht gesprochen.

Jedenfalls überwinden wir, meiner Schätzung nach, einige hundert Meter Höhenunterschied. Der Weg wäre wahrscheinlich schwindelerregend, aber der dichte Urwald rundherum gibt da eine vielleicht trügerische Sicherheit.

79.3 Das Dorf der Sachinor

Endlich erreichen wir, uns durch eine enge Spalte schiebend, einen freien Platz. Dieser Platz ist von zwei gegenüberliegenden, hohen und unüberwindlichen Felswänden begrenzt, die beiden anderen Seiten werden wieder durch dichten Urwald gebildet. Eine dieser Urwaldseiten, die zu unserer Rechten, geht in einen abschüssigen und wahrscheinlich unwegsamen Hang über. Das muß die Seeseite sein. Dieser Platz ist von See aus nicht einzusehen, und wegen des Urwaldes kann man die See von hier aus auch nicht sehen.

Auf diesem Platz sind einfache, Wigwam-artige Hütten, die aus gebündeltem, schilfartigem Material gefertigt sind und mit Seilen zusammengehalten werden. Ein kleines Dorf. Es ist aber niemand zu sehen. Das kleine Mädchen steht vor uns, als warte es auf eine Belohnung.

"Das hast du gut gemacht!" sage ich in Xonchen, und das erste Mal zeigt sich ein Anflug von Lachen auf dem Gesicht des Mädchens. Versteht sie also doch Xonchen?

Sie dreht sich um und rennt auf eine der Hütten zu. Dabei ruft sie etwas, was ich nicht verstehe. Sekunden später taucht aus dem Eingang der Hütte eine alte Frau auf. Sie sieht uns, erschrickt und fängt an, mit dem kleinen Mädchen zu schimpfen. Abwechslnd redet sie auch in unsere Richtung, und wenigstens ab und zu kann ich etwas verstehen. Es ist ein sehr verdrehtes Xonchen, was hier gesprochen wird, ein Dialekt, an den wir nicht gewöhnt sind.

"Wo sind wir hier?" frage ich. Ich halte beide Hände leer und offen vor mich hin - Standardgeste: 'Seht her, wir tragen Waffen, aber wir kommen in Freundschaft.' Ich hoffe, es wird so verstanden.

Eine weitere alte Vettel taucht auf, dann endlich ein junger Mann, vielleicht knapp 28 Jahre alt. Er sieht so aus, als sei er eben aufgewacht. Als er uns sieht, auf uns zukommt und den Mund auftut, haben die beiden Alten sofort Funkstille. Das ist sehr auffällig, wenn man monatelang unter den Granitbeißerinnen war.

Seine Haltung ist ein Gemisch aus gespannter Wachsamkeit, Neugier, Offenheit und echter Freundlichkeit. Er weiß nicht, was er von uns halten soll. Seine Kleidung besteht aus einem groben Lendenschurz. Waffen trägt er keine. Außerdem trägt er einen gestutzten Bart, der leicht asymmetrische Züge aufweist. Offenbar pflegt er seinen Bart selbst zu schneiden - die daraus resultierenden Schwierigkeiten kenne ich gut.

Die alten Frauen tragen, ähnlich dem kleinen Mädchen, ein überlanges T-Shirt, das bis unter die Knie reicht. Es sieht so ganz anders aus als das übliche Outfit der Granitbeißerinnen. Da wir noch dieses Lederzeug tragen, sieht er uns auch aus diesem Grunde sehr genau und sehr verwundert an.

"Willkommen. Wer seid ihr? Seit ihr von dem fremden Schiff? Wer hat euch hierhergebracht?" fragt er.

"Unser Schiff ist verbrannt." entgegne ich.

Immer noch tauchen keine weiteren Leute auf, so, als ob diese vier die einzigen Bewohner dieses Dorfes wären. Weitere Beobachtungen kann ich aber kaum machen, weil ich mich sehr auf das fremdartige Xonchen dieses jungen Mannes konzentrieren muß, um überhaupt etwas zu verstehen. Er hat mit unserem Xonchen-Dialekt offenbar genausoviel Schwierigkeiten.

"Ich weiß. Wir haben es gesehen. Wo wollt ihr hin?"

"Das ist eine lange Geschichte."

Soweit das überhaupt in Kürze möglich ist, erzähle ich unsere Geschichte. Dabei wird dem jungen Mann sehr schnell klar, daß wir offenbar wirklich nicht in Feindschaft kommen. Er hat aber viele Rückfragen. Die drei anderen stehen am Eingang ihrer Hütten und hören zu. Das kleine Mädchen hat angefangen, an seinen Fingern zu nuckeln und uns dabei aus sicherer Entfernung mit großen Augen zu betrachten.

Auch von dem jungen Mann erfahren wir im Laufe der Zeit einiges, als er sich erst sicher ist, daß von uns keine Gefahr ausgeht.

Die Menschen hier nennen sich nicht Granitbeißer. Den Begriff 'Granitbeißer' kennen sie überhaupt nicht. Sie bezeichnen sich mit dem Wort 'Sachinor', was kein Xonchen-Wort ist und soviel wie 'Die guten Leute' bedeuten soll. Das hat natürlich überhaupt nichts zu sagen, da jede ethnische Gruppe sich Außenstehenden überlegen dünkt und das manchmal in der Eigenbezeichnung zum Ausdruck bringt. Die Granitbeißerinnen, überhaupt alle anderen Bewohner der Welthöhle, sofern sie mit ihnen überhaupt jemals Kontakt hatten, was offenbar sehr selten ist, bezeichnen sie mit einem Begriff, den man als 'Die bösen Frauen' übersetzen müßte. Das erscheint mir irgendwie sehr passend!

Beides, sowohl die Bezeichnung für 'Sachinor' als auch für 'Die bösen Frauen' entstammt nicht der Xonchen-Sprache, und auch sonst gibt es ab und zu Wörter, die eine andere Herkunft haben. Auch die Grammatik und die Betonungen sind anders als im Xonchen. Das alles macht das Verstehen schwer. Wahrscheinlich ließen sich aus diesen sprachlichen Tatsachen weitere Hinweise auf die Geschichte der Welthöhle extrahieren.

Die Gepflogenheiten bei Eigennamen sind völlig anders. Der junge Mann heißt zum Beispiel Ganvoch. Das ist das erste Mal, daß ich hier einen Eigennamen höre, der nicht den bei den Granitbeißern üblichen Bildungsgesetzen für Eigennamen folgt. Soweit er sich in seinen Aussagen auf andere Personen bezieht, spricht er ebenfalls von ungewöhnlichen Namen.

Ich kriege schnell raus, daß das Verhältnis der Geschlechter hier etwas ausgeglichener als bei den Granitbeißerinnen ist. Es gibt Rollenverteilungen, aber wie die im Einzelnen aussehen, weiß ich nicht. Es scheint ungefähr auf die uns bekannten Muster hinauszulaufen.

Ganvoch fragt uns, ob es stimmt, daß die Granitbeißerinnen, die 'Bösen Frauen', tatsächlich Menschenfleisch essen. Diese Information hat sich hier gehalten und gilt als ein so schreckliches soziales Attribut und als eine üble moralische Abwertung - also so ähnlich wie die Menschenfresserei bei uns. Wir können das natürlich nur bestätigen, und ich habe den Eindruck, daß die Sachinor die überlieferte Menschenfresserei der Granitbeißerinnen nahezu als Märchen angesehen haben - also sie waren sich nicht sicher, ob es stimmt oder nicht. Vielleicht liegt es auch daran, daß Ganvoch den Eindruck völliger Arglosigkeit macht. Wenn die Sachinor häufiger Kontakt mit den Granitbeißerinnen hätten, dann müßten sie wachsamer und wehrbereiter sein.

Die beiden alten Frauen kleben an unseren Mündern, und auch das kleine Mädchen folgt mit inzwischen schreckgeweiteten Augen unseren Erzählungen. Es versteht doch wohl schon eine ganze Menge.

Ich stelle fest, daß wir hier Neuigkeitsträger mit einem ungewöhnlichen Schatz von Erzählungen aus erster Hand sind. Zunächst fließt eigentlich noch mehr Information von uns zu Ganvoch als umgekehrt. Aber ich achte schon darauf, daß er uns auch einiges erzählt.

So erfahren wir zum Beispiel, daß, weil sich so selten Fremde auf dieser Insel blicken lassen, daß es eigentlich ein Generationen-Ereignis ist, dieses Grund genug war, das Schiff da draußen, also unseren Saurierfänger, auf's genaueste zu beobachten und dafür fast alle anderen Tätigkeiten liegen zu lassen. Insbesondere, als der Saurierfänger sich der Insel näherte, wurden praktisch alle Dörfer alarmiert. Besonders Frauen und Kinder wurden zum größten Teil in noch höher gelegene Dörfer verfrachtet

Außerdem erfahre ich, daß die menschlichen Beobachter, die wir vom Floß aus gesehen zu haben glauben, wohl tatsächlich real gewesen sind. In der Tat, so Ganvoch, hat man, nachdem der Sturm vorbei und der Saurierfänger zerstört war, diesen noch genau beobachtet und schnell festgestellt, daß da noch zwei Menschen an Bord lebten. Ansonsten hätte man sich mit Booten sogleich aufgemacht, um das Wrack zu untersuchen.

Sie haben alles verfolgt. Wie wir das ganze Schiff untersucht und Dinge zusammengetragen haben, wie wir das Floß zu Wasser gebracht haben, wie wir Feuer an das Schiff gelegt haben. Dann wurde unser Floß vom Land aus verfolgt, so gut das eben bei dem Gelände möglich ist. Inzwischen wurden wir schon längst nicht mehr als eine Gefahr angesehen. Eher schon war und ist da noch die durchaus reale Möglichkeit, daß sich andere aus der Besatzung des Saurierfängers irgendwo anders ans Ufer geschlagen haben. Danach wird immer noch gesucht. Die 'Bösen Frauen' will niemand hier haben.

Nun, wo sich herausstellt, daß wir nicht eigentlich dazugehören, fallen wir nicht mehr unter irgendein Feindbild. Ganvoch ist völlig offen mit uns. Noch während wir reden, wird für uns in einer der Hütten gekocht, nachdem Ganvoch dieses einer der Alten mit einem kurzen Befehl nahegelegt hat. Das kleine Mädchen traut sich wieder an uns heran, ohne daß es zurückgerufen wird, Und während ich und Ganvoch noch weiterreden, läßt es sich von Irene in den Haaren kraulen.

Dann zeigt Ganvoch uns das Dorf. Während er das tut, tauchen zwei weitere Männer aus dem seewärtigen Urwald auf. Sie sind in mittlerem Alter, und beide sehen uns beunruhigt an. Ganvoch muß erklären. Und dann muß ich wieder erklären. Ich sehe schon, daß ich heute viel reden muß. Kaum nämlich, daß ich mit der Hälfte des Stoffes durch bin, taucht schon wieder jemand auf.

Endlich gibt es was zu essen. Und was! Eine abwechslungsreiche Gemüsekost ohne Fleisch. Die Sachinor sind zwar keine strengen Vegetarier, aber Fleisch zu beschaffen ist zu gefährlich, so wird uns erzählt. Dabei erfahre ich, daß es auf dieser Insel, jedenfalls in den Tälern, die die Sachinor kennen - das sind beileibe nicht alle - zwar keine Großreptilien gibt, aber es gibt auch kleinere, sehr gefährliche Raubtiere. Und Flugsaurier kommen ebenfalls vor.

Inzwischen haben wir uns zwischen den Hütten zu einer großen Runde niedergelassen. Alle reden durcheinander, und alles, was ich erzählt habe, wird in der vierten und fünften und zwanzigsten Fassung wieder- und weiter-erzählt. So haben wir tatsächlich genug Zeit, den Mund zeitweise zum Essen zu benutzen anstatt zu reden.

Plötzlich geht ein Schwert von Hand zu Hand. Es ist keines von unseren, es wurde unten an der Küste gefunden. Jemand von meiner Besatzung, der es gelungen ist, besteigbares Ufer zu erreichen, muß es verloren haben, denn es kann ja nicht angetrieben worden sein. Bis jetzt aber ist nicht bekannt, ob irgendwo mehr als nur Spuren und Hinterlassenschaften von meinen Leuten gefunden wurde.

Nach einigen Stunden füllt sich das Dorf mit weiteren Frauen und Kindern. Wir wissen nicht, wo sie herkommen, aber plötzlich sind sie da. Es hat sich herumgesprochen, daß die Bedrohung nicht mehr existiert und daß jedenfalls wir nicht in feindlicher Absicht hier sind. Und die gesellige Runde zwischen den Hütten wird noch größer. Es geht alles viel zwangloser und herzlicher zu als bei den Granitbeißerinnen, oder auch unter den Gefangenen auf Casabones.

Ich bin immer noch mißtrauisch. Es wäre nicht das erste Mal, daß sich hinter einer Fassade wärmster Herzlichkeit und Gastfreundschaft ein böses Komplott schmiedet. Andererseits - wir zwei sind in der Minderzahl. Auch ohne abzuwarten, bis wir zum Beispiel schlafen, könnten die Sachinor mit uns jederzeit machen, was sie wollen. Da sie das nicht tun, muß ihre Gastfreundschaft echt sein. Und sie kriegen ja auch etwas dafür: Neuigkeiten aus dem, was für sie die große, weite Welt ist.

Mit der Vorstellung einer bewohnbaren Welt außerhalb dieser Welthöhlen haben sie allerdings genauso viel Schwierigkeiten wie die Granitbeißerinnen.

Dann denke ich jedoch an den eigentlichen Grund, wegen dem wir diese Insel angesteuert haben. Der wichtigste Grund. Ich wende mich an Ganvoch:

"Wir suchen bestimmte Quellen, die in den höheren Regionen der Höhle zu finden sein sollen. Salzige Quellen oder braune Quellen. Weißt du etwas davon?"

Es ist eine Schicksalsfrage für uns, für Ganvoch aber nur eine Frage unter vielen. Entsprechend gleichgültig und mit vollem Mund sagt er: "Da weiß Rhogom mehr darüder. Der war mal da oben. Er müßte auch bald hier sein."

"Das heißt - es gibt sie wirklich?" frage ich mit angehaltenem Atem.

"Jaja. Schon. Es wird erzählt. Aber was wollt ihr da? Die kommen aus den Gebieten der Toten Städte. Es ist Gift, man kann es nicht einmal trinken!"

"Natürlich ist es Gift. Wir wollen es auch nicht trinken. Wir wollen dahin, wo diese Quellen herkommen!"

"Warum?"

Ich gehe nicht gleich darauf ein. Ich beuge mich zu Irene und rufe ihr über das allgemeine Gemurmel hinweg zu:

"Wir sind hier richtig! Sie kennen die Salzigen oder die Braunen Quellen! Und von den Toten Städten wissen sie auch etwas, die sind hier auch bekannt! Es muß hier also auch welche geben!"

Irene zweifelt noch. Ist auch angebracht, denn wir wissen noch lange nicht, wie schwer der Weg werden wird. Und ob Ganvoch wirklich recht hat.

Ich spreche Ganvoch wieder an:

"Aber diese Quellen sind wirklich von dieser Insel aus zu erreichen, oder?"

"Ja. Man muß da rauf." Und er deutet über uns, wo über allen Bergen die gewaltige gegabelte Säule in den leuchtenden Wolken verschwindet. Die Gabelung kann man von hier aus nicht recht sehen, aber die dadurch gebildeten Überhänge oben an dieser Säule sind deutlich. Von diesem Standpunkt sieht es so aus, als trage diese Säule einen gewaltigen, auf den Kopf gestellten Berg. Und nirgends in den steilen oder überhängenden Wänden läßt sich etwas erkennen, was die Konstruktion eines Weges nahelegt oder erleichtert.

"Da hinauf?" frage ich, "Da gibt es einen Weg?"

"Rhogom kennt sich aus." weicht Ganvoch aus.

"Wann kommt er denn?"

Ich erfahre, daß manche Gruppen der Sachinor sehr weit weg sind. Wenn nämlich ein Schiff auftaucht, dann ist es zweckmäßig, von der Insel aus in jede Richtung zu blicken und am besten alle Uferstellen, die zum Landen geeignet sein könnten, zu inspizieren. Um das zu tun sind tagelange Wanderungen notwendig. Und trotzdem bleibt der größte Teil der Insel sogar den Sachinor für immer verschlossen. Zu weglos. Zu steil. Zu gefährlich.

So, wie Ganvoch es erzählt, könnte ohne weiteres eine andere Volksgruppe oder ein anderer Stamm wie die Sachinor auf dieser Insel leben, ohne daß man von ihnen etwas wüßte. Die Stämme wären durch die geographischen Gegebenheiten vollkommen voneinander getrennt. Ganvoch glaubt zwar nicht, daß es so ist, aber es wäre im Prinzip möglich. Genauso wäre es möglich, daß jemand unbemerkt auf dieser Insel landet. Wenn man Glück hat, läuft man diesen Fremden ebenfalls nicht über den Weg, aus dem gleichen Grund.

Da muß, was die Granitbeißerinnen betrifft, noch ein sehr altes Trauma lebendig sein, eine kollektive Erinnerung, die die Furcht weit über das hinaus verstärkt, was man rudimentär bei einer Legende empfinden würde. Wer weiß, vielleicht sind die Sachinor vor langer Zeit auf der Flucht vor der Granitbeißer-Kultur hierhergekommen? Ich will das auch noch herausfinden. Wenn wir dazu Zeit haben. Aber erst einmal sind natürlich diese Quellen das Wichtigste.

Weil wir dazu jetzt nichts weiteres Konkretes mehr herausfinden können, forsche ich noch nach etwas anderem, was mich belastet.

"Wer von Euch hat mit eigenen Augen gesehen, wie unser Schiff verbrannte?"

Zwei melden sich, nachdem in dem allgemeinen Palaver deutlich geworden ist, was ich will.

"Hat sich da noch jemand bewegt, nachdem wir von Bord gegangen sind und das Feuer sich ausbreitete?"

Kopfschütteln. Keiner hat etwas derartiges gesehen. Irene und ich sehen uns an. Wir beide wissen: Das ist ein Tropfen Balsam für meine Seele. Aber nur ein kleiner Tropfen. Wir wußten, daß auf der Brücke jemand lag, den wir vernünftigerweise für tot halten mußten. Deshalb haben wir genauer hingesehen. - Dieser Zweifel wird mir bleiben.

Die Schlafperiode nähert sich. Der 27-Stunden-Rhythmus ist hier derselbe wie bei den Granitbeißern - dieselbe Periode, dieselbe Phasenlage. Und ich habe immer noch nicht herausbekommen, woran das liegt und wie es synchronisiert wird.

Wir bekommen eine halboffene Hütte zugewiesen, mehr ein Verschlag an der Außenwand einer anderen, größeren Hütte, der aber seinen Zweck erfüllt. Ich weiß nicht, ob diese extra für uns frei gemacht wurde oder ob sie gerade unbenutzt ist. Ist auch egal. Der Nutzen eines Daches über einem Schlafplatz in dieser Welt ist im wesentlichen nur, den Schläfer vor Aufwachen bei Nieselregen zu schützen. Von der Temperatur her braucht man keine Behausung zum Schlafen.

Vorm Einschlafen rede ich noch ein bißchen über dies und das mit Irene. Ihre Zuversicht ist jetzt auch etwas gestiegen. Das liegt aber weniger an unseren realen Chancen, aus dieser Welt herauszukommen, als an der Freundlichkeit unserer Gastgeber.

"Bin neugierig, was dieser Rhogom wirklich weiß." sage ich, nachdem wir uns hingelegt haben.

"Morgen soll er zurückkommen." sagt sie und drückt sich an mich, nach wer weiß wie langer Zeit wieder einmal.

"Woher weißt du das?"

"Irgendjemand hat es erwähnt. Ich weiß nicht mehr, wer." Irene gähnt.

Sie ist müde. Das heißt, ich habe auch müde zu sein. Und das heißt, weitere Spekulationen über den Weg nach oben sind jetzt nicht gefragt. Ebenso nicht gefragt sind Spekulationen über die wenigstens eine Granitbeißerin, der es gelungen sein muß, sich auf diese Insel zu retten. Es ist ja immerhin etwas beunruhigend, wenn man sieht, daß dieses Dorf nicht bewacht wird.

Andererseits - diese Granitbeißerin gehörte zu meiner Besatzung. Wir sollten wohl kaum vor ihr Angst haben. Aber es könnte Zwischenfälle mit den Sachinor geben.

Egal. Jetzt wird geschlafen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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