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******** 077. Tag: Freitag 95-11-03 ********

77.1 Die Säulengabelinsel

Kaum eine Stunde nach Ende der Schlafperiode sind wir wieder unterwegs. Mit der jetzigen reichlichen Ausstattung können wir auch mit voller Besegelung Kurswinkel bis zu 65 Grad fahren, und die Geschwindigkeit liegt bei über zehn Kilometern pro Stunde. Wenn wir in die richtige Richtung fahren, dann bewegen wir uns rasch auf das Donnernde Meer zu.

Nicht nur mir geht es so - auch die anderen fühlen sich bei der flotten Fahrt besser. Keine Hindernisse, die wir umschiffen müssen. Den Säuleninseln weichen wir lange vor einer Vorbeifahrt aus. Überhaupt kein Problem.

"Woher wissen wir, wann wir das Donnernde Meer erreicht haben werden?" frage ich Chbesmoi, die sich wieder auf der Brücke aufhält.

"Das ist eine gute Frage." sagt sie.

"Deshalb stelle ich sie auch."

"Ich weiß es nicht. Wenn wir die richtige Entfernung zurückgelegt haben, dann sind wir da. Denke ich. Ich weiß nicht, ob man es an anderen Dingen bemerkt. Ausgenommen, das Meer donnert gerade."

"Du hast gesagt, 'einige Tagesreisen'! Geht's nicht genauer?"

"Einige Tagesreisen mit was? Ich weiß nicht, auf was für Schiffe sich diese Aussage bezieht, und auf was für Windverhältnisse!"

Auweih. Anzahl der Tage, unbekannter Schiffstyp, unbekannte Winde. Noch ungenauer geht es nicht.

"Dann könnten wir im Prinzip schon längst da sein!" sage ich.

"Im Prinzip. Ja. Dieses ist ein gutes Schiff."

"Und die Salzigen und die Braunen Quellen? Woran erkennt man die?"

"Ich weiß es nicht, Kommandant. Es heißt, man erkennt sie von See aus. Das heißt wohl, daß man von See her irgend etwas Besonderes oder Auffälliges erkennen kann, wahrscheinlich auf einer der Säuleninseln. Sicher nicht die Quellen selbst. Wahrscheinlich wissen wir, was es ist, wenn wir es sehen."

"Wenn." Es ist zum Verzweifeln. Chbesmoi's Kenntnisse erweisen sich jetzt als so vage, daß sie nahezu unbrauchbar sind.

Stunde um Stunde vergehen. Es werden weitere Experimente mit den Schwertern gemacht, aber wir gehen dabei jetzt ruhiger und überlegter zu Werke. Wir können ja den Kurs, den wir wollen, halten.

Auch weiteres Befragen von Chbesmoi bringt keine neuen Erkenntnisse. Deshalb lasse ich die Parole ausgeben, daß jede, die nichts anderes zu tun hat, aufmerksam die Umgebung beobachten soll, so, wie wir es von der Brücke aus die ganze Zeit tun. Wem immer irgend etwas besonderes auffällt, die soll es uns sofort mitteilen. Ich habe auch einen Ausguck im Krähennest - die wird aber das, was wir suchen, nicht unbedingt mit größerer Wahrscheinlichkeit sehen als wir.

Gegen 6 Uhr beginnt der Wind, abzuflauen, und unsere Fahrt nimmt langsam ab. So ungefähr zu dieser Zeit sichtet der Ausguck weit voraus in unserer Fahrtrichtung eine Nebelbank. Es dauert aber noch mehr als zwei ganze Stunden, bis wir deren Ausläufer erreichen.

Es ist kein schlimmes Hindernis, besonders auch deshalb, weil die Nebelbank nur eine Dicke hat, die von zwei bis vier Metern variiert. Unten, auf dem Deck, sieht man in horizontaler Richtung nichts mehr, aber schon auf der Brücke können wir noch ungehindert überall hin sehen. Es ist mehr die sinkende Geschwindigkeit, die an den Nerven zehrt. An meinen wenigstens.

Es gibt aber auch tiefliegende Wolkenbänke, die unter der Schicht der leuchtenden Wolken zwischen den Säulen dahintreiben. Von Stunde zu Stunde werden diese Wolken massiver, und der schwach gewordene Wind fängt an, unstetig zu wehen. Da ist etwas im Anmarsch, glaube ich. Im thermodynamischen Gleichgewicht entwickeln sich keine Wolken. Da müssen verschiedenartige Luftmassen im Spiel sein. Wenigstens etwas verschiedenartig. Ob das mit dem Donnernden Meer zusammenhängt? Ich denke an einen erhöhten Kohlendioxidgehalt der Luft. Aber den kann ich nicht messen, und subjektive Befindlichkeitsänderungen, die durch Kohlendioxid hervorgerufen werden, kann ich nicht feststellen: Kein vermehrtes Atembedürfnis, kein saurer Geschmack. Aber das sagt nichts - der lange Aufenthalt in dieser Welt kann alle unsere körperlichen funktionalen Parameter geändert haben.

So um 11 Uhr sind die treibenden Wolken so dicht, daß sie ein deutliches Sichthindernis bilden. Wir sind zwar bei weitem nicht in Gefahr, irgendwo aufzulaufen, aber es kann schon sein, daß die höheren Regionen einiger Inselbergketten und besonders die höheren Teile der Säulen eine ganze Zeitlang unseren Blicken entzogen sind.

Sporadische Regenschauer erreichen uns, diese sind aber nicht sehr heftig. Einmal, von 13 bis 14 Uhr, wird der Regen zeitweise so dicht, daß die Sicht auf wenige hundert Meter beschränkt wird und ich die Segel bergen lasse, da wir nicht sehen können, wohin wir fahren. Danach hellt es wieder auf, aber die Wolken bleiben. Wir fahren weiter. Ich denke daran, daß die Dichte der Wolken inzwischen ermöglicht, daß wir an auffälligen Dingen vorbeifahren, weil diese zufällig die ganze Zeit hinter Wolken verborgen sind.

Deshalb durchzuckt mich auch ein heftiger Schreck, als der obere Teil einer Felssäule, die aus einer großen, bergigen Insel, die wir schon seit einiger Zeit rechts voraus gesehen haben und an der wir links vorbeizufahren gedenken, plötzlich in einer Wolkenlücke sichtbar wird: Diese etwa drei Kilometer durchmessende Säule scheint sich in etwas mehr als der halben Höhe der Leuchtenden Wolkendecke zu teilen, so wie der Stamm eines Baumes sich in zwei Stämme gabelt. Die beiden Tochtersäulen, die sich so aus dem gemeinsamen Rumpf entwickeln, neigen sich mit ungewöhnlich großem, von hier aus aber noch schlecht erkennbaren Winkel nach außen, so daß sie sich möglicherweise schon unter der Leuchtenden Wolkendecke trennen.

Genau sehen können wir das nicht, da wir uns von dieser Insel aus nahezu in der durch diese zwei Tochtersäulen definierten Richtung befinden. Vielleicht haben wir vor einer Stunde oder zweien auch schon einen Blick auf diese Formation geworfen, aber noch nichts Ungewöhnliches bemerkt. Auch jetzt ist diese Säulengabelung mehr zu raten als zu sehen, aber mit der weiteren Vorwärtsdrift wird der Blickwinkel immer besser.

'Wahrscheinlich wissen wir, was es ist, wenn wir es sehen.' hat Chbesmoi gesagt. Ist es das? Ich frage sie, aber sie ist sich auch nicht sicher.

Auf jeden Fall ist diese Formation sehr ungewöhnlich. Was hatten wir denn bis jetzt, was von der üblichen und häufigen Formation einer Felssäule auf einer bergigen Insel deutlich abwich? Casabones, natürlich. Den Hängenden Berg, den wir danach gesehen haben, der war auch in einem Säulengebiet. Vor Casabones haben wir abgebrochene Säulen passiert. Die ganz anderen Formationen in den verschiedenen Wasserstraßengebieten, die wir durchquert haben, kann man da nicht zählen, und die Gegend, wo wir in diese Welt abgestiegen sind, war eigentlich auch etwas untypisch - da gab es fast horizontale Seitenäste dieser Felssäulen, oder Ebenen auf halber Höhe. Genau weiß ich es ja nicht, weil wir nach Passieren der Toten Stadt ja lange in den Wolken waren und deshalb keine geologische Formation in ihrer Gesamtheit gesehen haben.

Diese Insel ist vielleicht noch 18 Kilometer von uns entfernt. Jetzt ist es 15 Uhr, und wir machen eine Fahrt von bloß drei Kilometern in der Stunde. Das hieße, daß wir in sechs Stunden auf gleicher Höhe wie diese Säule sind. Spätestens dann müssen wir uns entscheiden, ob wir uns der Insel mehr als üblich nähern.

Noch sechs Stunden. In zwei Stunden beginnt aber die Schlafperiode. Wollen wir durchfahren?

"Es ist nicht gesagt, daß das wirklich etwas mit den Braunen oder den Salzigen Quellen zu tun hat!" sagt Chibargch mit einem Seitenblick auf Chbesmoi. Sie will keine Erkundungsexkursionen.

"Das habe ich auch nicht gesagt!" verteidigt Chbesmoi sich, "Ich weiß nur, daß etwas Auffälliges auf diese Quellen hindeuten soll!"

Chrejene hat mir schon lange angemerkt, daß ich mich für diese Quellen und damit für diese Insel interessiere. "Ich finde, es sieht interessant aus. Ich möchte da wohl hin!" sagt sie, um mir zu Hilfe zu kommen. Ich gönne mir ein sparsames Lächeln in ihre Richtung.

Viel helfen wird es mir nicht. Ich habe keinen echten, für eine Granitbeißerin nachvollziehbaren Grund, die Salzigen oder die Braunen Quellen aufzusuchen, außer dem mehr rhethorisch vorgebrachten Vorsatz, dort unbotmäßige Mitglieder der Besatzung zu ersäufen. Und auch damit hat Cherkrochj angefangen. Wie lange macht die Besatzung mit, wenn ich anfange, ernsthaft und zeitaufwendig die Braunen oder die Salzigen Quellen zu suchen? Eine Zeitlang kann ich das als Manöverexperimente für die Kielschwerter verkaufen. Aber das ist zum Beispiel kein Grund, an Land zu gehen.

"Wenn ich keine Einwände höre, werden wir in dieser Schlafperiode still liegen - vor Anker, wenn wir Grund finden." Ich höre keine Einwände, und damit ist das entschieden. Wir werden uns diese Insel morgen aus größerer Nähe ansehen.

"Chibargch, leite du nachher das Anlegemanöver. Ich bin im vorderen Masthaus, falls jemand mich sucht." sage ich.

"Soll ich mitkommen?" fragt Chrejene.

"Warum denn?"

"Naja, weil ..."

"Würde meiner Frau nicht gefallen! Mach du mal deine Studien!"

Sie guckt mir wie ein geschlagener Hund nach, als ich die Brücke verlasse. Das ist mir nicht angenehm, aber was soll ich tun? In erster Linie bin ich mit Irene verheiratet, und ich muß sie jetzt gleich auf die neueste Entwicklung hinweisen. Was geht mich Chrejene an? - Man sollte härter und gefühlloser zu Frauen sein können, denke ich mir, ganz besonders, wenn es Menschenfresserinnen sind. Das macht vieles subjektiv leichter.

Irene's Interesse hält sich in Grenzen. Zwar erwischen wir auch wieder eine Wolkenlücke, die uns den Blick auf die Säulengabelung für eine längere Zeit freigibt, aber Irene's ungeschulter Blick kann die Gabelung noch nicht gut erkennen. Dazu müssen wir erst weiter sein.

Und natürlich sind die Wände der Säule aberwitzig steil. Ohne Steighilfen, Wege oder Klettersteige geht da für uns nichts. Wieso sollten ausgerechnet da welche sein? - Auch ich hatte mir bei der ersten Erwähnung der Salzigen und Braunen Quellen mehr andere geologische Formationen vorgestellt als gerade eine Säuleninsel, aus welchen Gründen auch immer. Es spricht also wirklich nicht sehr viel dafür, daß wir auf der richtigen Spur sind.

Wegen dieser unklaren Aussichten ist die Stimmung auch nicht zum Besten, und wir schlafen nach dem Essen auf unseren Lagern getrennt ein. Vorher allerdings lasse ich die gefesselte Cherkrochj in einen kleinen Raum im Deckshaus bringen. Da ist sie genausogut aufgehoben, und ich lasse bekanntmachen, was mit derjenigen geschieht, die versucht, Cherkrochj zu befreien. Ihre Bewachung sollte keine Probleme machen. Ein bißchen zusätzlicher Aufwand für die Nachtwache - weiter nichts. Und wir sind sie los, was das vordere Masthaus betrifft.

Ich glaube nicht, daß jemand versuchen wird, sie zu befreien.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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