Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** 075. Tag: Mittwoch 95-11-01 ********

"Chrejene, du kannst den Rest des Tages irgendwo schlafen. Such dir einen Platz!"

Der Blick der Dankbarkeit, den sie mir beim Hinausgehen zuwirft, ist echt. Wenn ich wollte, könnte ich sie auf der Stelle haben. Aber das könnte ich ja jederzeit, wie sie mir selbst erklärt hat. Es ist also unwichtig.

Irene hat während unseres Unterrichtes nichts gesagt. Ihr Xonchen ist zweifellos gut genug, um herauszukriegen, worum es ging. Nun setzt sie sich auf.

"Noch eifersüchtig?" frage ich. "Irene! Die kann dir doch nicht das Wasser reichen!"

"Ich muß biseln!" sagt sie, steht auf und verläßt den Raum. Gutes Zeichen, daß sie wieder familiäre Bemerkungen macht. Allerdings ist mir der moralisch überhebliche Blick beim Hinausgehen durchaus aufgefallen. Ich weiß schon: Sie wir mir huldvoll verzeihen, aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Vorgang wieder aufs Brot schmieren. Bis in alle Ewigkeit. Amen.

Es ist schon schwer, eine in manchen Dingen so kleinkarierte Frau zu haben.

75.1 Die Kielschwerter

Da Irene zu weiteren sinnvollen Gesprächen nicht bereit ist, verbringe ich den Rest dieser Wachperiode auf der Brücke. Auch Chibargch, Chromargue und Chbesmoi müssen etwas über diese fortgeschrittene Segeltechnik lernen. Im Vergleich zu Chrejene sind sie von flinker Auffassungsgabe.

Im Vergleich zu meiner schönen Charmion nicht. Bis zum Abend habe ich einige weitere Damen mit dieser Technik vertraut gemacht, aber wir sind noch nicht soweit, die eigentlich notwendigen Arbeiten angefangen zu haben. Dafür habe ich von 14 Stunden Reden eine heisere Stimme. Und das, wo die Xonchen-Sprache durch ihren Konsonantenreichtum der Heiserkeit sehr förderlich ist.

Das Material hätten wir ja in genügender Menge, da wir von der MARY CELESTE das Bauholz übernommen haben, zusätzlich zu dem, was schon am Bord des Saurierfängers war. Eigentlich sollten wir morgen anfangen können.

Inzwischen ist mir auch eine Begründung für unseren Ausflug in das Donnernde Meer eingefallen, die ich der Schiffsbesatzung und den Offizieren hervorragend verkaufen kann: Ich kehre einfach die Kausalitätskette um. Wir fahren in das Donnernde Meer, um diese Kiele zu entwickeln und zu testen und die bessere Manövrierbarkeit zu demonstrieren. Das wird uns nämlich bei den nächsten Jagdexpeditionen bessere Jagdgelegenheiten geben.

Diese Argumentation ist zweifellos schlüssig, und deshalb kann ich sie gut vertreten. Und nur ich und eigentlich Irene wissen, daß wir die Kiele bauen wollen, um ins Donnernde Meer zu gelangen und nicht umgekehrt.

Für die Schlafperiode lasse ich alle Segel bergen. Noch haben wir keine Schwerter an den Bordwänden angebracht, und deshalb wird unser Sollkurswinkel von unserer Position zum Donnernden Meer immer ungünstiger. Das Problem soll sich in dieser Schlafperiode nicht weiter verschärfen.

Aber mit den Damen der Schiffsführung bin ich übereingekommen, daß gleich am nächsten Morgen die ersten provisorischen Schwerter gebaut werden sollen. Auch wenn diese Einrichtungen noch viel zu klein sind, wenn man sie auf die Schnelle herstellen will, so werden wir doch auf diese Weise schnell die ersten Erfahrungen sammeln, und der mögliche Kurswinkel mit der Windrichtung wird auch bei kleinen kielähnlichen Einrichtungen bereits deutlich größer. Glaube ich. Wir brauchen mindestens einen Winkel zwischen 45 und 60 Grad. Genau weiß ich das natürlich nicht. Vielleicht sind auch 90 Grad notwendig.

Im Moment, ohne jedes Schwert, haben wir eine Abweichung des Kurses von der Windrichtung von etwa 25 bis 30 Grad. Fast genausoviel haben wir auch mit der MARY CELESTE geschafft. Der Saurierfänger liegt wegen seiner schweren Beladung tiefer, und dadurch erzeugt seine Bordwand eine etwas größere Kielwirkung als es bei der MARY CELESTE der Fall war.

Nach einem reichlichen Abendessen, bei dem ich mehr Fleisch als es bei der vermutlichen Herkunft dieses Fleisches ethisch vertretbar ist, gegessen habe - aber vegetarisch ist die Küche wieder knapp - lege ich mich auf mein Lager. Es ist so etwa 11 Uhr, und die Chrejene hat ihren Schlaf nachgeholt. Deshalb hat sie die ganze Nacht über Wache. Allein, weil das Schiff nicht fährt, und die Restdrift wird uns nicht sehr weit bringen. Sie wird Ruhe haben, weiter zu lernen. Ein bißchen wenigstens - ich habe mich heute bei ihr kaum um Erfolgskontrolle kümmern können.

Es hat sich auf dem Schiff herumgesprochen, daß wir neue und interessante Veränderungen am Schiff machen werden, und es ist eine gewisse neugierige Erwartung zu spüren. Das und das Wachsein von Chrejene, so denke ich, wird es mir ermöglichen, ohne Furcht vor einer Palastrevolution zu schlafen. Nur Cherkrochj müssen wir noch weiter gefesselt halten. Vorsichtshalber.

Vor dem Einschlafen wechsele ich einige wenige Worte mit Irene. Wenigstens das geht wieder. Sie will von mir wissen, wie sicher ich denn nun wirklich bin, einen Weg nach oben zu finden. Ich sage ihr, daß ich letzten Endes mich auf Aussagen verlasse, die praktisch den Wert von alten Legenden haben. Selbst, wenn wir die Salzigen oder die Braunen Quellen finden sollten, dann ist es noch lange nicht gesagt, daß der Weg nach oben tatsächlich benutzbar ist.

"Aber," sage ich, "wir können ja zurück. Wir wissen ja, daß hier unten eine Welt ist, in der man leben kann. Es ist keine 'sink or swim'-Mission. Wir können es noch einmal versuchen, und wenn notwendig, immer wieder! Irgendwann schaffen wir es!"

So sicher bin ich zwar auch nicht, aber warum soll ich Irene mit meinen Sorgen einschlafen lassen? Sie wendet mir ihren Rücken zu, und ich halte den Mund.

Vielleicht träumt sie von zu Hause. Ich wünsche es ihr. Deshalb behalte ich auch die alte Bergsteigerweisheit für mich, die mir gerade in den Sinn gekommen ist: 'Der Berg gehört dir erst, wenn du wieder unten bist - solange du noch oben bist, gehörst du dem Berg!' - Genau das ist unsere Situation. Wir gehören immer noch der Welthöhle. Noch ist das Abenteuer nicht bestanden. Auch wenn es so aussieht, als ob sich die Dinge im Moment zügig entwickeln.

Wie rasch sich sogar die angenehmsten Bedingungen ins Negative verkehren können, davon haben wir auf dieser Reise ja schon Beispiele genug erlebt. Aber sogar in unserer Welt kann einem das passieren. Fast ganz zusammenhanglos fällt mir ein Ereignis ein, das ich vor 12 Jahren auf einer Fahrradtour durch Irland hatte:

Es war im Westen Irlands, und ich fuhr auf Dingle zu, eines der westlichsten Dörfer von Europa. Das Wetter war gut und sonnig, es gab keinen Gegenwind und ich kam flott voran. Keine technischen Probleme mit dem Fahrrad, keine gesundheitlichen Störungen. Auch der Verkehr war gering. Und es ging sogar ein bißchen abwärts. Ich war mit mir und der Welt im Einklang.

Das Geräusch eines LKW's hinter mir war nicht weiter beunruhigend. Voraus jedoch tauchte auch ein Fahrzeug auf. Diese beiden Fahrzeuge würden sich in wenigen Sekunden auf meiner Höhe treffen - unfair, nachdem die Straße immer wieder für lange Minuten frei von jedem Verkehr gewesen war!

Da gewahrte ich einige Dutzend Meter voraus ein gewaltiges Schlagloch auf meiner Seite der Straße. Bis dahin konnte ich mein schwer bepacktes Fahrrad nicht mehr zum Stehen bringen. Und Ausweichen ging auch nicht, weil ich das Schlagloch genau dann erreichen würde, wenn die beiden Fahrzeuge, der LKW von hinten und der PKW von vorne, mich erreicht haben würden. Und diese Fahrzeuge konnten deshalb auch nicht ausweichen. Ich würde nur eine Lenkstangenbreite der Straße für mich haben, und genau da war das Schlagloch am tiefsten. Es gab nur noch wenige Sekunden, in denen ich mir etwas überlegen konnte.

Diese wenigen Sekunden nützte eine Biene, um sich hinter die Gläser meiner Sonnenbrille zu verirren. Ein Auge fiel damit sofort aus, weil ich es zukneifen mußte.

Jeder Praktiker des Fahrradsportes wird zugeben, daß diese Situation hoffnungslos ist. Das Schlagloch war nicht mehr zu vermeiden. Auch, wenn ich wegen der schweren Zuladung den maximalen Druck in den Reifen hatte, war es ein glattes Wunder, daß die Reifen nicht zerrissen wurden, oder daß die Kugellager der Achsen nicht zerschlagen wurden. Ebensogut hätte ich auch stürzen und dabei unter die Räder des überholenden LKW's geraten können.

Minuten danach stand ich am Straßenrand und untersuchte mein Rad auf Schäden. Die Biene war wieder weg, die Straße war frei von jedem Verkehr, das Wetter war immer noch gut und sonnig. Nur spürte ich zwischen meinen Beinen die Stelle, in die der Sattel mir wie ein Dampfhammer geschlagen hatte. Und mein armes, mißhandeltes Fahrrad tat mir mindestens genauso weh.

So schnell kann sogar in einem zivilisierten Land die Katastrophe eintreten. Wieviel eher dann hier! Und wir machen konkrete Planungen und sprühen gelegentlich Zuversicht!

Diese Irlandfahrt, denke ich noch im Einschlafen - hatte ich nicht erst im November desselben Jahres, wenige Monate später, Irene kennengelernt?

75.2 Experimente

Am anderen Morgen, um 20 Uhr, geht die Zimmerei sofort los. Die ersten Kielschwerter, die gezimmert werden sollen, werden nicht viel größer als eine Zimmertür sein, und ich möchte, daß man sie an verschiedenen Stellen der Bordwand befestigen kann. Wir werden nämlich viele Experimente machen müssen. Außerdem möchte ich erst wieder Segel setzen lassen, wenn wir die ersten Kielschwerter im Wasser haben.

Im Prinzip könnte ich Cherkrochj auf der Brücke gebrauchen. Ihre seemännische Kompetenz ist unbestritten, und die werden wir brauchen. Sie kann uns vielleicht Tips geben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es weise wäre, sie frei rumlaufen zu lassen. Das Risiko, daß sie plötzlich wieder akzeptierte Kommandantin ist, möchte ich nicht eingehen. Also bleibt sie, wo sie ist. Ich nehme mir vor, irgendwann mit ihr über Kooperation zu sprechen - konstruktive Mitarbeit gegen frei Rumlaufen. Muß doch möglich sein.

Die Zimmerei dauert bis 24 Uhr. Dann haben wir vier Bretter, die wir in Lee an der rechten Bordwand befestigen. Dann lasse ich das erste Segel setzen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite