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******** 078. Tag: Samstag 95-11-04 ********
78.1 Cherkrochj's Versteckspiel
Ich wache davon auf, daß jemand zu uns in das Masthaus hineinstürzt:
"Kommandant! Cherkrochj ist weg!"
Es ist Chrejene. Ich sehe auf die Uhr. Kurz nach 1 Uhr. Eine Stunde Schlaf stände uns also eigentlich noch zu.
"Wieso ist sie weg? Hast du denn jetzt Nachtwache?"
"Chruggch hatte Nachtwache. Sie hat mich geweckt."
Ich springe auf. "Sie kann ja nicht weit sein, und auf diesem Schiff kann sich niemand verstecken. Los! Allgemeines Wecken! Gilt für alle! Und dann wird gesucht! Gilt auch für alle!"
Chrejene verläßt das Masthaus. Sekunden später höre ich ihr Gebrüll auf Deck. Mit barschem Unteroffiziers-Tonfall rennt sie in das Deckshaus. Auch ich bin schon aufgesprungen - Cherkrochj auf freiem Fuß und nicht auffindbar - das bedeutet Ärger.
"Irene, steh auf!" sage ich, "Ich weiß nicht, was Cherkrochj vorhat. Nicht, daß sie jetzt einen Anschlag gegen uns versucht!"
Hastig sehe ich aus allen Fenstern des Masthauses in alle Richtungen hinaus. Irgend etwas Ungewöhnliches? - Vielleicht hätte ich Cherkrochj doch hier oben behalten sollen. Wäre sicherer gewesen.
Irene ist noch schlaftrunken, trotz des frühmorgendlichen Adrenalinstoßes. Ich muß ihr die Ernsthaftigkeit der Lage noch etwas klarer machen:
"Irene, nimm jetzt dein Schwert zur Hand, ob du das Ding magst oder nicht! Solange Cherkrochj verschwunden und nicht nachweislich tot ist, wirst du das Schwert immer griffbereit mit dir führen, verstehst du? Wenn du pissen gehst, dann legst du es dir derweil über die Schenkel, und wenn du beten gehst, dann wird der Herr dir verzeihen müssen, daß du es zwischen den gefalteten Händen hältst! Tu es mir zuliebe! Damit du am Leben bleibst!"
Allmählich entwickelt sich Lärm im Deckshaus und auf Deck. Chrejene macht ihre Sache gut. Es dürften jetzt schon alle auf den Beinen sein. "Bringt mir Cherkrochj! Tot oder lebendig!" höre ich sie mehrmals rufen. Von 'tot oder lebendig' habe ich zwar nichts gesagt, aber Chrejene dürfte da recht haben. Cherkrochj überhaupt nicht zu finden wäre die unangenehmste aller Entwicklungen.
"Paß auf dich auf!" sage ich noch zu Irene, als ich das Masthaus verlasse, "Ich kann meine Augen nicht überall haben!"
Während der Schlafperiode ist dichter Nebel aufgekommen, und die Bewölkung hat sich weiter zugezogen. Besonders in einer wenige Meter dicken Schicht über dem Wasser ist die Sicht nur zwischen 50 und 100 Meter. Vom Niveau der Brücke, des vorderen Masthauses oder gar vom Mast aus ist die Sicht besser, und ich lasse erkunden, ob eine ungefähre Navigation möglich ist. Das ist so gerade eben der Fall, und so lasse ich noch vor dem üblichen Frühstück die Segel setzen. Wer immer nichts zu tun hat, fährt dabei fort, das Schiff zu durchsuchen. Auch während des Essens.
Der Wind ist immer noch schwach, aber er weht aus derselben Richtung wie am Vortage, und wir bewegen uns mit ungefähr derselben Geschwindigkeit weiter. In vier Stunden sollten wir also der Gabelsäuleninsel am nächsten sein. Oder der Säulengabelinsel. Über die Benennung muß ich mir noch klar werden.
Cherkrochj wird nicht gefunden, obwohl ich dachte, daß das eine Sache von Minuten ist, wenn die ganze Besatzung an der Suche teilnimmt. Da gibt es jetzt also drei Möglichkeiten:
Erstens: Cherkrochj hat einige Verbündete unter der Besatzung, die während der Suche ihr Versteck ständig geschickt umgehen. Das wäre am unangenehmsten.
Zweitens: Cherkrochj ist von Bord gegangen. Schwimmend kann sie sich in einer Entfernung von wenig mehr als 100 Metern vom Schiff entfernt stundenlang aufhalten. Da können wir sie bei dem Nebel nicht mehr sehen. Sie das Schiff allerdings auch nicht, so daß das nicht ganz ungefährlich wäre. Außerdem mußte sie erwarten, daß wir alsbald wieder Fahrt aufnehmen, wie wir es auch getan haben. Ich glaube kaum, daß es ihr gelingt, uns schwimmend zu folgen. Es wäre ihr Todesurteil, wenn sie das Schiff nicht mehr erreichen kann. Aber wer weiß, vielleicht hat sie das vorgezogen? Welche Aussichten hat denn eine von einem Mann abgesetzte Schiffskommandantin in der Welt der Granitbeißerinnen?
Drittens: Der Saurierfänger bietet doch mehr Verstecke, als ich das im Moment noch glaube. Ich habe da besonders unsere Fleischladung im Verdacht. Zwischen den Stapeln gibt es viele Lücken, wo sich ein Mensch noch hineinzwängen kann, und mit etwas Zusatzaufwand könnte man sich sogar eine Art Unterstand bauen. Cherkrochj hat schließlich etwas mehr als eine Stunde Zeit gehabt. So lang war der Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt, wo das letzte Mal jemand nach ihr gesehen hatte und wo sie noch ruhig zu schlafen schien, und dem Zeitpunkt der Entdeckung, daß sie verschwunden war.
'Drittens' könnte dadurch untersucht werden, indem wir uns von der Ladung befreien. Kommt natürlich nicht in Frage, da es für die Besatzung unangenehm wäre, mit einem leeren Saurierfänger wieder in Grom aufzutauchen. Langfristig könnte man durch Umladen des gesamten Fleisches eventuell ein Versteck auffinden. Aber das ständige Umladen geschieht ja sowieso.
Der Möglichkeit 'Erstens' begegne ich, indem ich die suchenden Gruppen austausche. Wer das vordere Schiff abgesucht hat, geht nach hinten und umgekehrt, wer die Gebäude abgesucht hat, darf sich noch einmal an den Außenanlagen probieren und umgekehrt. Das sollte doch irgendwann Resultate bringen. - Die Suche muß einfach nur so gründlich sein, daß ein beliebig herausgegriffener kleiner Teil der Besatzung bereits überall einmal hingesehen hat.
Trotz dieser Maßnahme bleibt Cherkrochj verschwunden. Nach zwei Stunden erlahmt der Sucheifer der Besatzung, weil niemand weiß, wo man denn sonst noch hinschauen könnte.
"Ihr kennt sie doch schon länger. Ist es möglich, daß sie Selbstmord gemacht hat?" frage ich die Mädchen auf der Brücke.
"Cherkrochj? Nie. Die nicht." entgegnet Chromargue überzeugt, "Die hört erst auf zu kämpfen, wenn du sie in zwei Teile zerschneidest. Und dann mußt du noch mit beiden Teilen getrennt verhandeln."
"Ob sie Hilfe gehabt hat, um sich von den Fesseln zu befreien?"
"Glaube ich nicht. Wir haben in dem Raum, wo wir sie untergebracht haben, an den Wandbalken Schleifspuren gefunden. Sie hat die Gelegenheit, unbeobachtet zu sein, genutzt, um sich die Fesseln aufzureiben. Muß Stunden gedauert haben."
"Aha. Hat jemand die Fesseln gefunden?"
"Chruggch vielleicht?"
"Ne." Chruggch, die erst in Casabones an Bord gegangen ist, habe ich schon befragt. Wir haben darauf geachtet, daß der Raum, in dem wir Cherkrochj untergebracht haben, völlig leer war, als wir sie dort hinlegten, und er war auch noch leer, als ihr Verschwinden bemerkt wurde.
"Hat sie wohl über Bord geworfen. Fehlen Waffen?"
"Wissen wir nicht. Wir wissen nicht, wieviele Waffen in der Zeugkammer aufbewahrt werden. Und die Zeugkammer ist ja jederzeit für jede zugänglich."
"So." Ich überlege, ob man das jetzt ändern sollte. Aber es würde den Schiffsbetrieb unnötig aufhalten - dauernd wird etwas aus der Zeugkammer gebraucht oder dorthin zurückgebracht. Und ich weiß nicht, wo man die Waffen sonst unterbringen sollte. Außerdem kann man sich auch bei der Schiffsbesatzung Waffen besorgen, wenn man geschickt genug ist, vielleicht sogar, ohne daß das der Bestohlenen gleich auffällt. Also bleibt die Zeugkammer offen. Aber ich ordne eine Wache dort an.
Eine Weile ist es ruhig auf der Brücke, und auf Deck fällt der Geräuschpegel auf das übliche Gemurmel zurück. Das Knarren und Flattern in der Takelage klingt vertraut und beruhigend, die Mädchen auf der Brücke sehen angestrengt nach vorne, um zwischen Wolken- und Nebelbänken immer wieder einmal einen Blick auf die Bergketten der Säulengabelinsel zu erhaschen. Immer wieder taucht in einer Lücke zwischen Grau und Tiefgrau ein Felsgrat auf, oder ein bewaldeter Rücken, oder ein Ausschnitt aus einer steilen Wand. Langsam kommen wir näher.
Ich sehe von einer zur anderen. Könnte es sein, daß Cherkrochj mehr Verbündete hat als ich das jetzt für möglich halte? Könnte es sein, daß mir das entgeht, daß diese Mädchen hier und auch jede andere der Besatzung sich so gut verstellen können? Hat Cherkrochj inzwischen schon wieder heimlich das Kommando übernommen und wartet nur auf eine Gelegenheit, das auch offen zu tun?
Chrejene. Sie gehört sicher nicht dazu. Immer, wenn ich sie ansehe und sie das bemerkt, strahlt sie mich an. Ich denke, ihre momentane Hormonlage zwingt sie zur Loyalität. Sie würde mir etwas sagen, wenn sie etwas wüßte. Aber Chibargch und Chromargue sind verschlossener. Zum wievielten Male überlege ich, was diese Menschen vorantreibt. Welche Beweggründe. Warum fährt eine Granitbeißerin auf einem Saurierfänger zur See? Kann man dadurch wohlhabend werden? Gibt es den Begriff 'wohlhabend' überhaupt so oder so ähnlich, wie wir ihn verstehen? Oder ist es der Wunsch, sich mehr Einfluß zu erarbeiten? Oder wird man dazu gezwungen?
Ich weiß immer noch erschreckend wenig über die Granitbeißer. Ich war immer noch nicht in ihren Städten. Viele Bereiche ihres Lebens habe ich noch nicht gesehen. Kein Familienleben. Keine Kinder. Keine religiösen Zeremonien, wenn sie welche haben sollten. Keine Kunst - außer vielleicht Chrejene's Kettchen. Wie kann man aus der Kenntnis einer Gefangenenkolonie und dem Leben an Bord eines Saurierfängers erschließen, wie es ist, als Granitbeißer in dieser Welt zu leben und eventuell nichts anderes zu kennen? Nicht einmal von Charmion habe ich allzuviel darüber erfahren, und wie nahe sind wir uns doch gewesen.
"Gibt es Lücken im Grundgebälk des Schiffes, wo man eventuell sich schwimmend und festhaltend verbergen könnte?" denke ich laut.
"Habe ich auch schon dran gedacht," sagt Chromargue, "wäre vielleicht möglich, wenn man etwas nachhilft und sich eine Höhlung zwischen den Stämmen etwas erweitert. Das geht aber kaum geräuschlos, oder es dauert zu lange. - Außerdem ist das Schiff voll beladen. Es liegt zu tief. Ich glaube es nicht, daß sich jemand so unter dem Schiff verstecken kann."
Sie sieht weiter angespannt nach vorne. Hat sie auch schon dran gedacht, sagt sie. Woran hat sie noch gedacht, woran ich nicht gedacht habe?
"Wie würdest du es denn machen? Dich auf dem Schiff zu verstecken, meine ich?"
Sie wiegt den Kopf: "Wenn man nicht mit einer so massiven Suche rechnen müßte, wie wir es gemacht haben, dann gäbe es einige Möglichkeiten. Aber Cherkrochj mußte mit einer massiven Suche rechnen. Sie kennt jeden Balken des Schiffes, aber ich glaube nicht, daß ihr eine Möglichkeit eingefallen ist, die wir jetzt nicht auch untersucht haben. Nein. Sie kann nicht mehr an Bord sein."
"Und von Bord kann sie auch nicht gegangen sein, weil das Selbstmord wäre. Und Selbstmord macht sie nicht. Habt ihr einmütig so festgestellt."
Einmütiges Nicken.
"Ich würde mich von einem Seil hinterherschleppen lassen," sagt Chrejene dazwischen, "dann wäre ich von Bord, aber sicher mit dem Schiff verbunden und könnte es jederzeit wieder betreten!"
Das ist eine Idee. "Chrejene, du bringst es noch zu etwas!" sage ich, wohlweislich jeden Hinweis auf das Sprichwort mit dem blinden Huhn und dem Korn vermeidend, "Wir sehen uns das sofort an!"
Es ist jetzt kurz nach 4 Uhr, als wir zum Heck des Saurierfängers rennen. In etwa einer Stunde sind wir auf gleicher Höhe mit der Säulengabelinsel, oder genaugenommen mit der Säule. Die Ausläufer der Insel liegen schon längst zu unserer Rechten. Aber wir werden noch mindestens eine Stunde fahren. Solange würde ein Seil, mit dem sich jemand hinter dem Schiff hinterherziehen läßt, straff gespannt sein.
"Wir nehmen die Schwerter!" sage ich zu Chrejene, "Du backbord, ich steuerbord!"
Gesagt, getan. Es dauert keine zwei Minuten, bis wir über die gesamte Breite des Schiffes das Wasser bis in eine Tiefe von eineinhalb Metern mit entschiedenen Hieben zerteilt haben. Wenn bis zu dieser Tiefe ein Seil befestigt gewesen wäre, dann hätten wir es damit zerschnitten.
"Hast du einen Widerstand gespürt? Irgend etwas?" frage ich Chrejene.
"Nein."
"Ich auch nicht. Also entweder ist das Seil tiefer befestigt - was kaum möglich ist - oder diese Idee war eine von vielen, die auch nicht richtig waren."
Chrejene sieht bekümmert aus.
"Mach dir nichts draus," sage ich schnell, "wir mußten es überprüfen. Es war gut, daß du diese Vermutung hattest. Auch wenn sie nicht richtig war!"
Als wir wieder nach vorne gehen, fällt mir noch ein: "Es wäre außerdem nicht ungefährlich, sich in diesem Wasser an einem Seil hinterherschleppen zu lassen. Man weiß nie, was für Viehzeug da rumschwimmt. Cherkrochj muß das wissen."
"Auf dem offenen Meer ist es doch nicht so schlimm, denke ich," versucht Chrejene, ihre Theorie zu retten, "Im Wasserstraßengebiet wäre es reiner Selbstmord gewesen!"
"Vielleicht hast du recht."
Auf der Brücke entscheide ich mich, die Segel bis auf eins zu bergen und den Kurs nach Nord zu ändern. Ich möchte jetzt etwas näher auf die Insel zufahren, um die Beobachtungsbedingungen zu verbessern. Dazu müssen wir vor dem Wind segeln. Es ist ein nicht ganz unproblematisches Manöver, da der Wind hier genau auf die Insel zugeht. Wir können jetzt zwar einen Kurswinkel von knapp über 90 Grad erzielen. Aber das ist so wenig, daß es doch Schwierigkeiten machen wird, bei auflandigem Wind vom Land freizukreuzen.
78.2 Die Quellen der Insel und wie man sie findet
Unser Abstand zum Ufer der Insel dürfte etwa drei Kilometer sein. Wenn wir länger beobachten wollen, dann müssen wir sehr langsam fahren. Also lasse ich auch noch das letzte Segel bergen und lege das Schiff genau quer zum Wind, so daß es mit der rechten Seite genau zur Säulengabelinsel weist. Damit werden die Kielschwerter, die wir abgesenkt lassen, die Driftgeschindigkeit sehr stark herabsetzen.
"Jetzt könnten wir noch etwas weniger Wolken gebrauchen!" sage ich. Es ist kurz nach 5 Uhr. Wie lange ich wohl eine Beobachtungspause ausdehnen kann, bevor die Besatzung unruhig wird und fragt, was das soll?
Ferngläser wären jetzt recht. Auf dieser Zugspitzwanderung vor 11 Wochen habe ich aber meinen kleinen Feldstecher nicht mitgenommen. Das hängt von Zufälligkeiten ab, was man mitnimmt und was nicht. Man könnte einen kleinen Möbelwagen mitschleppen: Viedeokamera mit Ersatzakkus und Ersatzkassetten, Fotokamera mit Zusatzobjektiven und Reservefilmen, Fernglas, Laptop-Computer, falls man unterwegs etwas schreiben möchte, Radio, falls man nachrichtenmäßig auf dem Laufenden bleiben möchte, Sonnenschirm und Schlauchboot, ein paar Taschenbücher, falls es einem langweilig werden sollte, und einen tragbaren Fernseher, wenn man die Langeweile wieder zurückhaben möchte. Wer weiß was noch. Wir haben aber absichtlich sowenig wie möglich mitgenommen, weil ich wußte, daß eine Zugspitzbesteigung über das Höllental an die Grenze von Irene's körperlicher Leistungsfähigkeit stößt. Deshalb haben wir nur mitgenommen, was im Notfall brauchbar ist: Kompaß und Höhenmesser, die Dynamolampen für den unwahrscheinlichen Fall, daß wir in die Nacht gekommen wären, sogar Streichhölzer haben wir mit. Kleidung und Verpflegung natürlich. Das war aber auch alles. Fernglas wäre als sicherheitsrelevant diskutierbar gewesen. Ich habe mich aber trotzdem dagegen entschieden, und Irene hat keine Einwände gehabt. Also haben wir jetzt keines dabei.
So ab und zu können wir durch die Wolkenlücken die große Säule sehen. Tatsächlich teilt sie sich noch unter dem Niveau der Leuchtenden Wolken, wie ich es vermutet habe. Dort oben, in dieser Gabelung, sieht man dichten Urwald. Das war zu erwarten: Es ist ja fast auf demselben Niveau wie die Oberfläche von Casabones. Wie es innerhalb der Leuchtenden Wolken und darüber weitergeht kann man natürlich nicht sehen.
Ganz besonders strenge ich mich an, etwas einem Wasserlauf ähnliches zu erblicken. Aber wenn es nur ein schwaches Rinnsal ist, dann kann man es auf diese Entfernung sowieso nicht sehen, selbst, wenn es die ganze Länge der Säule als Wasserfall hinunterfällt. Höchstens, daß, wenn es sich um die Salzigen Quellen handelt, man Salzablagerungen erkennen könnte. Ist aber auch schon wieder unwahrscheinlich, weil in diesem feuchten Klima Salzablagerungen wohl häufig genug von Regen wieder abgewaschen werden. Erst über den Leuchtenden Wolken, in den trockeneren Teilen der Welthöhle, könnte man mit wirklich dauerhaften Salzablagerungen rechnen.
Und dann ist da auch noch die Möglichkeit, daß eventuelle Wasserläufe an der anderen Seite der Säule herabfallen, oder daß Wasserfälle sogar vollkommen zerstäuben und verdampfen, bevor sie das Seeniveau der Welthöhle erreicht haben.
Mir fallen die Salzsteine ein, mit denen im Proviantlagerraum Menschenfleisch auf so unappetitliche Weise haltbar gemacht wird. Ich frage Chromargue und Chibargch danach, aber sie meinen, daß diese von wo ganz anders herkommen. Woher genau, das weiß sie nicht. Diese Steine werden in Grom verkauft, wo der Saurierfänger ausgerüstet und erstverproviantiert wurde.
"Wenn wir in der Nähe des Donnernden Meeres sind, oder gar schon drin, dann müßte man doch auch davon etwas sehen - umgebrochene Bäume zum Beispiel. Mir kommt aber dieser Urwald völlig normal vor. - Oder sieht eine von euch etwas?" sage ich.
"Bäume halten viel aus." murmelt Chibargch, "Außerdem richten diese Ausbrüche manchmal in großer Entfernung mehr Schäden an als in der Nähe. Das ist ganz seltsam und schwer zu verstehen."
Ganz so schwer ist das nicht zu verstehen. Ich denke an Reflektionen von Druckwellen und an Beugungsphänomene. Das gibt es sogar bei uns oben. Es hat Beispiele von oberirdischen Kernwaffentests gegeben, die in einigen Dutzend Kilometern Entfernung nicht mehr zu hören waren, die aber in einigen hundert Kilometern Entfernung vom Explosionspunkt noch Druckwellen verursachten, die Fensterscheiben eindrückten und Menschen verletzten. - Aber ich sage nichts. Wozu Besserwisserei demonstrieren?
Dann mache ich, weil wir ja viel Zeit haben und uns der Küste nur unmerklich langsam nähern, im Kopf Überschlagsrechnungen, um herauszufinden, wie auffällig ein Salzwasser-haltiges Rinnsal ein Biotop beeinflußen kann. Das, was man sich bei dem Wort 'Rinnsal' vorstellt, kann nur wenige Gramm Salz pro Sekunde transportieren, wenn es hoch kommt, und das bedeutet schon einige Liter Salzwasser pro Sekunde oder eine sehr konzentrierte Salzsole, von der man aber erst recht nicht wüßte, wo sie herkommen sollte.
Sagen wir mal, einen Liter Seewasser pro Sekunde. Hört sich viel an. Das sind in der Stunde fünf bis zehn Badewannen voll. Am Tag ein kleiner Swimming-Pool. Im Jahr ein See von der Größe der kleineren Harzseen. Der Jägersbleeker Teich enthält zum Beispiel 405000 Kubikmeter Wasser - der wäre also in 13 bis 14 Jahren voll. Das ist schon einer der größeren Seen, und ich habe mir seinen Inhalt gemerkt, seit ich damals diese nächtlichen Floßfahrten auf ihm unternommen habe.
Aber an diesem Teich kann man schon sehen, wie unauffällig ein Liter Seewasser pro Sekunde ist. Der Jägersbleeker Teich hat einen natürlichen Wasserzulauf, der viel größer als ein Liter pro Sekunde ist. Schließlich kann er in einem regenreichen Sommer von Grund auf wenigstens einmal neu gefüllt werden. Ein zusätzlicher Liter Salzwasser pro Sekunde würde seinen Salzgehalt auf vielleicht, größenordnungsmäßig, ein Zehntel des Salzgehaltes von Meerwasser bringen. Eher weniger. Das würde man an der Wirkung auf die Ufervegetation kaum noch merken, einem botanischen Laien würde das gleich gar nicht auffallen. Und in größerem Abstand von diesem Teich wären die Auswirkungen noch viel geringer.
So ähnlich müßte man sich die Auswirkungen eines Salzwasserrinnsals auf der Insel vor uns vorstellen. Die große Menge der natürlichen Niederschläge und die allgegenwärtige Feuchtigkeit würde jeden Zulauf eines Salzwasserrinnsals so schnell verwässern und verdünnen, daß eine großräumige Wirkung überhaupt nicht feststellbar wäre. Man müßte praktisch über dieses Rinnsal stolpern, etwa versuchen, davon zu trinken, um es mit Sicherheit zu erkennen.
Und dieser eine Liter Seewasser pro Sekunde wird den Salzgehalt der Meere der Welthöhle in geologischen Zeiträumen gar nicht messbar verändern. Dazu gibt es hier viel zu viel Wasser. Einfache Dreisatzrechnung.
Jetzt fällt mir plötzlich wieder etwas auf. Warum habe ich nicht früher dran gedacht? Die Meere hier sind ja salzfrei! Warum?
Die Ozeane der Erde enthalten deshalb Salz, weil die Niederschläge und die Flüsse der Erde seit Jahrmilliarden alles, was löslich ist, aus Boden und Gesteinen herausgelöst und ins Meer transportiert haben. Außerdem ist alles Wasser der Erde irgendwann einmal aus dem Erdkörper ausgetreten, besonders in der geologischen Frühzeit. Das geschah etwa bei Vulkanausbrüchen, und das geschieht in geringem Umfange sogar noch heute. Dabei wird auch nie reines Süßwasser gefördert, sondern es werden immer gelöste Salze mit nach oben gebracht, manchmal auch sehr ungenießbare Bestandteile wie etwa Natronlauge. - Immerhin ist die Menge des heute noch geförderten vulkanischen Wassers größer als der Wasserverlust in das Weltall, der dadurch entsteht, daß Wassermoleküle in der Hochatmosphäre durch energiereiche Ultraviolettstrahlen gespalten werden und der leichte Wasserstoff bevorzugt in das Weltall entweicht. Die Ozeane verlieren im Moment kein Wasser, im Gegenteil. Allerdings wird ihr Salzgehalt immer noch weiter steigen.
Das Süßwasser ist auf der Erdoberfläche die Ausnahme. Es entsteht durch die durch das Wetter bewirkte Destillation. Regen, Schnee und daraus resultierende Oberflächengewässer oder Eisschichten. Etwas anderes gibt es nicht.
Und hier, in den Welthöhlen der Granitbeißer, sind die Meere nicht salzhaltig. Wie kann das sein? In einer derartig feuchten und regnerischen Umgebung muß das Lösen löslicher Bestandteile des Bodens ständig wirkungsvoll vor sich gehen. Wo bleibt das Zeug? Ist das ein Hinweis auf ein geringes geologisches Alter der Welthöhlen? Aber wie paßt das mit der paläobiologischen Fauna zusammen? Oder sind die Gesteine und deren Verwitterungsprodukte für lösliche Bestandteile nicht sehr ergiebig? Immerhin, ich hatte ja schon die Idee, daß die schiere Größe dieser Welthöhle besondere Gesteine nahelegt, um die Stabilität der geologischen Formationen zu erklären - da ist vielleicht nicht viel drin zum Rauslösen.
Ich muß diese Frage auch erst einmal zu den Akten legen, in der schwachen Hoffnung, daß irgendwann einmal das gesamte Bild klar wird. Tatsache ist: Auch die Süßwassermeere der Welthöhle bedürfen der Erklärung. Ich denke, wenn man eine der ausstehenden Erklärungen hat, dann hat man sie alle.
Zurück zu den Salzigen und Braunen Quellen. Wenn es sich um die Braunen Quellen handelt, dann ist ein solches Bächlein noch unauffälliger. Zwar weiß ich nicht, warum die 'Braunen Quellen' braun sind, aber man kann sich darunter so etwas wie Moorwasser vorstellen, also etwa das Gemisch, das in vielen Seen des schottischen Hochlandes zu finden ist. So etwas wird, wenn es in einen Urwaldboden entlassen wird, gar nicht mehr identifizierbar sein - noch viel weniger als Salzwasser.
Fast werde ich mutlos bei dem Gedanken, wie schwer diese Quellen immer noch zu finden sind, selbst, wenn wir am richtigen Ort, vor der richtigen Insel sind. Ich fürchte, diese Überlegungen darf ich der Irene nicht mitteilen.
78.3 Geiselnahme
Während ich die linke Kante der Felssäule, die kurz in einer Wolkenlücke sichtbar geworden ist, begutachte, hören wir vom Achterdeck plötzlich einen lauten Schrei des Erstaunens oder Erschreckens. Wenig später gibt es rasche Schritte in Richtung Achterdeck und ein Stimmengewirr.
Ein Schiffskommandant muß wissen, was auf seinem Schiff los ist. Also verlasse ich die Brücke im Laufschritt.
Da stehen schon fünfzehn Frauen der Besatzung beisammen. Sie treten zur Seite, als ich komme. Auf dem Boden liegt ein bewegungsloser weiblicher, teilweise mit Blut beschmierter Körper. Jemand hat ihn bereits auf den Rücken gedreht.
"Chrcherch, Kommandant. Ich habe sie eben gefunden. Sie lag auf dem Heckreelingsbalken. Genau so. - Ich war es nicht!"
Die Frau, die mir das erzählt, zeigt auf den braunen und nassen Fleck auf dem groben Holzbalken, neben dem die Leiche liegt.
"Du heißt Chrachel, ja?"
"Ja, Kommandant."
"Warum kommst du auf die Idee, daß ich dir vorwerfen könnte, daß du das getan hast?"
"Weil das kein Unfall war."
"Das sehe ich, daß es kein Unfall war." Ich sehe es in der Tat. Ein sauberer und tiefer Schnitt quer über den Kehlkopf. Eine professionell durchgeführte Tötung, obszön in ihrer offensichtlichen Brutalität und Effizienz der Durchführung. "Deshalb mußt du es ja nicht notwendig gewesen sein!"
"Ich war die einzige, die mit Chrcherch zusammen hier hinten war. Ich habe ihr eigentlich nur kurz den Rücken zugewendet. Als ich mich umdrehte und hier entlang ging" sie deutet an, wo sie entlang ging, "da lag sie plötzlich da. Es war niemand sonst hier hinten. - Ich habe auch gar nichts gehört. Keinen Laut."
Ich sehe von einer zur anderen. "Ich fürchte, es war jemand hier hinten."
"Cherkrochj?" Chibargch ist mir von der Brücke her gefolgt.
"Wer sonst? Sie muß das Schiff hier betreten haben, weil es nur eine einzige Zeugin gab. Und die hat sie beseitigt. Wir müssen sofort wieder das ganze Schiff ..."
Vom Vorderschiff gellt ein Schrei: "Herwig! Herwig! Hilf mir!"
Es ist Irene's Stimme!
Wir sind im Augenblick vorne. Oben, in einem Fenster des vorderen Masthauses, steht Irene. Die Angst ist in ihr Gesicht geschrieben. Das Messer unter ihrer Kehle spricht eine deutliche Sprache, und Cherkrochj, die es in der Hand hält, benutzt Irene für die eigene Körperdeckung.
Ich habe entsetzliche Angst. Das Mädchen mit der zerschnittenen Kehle auf dem Achterdeck habe ich ja erst vor Sekunden gesehen. Und jetzt droht Cherkrochj, dasselbe mit Irene zu tun!
"Cherwig! Lass deine Waffen fallen und komm hier rauf!"
Ich zögere.
"Deine Waffen fallen lassen! Sonst senkt sich dieses Messer! Befiehl auch den anderen, die Waffen fallen zu lassen! Sofort!"
Irene wagt nicht, einen Ton zu sagen, aus Angst, daß schon das das Messer in ihre Kehle hineindrücken könnte.
"Lasst eure Waffen fallen!" sage ich zu den Umstehenden. Ich habe keine andere Wahl. "Du auch, Chibargch! Alle!"
Zögernd tun sie, was ich verlange. Für sie ist ja auch keine Gefahr dabei.
"Komm jetzt hier rauf!" befiehlt Cherkrochj in schneidendem Ton.
"Ich habe sie vorbeilaufen sehen, aber sie hat mich bedroht, Kommandant!" sagt eine Stimme neben mir.
"Ist schon gut." Wem soll ich da einen Vorwurf machen?
Langsam besteige ich die Wanten zum vorderen Masthaus. Die Besatzung steht reglos auf dem ganzen Schiff herum, jede bemüht, nicht die Aufmerksamkeit oder den Zorn von Cherkrochj auf sich zu ziehen.
78.4 Überlebenspoker
"Du bist ein Weichling! Außer dieser Frau habe ich nichts in der Hand! Wenn du entschlossen genug wärst, dann wäre es doch ein leichtes für dich gewesen, mich jetzt umzubringen!" sagt Cherkrochj, als ich das Masthaus betrete.
"Und du hättest vorher sie umgebracht!"
"Aber klar! Tu ich jetzt sowieso! Euch beide! Wie es sich für Meuterer gehört!"
Ich gehe um sie herum: "Und du meinst, daß die Besatzung dir wieder die übliche Loyalität zollt? Nachdem du eine von ihnen umgebracht hast?"
In der Mitte des Raumes stolpere ich über Irene's Schwert. So, wie es aussieht, ist sie völlig überrascht worden und hat keine Gelegenheit zur Gegenwehr gehabt - oder sie hat zu langsam und zu unentschlossen gehandelt. Meine Schuld. Ich hätte wissen müssen, daß Irene sich, von allen, die an Bord sind, am wenigsten wirkungsvoll verteidigen kann.
"Sicher werden sie das! Ich werde noch mehr von ihnen bestrafen! Alle, die zu sehr mit dir kooperiert haben! Und nun sieh her, wie ich das Messer senke!"
Cherkrochj triumphiert. Sie will ihr Blutbad haben. Nichts kann sie aufhalten, ich sehe es ihr an. Wie kann ich jetzt Irene retten? "Tu es bitte nicht!" sage ich. Wie ein Kind, das sich auf's Bitten verlegt, nachdem alle anderen Mittel erschöpft sind. Cherkrochj amüsiert sich königlich über meine Hilflosigkeit:
"Du könntest versuchen, mich mit bloßen Händen anzugreifen! Vielleicht bist du schneller als dieses Messer! Willst du es nicht versuchen?"
"Und wenn ich es nicht tue?"
"Stirbt sie auch. Jetzt. Sieh genau hin! Ich mache mit ihr das, was ich einige Sekunden danach mit dir machen werde! Sieh also ganz genau hin. Ein Mensch stirbt. Ein Vorgang, den du nicht gerne siehst, aber den du ja schon öfter gezwungenerweise gesehen hast. Jetzt wird er besonders interessant: Eine Vorwegnahme deines eigenen Todes! Eine genaue Kopie! Du wirst deinen eigenen Tod also genau zweimal erleben! Wer kann das schon! Ich verspreche dir, daß ich identisch vorgehen werde!"
"Du tobst bloß billige Rache für deine Entmachtung als Schiffskommandantin aus!"
"Ja, genau! Also: Sieh hin!"
"Du kleine, häßliche, machthungrige ..."
Ich halte ein. Ihren Zorn gegen mich zu richten bevor sie Irene tötet funktioniert vielleicht nicht, und dann würde ich sie provozieren, es vorzeitig zu tun. Eine Sekunde früher als sie es eigentlich tun wollte. Das darf nicht sein. Was dann? Ich sehe Irene's angstgeweitete Augen. Ich habe doch versprochen, sie lebendig hier rauszuholen, aus dieser Welt! Das ist doch meine selbstverständliche Pflicht! Wie kann ich es ihr ersparen? Erst Charmion, und jetzt Irene, nein, das darf nicht sein!
Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf. Zwei Meter sind zwischen uns. Könnte ich ihren Arm schneller ergreifen als sie das Messer Irene in den Hals drückt? Vielleicht habe ich eine Chance in dem nachfolgenden Kampf mit ihr, aber wie kann ich noch Irene's Tod verhindern? Sie wird es tun, jetzt, in dieser Sekunde! Kann ich sie irgendwie ablenken? Ihre Armmuskeln spannen sich, um das Messer zu bewegen - mein Gott, Irene! Wenn ich angreife, schneidet sie, wenn ich nicht angreife, schneidet sie auch! Ich kann nichts für dich tun! Ich kann nicht einmal eine Sekunde für dich herausholen!
Cherkrochj grinst mich diabolisch an. Dann steckt sie mir eine lange, metallene Zunge raus. Fast einen halben Meter lang. Direkt neben Irene's Hals.
Und diese Zunge kommt nicht aus Cherkrochj's Mund, sondern auch aus ihrem Hals! - Eine Zunge aus Eisen.
Das Messer senkt sich nicht. Sie hält Irene immer noch umklammert, aber nun sieht sie verblüfft auf den Stahl, der unter ihrem Kinn ins Freie gestoßen ist. Er ist blutig. Irene's Hals ist auch blutig, aber es ist nicht Irene's Blut.
Ich springe vor, ergreife Cherkrochj's Arm. Er ist wie gelähmt. Cherkrochj ist gelähmt. Richtig gelähmt. Und Irene's Hals ist unverletzt!
Aus nächster Nähe sehe ich Cherkrochj in die Augen. Und Irene. Irene weiß noch nicht, daß sie gerettet ist. Sie muß denken, daß mit meinem Vorwärtsspringen Cherkrochj ihr gleichzeitig in den Hals schneidet, wie sie es angedroht hat. Vielleicht denkt sie, daß es schon geschehen ist, und daß nur die Nerven ihrem Bewußtsein den Schmerz noch nicht gemeldet haben, wie es bei starken Schmerzen ja manchmal vorkommt.
Cherkrochj schneidet aber nicht. Sie kann es nicht mehr. Alle Nervenverbindungen zwischen ihrem Kopf und ihrem Körper sind getrennt, und die Luftröhre muß auch glatt unterbrochen sein. Ebenso die größten Gefäße. Cherkrochj begreift gerade, daß sie soeben stirbt. Die letzte intellektuelle Leistung, die ihr Gehirn in diesem Leben vollbringen wird. Einige Sekunden wird es Zeit dazu haben.
Noch ist sie bei Bewußtsein, nimmt wahr, daß ich ihren kraftlosen Arm weggebogen habe. Die Finger halten das Messer immer noch umklammert. Das ist aber auch alles. Ich sehe, daß ihr Bewußtsein beginnt, sich zu trüben.
Ich bin jetzt auch sadistisch. Ich muß noch etwas draufsetzen:
"Tja, Cherkrochj! Das ist der Tod! Eine unfähige Kommandantin stirbt! Eine Versagerin unter den Granitbeißerinnen! Geschieht nicht oft! Und du erlebst es jetzt aus erster Hand!"
Sie reagiert nicht mehr. Die Sekunden vergehen. Immer mehr Blut fließt an ihr herunter. Ich lasse sie los und halte Irene fest.
"Bist du verletzt? Es ist ja gut - es ist ja vorbei!" Irene ist immer noch starr vor Schreck und sagt nichts. Schwer plumpst Cherkrochj auf die Bodenbalken des Masthauses. Dabei dreht sich das Schwert in ihrem Hals, und noch mehr Blut fließt aus der sich ausweitenden Öffnung. Es gibt aber keine röchelnden Geräusche - sogar die Atmung ist durch die Trennung der Nerven sofort zum Stillstand gekommen. Cherkrochj liegt völlig lautlos da. Vielleicht ist der Boden des Masthauses das letzte, was sie mit schwindendem Bewußtsein sieht. Gerade jetzt.
Sie hat mit dem Rücken am Fenster des Deckshauses gestanden, zwei Meter vom Eingang desselben entfernt. Da kann so schnell niemand heraufgeklettert sein. Jemand muß das Schwert geworfen haben. Ich behalte Irene im Arm und sehe hinaus.
Auf der Brücke steht Chrejene mit immer noch erhobenem Arm, so, wie sie erst vor wenigen Sekunden das Schwert geschleudert hat. Sie steht völlig bewegungslos, so, als sei ihr der Schreck über das, was sie selbst getan hat, in die Glieder gefahren. Sie sieht uns an, sie sieht Irene, sie sieht, daß Irene lebt, und sie hat Cherkrochj zu Boden fallen sehen. Ihre Züge entspannen sich, und sie läßt ihre Hand sinken.
"Daß du lebst!" sage ich zu Irene, und nur: "Daß du lebst!" Und nach vielleicht einer Minute oder so, ich weiß nicht genau: "Ich glaube, wir müssen jemandem 'Danke schön' sagen!"
Irene erlangt jetzt erst allmählich die Herrschaft über ihre Glieder zurück. Wie eine Marionettenpuppe bewegt sie sich. Ihr Blick fällt auf die leblose Cherkrochj.
"Sie ist tot!" sage ich, "Mausetot. Toter geht's gar nicht. Und du lebst! Irene!"
Und was wäre ohne Chrejene? denke ich. Wir sind in ihrer Schuld. Ich hatte kein Konzept, Irene zu retten. Ich hätte beim ersten Aufschrei auf dem Achterdeck mehr Phantasie entwickeln müssen. Ich hätte mich um Irene's Sicherheit als Allererstes kümmern müssen. Ich hätte Cherkrochj's Intentionen erraten müssen. Sie war doch solange im Masthaus - sie hat gewußt, daß zwischen Irene und mir eine ungewöhnlich enge Bindung besteht. Und daß Irene eine Schwachstelle ist, was die Kampffähigkeit betrifft. Das hat sie ausgenutzt. Ganz einfach. Und ich habe es nicht vorausgesehen.
Wut über das eigene Versagen, Wut über Cherkrochj. Ich muß dem Luft machen:
"Kann mal jemand das Scheusal hier beseitigen!" rufe ich aus dem Masthaus hinaus, "Ich möchte, daß sie noch heute auf den Tisch kommt!"
Unten, auf dem Deck, kommt Bewegung in die Besatzung. Für sie ist es jetzt klar, wie der Machtkampf an Bord endgültig entschieden wurde. Und daß Cherkrochj auf der Stelle verspeist wird ist nur zu selbstverständlich.
Das erste Mal empfinde ich so etwas wie eine tiefe Befriedigung, daß es hier möglich ist, sich noch nach dem Tod eines Gegners an diesem symbolisch zu rächen. Wir sind unter Menschenfressern. Oft genug habe ich schon mit Widerwillen und unter Verdrängung Menschenfleisch gegessen.
Heute werde ich es mit Genuß tun.
78.5 Lebensretterin mit Ansprüchen
Wieder auf der Brücke. Chromargue hat das Ruder, sonst ist nur Chrejene da, die auf mich zukommt, als ich eintrete. Ich bringe ihr ihr Schwert zurück. Ich habe es sauber gemacht. Könnte sie eigentlich selbst tun, aber ich hielt es für angemessen.
Es ist merkwürdig, vor Chrejene zu stehen. Sie weiß, was sie für uns getan hat. Nicht direkt selbstlos. Sie erwartet - vielleicht unbewußt - dafür eine Belohnung. Von mir. Ich glaube kaum, daß ich das Irene verkaufen kann. Chrejene strahlt mich an, aber ich sehe, daß sie auch irgendwie unsicher ist.
"Das war ein guter Wurf, Chrejene. Alle Achtung. Wo hast du das gelernt?"
"Ich war nicht ganz sicher, ob ich gut treffen würde!"
"Es ging haarscharf am Hals meiner Frau vorbei!"
"Ja. Ich weiß. Ich konnte es von hinten nicht gut sehen. Ich habe riskiert, auch deine Frau zu verletzen. Es ging nicht anders. Cherkrochj hätte geschnitten."
Chrejene hat sich ihr Schwert wieder umgegürtet. Ein längliches Stück Metall, das Schicksal gespielt hat.
"Ja, das hätte sie. Du warst nicht sicher, ob du tatsächlich treffen würdest?"
"War ich nicht. Aber sonst hätte deine Frau keine Chance gehabt. Und du vielleicht auch nicht, Kommandant! Cherkrochj ist - war eine gute Kämpferin. Sie hätte euch beide problemlos erledigt."
Perfekte Analyse. Rationalität und nüchternes Abwägen in einer zeitkritischen und gefährlichen Situation. War mein Eindruck über Chrejene's Fähigkeiten falsch? Oder liegt ihr Schwerpunkt tatsächlich ausschließlich im Kämpferischen?
"Das Schwert hat genau die Halswirbel von Cherkrochj getrennt. Ich kann es kaum glauben, daß das ein Zufallstreffer war!"
"Ich wollte es für dich tun, Kommandant! Wenn man so etwas will, dann trifft man gut!"
"Glaubst du das?"
"Ja."
"Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll."
"Es ist schon gut, Kommandant!"
"Ich habe dich unterschätzt! Kann ich etwas für dich tun?"
So, wie sie mich ansieht, weiß ich sofort, was ich für sie tun kann. Das kann ich Irene jetzt nicht zumuten. Irene ist dabei, wieder in der Welt der Lebenden Fuß zu fassen. Jetzt keinen Seitensprung.
Oder sollte ich in aller Heimlichkeit? Welche Verpflichtung wiegt schwerer? Was ist angemessen? Was ist korrekt? Ich weiß es nicht.
Soll ich Irene um Erlaubnis fragen?
"Deine Frau war bei mir, vorhin, kurz, nachdem es passiert ist." sagt Chrejene.
"Ja? Habe ich gar nicht bemerkt."
"Du warst in der Küche, um die Zubereitung der Kommandantin zu veranlassen. - Deine Frau hat geweint."
"Sie ist ziemlich durcheinander, weißt du."
"Ja." Chrejene zieht die Luft ein: "Sie hat gesagt, daß sie ganz plötzlich gemerkt hat, wie sie am Leben hängt. Ich weiß nicht, warum sie meint, das vorher nicht gewußt zu haben - jeder hängt doch am Leben. - Und sie hat gemeint, daß ich - daß wir - wenn wir wollen ..."
"Das hat sie gemeint?"
"Sie sagt, ich will es doch. Und ich hätte euch beiden das Leben gerettet. Ich hätte ein Recht dazu."
"Das hast du. - Ich meine, du hast uns das Leben gerettet."
"Sie hat mich gebeten, es mit dir zu tun. Aber ich soll es dir nicht sagen, daß sie bei mir war."
Meine Irene hat Chrejene darum gebeten? Wo ihr die eheliche Treue doch soviel bedeutet? Aber wenn sie Chrejene's Eingreifen so hoch bewertet, dann muß sie meine erzwungene Passivität entsprechend gering bewerten. Wie kann sie dann diesen Vorschlag machen?
"Wann tun wir es denn dann, Kommandant?" wird Chrejene direkter.
In mir wächst der Keim des Mißtrauens. Denkt Chrejene sich das alles etwa aus? Aber wenn es so ist, ist das unter diesen Umständen verwerflich?
"Meine Frau ist noch ziemlich durcheinander. Ich sagte es. Sie weiß noch nicht, wie sie mit dieser Situation fertig werden soll. Es kann sein, daß sie einen Vorschlag gemacht hat, den sie schon in einem Tag nicht mehr trägt! Deshalb dürfen wir nicht zu schnell ..."
"Aber ich habe euch doch das Leben gerettet?"
"Ja, das ..."
Wie soll ich da jetzt rauskommen? Ich will keine von beiden verletzen. Chrejene nicht und Irene nicht. Wie soll ich jetzt so schnell entscheiden, welche Obligation schwerer wiegt? Und kann ich glauben, daß Irene, so durcheinander, wie sie jetzt noch ist, diesen Konflikt erkannt hat?
"Chrejene! Heute in der Schlafperiode, ja?" Stunden gewinnen. Mit Irene reden.
"Vorne, auf dem Vorschiff? An unserem Platz?"
"Ja." sage ich. Chrerene geht wieder zu ihrem Kartenstapel. In ihrem Gang ist die überzeugte Elastizität der Siegerin, der Beherrscherin der Situation. So wie ich es von Charmion immer gewöhnt war. Sie hat eine ganze Menge für ihr eigenes Selbstbewußtsein getan, denke ich mir. Das hat sie verändert. Und wie schnell es ging!
Chromargue hat die ganze Zeit konzentriert am Ruder gestanden. Das war eigentlich nicht nötig, weil das Schiff ja ohne Segel nur seitlich driftet. Aber es sollte ja immer jemand auf der Brücke sein, und jetzt taktvoll rauszugehen hat man von ihr auch nicht verlangen können: Erstens hätte sie dann ja nichts mehr hören können, und ich wollte ihr ersparen, sich eine dünne Ausrede zum Dableiben ausdenken zu müssen. Und zweitens wurde ja für eine Außenstehende erst während des Gespräches klar, worum es ging. Danach war es einfach sinnlos, die Brücke zu verlassen.
"Chromargue," sage ich zu ihr, "sorge dafür, daß sämtliche Kielschwerter herausgehoben werden und auf Schäden untersucht werden - die meisten sind sehr schnell provisorisch zusammengezimmert worden und könnten noch einige weitere Dübel vertragen, damit sie nicht auseinanderfallen. Chrejene übernimmt solange die Brückenwache."
Chromargue geht auf der Stelle und Chrejene freut sich, daß sie soviel Verantwortung bekommt. Und ich freue mich, daß ich Chrejene auf diese Weise auf der Brücke für längere Zeit festhalten kann.
78.6 Zukunftspläne
Die Irene ist nicht im Masthaus. Aber ich finde rasch raus, wo sie ist. Sie hat sich auf der rechten Seite des Bugsprietwiderlagers, ganz vorne auf dem Schiff, auf dem Reelingsbalken gesetzt. Das ist genau spiegelsymmetrisch der Stelle gegenüber, wo Chrejene mich verführt hat. Ist da ein Zusammenhang?
Ich setze mich neben sie. Sie sieht nicht auf, aber sie bemerkt mich natürlich.
"Sie wollen nicht da hinten landen, auf der Insel!" sagt sie nach einer Weile, während der wir auf das Wasser hinaussehen.
"Wer will das nicht?"
"Alle. Die ganze Besatzung."
"Das wollen wir erst einmal sehen."
"Du wirst sie nicht zwingen können. Und wir kommen nie hier weg."
"Wir kommen weg. Ich habe es dir versprochen!"
Pause. Denkt sie daran, daß ich alles mögliche habe versprechen können, und trotzdem, wenn Chrejene nicht gewesen wäre, dann wären wir oder wenigstens Irene, jetzt wirklich und unwideruflich und endgültig tot? Aber sie sagt nichts.
"Du wirst es vergessen," sage ich, "im Laufe der Zeit. Man vergißt doch alles."
"Das verstehst du nicht. Man ist noch am Leben, und man weiß nicht, warum. Wie ein Zufall. Wie ein dummer, unwichtiger Zufall."
"Meinst du, ich kenne das nicht? Meinst du, ich war bei der Casabones-Excursion nie in Lebensgefahr? - Es war ein paarmal ziemlich knapp, sage ich dir!"
"Aber diesmal - es ist so entwürdigend! Ich war ihr völlig ausgeliefert! Es war widerlich!"
"Ich weiß es doch, Irene! Es gibt keinen Eingriff in ein Leben, der widerlicher ist als ein Mord. Alles andere ist noch korrigierbar. Abwehrbar. Bestrafbar. Mord nicht."
"Mord kann man bestrafen!"
"Ja, aber man kann den Ermordeten nicht wieder auferstehen lassen. Das meine ich. Deshalb muß jedes Rechtssystem Mord und die Bestrafung des Mordes besonders sensibel behandeln. - Aber die haben hier kein Rechtssystem, oder nur eines, was wir nicht als solches erkennen!"
"Du redest und redest ..."
"Was soll ich denn sonst machen, wenn du mich ansprichst?"
"Du mit deiner Scheiß-Intelligenz! Weißt überall etwas zu sagen und weißt doch überhaupt nichts."
Wieder eine Weile Funkstille. Jetzt keinen Krach. Bei Irene muß man bei Streß mit plötzlichen Beschuldigungen aus heiterem Himmel und irrationalen Vorwürfen rechnen. Das geht wieder vorbei.
"Jedenfalls," sage ich, "gibt es hier an Bord ein Rechtssystem. Und das heißt: Der Kommandant hat immer recht. Deshalb werden wir dort an Land gehen."
"Wie willst du es ihnen klar machen? Die wollen ihr Fleisch nach Grom bringen!"
"Ich weiß nicht. Wenn da wirklich die Salzigen Quellen sind, dann könnte man wieder Experimente machen - mit Haltbarmachen von Fleisch, zum Beispiel."
"Braucht man bei Saurierfleisch nicht."
"Ja, das weiß ich."
Ich sehe nach rechts, weil Chromargue an der Bordkante entlang auf uns zukommt. Sie trägt eine triefend nasse Taurolle.
"Da, Kommandant! An der Spitze von einem der Kielschwerter hat sie es festgemacht, um sich hinterherziehen zu lassen!"
"Tatsächlich! - Dann hat Chrejene recht gehabt. Wir haben nur nicht alle Möglichkeiten überprüft - an die Kielschwerter habe ich nicht gedacht."
"Deshalb war das Seil auch sehr tief im Wasser. Das habt ihr nicht zerschneiden können!" Chromargue wirft die Taurolle hinter uns zu den anderen dort liegenden Seilen und entfernt sich wieder.
"Soviel kriminelle Energie," sage ich, "schade, daß sie unsere Feindin war." Irene erwidert nichts darauf.
Soll ich jetzt das Thema Chrejene ansprechen? Wie fängt man so etwas an? Ich blicke auf die Uhr: 12 Uhr. Also noch acht Stunden bis zur nächsten Schlafperiode. Erst dann wird Chrejene mich einige Meter von hier erwarten. Verschieben wir es noch ein bißchen.
Die Insel nördlich von uns, von der die Gabelsäule aufsteigt, ist von mittlerer Größe. Ich überlege mir, wo man an Land gehen sollte. Von der Küste an steigen die Berge sehr rasch zu einer verwirrenden Vielfalt von Hochgebirgsgraten auf, die man erst übersteigen muß, bevor man zum Fuße der Felssäule gelangt. Von der Küste bis zur Felssäule sind es unterschiedlich drei bis acht Kilometer. Und in diesem begrenzten Gebiet drängen sich die Bergriesen, kaum, daß sie an der Küste Platz für ein flacheres Ufergebiet lassen: An vielen Stellen fallen Felswände steil in das Wasser ab. Wir müssen an einer bewaldeten Stelle anlegen. Und dann wird es noch schwierig genug, die Braunen oder die Salzigen Quellen zu finden, wenn wir überhaupt an der richtigen Insel sind. Das wird das Problem - nicht, wie man die Besatzung dazu bringt, mit uns dahin zu fahren.
Und was werden wir dann machen? Selbst, wenn die ganze Schiffsbesatzung diese unwegsame Insel systematisch durchsuchen würde, würden wir lange brauchen, um diese Quelle zu finden. Und das systematische Durchsuchen geht nicht, denn die meisten Orte sind nur durch alpine Expeditionen zu erreichen. Von hier aus kann man nicht erkennen, ob man überhaupt einen gangbaren Weg zum Fuße der Felssäule finden kann, und wo der entlang geht. Und das liegt nicht an den Wolken, die uns dauernd die Sicht auf die meisten Stellen versperren.
Ob Irene die Schwierigkeit dieses Problems erkennt? Bisher war es so, daß wir einem erkennbaren Weg immer weiter gefolgt sind - bei unserem gemeinsamen Abstieg in diese Welt und bei meinem Aufstieg auf Casabones mit Charmion, oder daß wir uns zur See fortbewegt haben, entweder unter ortskundiger Führung oder mit Verwendung von ungefährem Kartenmaterial. Bisher wußten wir immer, wo es lang geht, oder jemand anderes wußte es. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wir fahren einer Legende hinterher. Einem Gerücht.
Vielleicht sollte ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, daß wir doch mit dem Saurierfänger nach Grom fahren. Das ist die lange und die sichere Lösung: Integration in die Welt der Granitbeißer, Einfluß gewinnen und irgendwann eine Expedition in die Wege leiten. Kann viele Jahre dauern, das habe ich mir ja schon überlegt. Ich bin jetzt 45 und Irene ist 44. Angenommen, es dauert zehn Jahre? Dann kommen wir gerade noch zur Pensionierung rechtzeitig nach oben. Allerdings dürfte unsere Rente dann deutlich geringer ausfallen. Oder wir kriegen gar nichts - da gibt es so schwer durchschaubare Regeln wie Halbbelegungszeiten und so weiter. Außerdem werden bei jeder Schieflage des Bundesfinanzhaushaltes alle solche Regelwerke modifiziert, um auf Kosten des Normalbürgers Geld einzusparen, ohne daß dieser es merkt. Da kann leicht jemand mit einem ungewöhnlichen Berufsleben - und ein jahrzehntelanger Aufenthalt in der Welt der Granitbeißer ist ungewöhnlich - durch irgendeine Bestimmungslücke fallen. Solche Bestimmungslücken definieren Minderheiten, die sich nicht lautstark wehren können. Wie ist denn das im Moment mit den Ausfallzeiten bei der Rentenberechnung? Ein erst unfreiwilliger, dann nicht mehr ganz unfreiwilliger Aufenthalt in einem Ausland, das zudem niemand kennt, wird das anerkannt? Ich weiß es nicht.
Angenommen, es dauert wirklich zehn oder mehr Jahre? Lohnt es sich dann noch? Kein Arbeitsplatz mehr, vielleicht keine Rente, keine Wohnung. Unser Eigentum vor Jahren bei der Haushaltsauflösung in alle Winde zerstoben. Viele Verwandte tot. Kaum noch möglich, daß wir uns so einrichten, daß wir wenigstens unseren wichtigsten Ambitionen nachgehen werden. Ich wollte schreiben. Werde ich das noch können? Werde ich das noch wollen? Werde ich mir einen PC leisten können, um das effektiv zu tun?
Wir selber werden für tot erklärt sein, seit Jahren schon. Das wäre noch das geringste Problem. Aber nach zehn Jahren in dieser Welt gehören wir nicht mehr da oben hin.
Ich lege meine Hand auf die von Irene. Sie sagt nichts, und ich bin geneigt zu glauben, daß sie ähnliche Gedanken hat wie ich. Da vorne. Das kann unsere letzte Chance sein. Eine verdammt schwache Karte, um alles drauf zu setzen.
Mir schweben auch andere Szenarien vor: Bei der erfolglosen Untersuchung der Insel wird die Besatzung unserer überdrüssig. Vielleicht bringen sie uns um, vielleicht setzen sie uns aus. Dann braucht das nur noch die falsche Insel zu sein, und Irene und ich werden dort gemeinsam unseren Lebensabend verbringen. Dann kommen wir nie wieder dort weg. Und meine ganzen Versprechungen an Irene waren Makulatur.
Wenn Charmion hier wäre. Sie hätte vielleicht Ideen. Sie war so voller Leben. Wenn sie an der Idee festgehalten hätte, mit uns unsere Welt aufzusuchen - wir hätten es geschafft. Sie hätte es geschafft. Es wäre alles ganz anders geworden.
Jetzt sitzen wir an Bord eines Schiffes und wissen nicht, was tun. Wie Hänsel und Gretel in dem großen Wald. In diesem verdammt großen Wald. Mit den verdammt vielen Hexen.
"Ich werde veranlassen, daß wir uns der Insel schneller nähern. Wir können nicht hier an Land, weil wir da genau auflandigen Wind haben, und wir wissen nicht, wann der sich mal ändert. Aber da rüber, weiter links, siehst du? Da ist eine flachere Landzunge. Da sollten wir anlegen können."
Vielleicht bewirkt mein Plan bei Irene eine Zuversicht, die ich selbst nicht spüre. Es wird etwas getan. Vielleicht gibt es Resultate. Vielleicht auch nicht. Ich stehe auf.
"Wenn ich richtig gerechnet habe, dann ist es jetzt der 78. Tag, seitdem wir ... Naja. Ich möchte nicht, daß es hundert werden."
Ich will weggehen, aber da springt die Irene auf. Im Augenblick hängt sie mir am Hals.
"Wenn es nicht gelingt," sagt sie, und ich verstehe es kaum, "dann ist es auch gut. Wir haben es versucht. Wir haben es wenigstens versucht! Und wir leben noch. Und wir haben uns. Ist doch das Wichtigste!"
78.7 Wetterumschwung
Chrejene hat uns von der Brücke aus die ganze Zeit beobachtet. Sie zeigt keine Anzeichen von Eifersucht. Kein Ausschließlichkeitsanspruch. Fast, so scheint es mir, nimmt sie mit Genugtuung zur Kenntnis, daß Irene mir immer noch näher steht als sie das in den letzten Tagen hat erkennen lassen. Ich kann diese emotionelle Bewertung nicht nachvollziehen.
"Kielschwerter raus!" ordne ich an, "Und Großsegel setzen. Wir gehen vor dem Wind auf ein Drittel des Abstandes zu der Küste vor uns. Dann werden wir einen Schlag nach links machen."
So geschieht es. Schon nach einer Minute richtet der Saurierfänger seinen Bug nach rechts, nach Norden, auf die Insel zu. Wir nehmen Fahrt auf.
Das Interesse der Besatzung an der unbekannten Insel vor uns ist verhalten. Kaum eine der Frauen, die im Moment nichts zu tun haben, beobachten die näherziehende Landschaft. Dabei ist diese Insel für sie genauso unbekannt wie für mich.
Plötzlich höre ich schwachen, verhaltenen, langgezogenen Donner, der aus keiner bestimmten Richtung zu kommen scheint. Er ist so leise, daß es einige Sekunden braucht, bis er an mein Bewußtsein dringt.
"Hört ihr das?" frage ich Chibargch, Chromargue und Chrejene, die jetzt alle drei auf der Brücke sind. Sie haben es gehört, und wir spähen in alle Himmelsrichtungen. Aber nirgends ist etwas Ungewöhnliches zu sehen. Vielleicht ein Abgang einer Steinlawine auf der Insel vor uns?
Der Donner hält an. Ist etwas beunruhigend. Er sinkt zwar immer wieder unter die Hörschwelle, aber er bleibt. Und manchmal glaube ich, daß das Schiff zittert. Das bilde ich mir wahrscheinlich ein, denn die anderen spüren das nicht.
Wir kümmern uns zuächst einmal um das Nächstliegende. Ich zeige auf die Halbinsel, die nordwestlich von uns eine gute Anlegestelle verspricht:
"Findet ihr noch eine andere geeignete Stelle? Ich jedenfalls nicht. Nicht von hier aus. Deshalb sollten wir dahin!"
"Kommandant," schlägt Chrejene vor, "wenn du diese Salzigen Quellen suchst, wäre es dann nicht besser, die ganze Insel zu umfahren und überall Geschmacksproben aus dem Wasser zu nehmen?"
Diese Chrejene! Wieder ein Intelligenzanfall! Dabei schien sie mir früher so gleichgültig und uninteressiert.
Ich erläutere ihr das Verdünnungsproblem. Das versteht sie, aber:
"Es ist doch im Laufe der Zeit soviel Salzwasser geflossen! Vielleicht waren die Quellen schon immer da! Man muß etwas schmecken!"
"Salzwasser ist schwerer als Wasser!" sage ich.
"Ja?"
"Ja. Wenn das Salzwasser sich nicht mischt, sinkt es ab. Es würde über den Meeresgrund immer weiter in die Tiefe fließen. Und wenn es sich mischt, dann geht das Mischen immer weiter. Das gemischte Wasser, das kaum noch salzig ist, mischt sich mit weiterem Meerwasser, diese Mischung ist noch weniger salzig, und dieses Mischen hört nicht auf. Bis es sich im ganzen Meer verteilt hat. Du kannst es drehen wie du willst. Einen deutlichen Salzgeschmack wirst du im Meer nicht finden. - Eher schon, wenn man sämtliche Wasserläufe auf der Insel selbst prüft."
Chrejene ist still und denkt darüber nach. Und wieder grollt der Donner von allen Seiten, stärker als zuvor.
"Was mag das bloß sein?" sage ich, mehr zu mir selbst.
"Wetterumsturz, Kommandant!" meint Chibargch, und Chromargue nickt dazu, "Da kommt etwas auf uns zu!"
"Bist du sicher? Von wo? Und was?"
"Schwer zu sagen."
Ich sehe nach hinten, nach Süden raus. Wenn sich überhaupt eine Richtung auszeichnet, aus der der Donner kommt, dann ist es von dort. Aber immer noch ist nichts zu sehen.
Ich überlege mir, wie schon oft, mit welchen Wetteraktivitäten man rechnen müßte. Unter der leuchtenden Wolkendecke ist die Luft gleichmäßig warm und feucht. Es gibt natürlich einen Wärmegradienten, aber der ist nicht sehr stark. Aufsteigende Luftmassen würden sich rascher abkühlen als die umgebenden Luftschichten - das bedeutet aber eine stabile Schichtung. Solche Luftmassen würden rasch wieder zurücksinken, wenn schon einmal aus irgendwelchen Gründen vertikale Luftbewegungen angefangen haben.
Bei den Leuchtenden Wolken ist die Sache anders. Wir haben ja vor elf Wochen gesehen, daß dort, in der Höhe und darüber, die Parameter sich mit der Höhe rasch ändern. Über den Leuchtenden Wolken wird es rascher kühler, und die Luft ist dort trocken. Ob das allerdings eine raschere Temperaturabnahme als der adiabatische Temperaturgradient ist vermag ich nicht zu sagen. Wenn es so wäre, dann sollte man gewitterähnliche Erscheinungen erwarten: Aufsteigende, feuchte Luftmassen, die, sowie sie erst einmal in Bewegung gekommen sind, immer mehr feuchte, warme Luft mit sich in die Höhe reißen, bis unter die Höhlendecke. Der normale Gewittermechanismus eines Wärmegewitters. Wenn man die Temperaturen und die hohe Luftfeuchtigkeit etwa mit unseren Tropen vergleicht, dann würde man erwarten, daß ständig heftige Gewitter tätig sind. So ist es aber nicht. Das Wetter in der Welthöhle war bis jetzt moderat. Nur eben warm und feucht.
Ob die Mikrolebewesen, die ich als Ursache des Leuchtens in der Leuchtenden Wolkendecke vermute, da eine Rolle spielen? Zwar ist die Leuchtstärke geringer als das Sonnenlicht auf der Erdoberfläche. Aber größenordnungsmäßig entspricht die Leuchtdichte dem Wärmestrom aus dem Erdinneren. Deshalb muß der Energieumsatz in der Leuchtenden Wolkendecke in der gesamten Energiebilanz der Welthöhle eine wesentliche Rolle spielen. Irgendwie muß die Energie dieses Wärmestroms ja durch die Welthöhle durchgeleitet werden.
Vielleicht, denke ich, ist tatsächlich erst im Laufe der Zeit durch die evolutionäre Entwicklung der Lebewesen in der Leuchtenden Wolkendecke in der Welthöhle eine Wetterberuhigung eingetreten. Vielleicht war es so. Diese Mikrolebewesen waren die ersten Bewohner der Welthöhle. Als es aber erst das Licht gab, war eine weitere biologische Evolution möglich, und es war möglich, daß bei späteren sporadischen Kontakten dieser Biosphäre mit der Erdoberfläche Tier- und Pflanzenarten einwandern und am Leben bleiben konnten.
Wenn das so ist, dann gibt es hier drei Phasen der Evolution des Lebens: Erstens die Entwicklung der Leuchtlebewesen in den Wolken. Das kann viel früher als die Erdzeitalter Trias, Jura und Kreide gewesen sein. Zweitens die Einwanderung der Großreptilien und vielleicht noch anderer Arten, vermutlich während Trias, Jura oder Kreide, also vor 200 bis 65 Millionen Jahren. Das ist lange genug her, so daß der Stoffwechsel und Aussehen dieser Reptilien durch die Lebensbedingungen in der Welthöhle verändert und geprägt wurde. Und drittens, wahrscheinlich in vorgeschichtlicher Zeit, die Einwanderung des Menschen. Sehr gravierende Unterschiede zu den Bewohnern der Erdoberfläche hat die Evolution in der Zeit noch nicht entwickeln können. Verhalten und Kultur haben sich noch am meisten angepaßt, wie die körperliche Fitness und die hohe Körpertemperatur der Granitbeißer. Das ist alles.
Ich denke jetzt noch an eine andere Möglichkeit: Wenn mehrmals in der Vergangenheit eine Verbindung zwischen der Welthöhle und der Erdoberfläche bestanden hat, dann könnten auch auf der Erdoberfläche Spuren dieses Kontaktes zu finden sein. Tiere, deren evolutionäre Entwicklung schwer zu erklären ist, Legenden, deren Ursprung bislang völlig im Dunklen war. Was weiß ich. Ich denke an den Begriff der 'Unterwelt', des 'Hades'. Ist das ein Hinweis? Ich glaube nicht. Ich weiß es aber nicht.
"Da, Kommandant! Dort!" Chromargue, die eine ganze Weile ihre Aufmerksamkeit nach hinten hinaus gerichtet hat, zeigt mir, was sie meint: In einer schwer zu schätzenden Entfernung von vielleicht zwanzig Kilometern sehe ich gleitende Bewegungen zwischen den Säulen. Wolkenschichten schieben sich in jeder Höhe um die Säulen und verbergen diese, darunter ist es dunkel, und dort scheint sogar das Licht aus der Leuchtenden Wolkendecke herausgezogen zu werden. Es ist ganz merkwürdig. Als ich länger hinsehe, sehe ich auch ein Wetterleuchten.
Wenn man auf diese Entfernung Bewegungen wahrnehmen kann, dann, fürchte ich, ist die Wetteraktivität dort ungewöhnlich heftig.
"Es kommt näher." sagt Chromargue.
"Ob es mit dem Donnernden Meer zu tun hat?" frage ich.
"Nein. Stürme kommen überall mal vor. Sie sind aber selten."
Ich denke an die Ausbrüche auf dem Donnernden Meer, die wir nicht aus der Nähe gesehen haben. Wenn dort große Mengen an Kohlendioxid frei werden, wie die Erzählungen vermuten ließen, dann muß das ja auch einen Einfluß auf die Schichtung der Höhlenatmosphäre haben. Vielleicht werden dadurch die Gewitter erst ausgelöst, von denen ich annehme, daß es sie häufiger geben müßte?
Ein Fünftel des Horizontes ist in Bewegung. Immer mehr Säulen verschwinden. Es kommt in aller Breite auf uns zu, wie eine unaufhaltsame Woge. Und das Grollen kommt nun ständig von dort.
Ob es wieder Luftdruckschwankungen gibt? Ich denke einen Moment daran, in das vordere Masthaus zu flitzen und meinen Höhenmesser zu holen. Aber im Moment ist mein Platz auf der Brücke, also lasse ich es. Die stärksten Druckschwankungen würde ich ja auch schon in den Ohren spüren, wie es schon einige Male geschehen ist.
"Wenn es Sturm gibt, dann sollten wir auf der anderen Seite der Insel Schutz suchen!" sage ich.
"Schaffen wir nicht mehr."
"Dann dürfen wir nicht zu nahe ans Land ran. Laß die Segel bergen. Wir wollen es hier aussitzen!"
Chromargue nickt und gibt die nötigen Befehle.
"Es wird aber heftig!" sagt sie danach.
"Was kann man tun?"
"Nichts. Nachher die Schäden reparieren!"
"Ich möchte, daß niemand durch rumfliegende Trümmer körperlich zu Schaden kommt. Vielleicht sollte man alle ins Deckshaus schicken!"
Chromargue scheint das für übertrieben zu halten: "Wir könnten die Besatzung von einem Moment zum anderen dringend brauchen!"
"Meinst du. Okay. Dann sollen sie draußen bleiben." Ich sehe wieder nach hinten. Jetzt ist es ein Viertel des Horizontes, an dem die Luftmassen und die Wolkenbänke in Bewegung gekommen sind. "Wie lange wird das Unwetter dauern? Wenn der Wind hauptsächlich von dort kommt, dann könnten wir bei der Insel auflaufen. Ohne uns einen Landeplatz aussuchen zu können!"
"Ja," gibt Chromargue zu und sieht auf die weniger als zwei Kilometer entfernte Küste, "für dieses Wetter sind wir zu nahe dran.
"Also Schiff querlegen und alle Kielschwerter runter?"
"Willst du das Schiff umwerfen, Kommandant?"
"Wird es so schlimm?"
"Kann sein. Muß nicht sein!"
"Also nicht. Lassen wir das Schiff so ausgerichtet, wie es jetzt ist. Und Heckanker runter."
Ich bin beunruhigt. Wenn Chromargue damit rechnet, daß der Saurierfänger ohne Besegelung und mit seiner schweren Beladung umgeworfen werden kann, bloß wenn man ihn unüberlegt zum Wind positioniert, dann wird es hart. Ich muß Irene warnen. Also doch noch ins vordere Masthaus. Etwas Zeit haben wir ja noch.
"Ich komme zurück, wenn es soweit ist!" sage ich und verlasse die Brücke.
78.8 Wetterschlag
Irene ist wieder im vorderen Masthaus. Sie hat sich schlafen gelegt, um zu vergessen. So ganz klappt das mit dem Vergessen aber wohl nicht, denn sie wirft sich unruhig hin und her. Ich wecke sie.
"Es kommt Sturm auf, Irene! Kann sein, daß du dich festhalten mußt."
Sie braucht einige Sekunden, um klar zu werden.
"Sturm? Wo soll der denn herkommen?"
"Sieh zu den Fenstern hinaus. Dann weiß du, wo er herkommt!"
"Ich seh da nicht hinaus. Ich will das nicht sehen. Ich habe die Nase voll."
"Irene! Ich weiß das! Wir sind doch auf dem Heimweg! Der Sturm hält uns nicht auf. Wir können nur nicht richtig manövrieren, bis er vorbei ist, weißt du. Wir wollen nicht stranden."
Ganz unvermittelt fängt sie an zu heulen. Ich kann nichts anderes tun als sie in den Armen zu halten und beruhigend auf sie einzureden. Oder auch nichts zu reden. Aber Reden ist besser, weil man dann das stärker werdende Donnern nicht so hört.
"Ich will hier weg!" sagt sie unter Tränen.
"Wir kommen hier weg." Sicherheit geben, wo man keine Sicherheit fühlt. Barmherzige Lüge. Aber was kann ich sonst noch tun?
"Ich will ja auch hier weg. Ich will ..." Ein dunkler Schatten fällt auf das Schiff. Ich stehe auf und sehe zum Fenster hinaus, in Richtung Brücke, nach hinten.
"Großer Gott!" sage ich bloß. Es ist, als ob ein Kilometer hinter dem Schiff eine himmelhohe schwarze Wand aus dem Wasser wächst. Wo ist die so schnell hergekommen? Sie gärt in sich, schmeißt Regenschauer von sich, frißt oben die Leuchtende Wolkendecke, zuckt von Blitzen, die ihrerseits Mühe haben, ihr Licht durch die dichten Regenschleier zu schicken. Während ich noch hinsehe, rückt die Wand unaufhaltsam näher.
Ich werde nicht einmal bis zur Brücke zurückkommen, wo doch jetzt eigentlich mein Platz ist!
"Irene! Unsere Rucksäcke! Ist alles drin?"
"Ja, warum?"
"Wir setzen sie auf. Nicht, das wir sie verlieren! Ich glaube, es klingelt gleich!"
Ein hohles Rauschen setzt an. Der Wind frischt auf.
"SCHNELL!"
Noch während wir die Trageriemen richten, fegt plötzlich ein Windstoß durch die Fenster herein, der uns den Atem nimmt. In allen Wanten und Seilen des Schiffes heult es auf. Es wird immer finsterer. Dann peitscht Regen herunter, von einer Sekunde zur anderen. Wir können nichts mehr von dem verstehen, was wir uns sagen. Wir müssen schon rufen.
"Da! Dahin! Auf den Boden setzen!" rufe ich und bringe mich und Irene zur Vorderseite des Masthauses. Während wir uns an die Wand kauern und von dem Regen, der aus den gegenüberliegenden Fenstern hereinschlägt, im Augenblick durchnäßt werden, spüre ich die Bewegungen des Schiffes. Für diesen Sturm ist es nicht gebaut.
Ein Schlaglicht blendet durch das Fenster. Der ganze Großmast ist eine blauweiße, grelle Feuersäule, und der Donnerschlag ist so laut und hart, daß er einem die Trommelfelle in den Schädel treibt. Brennende Trümmer fliegen durch die Luft, werden noch während des Fallens vom Regen gelöscht. Ich denke daran, daß das ganze Schiff aus Holz ist, und daß es nirgends einen ernsthaften Schutz gegen Blitzschlag gibt.
In den nächsten Sekunden folgt ein Blitz dem anderen, und die meisten in unmittelbarer Nähe. Die elektrostatischen Verhältnisse müssen sich gewaltig und schnell geändert haben. Als ob man eine geladene Kante über die Landschaft führt, eine geladene Kante, die einen Vorhang von Blitzen mit sich schleppt. Diese Kante ist jetzt über uns.
Irene und ich umklammern uns. Der Wind drückt uns mal gegen die Wand, mal versucht er, uns durch den Raum zu fegen. Ich versuche, ruhig zu denken und die wahrscheinlichen Strombahnen weiterer Blitzeinschläge zu erraten. Nicht, daß es einen Unterschied macht: Wir bleiben da, wo wir uns an irgend etwas festhalten können.
Irgendwo draußen höre ich das Bersten von Holz. Sind wir bald dran? Auf einem Schiff für irdische Ozeane hätte man nie so eine Konstruktion wie dieses vordere Masthaus gebaut. Viel zu instabil. Hier geht es, weil die Stürme selten sind. Selten, aber nicht moderat. Mehr Holz bricht, und in dem Mastwerk um uns herum knirscht und kracht es, und jedes gespannte Seil heult wie tausend Orgeln. Wenn der Sturm lang genug dauert, um hohe Wellen aufzuwerfen, dann wird dieses Schiff in der Tat zerbrechen, ohne daß wir irgend etwas dagegen tun können. Aber wahrscheinlich werden wir dann schon vorher gegen die Küste der Insel geworfen worden sein.
"Wenn es so stark ist, dann ist es bald vorbei!" rufe ich Irene ins Ohr. Ich möchte es auch selber glauben. Da wird der Großmast von einem zweiten Blitz getroffen. Irgendwo schreit eine weibliche Stimme gellend auf, aber man kann es kaum hören.
Nun ist die Finsternis perfekt. Nur die ständig zuckenden Blitze liefern eine unruhige Beleuchtung. Als ob der Horizont, den wir nicht sehen können, von defekten Leuchtstoffröhren umstellt ist. Wenn ich jetzt aufstehen und ans Fenster gehen würde, dann könnte ich nur ungefähr sehen, in welchem Zustand mein Schiff ist. Aber ich stehe nicht auf. Ist mir zu gefährlich.
Jetzt knallt es zu unserer Rechten, gleichzeitig mit einem blendenden Schein, der einen Moment den naßglänzenden Boden des Deckshauses in klarer Deutlichkeit zeigt. Noch Sekunden danach sehe ich das Bild, erzeugt von der überreizten Netzhaut, und die Ohren sausen. Das ist also ein Einschlag an der Backbordseite des Schiffes, weil wir mit dem Rücken in Bugrichtung sitzen. Ein Einschlag mitten ins Wasser, aber in unmittelbarer Nähe. Das heißt, daß durch den starken Regen die elektrischen Feldlinien in der Luft so verwirbelt sind, daß der Blitz gar nicht mehr von herausragenden Dingen angezogen wird. Ist das nun eine gute oder schlechte Nachricht? Ich versuche, mir vorzustellen, wie die elektrischen Äquipotentialflächen verbogen und verwellt sein könnten, aber es gelingt mir nicht.
Vielleicht bilde ich es mir ein, aber die Härte des Donnerschlages suggeriert mir eine viel höhere Stromstärke als bei den Blitzen der Gewitter auf der Erdoberfläche. Gibt es dafür einen physikalischen Grund, außer dem, daß durch den viermal so hohen Luftdruck natürlich auch die Durchschlagfeldstärken viel größer sind, und daß ein einmal gezündeter Blitz besser kanalisiert wird? Ich weiß es nicht.
Das Schwanken des Bodens nimmt zu. Es hat sich bereits ein kurzwelliger, harter Seegang entwickelt. Damit nimmt auch die Belastung des Schiffes weiter zu. Immer wieder höre ich das Bersten und Verdrehen von Holzbalken. Dann habe ich den Eindruck, daß der Boden des Masthauses sich schräg zum Bug hin legt und so bleibt. In allernächster Nähe bricht Holz, aber ich kann nichts sehen.
Dann wird plötzlich alles anders. Der Wind flaut ab. Es ist, als ob einem jemand ein heilendes Öl in die Ohren träufelt, aber als ob es zum Heilen der Ohren schon zu spät ist.
Der Eindruck ist nur vorübergehend. Es ist nach wie vor laut, weil ein starker Regen fällt. Die Tropfen spritzen nach dem Aufschlagen überall hin. Und immer noch ist es völlig finster. Sogar die Blitze sind immer schwächer sichtbar, vielleicht nur deshalb, weil sich ihre Einschlagsorte um nur einige hundert Meter entfernt haben. Der Boden des Masthauses behält seine Schieflage. Nach wie vor knarrt es aber noch auf dem ganzen Schiff, weil der Seegang immer noch für Bewegung sorgt. Denke ich. Sehen kann ich es nicht.
Einige Minuten bleibt es so. Dann nimmt der Regen langsam ab. Eine Art Morgengrauen zeichnet die schemenhaften Rechtecke der Fenster des vorderen Masthauses. Auch sie sind schief. Und über uns scheinen Risse im Dach des Masthauses zu sein. Breite Risse. Die waren vorher nicht da. Da kann man durchsteigen.
Ich weiß nicht, ob die Leuchtende Wolkendecke zeitweise aufgehört hat, zu leuchten, oder ob die Menge des Regens zwischen dort oben und hier unten das Licht abgehalten hat. Jedenfalls gibt es wieder Licht, wenn auch nicht viel. Ich lasse Irene los und krieche über den schrägen Boden des Masthauses zu dessen Fenstern in Richtung Brücke hinauf. Der Boden ist überall naß. Dort, an den Fenstern, richte ich mich auf, mich vorsichtig festhaltend. Dabei stehe ich mitten im Regen, weil wegen der Schräglage des Masthauses das Dach an dieser Stelle nicht mehr genau über meinem Kopfe ist.
Zunächst kann ich das Bild, das ich sehe, kaum richtig interpretieren, und das liegt nicht nur an der Dunkelheit. Nichts ist dort, wo es hingehört.
Die Brücke ist höher als das vordere Masthaus, in dem wir uns befinden. Vom Großmast steht nur noch ein Stumpf, das mittlere Masthaus ist verschwunden. Der hintere Mast ist ganz weg. Das Deckshaus ist teilweise eingerissen, und sein oberes Stockwerk ist fast völlig verschwunden. Gerümpel liegt auf Deck, und undeutlich kann ich es auch rundherum in der See treiben sehen. Immer wieder werfen Wellen Wasser auf das Deck, obwohl die Bordkante höher liegt als normal. Das kommt daher, daß viel Material von Bord gegangen ist, nicht nur aus der Bausubstanz des Schiffes, sondern auch von der Ladung: Die meisten Stapel Saurierfleisch sind wenigstens umgeworfen, viele völlig verschwunden.
Ich ziehe mich an einem der Fensterpfosten hoch, um über das Dach des vorderen Masthauses bugwärts zu sehen.
78.9 Trümmerlandschaft
Es ist kein einziger Mast stehen geblieben! Nur der Bugspriet ist noch da. Er sieht sogar relativ unbeschädigt aus. Aber ansonsten ist auch der vordere Teil des Schiffes eine einzige, unübersichtliche Anhäufung von Gerümpel.
Nur einige hundert Meter von uns entfernt scheinen graue Felsen aus dem Wasser zu ragen. Dort tobt eine unübliche Brandung, die man jetzt trotz des Regens hören kann. Ich sehe auch das weißgraue Band der Brandung. Kein Zweifel: So nahe sind wir also an das Ufer herangetrieben worden. Der Sturm hat gerade noch rechtzeitig wieder nachgelassen.
Wieviele von meinen Leuten wohl verletzt worden sind? Ich muß es feststellen. In diesem Moment fällt mir auf, daß sich auf dem Schiff niemand bewegt. Nur einen Moment habe ich die unangenehme Vision, daß alle außer uns umgekommen sind. Aber das ist natürlich unmöglich. Die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen.
"Komm, Irene," sage ich, "wir müssen uns umsehen. Vielleicht braucht auch jemand unsere Hilfe. - Die Rucksäcke behalten wir mal auf - ich weiß nicht, ob und wie schnell wir an die Felsen dort getrieben werden!"
78.10 Der Tod und das Mädchen
Die Wanten, die als Niedergang vom vorderen Masthaus gedient haben, sind natürlich nicht mehr gespannt. Aber da der Eingang desselben nur noch zwei Meter über dem Deck ist, kommen wir leidlich gut runter, so widerspenstig eine lockere Strickleiter - mehr sind diese Wanten nicht mehr - auch ist. Dann klettern wir über das Gerümpel auf Deck.
Noch während wir uns um unseren Weg bemühen, wird es heller und der Regen leichter. Ein Wind scheint gar nicht mehr zu gehen, aber das Wasser ist immer noch bewegt. Ich sehe aus den Augenwinkeln einen Körper nahe der Bordwand im Wasser schwimmen. Wir treten näher.
Sie schwimmt mit dem Gesicht nach unten, ist also schon tot. Trotzdem greife ich ihr Handgelenk, da sie dicht neben der Bordwand schwimmt. Gemeinsam ziehen wir sie raus.
Es ist Chrachel, die Frau, die den Mord an Chrcherch entdeckt hat. Sie weist keine äußere Verletzung auf.
"Ob sie nicht schwimmen konnte?" fragt Irene.
"Glaube ich nicht. Haben wir schon eine Granitbeißerin kennengelernt, die nicht schwimmen konnte?"
"Aber wenn sie durch einen harten Schlag ohnmächtig wurde, dann müßte man eine Beule sehen - irgendwo. Ich sehe nichts."
"Ich glaube, es ist anders. Sie wurde über Bord gespült. Da waren Blitzeinschläge, hier auf dem Schiff und im Wasser, erinnerst du dich? Das heißt, daß sich da gewaltige Stromstöße im Wasser verteilten. Das ist hier kein Salzwasser - das heißt, der menschliche Körper leitet den Strom besser als das Wasser. Wo immer ein menschlicher Körper im Wasser ist, gibt es deshalb eine Stromkonzentration. Sie ist durch die Stromstöße gestorben. - Sieh nur, wie verkrampft die Muskeln sind!"
"Oh weh," meint Irene, "was für ein scheußlicher Tod!"
"Es ging schnell, wahrscheinlich. Was mich mehr interessiert: Wieviele sind während des Sturmes von Bord gespült worden?"
"Meinst du, die hat es alle so erwischt?"
"Ja." Wir suchen weiter. Zwei Frauen finden wir seitlich des Deckshauses. Die eine weist auch keine Verletzung auf, ist aber nichtsdestoweniger tot, und die andere liegt mit dem Oberkörper unter einem schweren Balken. Der Brustkorp ist völlig zerquetscht.
"Sieh nicht hin." sage ich. Irene sieht nicht hin.
Es ist schwer, auf die Brücke hinaufzukommen, weil beide Aufgänge, an beiden Seiten des Deckshauses, weggerissen worden sind. Aber die ebenfalls aufgerissene Wand des Deckshauses bietet genügend Tritte und Griffe. Daß die Brücke überhaupt noch einigermaßen waagerecht in ihrer normalen Position steht ist fast ein Wunder - sie wird kaum noch statisch gestützt.
Irene sieht meiner Kletterei besorgt zu. Sie kommt nicht mit hinauf.
Vorsichtig betrete ich den Innenraum. Die vordere Fensterfront ist aufgerissen, die Rudermechanik zertrümmert. Es liegt nur ein Körper mitten auf dem Boden. Mit einem Blick sehe ich, daß sie noch atmet. Ich sehe aber auch die Brandspur auf ihrem Rücken. Einer der Großmastblitze muß sie peripher getroffen haben. Ich drehe sie auf den Rücken.
Es ist Chrejene.
Sie hat gemerkt, daß sie angefaßt wurde, und macht die Augen auf. Sie sieht mich und erkennt mich:
"Herwig! - Herwig. - Mir ist so kalt."
Ich nehme sie in die Arme, bemüht, nicht auf ihre Brandwunden zu fassen. Ich habe den Eindruck, daß sie das gar nicht spürt.
"Ich - spüre meine Beine - nicht mehr." haucht sie. Dann: "Da unten ist - nichts - mehr!"
"Doch, Chrejene. Es ist noch alles dran! Wirklich."
Ihre Atmung ist komisch. Kurz. So, als ob sie nicht mehr alle Muskeln, die zum Atmen erforderlich sind, in ihrer Gewalt hat.
"Jetzt können wir nicht mehr - heute - nicht. Mehr."
Während sie mir in die Augen sieht, läuft eine Art Krampf durch ihren Körper. Eine Art Welle. Nur ihr Unterkörper macht da nicht mit.
"Nicht. Mehr. Warum? Herwig?"
Der Krampf wiederholt sich.
"Chrejene! Nichts ist endgültig! Du wirst doch wieder gesund! Du ..."
Sie sieht mich starr an. Kein Lidflimmern. Keine Augenbewegungen. Überhaupt keine Bewegungen.
Ich lege sie vorsichtig wieder zurück auf ihren Rücken. Keine Reaktion. Ich fühle ihren Puls. Handgelenk. Halsschlagader. Nichts. Auch kein spürbarer Atem aus Mund oder Nase.
Chrejene ist tot.
78.11 Ermutigung
Sie sind alle tot. Keine einzige finden wir mehr am Leben. Die meisten sind wohl durch den überraschend starken Wind ins Wasser gerissen und dort durch die Blitzströme gelähmt oder gleich getötet worden. Die, die wir auf dem Schiff finden, sind entweder durch herabstürzende Trümmer erschlagen worden, oder sie haben keine Verletzungen, so daß sie wahrscheinlich auch starken Stromstößen, die ihren Weg durch das nasse Holz gefunden haben, erlegen sind.
Nur zwei Menschen haben diesen kurzen Sturm überlebt: Irene und ich. Und Chrejene. Eine Zeitlang.
"Sie hätten doch im Deckshaus Schutz suchen sollen!" sage ich zu Irene, als uns die Situation klar wird, "Dann hätten einige überlebt. Ich hätte nicht auf Chromargue hören sollen!"
Die Felswände der Insel sind jetzt nur noch siebzig Meter vom Schiff entfernt, aber mangels Strömung und Wind treiben wir nicht weiter darauf zu. Nur die Übersicht auf andere Teile dieser Küste fehlt uns. Und natürlich jede Möglichkeit, dieses völlig zerstörte Schiff zu manövrieren.
"Liegt sie noch da oben?" fragt Irene, "Auf der Brücke?"
"Ja, natürlich. Warum hätte ich sie da weg holen sollen?"
"Ich meine, weil sie noch gelebt hat."
"Macht das einen Unterschied? Jetzt lebt sie nicht mehr. - Ich habe nicht die Absicht, eine Bestattungsaktion für alle Toten an Bord einzuleiten."
"Was hat sie denn noch gesagt?" fragt Irene.
"Mußt du das jetzt fragen? Meinst du, du bist die einzige, die die Nase voll hat von dieser Welt? - Immer, wenn man jemanden gut kennengelernt hat, dann kommt er um. Das war bei Charmion so, bei Ondar, bei Ochaum, und jetzt Chrejene! - Es ist immer dasselbe."
Ich hole Luft und fahre in einem etwas gemäßigteren Tonfall fort:
"Ich glaube nicht, daß mich da eine persönliche Schuld trifft. Eher eine tragische. Kann dieses gottverdammte, idiotische, stockblinde Schicksal nicht einsehen, daß es keinen Grund gibt, umzukommen, bloß weil man mir über den Weg läuft?"
"Es ist ja gut." sagt Irene.
"Nichts ist gut. Chrejene hat an mich geglaubt. Ja, schlafen wollte sie auch mit mir - das spielt hier doch keine Rolle. Das ist doch Umgangston hier. - Aber sie war ein Nichts, und ich war dabei, ihr einen Tritt zu geben, um ihre Talente doch noch zu wecken - sie hatte welche. Auch wenn es am Anfang nicht so aussah. Sie hätte etwas werden können. Schiffskommandantin. Eines Tages. Vielleicht. Wahrscheinlich ist das viel, für eine Granitbeißerin. - Satt dessen führe ich das Schiff in diese Gegend, und ein Sturm bringt alle um. - Einfach - alle."
"Es ist ja gut."
"Ich weiß nicht, woran es liegt. Alle kommen hier immer um. Andauernd."
Jetzt ist es Irene, die Entschlossenheit zeigt:
"Herwig! Wir bauen jetzt ein Floß. Wir müssen hier von den Felsen weg. Wir bauen ein Floß. Dann suchen wir eine Landestelle, und dann suchen wir die Quellen. Und wenn wir sie gefunden haben, dann gehen wir nach Hause. Herwig! Nach Hause!"
"Ja." sage ich. "Nach Hause."
Und ich glaube es doch nicht.
78.12 Die letzte Nacht des Saurierfängers
Nun ist meine Irene die, die mehr Zuversicht ausstrahlt. Sie hat nicht mehr Grund dazu als ich, aber wenn sie sagt 'nach Hause', so, als ob sie es selbst glaubt, dann klingt das alles gleich erreichbarer und machbarer.
Und was ist machbar? Das Nächstliegende. Entscheiden, ob wir auf dem Wrack des Saurierfängers bleiben oder nicht. Eine einfache Entscheidung. So bloß zu zweit könnten wir sogar mit dem intakten Saurierfänger kaum etwas anfangen. Und in dem Zustand, in dem das Schiff ist, wäre auch eine volle Besatzung im Moment wenig nützlich. Man würde drangehen, das Schiff zu reparieren, aber es würde lange dauern. Für uns ist das aber keine Alternative. Das Schiff ist hin.
Was wir brauchen ist ein kleines Floß, um das nahe Ufer zu erreichen. Mehr nicht. Und wir haben auch ein kleines Floß: Es ist eines von den beiden Flößen, die wir, auf Osont's Flotte, vor der Einfahrt in das Wasserstraßengebiet verwendet haben, um diese Einfahrt zu finden. Es wurde bei der Plünderung der MARY CELESTE auf den Saurierfänger gebracht.
Das war eine ordentliche Anstrengung, weil es sich ja um keinen kleinen Gegenstand handelt. Allerdings waren auch viele Hände da, die zugreifen konnten. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wenn dieses Floß noch dort wäre, wo es war, bevor der Sturm losbrach, dann hätten Irene und ich nicht die geringste Chance, es zu Wasser zu lassen. Wir könnten es nicht mal bewegen. Oder es würde sehr lange dauern - wir müßten Flaschenzüge improvisieren, und Rollenunterlagen und dergleichen.
Das Floß liegt aber nicht mehr da, wo es aufbewahrt wurde. Es ist, von den Wellen oder von anderen, sich bewegenden Trümmern, auf die Bordkante zugeschoben worden, hat den Reelingsbalken durchbrochen und ist, zu einem Drittel über das Wasser ragend, zum Stillstand gekommen. Ansonsten ist es unbeschädigt.
"Das nehmen wir!" sage ich, und Irene nickt, "Damit können wir am Ufer entlangstaken oder rudern und mitnehmen, was wir brauchen. Außerdem kriegen wir es ins Wasser. Das ist das Entscheidende."
"Jetzt gleich?" fragt Irene. Natürlich nicht jetzt gleich. Der Wellengang ist noch zu hoch. Während die große Masse des Saurierfängers schon wieder träge und mit kaum spürbaren Bewegungen im Wasser liegt, würde das viel kleinere Floß ordentlich schaukeln. Wir könnten noch nichts auf seinem Boden ablegen, und Rudern und Staken wäre auch erschwert oder unmöglich.
"Wir warten ab, bis der Wellengang abgeflacht ist. Kann ja nicht lange dauern."
Trotzdem haben wir jetzt schon zu tun. Wir räumen alles zum Floß hin, was wir brauchen könnten: Seile, Messer, unsere Waffen, die Kräutervorräte aus der zerstörten Bordküche. Auch unsere Rucksäcke legen wir dort ab. Balken und Stangen, die wir als Hebel brauchen werden.
Auf dem Saurierfänger verändern wir sonst fast nichts. Ich denke einen Moment daran, alle Leichen von Bord zu werfen. Aber wozu? Es ist doch letztlich egal, ob diese Frauen den Fischen vorgeworfen werden oder hier an Bord bleiben. Für pietätvolle Bestattungsaktionen fehlen uns die Kräfte. So hat eben der Zufall entschieden, wer die letzte Ruhe wo findet. Sehr viel Ruhe wird das weder im Wasser noch auf dem Wrack sein.
Wir räumen stundenlang, bis zum Beginn der Schlafperiode. In dieser Zeitspanne normalisiert sich die Beleuchtung wieder, und der Wellengang nimmt merklich ab. Wir kommen überein, nur noch eine einzige Schlafperiode auf dem Wrack zu verbringen. Ich denke, das ist gefahrlos: Das Wrack bewegt sich relativ zur Küste fast überhaupt nicht. In den letzten Stunden ist der Abstand zu den Felsen wieder auf 200 Meter angewachsen. Wir können während der Schlafperiode nicht verloren gehen. Wenn wir morgen an einem nur einen Kilometer entfernten Platz aufwachen, dann wäre das eine große Abdrift. Das wäre für uns aber immer noch nicht schlimm und mit dem kleinen Floß leicht zu schaffen.
Ich versuche, mich zu erinnern, was ich über den gerichteten Wellendruck von Oberflächenwellen auf Flüssigkeiten weiß. Sehr viel ist das nicht mehr. Irgendwelche Nichtlinearitäten sorgen dafür, daß sich die Wirkungen der Strömungen auf den Wellenbergen und den Wellentälern nicht genau aufheben. Aber wie rum kommt nun eine Netto-Strömung zustande, die das Wrack treiben kann? Und wie wirken sich die am Ufer teilweise reflektierten und teilweise geschwächten Wellenfronten aus? Wir sehen ja, daß der Saurierfänger langsam, aber ständig seine Lage verändert. Aber es läßt sich da keine klare Systematik erkennen. Vielleicht verwirren schwache, ufernahe Strömungen das Bild.
Mißtrauisch beobachte ich immer noch den Horizont. Aber die Welt der Granitbeißer zeigt wieder ihr inaktives und zeitloses Gesicht. Stürme sind und bleiben selten.
Wenn dieser Sturm nur etwas später gekommen wäre, dann wären wir schon an der beabsichtigten Landestelle gewesen, und jeder hätte sich in Sicherheit bringen können ...
Eigentlich, versuche ich, Irene zu erklären, als wir uns zum Abendessen an dem Floß niederlassen, geht es uns ja noch gut: Wir sind unverletzt und gesund, die Vorräte sind im Moment reichhaltig, und vielleicht sind wir dort, wo wir hinwollen. Man muß sich das nur immer wieder klarmachen, um sich das heulende Elend vom Leibe zu halten.
Gut gelingt uns das nicht. Lange liegen wir umarmt neben unserem kleinen Floß, ohne einzuschlafen. Irgendwann weint die Irene. Dann hört sie wieder auf. Ich weiß nichts darauf zu sagen. Soll ich wohl auch nicht. Es knirscht und knackt auf dem Saurierfänger, aber die Geräusche nehmen auch immer mehr ab. Die abweisende Felswand hat sich in mein Gesichtsfeld geschoben und verändert ihre Position kaum. Hunderte von Metern über unserem Standort beginnt dort ein Urwaldbewuchs auf immer noch abschüssigem Hang. Ob ein Baum, der dort bricht, den Saurierfänger noch erreicht oder zwischen dem Saurierfänger und der Felswand in das Wasser eintaucht? Warum hat der Sturm eigentlich sowenig Holz dort heruntergeholt? So, wie das Schiff zugerichtet wurde, müßte es in jenem Urwald etliche Bäume umgehauen haben. Es schwimmen aber kaum Reste dislozierter Flora auf dem Wasser. Heißt das, daß dieser Urwald dort häufiger solche Stürme ertragen muß?
Ich weiß es nicht. Und weil ich mir durch bloßes Nachdenken keine Antwort ableiten kann, gleiten die Gedanken in andere Betrachtungen über, die genausowenig irgendwohin führen.
Zum Beispiel überlege ich mir, ob die Toten, die noch auf dem Wrack liegen, mich irgendwie stören. Wahrscheinlich nicht. Die ständige, gleichmäßige Beleuchtung der Granitbeißerwelt läßt Gedanken an Wiedergänger und andere Geister nicht aufkommen. Es wird in einigen Tagen recht stinken, das ist alles.
Außerdem: Hat Arthur C. Clarke nicht erwähnt, daß hinter jedem Menschen 30 Geister stehen? Das ist das zahlenmäßige Verhältnis der lebenden Menschen zu denen, die je seit der Entstehung des Menschen überhaupt gelebt haben. Inzwischen ist das Verhältnis zwar etwas zugunsten der Lebenden verschoben, weil es inzwischen doppelt soviele lebende Menschen gibt, aber immer noch sind die Lebenden in der Minderzahl. Das heißt aber doch nichts weiter, als daß innerhalb des Platzes, den ein lebender Mensch auf der Erde beansprucht, sich noch im Durchschnitt die materiellen Reste von über einem Dutzend Toten befinden müssen. Das sind viele Tonnen Materie, wenn man den gesamten Durchsatz mitrechnet, den ein Mensch im Laufe seines Lebens durch seinen Stoffwechsel schleust. Die meisten Reste davon sind natürlich im Laufe der Zeit jenseits jeder Erkennbarkeit desintegriert. Trotzdem, diese einfache Überlegung sagt, daß diese Reste um uns und in uns sind. Und niemanden stört es. Der Stoffwechsel der Natur. Warum sollten uns also die paar Toten auf diesem Schiff stören?
Dann, kurz bevor ich einschlafe, denke ich daran, daß die Legende unseres Hierseins bereits jetzt droht, zu verlöschen. Die Besatzung des Saurierfängers ist tot. Bei Osont waren noch ein paar Dutzend Leute auf seinen drei Schiffen, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Aber ich habe ja erlebt, wie seine Flotte während unserer Reise zusammenschmolz, und die Überlebenschance dieser Gruppe von Desperados in dieser Welt ist sicher nicht groß. Und dann waren da natürlich noch die Männer, die wir auf Casabones zurückgelassen haben, und denen vielleicht noch ein Absprung gelingen wird. Oder auch nicht. Wer hat außer diesen beiden Gruppen noch von unserem Hiersein Kenntnis und ist noch am Leben? Ich weiß es nicht. Mir fällt niemand mehr ein.
Dann, als ich glaube, daß die Irene schläft, schlafe ich auch ein, endlich, nach diesem so ereignisreichen Tag.
Und nichts und niemand stört unseren Schlaf.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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