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******** 076. Tag: Donnerstag 95-11-02 ********

76.1 Navigationsgerüchte

Es dauert eine ganze Weile, bis wir sicher sind, daß wir bereits einen Kurswinkel zum Wind haben, der fast 40 Grad groß ist. Nicht genug, aber es gibt Anlaß zu Optimismus. Eine Wirkung ist deutlich und groß genug, daß jede, die aufmerksam genug beobachtet, es sehen kann. Wir experimentieren mit der Rahstellung und der Positionierung der Schwerter an verschiedenen Stellen der Bordwand. Während der ganzen Zeit werden weitere Schwerter gezimmert.

Der Erfolg dieser provisorischen Einrichtungen ist groß: um 11 Uhr erreichen wir mit allen bis dahin fertiggestellten Schwertern einen Kurswinkel von 70 Grad! Leider stellt sich heraus, daß dieser Winkel wieder schlechter wird, wenn mehr Segel gesetzt werden.

Wir müssen also noch mehr tun, denn ich möchte das Donnernde Meer nicht mit Schleichfahrt durchfahren, um die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, daß uns einer dieser seltsamen Ausbrüche erwischt. Aber ich bin guten Mutes. 70 Grad reicht zwar noch nicht, um Höhe am Wind zu gewinnen - dazu braucht man mehr als 90 Grad - aber ich bin sicher, daß wir das bald schaffen werden. Auch wenn es noch weit hinter der Manövrierbarkeit einer modernen Segelyacht zurückfallen wird, so werden wir bald die unbeschränkte Kurssouveränität erreicht haben! Mit einem Schiff, das eigentlich nur ein Floß ist, ist das gar nicht so schlecht.

Und wenn ich die Frauen da auf Deck ihre Äxte und Hämmer schwingen sehe - viele haben das Gefühl, etwas Besonderes zu tun - dann befällt mich eine besondere Befriedigung. Wie immer, wenn man wirklich etwas bewegt.

Ein bißchen hat mir auch der Ruf geholfen, der mir gewissermaßen vorausgeeilt ist: Der Mann, der diese Gleitschirmflucht von Casabones ermöglicht hat und der ein von einer Frau kommandiertes Schiff in seine Gewalt gebracht hat, kann gewiß auch noch manche andere Wunder vollbringen. So mag manche denken. Das kann mir nur recht sein. Außerdem - schließlich ist diese Reputation ja nicht unverdient, oder?

Ich denke, wenn die Frauen dieser Besatzung diese Reise überleben, und Irene und mir gelingt es, diese Welt zu verlassen, dann werden wir eine Legende hierlassen. Wenigstens eine Legende. Vielleicht eine, die sich Jahrtausende hält! - Wenn nicht, durch die Saat, die wir gelegt haben, eine kulturelle oder technische Entwicklung eingeleitet wurde, auf die wir keinen Einfluß mehr haben. Wohin diese führen mag vermag ich nicht zu sagen. Hoffentlich keine technisch-naturwissenschaftlich orientierte Kultur mit starker Zunahme der Bevölkerungsdichte - dazu sind die Welthöhlen als Lebensraum zu klein.

Aber trotzdem bin ich stolz, wenn ich meinen Blick von der Brücke aus über den Bug gleiten lasse, der quer aus der Windrichtung herauszeigt. Das Gefühl darf ich mir jetzt gönnen. Wenigstens so ab und zu.

Da wir bis zu 70 Grad von der Windrichtung abweichen können, ist es möglich, so ungefähr die Richtung einzuschlagen, die Chbesmoi als die Richtung ins Donnernde Meer angibt. Sie ist sich nicht sehr sicher. Es ist schon sehr lange her, daß sie im Donnernden Meer war. Für den Weg nach Grom war es einfacher, da fast jede an Bord diese Strecke bereits gefahren war, viele auch mehrfach. Da wäre jeder Navigationsirrtum sofort aufgefallen. Jetzt aber ist der richtige Weg nur in einem einzigen Kopf vorhanden, und auch dort nur ungenau.

Für mich ist es kein Unterschied. Das Meer und die Säuleninseln sehen genauso aus wie viele, die ich schon gesehen habe, und wenn der Kompaß nicht Richtungen zwischen West und Nordwest angeben würde, dann wäre überhaupt kein wahrnehmbarer Unterschied da. Immerhin kann ich mit dem Kompaß nachweisen, daß Chbesmoi's Kursanweisungen tatsächlich nur ungefähr sind. Die Kursschwankungen sind nicht nur auf unsere Experimente mit den Schwertern zurückzuführen.

"Es muß doch noch jemanden an Bord geben, die schon einmal das Donnernde Meer bereist hat! Hier sind doch so viele, die schon häufig gefahren sind!" sage ich.

"Niemand fährt freiwillig da hinein!" sagt Chbesmoi, "Es passiert eigentlich immer nur, wenn man wegen Wetter oder Navigationsirrtümern dahin verschlagen wird. Wenn man es überhaupt kennt, dann im Allgemeinen nur vom Hörensagen."

"Gut. Aber das versehentliche Befahren des Donnernden Meeres kann ja einem Schiff passiert sein, das jemanden an Bord hatte, die jetzt auch hier an Bord ist. Außer dir, Chbesmoi!" sage ich.

"Ich war nicht selber im Donnernden Meer! Ich habe mir auch nur davon erzählen lassen!" wendet sie ein.

"Ach so! - Das ist also unsere ganze Kursexpertise!"

Ich kann nicht erkennen, ob Chbesmoi eingeschnappt ist: "Meine Schuld." sage ich schnell, "Ich habe es mißverstanden. Ich dachte, du wärst schon selbst dort gewesen. Nun, jedenfalls ist es dann umso wichtiger, daß jemand, die schon dort war, um Rat fragen. Falls wir eine solche an Bord haben. Chrejene?"

Chrejene blickt von ihren Karten auf. Ist sie eingenickt? Egal. Ich entschließe mich, es nicht bemerkt zu haben.

"Chrejene, frag rum auf dem ganzen Schiff: Wer war selbst schon im Donnernden Meer? Bring sie sofort mit, wenn du jemanden findest!"

Chrejene flitzt los, froh, etwas Bewegung zu bekommen. Auf der Brücke breitet sich Schweigen aus. Ich sehe die Landschaft an und frage mich zum wer weiß wievielten Male, unter welcher Gegend wir jetzt sind. Norddeutschland, Nord- oder Ostsee, vielleicht schon Skandinavien? Viel weiter kann es ja noch nicht sein. Glaube ich. Nichts von der Topographie da oben wirkt sich hier unten aus. Oder wirkt sich so deutlich aus, daß ich es erkennen könnte.

Nicht einmal die Temperaturverteilung. Nördliche Gegenden sind kühler - ich habe bis jetzt aber nicht den Eindruck, daß es weniger heiß und weniger schwül geworden ist, in den langen Wochen, die wir nach Norden gefahren sind. Sicher ist die Thermodynamik der Welthöhle nicht mit einfachen, linearen Wärmeleitungsgleichungen zu beschreiben. Vielleicht werden Unterschiede in der Durchschnittstemperatur der Erdoberfläche durch meteorologische Vorgänge in den höheren Lagen der Welthöhle völlig von der Welt der Granitbeißer abgeschirmt. Vielleicht würde es sich nicht einmal auswirken, wenn die Sonne aufhörte, zu scheinen.

Das ist allerdings ein interessanter Punkt - wenn das nämlich so ist, dann ist die Welthöhle eine geologische Formation, die auf Planeten, die sehr weit von ihrem Zentralstern entfernt sind oder die ihren Zentralstern verlassen haben, immer noch und wahrscheinlich für sehr lange Zeit Leben ermöglicht. Ein interessanter Gedanke: Irgendwo in der Galaxis, im Dunkelraum zwischen den Sternen, treiben vereiste Kugeln, die unter ihren Oberflächen eine Welthöhle wie diese haben, in denen das Leben sich über Jahrmilliarden hält und weiterentwickelt.

Da ich aber leider immer noch nicht die geophysikalische Begründung für die Existenz der Welthöhle kenne, weiß ich auch nicht, wie wahrscheinlich diese Formation ist und wie wahrscheinlich sie auf anderen Himmelskörpern anzutreffen sein könnte. Vielleicht, wenn es etwas sehr Häufiges ist, dann hat sogar der Mond oder der Mars so etwas. Dann wäre es möglich, daß es auf dem Mond oder dem Mars Leben gibt, nämlich so wie hier, in riesigen Höhlen unter der Oberfläche!

Solche Höhlen auf den anderen Planeten und Monden des Sonnensystems passen nicht in mein wissenschaftliches Weltbild. Und auf manchen dieser Himmelskörper sind solche Höhlen auch völlig unmöglich, wie etwa auf den großen Gasriesen, oder auf so einem Mond wie dem Miranda, der in seiner Geschichte irgendwann durch Kollisionsereignisse fast völlig zerrissen wurde und danach wieder konglomerierte - eine immense Katastrophe für einen so kleinen Himmelskörper.

Allerdings - diese Welthöhle paßt ja auch nicht in mein wissenschaftliches Weltbild, und es gibt sie dennoch.

Eines Tages, denke ich, wird trotzdem die Stunde dieser Welthöhle schlagen: Die Kälte des Alls kann sie nicht erreichen, aber die Sonne wird beim Verbrauch ihrer Wasserstoffvorräte erst langsam, dann immer schneller zu einem roten Riesen anschwellen. Das wird über lange Äonen die Erde immer mehr anheizen. Die Ozeane werden kochen, die Atmosphäre wird entweichen. Dann wird die Welthöhle von beiden Seiten geheizt, vom Inneren der Erde aus, von unten also durch die Erdwärme, und von oben durch die Sonne, die sich zum Sterben vorbereitet. Über Jahrhunderttausende wird die Temperatur immer weiter ansteigen, bis der Evolution in der Welthöhle nichts mehr einfällt, wie lebende Gewebe vor der Disintegration in dieser Hitze geschützt werden können.

Welche Temperatur das wohl sein mag? Es gibt Bakterien und Sporen, die bei hundert Grad noch am Leben sind. In der Chiurgie sterilisiert man manche Dinge mit Heißdampf von über zweihundert Grad. Bei solchen Temperaturen ist wohl endgültig Schluß, jedenfalls, was Leben auf der Basis der organischen Kohlenstoffchemie betrifft.

Und wenn das Leben bis dahin sich andere chemische Grundlagen erschließen sollte - ich weiß nicht, welche das sein könnten - dann ist das höchstens ein Aufschub. Denn man weiß, daß die zum roten Riesen gewordene Sonne die Erdoberfläche auf über tausend Grad aufheizen wird. Das wird dann auch hier unten passieren.

Und wenn bis dahin niemand eine Erklärung für diese Höhlen gefunden hat, dann wird es auch keiner mehr versuchen. Keine Erklärung für diese Höhlen - das ist für den wissenschaftlichen Geist fast dasselbe, als ob sie gar nicht existieren. Als ob sie nur ein Traum waren. Ob ich das denken werde, wenn ich wieder oben bin? 'Life is a dream, a little more coherent than most.' Wer hat diese elementare Weisheit der neuronalen Grundlage des Erlebens der Wirklichkeit von sich gelassen? Ich weiß es nicht mehr. Könnte von mir gewesen sein. Ist aber nicht von mir. Ich muß es irgendwann gelesen haben, und seitdem kreuzt dieser Spruch des öfteren meine Gedanken. Ein Warnsignal, das einem sagt, daß man sich nicht drauf verlassen sollte, daß das eigene Bewußtsein zu fest in der Wirklichkeit fundiert ist. Ein Symbol für eine der vielen Beschränkungen unseres Seins.

Chrejene kommt wieder. Sie stellt sich vor mir hin wie ein Soldat in der Grundausbildung. Wo hat sie denn nun das wieder her? Das habe ich ihr nicht beigebracht.

"Und?" frage ich.

"Niemand." sagt sie.

"Niemand war im Donnernden Meer?"

"Niemand. Die meisten haben nicht einmal davon gehört. Und die, die davon gehört zu haben glauben, können nicht alle unterscheiden, ob sie erst jetzt davon gehört haben oder schon früher."

"Danke, Chrejene. Das war ein sehr genauer Bericht!"

Das Lob geht ihr sichtlich warm herunter. Ich sehe, daß sich ihre Brustwarzen aufstellen. Da hört die Vergleichbarkeit mit einem Soldaten in der Grundausbildung natürlich auf.

"Du kannst dich jetzt wieder um deine Karten kümmern. Und, Chrejene: Versuche, die Gegend, durch die wir kommen, als Karte zu zeichnen. Traust du dir das zu?"

"Ja, Kommandant!" sagt sie und ist schon bei der Arbeit. Mehrere Male wirft sie dabei Blicke in meine Richtung. Ich weiß nicht, woran es bei diesem relativ reizlosen Mädchen liegt, aber mir kribbelt es im Unterleib. Schnell an etwas anderes denken!

"Chbesmoi," sage ich, "du bist die Einzige an Bord, die überhaupt eine ungefähre Ahnung hat, wo das Donnernde Meer und die Salzigen und die Braunen Quellen liegen. Bleib uns bloß gesund, hörst du? Wenn du dich falsch erinnert hast, dann fahren wir jetzt sonstwo hin!"

"Ich habe mich nicht falsch erinnert, Kommandant!" sagt sie.

"Das habe ich damit auch nicht andeuten wollen."

"Kommandant," unterbricht Chromargue, die gerade das Steuer hat, "wollen wir während der Schlafperiode durchfahren?"

"Mmh. Wir machen gute Fahrt, nicht?"

"Ja. Ich hätte nicht geglaubt, daß es bei diesem Kurswinkel noch so schnell geht."

Ich überlege. Mit den Kielschwertern haben wir noch nicht genug Routine. Ich will das Schiff nicht auf diese Weise bewegen, wenn ich nicht dabei bin. Wenn wir uns die Nacht lang nur treiben lassen, müssen wir aber mit einer Abdrift von einigen Kilometern rechnen, auch wenn nicht ein einziges Segel gesetzt ist. Zum Ankern ist der Grund wahrscheinlich zu tief - ist er immer, soweit von der nächsten Säuleninsel entfernt.

"Nein, wir fahren nicht durch. Teile Wachen ein - es muß nur eine einzige zur Zeit wach sein. Chrejene heute nicht, die war die ganze letzte Schlafperiode wach."

"Ja, Kommandant."

Den Rest der Zeit, bis zum Beginn der Schlafperiode um 14 Uhr, installieren wir noch zwei weitere Schwerter, die noch etwas tiefer eintauchen als die anderen. Damit bringen wir den Kurswinkel auf maximal 82 Grad!

Die Schwerter haben noch eine weitere Wirkung: Als wir die Segel zur Schlafperiode einholen, lassen wir die Schwerter gesetzt. Sie können unsere Abdrift durch die restliche Windkraft weiter vermindern.

Wenn es da keine unbekannte Strömung gibt. Aber so etwas soll die Nachtwache bemerken. Wozu ist sie sonst da?


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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