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******** 073. Tag: Montag 95-10-30 ********

73.1 Vorwürfe

Als ich mich entschließe, abzusteigen, weil die Blase wieder einmal drückt und weil ich es bisher vermieden habe, meinen Urin am Mast hinunterlaufen zu lassen, was niemanden gestört hätte und was auch sowieso niemand bemerkt hätte, sehe ich, daß Irene sich unten an der Bordwand wäscht. Sie kümmert sich um niemanden, und niemand kümmert sich um sie.

Ich entschließe mich, einfach zu ihr ins vordere Masthaus zu gehen. Wenn Cherkrochj mich haben will, dann soll sie mich holen. Vielleicht, hoffe ich, nimmt sie davon Abstand, wenn ich bei Irene bin.

Weil meine Abendtoilette auch etwas Zeit braucht, ist Irene schon wieder im Masthaus, als ich dort eintreffe. Sie sitzt auf ihrem Lager.

"Gibt's dich auch noch?" fragt sie mürrisch.

"Wieso denn nicht?"

"Wo warst du denn letzte Nacht?"

"Cherkrochj hat ihren Willen gehabt."

"Aha."

"Ich habe es mir nicht ausgesucht. Die schon gar nicht."

"Wen hättest du denn ausgesucht?"

"Was soll die Fragerei, Irene? Hier gibt es keine sexuelle Selbstbestimmung. Jedenfalls nicht, wenn man männlichen Geschlechtes ist. Nur, wenn eine Frau die schützende Hand über einen hält. - Aber das hast du ja nicht getan."

Sie antwortet nicht.

"Wenn du Einzelheiten wissen willst - es war eine mühsame Angelegenheit."

Da sie weiterhin nichts sagt, gehe ich an die Fenster, um hinauszusehen. Rechtzeitig fällt mir ein, daß Cherkrochj mich dann von der Brücke aus sehen kann. Schnell gehe ich in die Mitte des Raumes zurück und setze mich neben Irene's Lager.

Da liegen unsere Rucksäcke - meiner und ihrer. Aufhängepunkt für einen Themawechsel:

"Sind unsere Sachen noch vollständig? Klamotten, alles, was wir mithatten?"

"Ja." sagt Irene kurz. Mir fällt das weggeworfene Papiertaschentuch, das wir gefunden haben, ein. Aber mir ist jetzt auch nicht nach Inventur zumute. Nicht einmal, ob die Dynamolampen und die Glühbirnchen noch alle da sind, interessiert mich besonders.

Ich wechsele das Thema und monologisiere, was ich über die Braunen und die Salzigen Quellen gehört habe, und die daraus resultierende Aussicht auf ein Verlassen dieser Welt. Irene hört mit gedämpftem Interesse zu und unterbricht mich nicht, bis ich fertig bin.

"Wie ist diese Charmion gestorben?" will sie übergangslos wissen. Hat sie überhaupt zur Kenntnis genommen, worüber ich in den letzten Minuten geredet habe?

"Willst du das wirklich wissen?"

"Ja."

"Elend." Ich rede die Worte wie ein Automat, weil ich mich nicht erinnern will. Nicht in Gegenwart von Irene.

"Elend. Auf dem Vollstreckungskreuz. Die Glieder wurden ihr abgequetscht. Dann hing sie da, während ihre Arme und Beine schon anfingen, zu verfaulen. 38 Stunden hing sie da. Ohne Wasser. Ohne alles. In dieser feuchten Hitze. 38 Stunden. Die meiste Zeit davon hat sie mit Bewußtsein erlebt, wie sie selbst anfing, zu verfaulen."

"Und du?"

"Mußte arbeiten. Ging weg. Kam wieder. Ging wieder weg. Osont hat auf mich aufpassen lassen. Ich konnte sie nicht erlösen. Nicht vom Kreuz nehmen, und nicht töten. - Sie hätten sofort auf mich geschossen."

Nach einer Weile, in der Irene nichts sagt, fahre ich fort:

"Zum Schluß hat sie mich nicht mehr erkannt. - Ein paarmal bin ich rauf zu ihr - Leiter angelegt, auf ihren Arm - der war aber schon ganz - verfault, und gestunken hat sie - habe versucht, ihr zu trinken zu geben - unten stand einer, der hat die ganze Zeit mit dem Bogen auf mich gezielt - sie konnte aber nicht mehr sprechen. - 'Geht nach Hause' hat sie gesagt, vorher noch. - Ich habe dann ihre Leiche bekommen. - Als es zu Ende war. Um sie zu begraben. Sie sah schrecklich aus. - Man hätte sie nicht einmal mehr aufgegessen."

"Und da hast du sie begraben?"

"Ja. - An einem sicheren Ort. Nur ich kenne ihn. - Nebel. Das Wasser. Kleine Wellen am Ufer. Eine Art Schilf. - Ein schöner Platz. Nie mehr wird jemand dorthinkommen. - Steine. Tonnen von Steinen habe ich auf sie gerollt. Lange Zeit. Niemand wird sie ausgraben, kein Tier, kein Mensch. Dafür habe ich gesorgt. - Dann bin ich weggegangen."

Ich stehe hastig auf: "Willst du das denn wirklich in allen Einzelheiten wissen?"

"Ich wollte wissen, WIE du davon erzählst. - Das weiß ich jetzt."

"Schön. Und?"

Nichts und. Sie fragt nicht weiter nach. Sie weiß es, und ich weiß es, und sie weiß, daß ich weiß, was sie weiß. Genießt sie die moralisch gehobene Position desjenigen Ehepartners, der sich keinen Seitensprung hat zuschulden kommen lassen?

"Ich würde dich nicht gegen sie eintauschen!" sage ich lahm. Keine Reaktion. Und die bloße Formulierung dieser Idee bringen Bilder zurück: Charmion, wie sie lacht, Charmion, wie sie auch einmal Angst hatte, da in den dunklen Höhlen im Berg Casabones, Charmion, die mir die Welt der Granitbeißer erklärt, Charmion, der ich meine Welt zu erklären versuche, Charmion, die auf mir reitet und in die ich immer tiefer eindringe, Charmion, die Kennerin aller möglichen Heilkräuter und aller anderen Geheimnisse dieser Welt - our Lady of Enchantment -, Charmion, die mutigste Schwertkämpferin - our Lady of the Sword -, Charmion, die Herausforderin des gefährlichsten Raubsauriers - our Lady of the Sauropods -, Charmion, die ...

"Wir passen überhaupt nicht zusammen!"

"Wieder einmal!"

Am liebsten würde ich aufstehen und rausrennen. Häufig enden Streitigkeiten zwischen uns mit der von Irene aufgestellten Behauptung, daß wir nicht zusammenpassen. Selbst wenn das wahr wäre, dann wäre das ja nicht nur im Streitfall, sondern immer so. Und zweitens wäre es kaum als Vorwurf gegen nur einen von uns tauglich - mit genau dem Tonfall eines Vorwurfes sagt sie es aber. Da kann und mag man gar nicht gegenan argumentieren.

"Kannst dir ja eine andere suchen!" Auch so ein häufiges, nichtssagendes Standard-Argument von ihr.

"In dieser Welt sucht ein Mann sich keine andere! Er wartet, bis er ausgewählt wird. Ich habe doch keinen Einfluß auf irgend etwas, was in dieser Hinsicht mit mir geschieht!"

Irene entschließt sich, nichts mehr mit mir zu reden. Sie legt sich auf ihr Lager, Rücken zu mir. Ich weiß, daß es wieder zwei prinzipielle Mögklichkeiten gibt: Entweder, sie will im Moment tatsächlich nichts mehr von mir wissen - das ist charakteristisch für eine frühere Phase einer Auseinandersetzung - oder sie erwartet, daß ich mich zu ihr lege - das hieße, daß sie bereits die Beilegungsphase eines Streites ansteuert. Auch nach diesen vielen Jahren mit Irene kann ich nicht sagen, was von beiden jetzt der Fall ist.

Hätte sich Charmion auch als so unnötig kompliziert herausgestellt, wenn man mit ihr länger zusammengewesen wäre? Ansätze dazu gab es ja. Ganz im Gegensatz zu Cherkrochj. Die ist stur und kalt und logisch und vielleicht, wenn man sie länger kennt, berechenbar. Sie ist nur Boß. Sie ist ohne Vision - jedenfalls hat sie mir bis jetzt nichts dergleichen offenbart. Sie ist unweiblich und langweilig.

Ohne Vision - was heißt das auch? Mein Hang, Menschen zu klassifizieren, führt mich immer zu der Zuweisung solcher Attribute. Dabei stellt sich manchmal auch heraus, daß sehr verschiedenen Menschen die gleichen Attribute zukommen, und man ist so klug wie zuvor. Auch Irene hat keine Visionen, jedenfalls nichts, was ich darunter verstehen würde, nämlich Visionen, was man eigentlich mit dem eigenen Leben anfangen sollte. Man hat ja nur eines, und deshalb sollte man sich darüber frühzeitig Gedanken machen.

Irene's Vision ist im wesentlichen beruflicher und daraus resultierender wirtschaftlicher Erfolg. Das aber schien ein Selbstzweck zu sein. Mir erschien der Gedanke, sich ein ganzes Leben lang abzurackern, um dann etwa ein halbwegs schönes Haus sein eigen zu nennen, wenig attraktiv. Irgendwo stimmt etwas nicht in der Bilanz, wenn man am Ende seines Lebens ein Vermögen erwirtschaftet hat, und es ist niemand da, dem man es hinterlassen möchte. Darüber haben wir schon so oft gestritten.

Ich sah und sehe noch heute die Prioritäten anders. Natürlich muß man am Leben bleiben, und in unserer Welt da oben heißt das in erster Linie, wirtschaftlich am Leben zu bleiben. Darüber hinaus sehe ich aber keinen Grund, Vermögen anzuhäufen. Schon auch deshalb, weil es doch wieder wegversteuert wird. - Ich wollte Zeit haben, Zeit, um alles über die Welt herauszufinden, was wirklich wichtig ist und was ich noch nicht weiß. Habe ich nicht versucht, es Charmion zu erklären, da in dem dunklen Bauch des Berges Casabones? Ich glaube, sie hat es mehr begriffen als Irene. Irene ist nicht neugierig. Bei Charmion war ich dabei, Neugier zu erwecken. - Oder vielleicht will ich mir das auch nur einbilden. Und Ondar - der hat auch Fragen gestellt. Und Ochaum. Der auch. Soviele gute Menschen, denen die Antworten vorenthalten wurden.

So etwas aber auch! Jetzt nenne ich schon mehrere Granitbeißer 'gute Menschen'. Wo sie doch Menschenfresser sind. Ekelhafte Menschenfresser. Eigentlich. Oder? Sind meine Maßstäbe so verrutscht?

Irene, warum siehst du die Welt nur durch den Tunnel deiner eingeschränkten Denkweise? Es wäre sogar zwischen uns anders, wenn du offener wärest. Wenn du nicht soviele Denkschranken hättest, wenn man mit dir über alles reden könnte.

Aber ich sage es ihr nicht, und ich lege mich nicht zu ihr. Es ist noch ein zweites Lager da. Das nehme ich.

"Warum lassen sie uns eigentlich das ganze Masthaus?" frage ich, "Das Schiff ist doch gut besetzt?"

Irene antwortet nicht. So schnell kann sie nicht eingeschlafen sein. Also grollt sie mir immer noch. Also bleibe ich auf meinem eigenen Lager.

Draußen, unten auf Deck, höre ich eine Schimpftirade. Jemand wird zusammengeschissen. Ich kann nicht erkennen, ob es Cherkrochj's Stimme ist, und aus den rein akustischen Informationen kann ich auch nicht herausdestillieren, ob Schlimmeres folgt. Ich warte darauf, das Sausen zu hören, das ein Schwert verursacht, wenn es zuerst die Luft und dann einen Hals zerteilt. Aber ich höre nichts. Der Adrenalinspiegel steigt unnötig an.

Jetzt erst fällt mir auf, daß das Schiff nicht für die Schlafperiode ankert. Wir fahren rund um die Uhr. Andererseits hat der Saurierfänger ja bewegungslos gelegen, als ich das erste Mal seinen Mast gesehen habe. Nach welchen Kriterien wohl entschieden wird, ob die Schlafperiode durchgefahren wird oder nicht? Ich muß es noch herausfinden.

Als sich auch nicht die ständige Befürchtung erfüllt, daß jemand die Leiter zu unserem Masthaus hinaufsteigt, schlafe ich ein. Wenigstens in dieser Schlafperiode läßt Cherkrochj mich nicht holen.

73.2 Boten des Donnernden Meeres

Kurz nach 14 Uhr - wie immer reicht die Zeit kaum für die Morgentoilette, und Frühstück habe ich auch noch nicht gehabt - läßt Cherkrochj mich holen. Ob es jetzt Ärger gibt, weil ich mich ihr letzte Schlafperiode entzogen habe?

Nein, es ist etwas konkreteres. Cherkrochj hat sich inzwischen Gedanken darüber gemacht, wie es wohl möglich ist, daß die Schiffe der Meuterer den Weg so genau kennen. Ich muß ihr erzählen, woher wir die Karten haben. Dabei sollte sie sich eigentlich denken können, daß wir im Unterfort von Casabones alles mitgenommen hatten, was nützlich schien.

Kann sie sich auch denken. Darum geht es auch nicht. Sie hat auch Karten, aber ihre, so erfahre ich, sind genauso ungenau und widersprüchlich wie die, die wir haben. Die meisten hat Osont noch auf seinen Schiffen, und die von unserem Schiff hat sie herüberholen lassen, bevor es verbrannt wurde. Also hat sie gewußt, daß wir über Karten verfügten. Warum fragt sie dann so blöd?

Sie fängt an, mich zum Vergleich verschiedener Karten zu befragen. Aber das ist eine ermüdende Sache, die nicht viel bringt. Wieso sollte ich diese Karten besser interpretieren können als sie? - Aus einigen Bemerkungen entnehme ich, daß diese Karten sehr unsystematisch entstanden sind. Gelegentlich hat eine Schiffsfüherin, die diese Gewässer befuhr, sich eben entschlossen, ihren Fahrtweg aufzuzeichnen. Dabei entstanden eben Karten, die natürlich sehr von den Zufälligkeiten des Weges des betreffenden Schiffes abhingen. Deshalb unterscheiden sich die Gefahrenhinweise auf den verschiedenen Karten so sehr. Die einzige Möglichkeit, die man hat, um aus den Karten handfestere Informationen herauszudestillieren, ist nur die, die Karten mehrerer Autorinnen desselben Gebietes zu vergleichen und Gemeinsamkeiten zu suchen. Das ist ungefähr wie der Vergleich verschiedener überlieferter Legenden, um so etwas über wirkliche historische Ereignisse herauszufinden.

Ich berichte über den Verlauf unserer Reise von Casabones aus. Cherkrochj, Chromargue und Chibargch hören aufmerksam zu, machen aber selbst keine Aufzeichnungen. Auf dieser Reise werden keine neuen Karten hergestellt. Das ist unnötig, erfahre ich, weil es ja schon so viele Karten gibt. Da bin ich zwar anderer Meinung, aber ich halte den Mund. Ich werde mich hüten, in einem Nebensatz das Konzept eines exakten Maßstabes erläutern zu wollen - das gibt nur Ärger, wenn ich zuviel Dinge von mir gebe, die hier keiner verstehen kann.

Eigentlich wüßte ich auch einiges ganz gerne. Zum Beispiel diese Tangmatte, die uns vor dem Einlaufen in das Wasserstraßengebiet so aufgehalten hatte, und in der eines unserer Schiffe verlorenging, war diese auch für den Saurierfänger ein Hindernis?

Taktischer Fehler: Das Interesse an der Beantwortung dieser Frage ist mir zu deutlich anzumerken. Cherkrochj demonstriert persönliche Entscheidungssouveränität, indem sie meine Fragen einfach überhört. Kindisch, so etwas! - Aber so erfahre ich nicht, was ich wissen will.

Während wir noch reden, gellt plötzlich aus der Höhe des Mastes ein Warnruf herunter. Ich habe ihn nicht verstanden - es war ein Wort, das ich nicht kenne. Cherkrochj und Chromargue - Chibargch hat das Ruder und sieht sowieso schon hinaus - stürzen an die vorderen Fenster.

Ich sehe auch hinaus, kann aber nicht erkennen, was los ist. Unten, auf dem Deck, ist eine gespannte Aufmerksamkeit bei allen Frauen, die dort gerade zu tun haben, zu erkennen. Sie sehen fast ausnahmslos nach vorne.

Was geschieht? Saurier? Flugsaurier? Andere Feinde, oder Menschen? Niemand nimmt Waffen zur Hand. Auch den Gedanken an Osont und seine Schiffe lasse ich sofort wieder fallen - die sind hinter uns, weit hinter uns, und können nicht mit uns mithalten, selbst wenn sie wollten. Es muß etwas anderes sein.

"Was ist los, Kommandantin?" frage ich.

"Du hast doch ein Schiff geführt! Weißt du denn gar nichts?"

Sie weist mich wieder darauf hin, daß ich etwas nicht weiß, klärt mich aber nicht auf.

Weitere Rufe kommen aus dem Mastwerk, und viele Frauen klettern rauf. Es werden hastig Segel geborgen.

Zu spät. Der stete Wind von hinten, der uns ständig vorangetrieben hat, hält plötzlich ein. Einen Moment Windstille, die noch gesetzten Segel hängen schlaff. Dann kommt Wind von vorne. Und wird stärker. Wird stärker. Ich sehe, daß sich weit voraus am Ufer die Baumkronen drehen und wenden, und daß dort Dreck und Blätter durch die Luft fliegen.

Da kommt eine harte Böe heran!

Das Schiff zittert, die Masten ächzen. Der Wind heult auf, laut knallen einige Segel, die nicht mehr geborgen werden konnten, und draußen, auf dem Wasser, bilden sich kurze, hastige Wellen. Dann fangen gespannte Seile überall im Mastwerk an, zu heulen und zu singen.

Es knackt in meinen Ohren. Das ist nicht der ohrenbetäubende Lärm, der sich plötzlich innerhalb von Sekunden gebildet hat und von überall her kommt. Das sind Druckschwankungen! Starke Druckschwankungen. Hatten wir das nicht vor einigen Tagen schon einmal?

Das Schiff treibt immer rascher rückwärts. Aber noch bevor man sich überhaupt darüber klar wird, daß da ein starker Sturm genau von vorne eingesetzt hat, bevor man beginnt, sich zu überlegen, was man tun soll, weil das Schiff unkontrolliert nach hinten treibt, beginnt der Sturm, wieder abzuflauen. Nach etwas mehr als einer Minute ist wieder Stille. - Windstille, meine ich, denn von vorne hört man ein Donnern, wie von einem gar nicht fernen Gewitter. Dann setzt Wind von hinten ein. Auch dieser wird weitaus stärker als der stete Wind, der in den letzten Tagen geweht hat, und auch dieser ermattet nach einer weiteren Minute. Immer noch knackt es in meinen Ohren, und das Grollen am Horizont hat zugenommen.

Das Spiel der Winde geht noch einige Zeit weiter, bis, nach etwa neun Windwechseln, nichts mehr wahrzunehmen ist. Der Wind von achtern weht, als ob nichts gewesen wäre. Und dort, wo wir hinfahren, rollt der Donner wie tausend Gewitter. Nur langsam nimmt das ab. Laute Geräusche dürften sich in der Welthöhle lange halten, denn sie werden dauernd irgendwo reflektiert - an den Säulen, an der Höhlendecke, dann wieder unten, auf der See. Es ist nicht so wie auf der Erdoberfläche, wo sich laute Schallwellen durch lange Entfernungen dämpfen lassen können und wo Schallwellen, die zufällig nach oben laufen, in der dünner werdenden Atmosphäre am Rande des interplanetarischen Raumes ihre Energie verlieren.

Es schwimmt viel Zeug auf dem Wasser - Zweige und Blätter - und auch auf dem Deck des Saurierfängers sieht es unordentlich aus. Einige Seile in der Takelage sind gerissen, da sie zu plötzlich und zu heftig belastet wurden, und eines der Segel hat einen langen Riß. Die Aufbauten und die Masten selbst sind sonst nicht beschädigt. Ich sehe an Cherkrochj's Gesicht, daß sie zufrieden ist - sie muß wohl, als der erste Warnruf ertönte, mit wesentlich größeren Schäden gerechnet haben.

"Was war denn das?" frage ich noch einmal. Endlich läßt sie sich herab, es mir zu verraten:

"Das Donnernde Meer hat gesprochen!"

"Und was ist das?"

"Ein Meer, das man nicht befahren sollte. Es liegt lange Zeit ruhig da, dann aber wieder steigen Wolken von Wasser bis in die höchsten Wolken. Das ist eben geschehen. Wahrscheinlich hat es in Grom auch Schäden gegeben!"

Fast macht sie den Eindruck, als sei sie stolz darauf, auf eine weitere gefährliche Eigenart in ihrer Welt hinweisen zu können. Aber mehr Erklärungen gibt es nicht. Verbirgt sich hinter dieser Beschreibung ein Vulkan? Aber sie hat explizit von 'Wolken aus Wasser' geredet. Keine Lava, keine Asche. Naja, so unexakt, wie sich die Granitbeißer manchmal auszudrücken belieben, läßt das immer noch alle Möglichkeiten offen. Vielleicht war es auch ein riesiger Geysir. Oder was weiß ich.

Auf Deck kehrt sehr schnell Routine ein, obwohl das Grollen immer noch zu hören ist. Diesmal bleibt es lange zu hören, schwach, aber immer noch die Botschaft von Kraft und rohen Naturgewalten tragend. Dazwischen höre ich die Palaver der Reparaturtrupps. Damals, als der große Raubsaurier mit dem Schiff kollidierte, war das Schiff wesentlich schwerer beschädigt. Diese paar Schäden werden jetzt keine große Sache sein. In ein paar Stunden ist alles behoben, denke ich.

Anderes gibt mir aber wieder zu denken: Es gibt hier also, in der Welthöhle der Granitbeißer, Naturereignisse, die ich zwar noch nicht genau kenne, die aber sehr viel Geräusche erzeugen. Jedenfalls mehr Geräusche als ein starker Sturm.

Wieso pflanzen sich diese Geräusche nicht durch den Felsen fort und werden von den Geophonen unserer Geologen und Lagerstättenforscher aufgezeichnet? Es ist immer wieder dieselbe Frage. Diese Höhlen dürften der Aufmerksamkeit unserer Geologen und Geophysiker nicht entgangen sein, selbst, wenn sie sich ruhig verhielten. Und jetzt stellt sich heraus, daß sie sich nicht immer ruhig verhalten!

Cherkrochj möchte wieder weiter mit mir über die Karten sprechen. Aber es gibt nichts neues mehr. Deshalb räumt sie den Kartentisch ab und schickt Chromargue mit den Karten weg.

73.3 Kommandoübernahme

"Bleiben die Karten denn nicht auf der Brücke, damit sie schnell zur Hand sind?" frage ich.

"Sie sind schnell zur Hand, wenn ich es will." sagt Cherkrochj. Ihr hartes Gesicht drückt Spott aus. Was kommt jetzt? Irgend etwas hat sie vor.

"Willst du sehen, was das Donnernde Meer anrichten kann?"

"Ja," sage ich, "das interessiert mich schon!"

Sie streift sich ihre Lederjacke ab, die achtlos neben dem Kartentisch zu Boden fällt. Unter dem linken Busen hat sie eine deutliche Narbe, die etwa dem unteren Rippenbogen folgt und acht Zentimeter lang ist. Diese Narbe ist mir schon neulich aufgefallen. Sie zeigt darauf:

"Hier. Das war ein Windstoß, der auch von dem Donnernden Meer kam. Er war gar nicht so stark, aber ich wurde auf eine schußbereite Harpune geschleudert. Jemand, die vor mir stand, wurde gegen mich geschleudert, und das Eisen drang hier ein!"

Sie nimmt meine Hand:

"Hier. Fühl mal!"

Chibargch dreht am Ruder und ist entweder desinteressiert oder sie tut desinteressiert. Das kann ich nicht auseinanderhalten.

"Fühl mal - wie fühlt sich das an?"

Es fühlt sich an, wie sich eine Narbe eben anfühlt - eine knotige Erhebung auf der Haut eben.

"Es ist fast bis zum Herzen eingedrungen. Aber ich habe es überlebt!"

Es scheint, daß Cherkrochj Anerkennung oder Bewunderung erwartet. Na gut, den Gefallen kann ich ihr tun - kostet mich ja nichts.

"Das müssen schlimme Schmerzen gewesen sein!"

Tatsächlich, es wirkt. Ich kann es ihr ansehen, wie diese Worte ihr runtergehen. Sie drückt meine Hand fester gegen ihre Narbe, tritt dabei zurück und setzt sich auf den Kartentisch. Dann spreizt sie die Beine, so daß ich wie zufällig genau zwischen diesen stehe.

Dabei sehe ich an ihren Schultern vorbei nach vorne, unter anderem auf das vordere Masthaus. Mit einem Blick sehe ich, daß Irene dort am Fenster steht und genau in die Brücke hineinsieht - sie muß uns ganz genau beobachten! Hat Cherkrochj das bemerkt? Ist es ihre Absicht?

"Manchmal juckt es noch. Aber, naja - manchmal juckt es auch woanders!"

Sie lacht auf. Einen Moment nicht das zynische Lachen, das sie sonst so gut beherrscht, sondern ein richtig weibliches und unbeschwertes Lachen. Als ob man durch eine Wolkenlücke einen Blick auf eine andere Persönlichkeit wirft. Als ob sie sich es für einen Moment leistet, die Maske der strengen Kommandantin abzulegen. Als ob sie es sich einen Moment lang leistet, eine Frau zu sein.

"Sieht die Narbe schlimm aus?" fragt sie. Eine für eine Granitbeißerin ungewohnte Frage, weil sich die Granitbeißerinnen im Allgemeinen einen Dreck darum scheren, wie sie aussehen: "Sieh sie an!"

Ich sehe sie an. So von oben, knapp an ihrer flachen Brust vorbei, sehe ich nicht so besonders viel von der Narbe. Aber ihre Brustwarzen haben sich aufgerichtet. Signale setzen - noch deutlicher geht's nicht.

"Das sind keine Narben!" sagt sie, als sie sieht, wo ich hingucke. Sie nimmt meine Hand von ihrer Narbe und legt sie auf ihre Brust.

Chibargch steuert sehr konzentriert. Irene sieht uns immer noch zu. Sie sieht auf den nackten Rücken von Cherkrochj, aber sie müßte unsere Bewegungen richtig interpretieren können.

"Dir hat es vorgestern keinen Spaß gemacht, nicht wahr?" fragt Cherkrochj.

"Es spielt doch sowieso keine Rolle für dich, ob es einem Mann Spaß macht!"

Sie bindet sich den Lederstreifenrock ab, der neben ihrer Jacke auf dem Boden landet. Klirrend fällt ihr Schwert zu Boden. Offenbar findet sie es mit der Würde einer Schiffskommandantin ohne weiteres vereinbar, zur normalen Dienstzeit nackt mitten auf dem Kartentisch auf der Brücke zu sitzen.

"Unsere Ladung ist vollständig. Man hat auf den langen Heimfahrten immer soviel Zeit!" seufzt sie. "Wenig Zerstreuung. Deine Frau hat mir gesagt, daß du nicht kannst, wenn man dir mit Drohungen kommt!"

"Was hat meine Frau?"

Jetzt hat sie mich mit einigen Handbewegungen ausgezogen. Ich hätte mich nicht wehren können, ohne zu riskieren, den Eindruck zu machen, als wolle ich mit ihr ernsthaft ringen.

Chibargch hält Kurs.

"Sie hat gesagt, daß du nicht kannst, wenn man dir mit Drohungen kommt!"

"Wann soll sie das gesagt haben?"

Cherkroch spielt mit meinen primären Geschlechtsorganen wie ein Kind mit Bauklötzen. - Nein, der Vergleich stimmt nicht. Es ist mehr Gleichgültigkeit dabei. Interessiert es sie im Moment gar nicht wirklich? Aber warum macht sie es dann?

Aber die Situation grenzt ans Peinliche. Für unseren Geschmack peinlich. Ob die Granitbeißer unseren Peinlichkeitsbegriff teilen, weiß ich nicht. Habe ich noch nicht herausgefunden.

"Die Fahrt von Casabones bis hier, wo du zu uns gekommen bist, war lang. Da haben wir über so manches geredet."

"Über mich?"

"Über Männer in eurer Welt. Es muß eine sehr seltsame Welt sein, denk ich mir."

"Nicht seltsamer als eure Welt für uns. Was wird das jetzt?"

Es ist nicht nur eine peinliche, sondern auch eine merkwürdige und unwirkliche Situation: Da stehe ich zwischen den Beinen dieser drahtigen Frau, die ziemlich weit von dem entfernt ist, was man als 'reizvoll' bezeichnen würde, sie fummelt an mir rum und versucht, über vergleichende Sexualität zu reden, wo sie doch in der Sehweise ihrer Welt so befangen ist, daß man mit ihr eigentlich gar nicht darüber reden kann. Und trotz ihres für ihre Verhältnisse verbindlichen Tonfalles hat sie die Macht auf dem Schiff. Sie braucht mir gar nicht klarzumachen, daß sie sich nehmen kann, was sie will, weil sie das bei mir schon längst getan hat. Deshalb habe ich die Vermutung, daß sie etwas ganz anderes vorhat: Sie weiß, daß Irene zusieht, und sie will ihr beweisen, daß ich mich nur zu bereitwillig verführen lasse.

Und das ganze geschieht in einem Tonfall einer Routinebesprechung. Einer freundschaftlichen Routinebesprechung.

Vielleicht hat Irene selbst das so verursacht, indem sie in meiner Abwesenheit besser über mich gesprochen hat als sie das tut, wenn sie an mir persönlich rumnörgelt. Vielleicht hat sie eine Bemerkung gemacht wie 'mein Herwig rennt keiner fremden Frau nach'. Dann ist es natürlich jetzt passiert: Dann wird Cherkrochj alles daranlegen, Irene - und mir - zu zeigen, daß ein Mann immer verführbar ist, auch ein Mann aus der Welt, aus der wir kommen. Deshalb der ungewohnte, ansatzweise 'süße' Tonfall!

"Warum machst du so rum? Du kannst dir doch holen, was du willst! Nur, daß ich es gerne tue, das liegt nicht in deiner Macht." sage ich mit einem etwas ärgerlichen Tonfall. Nicht ganz uneigennützig: Wenn sie möchte, daß ich es gerne tue, dann kann sie mir nicht mit Drohungen kommen. Dann muß sie sich schon irgendwie Mühe geben. Für eine Granitbeißerin eine ungewohnte Situation.

Sie versucht es wahrscheinlich auf die einzige Weise, die ihr plausibel und machbar erscheint und die ihr überhaupt einfällt: Eine Frau wirkt bloß vermöge ihres weiblichen Körpers automatisch auf einen Mann sexuell stimulierend. Das ist zwar bei den Granitbeißern nicht der übliche Weg, weil die Evolution die Kunst der Verführung nicht zu entwickeln brauchte, wo es die Kunst des Zwanges genauso gut tat. Aber Granitbeißer und Menschen haben gemeinsame Vorfahren, in paläobiologischer Hinsicht vor nicht einmal allzulanger Zeit. Da sind bei den Granitbeißern noch Verhaltensrudimente von uns und umgekehrt. Und genau das versucht sie jetzt: Werde ich sie anziehend finden? - Ich werde mich hütten, ihr zu sagen, daß Weiblichkeit als Ausstrahlung und Charakter durchaus Abstufungen kennt, und daß die Skala dieser Abstufungen nach unten bei Null noch nicht aufhört.

Andererseits, es wird mir klar, daß sie mir das Leben an Bord zur Hölle machen kann, wenn ich jetzt nicht bald sichtbar reagiere. Und ich reagiere nicht - Cherkrochj fällt an Attraktivität weit hinter Irene zurück, und noch weiter hinter Charmion.

Sie lächelt mich an mit einem Lächeln, das sie vielleicht für anziehend hält - aber auch nur sie. Sie lehnt sich etwas zurück, neigt ihr Becken mir so zu, daß ich das feuchte, rote Fleisch ihrer Schamlippen unter ihrem blonden Busch sehe - und mich befällt ein allenfalls klinisches Interesse. Wie an einem Präparat aus der Anatomie. Zu allem Überfluß muß ich mich bei dem Gedankengang auch noch an eine Abbildung in einem Buch über Pathologie erinnern: ein herauspräpariertes weibliches Geschlechtsteil mit einem riesigen Karzinom an den Schamlippen.

Das reicht. Nichts geht mehr, und nichts wird gehen. Cherkrochj muß in meinem Gesicht einen Anflug von Ekel gesehen haben. Sie kann nicht wissen, woran ich gedacht habe. Einen Moment, einen kurzen Moment lang denke ich, daß sie wie ein zurückgewiesenes häßliches Mädchen anfängt, zu heulen.

Aber sie heult nicht. Das kleine, verletzliche Mädchen in ihr ist schon lange begraben. Weil sie eine Granitbeißerin ist - die heulen nicht - und weil sie die Kommandantin ist - die heult erst recht nicht. Sie macht, daß andere heulen.

"Vielleicht ein andermal?" schlage ich vor.

"Nein, jetzt!"

"Wie denn? So geht das nicht bei uns. Wir sind anders!"

"Was ist hier dran anders?" fragt sie und reißt schmerzhaft an meinem Penis. Schmerzhafter als notwendig. Jetzt reichts mir.

Da sie mit ihrer Kleidung auch ihre Waffen zu Boden hat fallen lassen, ist sie im Moment kräftemäßig ungefähr in derselben Lage wie ich. Wenn sie anfängt, mich zu verletzen, muß ich etwas tun. Und aus dieser Situation jetzt kommt sowieso keiner von uns ohne Gesichtsverlust heraus, und das wird sie, für sich wenigstens, nicht zulassen wollen. Ich muß einen Präventivschlag führen.

Meine Hände sausen nach unten und umklammern ihre Handgelenke:

"Loslassen!"

Von einem Moment zum anderen beherrscht die Wut ihre Gesichtszüge. Jetzt wird es gefährlich. Jetzt kann ich nicht mehr zurück.

"Loslassen!" wiederhole ich und verstärke meinen Druck auf ihre Handgelenke. Genaugenommen wende ich bereits alle Kraft auf, über die ich überhaupt verfüge. Das wird nicht lange gut gehen - Cherkrochj ist sicher stärker als ich. Sie wird es bald merken, sofern die erste Überraschung über diesen plötzlichen Angriff meinerseits vorbei ist - obwohl man darüber diskutieren könnte, wer wen angegriffen hat.

"Du wirst mich loslassen!" zischt sie, "Ich bin die Kommandantin! Das ist mein Schiff, und hier geschieht, was ich will!"

Chibargch sieht uns von der Seite an, bereit, ihrer Kommandantin zu helfen. Noch zögert sie. Aber die Situation entwickelt sich unkontrolliert und schnell.

"Irrtum! Jetzt ist es mein Schiff!" Ich schmeiße sie vom Kartentisch herunter auf den Boden, nicht unbedingt bemüht, das auf sanfte Weise zu tun: sie kracht ganz ordentlich auf die Bodenplanken. Noch ehe sie aufstehen kann, und noch ehe Chibargch heran ist, habe ich mein Schwert aufgehoben und halte es über den Hals der noch am Boden liegenden Cherkrochj. Kein einziger Millimeter ist zwischen der Klinge und der Haut ihres Kehlkopfes.

"Zurück!" herrsche ich Chibargch an, "sonst ist deine Kommandantin eine tote Kommandantin!"

Und zu Cherkrochj: "Jetzt ist es mein Schiff! Willst du leben?"

Ich sehe, wie es in ihr kämpft. Ohne sie anzublicken sage ich zu Chibargch:

"Runter von der Brücke! Das Schiff soll auflaufen! Los! Sofort!"

Chibargch zögert. Wieder zu Cherkrochj: "Wenn sie nicht tut, was ich sage, dann schneide ich dir jetzt den Hals durch! Soll ich?"

Ein paar Sekunden geschieht nichts. Auf Cherkrochj's Stirn ist viel Schweiß hervorgetreten. Erfreulich. Sie hat Angst.

"Geh von der Brücke runter!" sagt sie schließlich, und Chibargch gehorcht.

"So. Ohne Steuerung wird das Schiff in wenigen Minuten auflaufen. Wenn das geschieht, wird es irrsinnig viel Arbeit kosten, es wieder flott zu kriegen, und vielleicht müssen wir sogar Ladung über Bord werfen. Das wirst du in Grom dann wohl nicht mehr als erfolgreiche Jagdexpedition verkaufen können. Du kannst das verhindern, wenn du mit mir kooperierst! - Diese paar Minuten hast du noch Zeit, dir das zu überlegen!"

Cherkrochj schweigt. Also rede ich weiter. Dabei beschleicht mich das unangenehme Gefühl, daß koordiniertes Handeln der Besatzung mich jetzt sehr in Schwierigkeiten bringen kann. Was zum Beispiel, außer Einfallslosigkeit, hindert sie daran, in das Mastwerk zu steigen und mit Pfeil und Bogen durch die Fenster der Brücke auf mich zu schießen?

"Ich möchte das Kommando auf diesem Schiff. Sofort und jetzt gleich. Du wirst mich darin unterstützen. Und du wirst für die Zeit deine Meinung und deine Vorurteile über Männer vergessen. - Ich bringe das Schiff dahin, wo es hinsoll. Mit der ganzen Ladung. Es wird dir nichts passieren. Wenn du jedoch nicht kooperierst, dann werde ich dich an den Großmast nageln lassen! - Ist das ein Angebot?"

Sie schweigt immer noch.

"Ich habe keine Wahl. Ich glaube nicht, daß ich die Reise bis Grom überleben werde, wenn du weiter das Schiff führst. Du hast dich doch längst für meine Beseitigung entschlossen, nicht war? Eine andere Entscheidung wäre für dich jetzt nicht mehr möglich. Also: Entweder du kooperierst und empfängst deine Anweisungen von mir, oder du stirbst. Jetzt gleich. Ist doch ganz einfach, oder?"

"Dich sollte man in den Salzigen Quellen ersäufen!" zischt sie wutentbrannt durch ihre zusammengepressten Lippen.

Es ist mir, als habe der Himmel ein Signal gesetzt. Einen Paukenschlag. In einem Film müßte man diesen Moment musikalisch besonders akzentuieren.

Die Salzigen Quellen!

Was weiß sie darüber? Einen Moment erstarre ich, bemüht, mir nichts anmerken zu lassn. Wie kann ich verhindern, daß sie nicht merkt, wie wichtig mir jede Information über die Salzigen Quellen ist? Meine Gedanken fliegen.

"Gute Idee!" sage ich zu ihr, "Machen wir einen Umweg zu den Salzigen Quellen! Ich führe Buch, wie sich jeder der Besatzung bis dahin verhalten hat, und dann ersäufen wir die schlimmsten. Ganz langsam. Salzwasser soll man langsam trinken, bei der Hitze in eurer Welt. Also vielleicht betrifft das auch dich - wenn du dann noch lebst! Was hältst du von dem Vorschlag?"

Sie hält nichts davon. Meine Zeit läuft ab - die Besatzung wird jetzt bald irgend etwas unternehmen. Ich muß ihr Dampf machen:

"Also gut, du willst nicht. Es geht auch anders. Ich werde jetzt die Klinge senken."

Ich bemühe mich, das sehr geschäftsmäßig zu sagen. Ich will sie jetzt nicht umbringen, weil ich dann kein Faustpfand mehr habe. Skrupel hätte ich wenig, nach dem, was sie meiner Schiffsbesatzung angetan hat. Aber so wird es mir wenigstens leichtfallen, ihr weh zu tun.

Ich verzerre meine Gesichtszüge und senke die Klinge. Hoffentlich sehe ich entschlossen genug aus. Dabei mache ich eine Schneidbewegung, damit die Haut wirklich aufgeritzt wird und auch genügend schmerzempfindliche Nerven reagieren. Gib auf, denke ich, sonst muß ich dich jetzt töten - und das kann ich immer noch nicht so routiniert und kaltblütig wie eine Granitbeißerin in meiner Lage es tun könnte!

"Nein!" Nicht!" flüstert sie. Wenn ich entschlossener zugeschnitten hätte, dann wäre sie dazu jetzt schon nicht mehr in der Lage gewesen. Weiß sie das?

"Nicht?" frage ich und halte ein, "Gehst du auf meine Bedingungen ein?"

"Ja."

Mit einer einzigen Bewegung stehe ich auf. Niemand sieht mir meine Erleichterung an.

"Zieh dich an. Deine Verletzung wird heilen. Die Klinge war noch nicht tief. - Aber dein Schwert nehme ich. Du bekommst es zurück, wenn ich überzeugt bin, daß du mitspielst!"

Kaum eine Minute später bin ich selbst wieder angezogen, Chibargch ist auf die Brücke zurückgerufen worden, um das Ruder wieder zu übernehmen und eine Strandung noch zu verhindern, und ich habe auch Chromargue kommen lassen. Als sie eintritt, sage ich zu Cherkrochj, die sich noch nicht von dem Blut gereinigt hat, das aus der Halswunde immer noch reichlich hervortritt:

"Cherkrochj: Laß jetzt sofort Folgendes auf dem ganzen Schiff bekannt geben: Kommandant des Schiffes bin ab sofort ich. Die ehemalige Kommandantin hat keine weitere Funktion mehr außer der meiner persönlichen Beraterin. Alle anderen Aufgaben an Bord bleiben so verteilt wie das jetzt der Fall ist. - Laß weiterhin bekannt geben, daß jedes Mitglied der Besatzung, dem das nicht recht ist, sich sofort bei mir melden soll. Ich werde dann bestimmen, wie mit derjenigen zu verfahren ist. Wer nicht sofort Protest gegen diese Änderung einreicht, gibt damit seine unbedingte Zustimmung zum Wechsel in der Schiffsführung erkennen. - Ich erwarte von allen unbedingte Loyalität und Ergebenheit und Leistungsbereitschaft."

Chromargue sieht Cherkrochj sprachlos an. Diese nickt nur.

"Gibt es noch Fragen?" frage ich Chromargue. Die schüttelt den Kopf.

"Und worauf wartest du noch? Ich hatte gesagt 'sofort'! Das meine ich auch, wenn ich so etwas sage!"

Jetzt hat sie begriffen. Weg ist sie.

Nun muß es sich beweisen, ob dieses Konzept trägt, und wie lange. Irgendwann muß ich schlafen. Und was dann? Gute Gelegenheit, mich wieder als Kommandant abzusetzen, und dann wahrscheinlich, indem man mich einfach umbringt.

"Cherkrochj! Du wirst zu uns in das vordere Masthaus umziehen. Wir müssen doch auf dich aufpassen, damit dir niemand etwas tut. Schließlich hast du mir dieses Schiff kampflos ausgeliefert! Jede der Besatzung, die dich dafür erfolgreich zur Rechenschaft zieht, hat in Grom mit Auszeichnungen zu rechnen! - Ich glaube nicht, daß man dir noch einmal ein Kommando geben wird, solange du lebst."

Ob sie mir diesen Gesichtspunkt abkauft ist ihr nicht anzusehen. Ihr Gesicht ist jetzt unbeweglich. Ich gürte mir unsere beiden Schwerter um.

"Ich nehme an, daß du keine Dummheiten machst. Wenn du es versuchst, müßte ich dich krummschließen lassen!"

Immer diese Drohungen, die ich verwenden muß. Kindische Drohungen, wenn sie rein rhetorischer Natur wären. Wirkungslos, wenn man sie nicht ab und zu wahr machen würde. Und notwendig, weil es der Denkweise der Granitbeißer angepaßt ist. Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit, wenigstens ab und zu diese Drohungen exemplarisch wahrzumachen oder wahr machen zu lassen.

73.4 Chrejene's Auftrag

Wir verlassen die Brücke, um zum vorderen Masthaus zu gehen. Dazu müssen wir runter auf das Deck. Ich sehe die Blicke der Frauen, die dort gerade zu tun haben. Gerade eben haben sie von Chromargue erfahren, was geschehen ist. Wem gilt nun ihre Loyalität? Wie werden sie reagieren?

Ein junges Mädchen ist gerade dabei, eine der Harpuniereinrichtungen zu warten, obwohl diese auf dem Rest der Reise wohl nicht mehr gebraucht werden.

"Du da, komm her!" spreche ich sie an. Sie stellt sich vor uns auf. Vielleicht 17 Jahre alt, schlaksig und unauffällig und im Moment sehr unsicher. Schüchtern, würde man bei uns sagen. Aber dieser Begriff ist bei einer Granitbeißerin nicht angebracht.

"Wie heißt du?"

"Chrejene!"

"Bist du in Casabones an Bord gekommen?"

"Nein. Ich war schon auf der ganzen Reise mit dabei."

"Tatsächlich? Ich habe dich nicht gesehen. Oder ich kann mich nicht erinnern. Schön. Und wie heißt dein Kommandant?"

Entsetzt blickt sie von mir zu Cherkrochj und zurück. Sie hat Angst. Was soll sie sagen? Sie hat überhaupt noch keine Zeit gehabt, über das nachzudenken, was Chromargue vor kurzem bekannt gegeben hat. Und eine Frage wie diese beantwortet man hier besser den momentanen Machtverhältnissen entsprechend korrekt.

"Nun?" frage ich und lege meine Hand an meinen Schwertgriff. Cherkrochj steht unbeweglich dabei.

"Cherwig?" sagt Chrejene unsicher. Sie ist wirklich noch jung, denn sie beobachtet direkt und genau, was ich mit meinen Schwertern mache. Cherkrochj hätte das so getan, daß man ihr kaum anmerkt, was sie so genau beobachtet.

"Richtig. Ich habe eine Aufgabe für dich. Hörst du?"

Sie nickt.

"Hast du ein Schwert?"

"Ja. Hier ist es!"

"Kannst du damit umgehen?"

"Ja."

"Kannst du freihändig köpfen? Ich meine, ohne Richtblock, so im Stehen?"

"Ja."

"Wie oft hast du es denn schon getan?"

Sie schluckt: "Noch - noch nie."

"Aber du bist sicher, daß du es kannst?"

"Ja."

"Gut. Ich glaube dir. Geh herum auf dem Schiff. Frag jeden, aber auch wirklich jeden das, was ich dich eben gefragt habe, nämlich, wer der Kommandant ist. Wer diese Frage falsch beantwortet, der schlägst du den Kopf auf der Stelle ab. Verstanden?"

Sie wird blaß, aber sie nickt.

"Niemand wird dich aufhalten, niemand wird in Frage stellen, was du tust. Du handelst auf Befehl des Kommandanten, und der Wille des Kommandanten ist hier an Bord Gesetz. Wer dich hindert, den tötest du auch. Oder du bringst sie zu mir, und sie wird zum Verfaulen an den Mast genagelt. - Ja, und wer diese Frage richtig beantwortet, den klärst du darüber auf, daß mein Name sich 'Herwig' ausspricht, nicht 'Cherwig'. Hast du auch das verstanden?"

Sie nickt.

"Dann geh. Uns drei, die wir da vorne im vorderen Masthaus wohnen, brauchst du natürlich nicht zu fragen. Die Arbeit dort kannst du nachher weitermachen. Ach ja: Sorge noch dafür, daß jemand ein drittes Lager in das vordere Masthaus bringt, ja?"

Nachdem sie gegangen ist, wende ich mich an Cherkrochj: "Was meinst du, wieviele wird sie erschlagen müssen? - Was meinst du, wieviele noch glauben, dir die Treue halten zu müssen?"

Sie hält es für unter ihrer Würde, darauf zu antworten. Nun gut. Wir gehen weiter zum vorderen Masthaus. Natürlich lasse ich Cherkrochj vor mir hinaufsteigen.

73.5 Irene's Vergatterung

Irene sitzt mitten im Raum auf ihrem Lager. Ob sie wohl glaubt, daß ich nicht weiß, wie genau sie eben die ganze Zeit in die Brücke hineingesehen hat? - Sie müßte eigentlich wissen, was geschehen ist.

"Irene, wir haben einen Gast auf Dauer. Hast du eigentlich, seit du an Bord bist, ein Schwert bekommen?"

Irene sieht beunruhigt Cherkrochj und mich an und schüttelt den Kopf.

"Du kriegst ihres."

Ich helfe ihr, es umzugürten. Sie läßt es verwundert geschehen. Dann rede ich in Deutsch weiter, damit Cherkrochj uns nicht versteht.

"Du mußt es ab sofort immer tragen. Und du mußt es benutzen, wenn nötig. - Irene, ich habe dieses Schiff übernommen. Hast du das schon mitgekriegt?"

"Bist du wahnsinnig?" Sie scheint überhaupt nicht mit meinem Husarenstück einverstanden zu sein. Cherkrochj steht an der Seite, sieht uns aufmerksam zu und versucht, zu erraten, wovon wir reden. Natürlich habe ich sie jeden Moment im Augenwinkel. Ich habe die Absicht, sie sofort zu erschlagen, wenn sie sich nur schnell und unerwartet bewegt. Aber Cherkrochj weiß das.

"Ja. Vielleicht bin ich wahnsinnig. Das kann gut sein. Das wird die Zukunft zeigen. Ich bin wahnsinnig genug, überleben zu wollen. Also, Irene, noch einmal zum Schwert. Das ist keine Schußwaffe. Es reicht nicht aus, einen Finger krumm zu machen. Ein Schwert kann man nur benutzen, wenn man es wirklich benutzen will. Wenn man wirklich töten will. Oder muß. Und man muß schon ganz ordentlich damit zuhauen, um auf der Gegenseite wirklichen Schaden anzurichten. Wenn man das nicht tut, dann ist man in Schwierigkeiten. Bevor man das zweite Mal ausholen kann, hat die Gegenseite bereits zugeschlagen."

Ich zeige auf Cherkrochj und rede in Xonchen weiter:

"Vielleicht kannst du hier, bei ihr, üben. Wenn sie irgend etwas tut, was meinen - oder auch deinen - Anweisungen widerspricht, oder wenn sie irgend etwas tut, was als Aggression ausgelegt werden kann, dann haust du sofort zu, wenn ich es nicht tue. Kümmere dich nicht um die anatomische Präzision - das präzise Schwertkämpfen wirst du noch lernen. Hau einfach drein, und was beim ersten Hieb nicht kaputt geht, das geht beim zweiten kaputt. - Und wenn du das tun mußt, dann hörst du nicht eher auf als bis sie tot ist. Hast du mich verstanden, Irene?"

Irene nickt, bekümmert und unsicher und erschrocken. Sie ist blaß. Die Idee, selbst einmal ein Schwert im Ernst verwenden zu müssen ist ihr vielleicht noch nie gekommen.

"Ich weiß, es ist eine grausige Metzelei." sage ich wieder auf deutsch, "Ein Schwert ist eine widerliche Waffe. Aber es geht nicht anders. Wir bleiben jetzt, hier, an Bord dieses Schiffes, nur am Leben, wenn wir das Kommando behalten. Es gibt keinen Weg mehr zurück. Verstehst du? Du darfst keine Skrupel haben!"

Dann zeige ich noch einmal auf das Schwert: "Wenn du das Schwert zum Schlag führst, dann achte darauf, daß die Klinge mit diesem Winkel auftrifft. So. Dann hast du gleichzeitig eine gewisse Sägewirkung, und die Klinge schneidet tiefer, außerdem kannst du sie besser führen. Du kannst zum Beispiel kaum einen Kopf abtrennen, wenn die Klinge senkrecht zur Schlagrichtung geführt wird - dazu bräuchte man sehr viel Kraft. Und die hast du nicht. Also immer so, wie ich es dir jetzt zeige. - Hast du das begriffen?"

Irene zittert. Cherkrochj nicht. Das ist schlecht. Ist Irene dieser Situation nervlich nicht gewachsen? Wenn Cherkrochj ihren klaren Kopf behält, und Irene nicht, dann kann Cherkrochj Irene über kurz oder lang entwaffnen, wenn ich unaufmerksam bin. Der bloße Besitz eines Schwertes macht noch keine Schwertkämpferin aus. Und auch das bloße Wissen über die richtige Schlagtechnik reicht dazu nicht aus - das muß man geübt haben. Und Cherkrochj hat es seit früher Kindheit geübt.

"Das ist der einzige Weg nach Hause!" sage ich leise und beschwörend zu ihr, immer noch in deutscher Sprache, "Wenn du Angst hast, muß ich sie gleich töten! - Aber als Geisel ist sie uns lebend nützlicher! Verstehst du das?"

Zwecklos. Irene hat Angst. Panik. Sichtbar. Für Cherkrochj deutlich sichtbar. Schließlich kann Cherkrochj Menschen beurteilen.

Einen Moment denke ich daran, daß Irene vielleicht mit einem Bogen besser umgehen könnte. Aber ich verwerfe diesen Gedanken gleich wieder - mit Pfeil und Bogen umzugehen hat sie auch nicht gelernt, und es dauert auch zu lange, bis man einen Bogen angelegt und gespannt hat. Außerdem ist in geschlossenen Räumen dauernd etwas im Wege. Nein, nein, ein Schwert ist besser.

Im Prinzip jedenfalls. Aber ich habe mich verrechnet. Irene kann das nicht. Das heißt: So können wir auf Cherkrochj nicht gemeinsam aufpassen. Ich gehe ans Fenster und suche Chrejene. Sie ist nicht schwer zu finden, da sie immer noch ihren Auftrag ausführt und jedem Mitglied der Besatzung die Loyalitätsfrage stellen muß. Dabei wird sie natürlich ihrerseits befragt, wie es wohl nach ihrer Meinung weitergeht. Deshalb ist sie einfach zu finden: Sie ist einfach Mittelpunkt der größten Gruppe auf dem Deck.

"Chrejene! Komm doch einmal bitte hier rauf!" rufe ich.

Während sie auf dem Wege ist, überlege ich, ob das 'bitte' gut oder schlecht war. Nuancen. In einem Industriebetrieb bei uns darf ein Vorgesetzter 'bitte' sagen, und trotzdem weiß jeder, daß es sich um eine Anweisung handelte, wenn es um dienstliche Dinge geht. Hier könnte das 'bitte' vielleicht so ausgelegt werden, als ob die Angesprochene eine Wahl hätte, der Bitte zu entsprechen oder nicht. - Andererseits gibt es den psychischen Mechanismus des 'vorauseilenden Gehorsams', der ermöglicht, daß man als Vorgesetzter eine Anweisung eventuell noch nicht einmal formulieren muß. - Es ist nicht ganz einfach, ein solches Schiff mit dieser fremdartigen Mentalität der Besatzung zu führen.

Als Chrejene wenig später das vordere Masthaus betritt, frage ich sie:

"Hat jemand Zweifel oder Kritik am Führungswechsel auf diesem Schiff geübt?"

Chrejene schüttelt den Kopf: "Nein. Aber ich habe noch nicht alle befragt."

"Das tust du dann noch. Okay. Jetzt möchte ich aber erst einmal einige starke Seile. Bringst du uns diese? Am besten gleich zusammen mit dem dritten Lager."

"Wieviel denn?"

"Genug, um einige Menschen zu fesseln."

Als sie weg ist, kläre ich Irene darüber auf, daß ich umdisponiert habe. Cherkrochj wird im vorderen Masthaus bleiben, wie geplant, aber ich werde sie gefesselt halten.

Als Chrejene mit den Seilen wieder zurückkommt und sich auf mein Geheiß an die Arbeit macht, Cherkrochj nach allen Regeln der Kunst zusammenzuschnüren, frage ich Irene auf Deutsch:

"Ist dir das so lieber?"

"Damit kommen wir nie durch!"

"Wir werden! Wir müssen! Hast du eine bessere Idee? Soll ich zu ihr gehen und sagen, 'Entschuldigung, hier hast du dein Kommando zurück! Es war bloß ein Irrtum!' Soll ich das? Glaubst du, daß sie uns dann am Leben läßt? Wir landen beide in der Speisekammer!"

"Aber wie lange soll denn das dauern? Und dieses widerliche Ding mag ich nicht!"

"Hör zu, ich weiß etwas neues!" In aller Kürze erzähle ich Irene von dem neuen Hinweis auf die Salzigen Quellen. "Das könnte unsere Chance sein!"

"Das ist doch nur Spekulation, daß man da nach oben kommt! Wenn schon, sollten wir dann nicht lieber den Weg zurück, den wir gekommen sind?"

"Und wie?" frage ich, "Ist dir nicht aufgefallen, daß der Wind in diesen Höhlen sehr gleichbleibend weht? Vielleicht weht er überhaupt nie in eine andere Richtung - stationäre Zirkulationen, was weiß ich. Denselben Weg zurück hieße, die ganze Zeit gegen den Wind zu fahren! Oder es gibt irgendeinen anderen Weg, den wir nicht kennen und den wir erst in Erfahrung bringen müßten! Das geht nicht! - außerdem hieße das, daß wir auf Monate hinaus dieses Schiff in unserer Gewalt behalten müßten. Und das mit einer Besatzung, deren Motivation immer schlechter wird - die wollen doch alle nach Grom!"

"Willst du wirklich alles auf diese Salzigen Quellen setzen?"

"Die Salzigen Quellen oder die Braunen Quellen. Beides spricht für Wege nach oben. - Die andere Lösung ist, sich hier in das soziale Umfeld der Granitbeißer zu integrieren und eines Tages an einer Saurierjagdexpedition in die Gegend teilzunehmen, wo man uns gefangengenommen hat. Das kann Jahre dauern, oder Jahrzehnte. Schon in zehn Jahren ist unsere Kondition nicht unbedingt mehr so, daß wir die Klettersteige bewältigen können! Vielleicht noch früher. - Außerdem glaube ich nicht, daß es uns gelingt - dieses Schiff habe ich schließlich mit Gewalt in meine Hand gebracht, und das wird uns jede Integration in das Volk der Granitbeißer für immer unmöglich machen. Du weißt doch, was die Geschichte gezeigt hat - Revolutionen sind nur rechtens, wenn man gewinnt! Das können wir nicht. Nicht gegen die ganze Welt der Granitbeißer. Ein Schiff, für eine begrenzte Zeit, das geht. Aber nicht die ganze Welt."

Irene sieht auf ihr Schwert, das sie unentschlossen in der Hand hält.

"Wahrscheinlich mußt du es nie verwenden, wenn sie jetzt gefesselt ist. Aber du mußt immer bereit sein. - Komm doch, ich habe es doch auch schon tun müssen."

Sie schweigt immer noch. Chrejene steht neben der sorgsam gefesselten Cherkrochj und wartet, ob ich noch irgend etwas für sie habe.

"Soll ich dir eine Leiche aus der Speisekammer holen lassen, zum Üben?" frage ich.

"Das kann doch nicht dein Ernst sein!"

"Das ist mein Ernst. Irene, du weißt doch, wo wir hier sind, und was dieses für Menschen sind! Wir können uns aus den hiesigen Gepflogenheiten nicht raushalten, wenn wir überleben wollen!"

"Ich werde nicht an einer Leiche herumhacken!"

"Das tun unsere Medizinstudenten auch. Und wenn du irgendwann doch in die Verlegenheit kommst - ich möchte es dir gerne ersparen, aber das liegt vermutlich nicht in meiner Macht - wenn du doch in Verlegenheit kommst, dich mit dem Schwert verteidigen zu müssen oder eine disziplinarische Hinrichtung machen zu müssen, dann ist es gut, wenn du dabei nicht zögerst und auch richtig triffst. - Hier, Cherkrochj zum Beispiel, glaubst du, daß sie irgendwelche Skrupel hätte, an lebenden Besatzungsmitgliedern zu üben, wenn sie der Meinung wäre, sie müßte ihre Expertise im Umgang mit dem Schwert auffrischen? - Wir brauchen gar nicht beim Konjunktiv zu bleiben - was glaubst du, hat sie mit der Besatzung meines Schiffes gemacht?"

Irene läßt sich auf ihr Lager fallen. Dabei legt sie das Schwert auf ihre Schenkel.

"Paß mit dem Ding auf - du kannst dich auch selber damit schneiden!"

"Meinst du, daß dieses Schwert schon ..."

"... im Ernst verwendet wurde? Darauf kannst du Gift nehmen! Soll ich sie fragen?"

"Nein, ich will's nicht wissen."

"Gut. Lassen wir das Thema. Es wird uns sowieso noch früh genug einholen."

"Soll ich jetzt das dritte Lager holen?" fragt Chrejene. Ich nicke. Als sie weg ist, setze ich mich neben Irene:

"Irene, als wir auf dem Weg nach unten waren, da warst du so tapfer. Du bist mitgegangen, obwohl du gar nicht wissen konntest, was uns da unten erwartet. Wenn wir hier nicht diese Welt gefunden hätten - und das war weiß Gott, nach allem, was wir wissen, nicht zu erwarten - dann wären wir in finsteren Klüften weit unter Tage verhungert und verdurstet. Aber du bist mitgegangen, auf einem Weg, der in die absolute Erfolgslosigkeit zu führen schien. Jetzt aber ist es anders. Jetzt wissen wir schon etwas über diese Welt, und wir haben eine Vorstellung davon, wie man, im Prinzip wenigstens, zurückkommen könnte! Es gibt sogar einige Alternativen, alle schwer, alle langdauernd und alle gefährlich, aber es gibt sie!"

"Der Weg nach unten war kein Wahnsinn. Da waren die Klettersteige! Und du hast gesagt, daß man bei Garmisch wieder ans Tageslicht kommen würde!"

"Das habe ich nicht mehr gesagt, als wir bereits deutlich tiefer als Garmisch waren! Nein, Irene. Der Weg war Wahnsinn. Wenn man uns doch noch einmal in der Zeit zurückversetzte - ich würde umkehren! Ich würde übers Brett zurückgehen, ob vereist oder nicht! Zurück zur Höllentalhütte!"

Sie schweigt, rückt unmerkbar näher. Oder gerade merkbar. Wie behandelt man eine Ehefrau, die man mehrfach betrogen hat? Darin habe ich keine Erfahrung - bis zu unserem Einstieg in diese Welt habe ich das ja nie getan.

"Was meinst du, wofür ich das alles tue? Doch nur, damit es uns beiden gelingt, wieder zurückzukommen! Aber wenn ich mit dir zusammen zurückwill, dann mußt du mir auch helfen."

Irene streicht mit flachen Fingern über die schartige und fleckige Schwertklinge.

"Das ist Blut." sage ich, "Die Kommandantin hat das Ding so selbstverständlich gebraucht wie wir Messer und Gabel."

Irene zieht ihre Finger sofort zurück.

"Du brauchst jetzt nicht zu antworten, Irene," fahre ich fort, "aber denke einmal nach: Sind deine Skrupel, ein Schwert im Ernst zu benutzen, nicht nur von der Art, daß sich alles in dir sträubt, einen Menschen zu töten oder zu verstümmeln, sondern eventuell auch von der Art, daß du einfach Angst hast, daß, wenn du nicht ganz entschlossen und sehr schnell handelst, dann du diejenige bist, die getötet oder verstümmelt wird? Ist es das?"

Sie antwortet nicht darauf.

"Es ist nicht schlimm, wenn es das ist. Das ist normal. Natürlich hat man Angst. Man muß Angst haben. Aber in dieser Welt läuft alles auf einem höheren Gewaltniveau ab als bei uns, und man muß mitspielen. Sonst wird man unterpflügt! - Und denke einmal nach: Vielleicht sind es nur noch wenige Reisetage bis zu den Salzigen Quellen. Ich habe es ja noch nicht in Erfahrung gebracht. Und im günstigsten Fall können wir die etwa zehn- bis elftausend Höhenmeter sehr schnell schaffen - innerhalb weniger Tage. Wenn wir geeignete Wege vorfinden."

"Wieder solche Klettersteige?"

"Meinst du, es kann noch schlimmer kommen als die, auf denen wir hinuntergestiegen sind?" Ich behalte für mich, daß mir die Klettersteige an den Überhängen von Casabones in der Tat schlimmer vorkamen. Aber die könnten ja die absolute Ausnahme gewesen sein.

"Irene!" fahre ich beschwörend fort, "Im allergünstigsten Fall trennen uns noch zehn Tage von Zuhause!"

Im allergünstigsten Fall. Den gibt es hier nicht. Irene weiß das, und ich weiß das. Aber prinzipiell ist diese Aussage ja nicht falsch. Vielleicht ist sie mir sogar dankbar dafür. Wenn ja, dann versteht sie es aber ganz gut, mir das nicht zu zeigen.

"Ich muß mich jetzt um das Schiff kümmern. Die da - " ich deute auf die gefesselte Cherkrochj, " - ist gut versorgt. Ich muß ein paar Dinge in Erfahrung bringen. Chrejene wird gleich das dritte Lager bringen. Danach soll niemand mehr hier, im vorderen Masthaus, auftauchen, wenn du es nicht so willst. Hörst du? Du kannst das jetzt bestimmen. Du bist die 'First Lady' an Bord! Die Nummer Zwei! - Die Nummer Eins bin ich."

Irene sieht nicht so aus, als ob sie diesem Status besonders viel abgewinnen kann. Aber darum kann ich mich jetzt nicht mehr kümmern.

73.6 Schiffsbetriebskunde

Die nächsten Stunden bin ich ziemlich viel auf dem Schiff unterwegs. Ich rede fast mit jeder. Organisation und Umfang der Routineaufgaben sind komplexer als es an Bord der MARY CELESTE der Fall war, und überall schlägt mir auch noch Mißtrauen entgegen. Aber da niemand weiß, wieviele Alliierte ich unter den höheren Chargen bereits gewonnen habe, tritt mir niemand offen entgegen. Außerdem geht es ja wie geplant weiter, auf gleichem Kurs, mit gleichem Ziel. Da kann es den meisten egal sein, wer das Schiff führt.

Ob mir allerdings gezielt Informationen vorenthalten werden, kann ich nicht herausfinden.

Das mit dem nach wie vor beabsichtigten gleichen Ziel muß ich aber erst noch in Erfahrung bringen. Auf der Brücke lasse ich Chromargue rufen. Dann befrage ich Chibargch und Chromargue nach den Salzigen Quellen.

Neue Überraschung: Sie wissen nichts! Das Wissen um die Salzigen Quellen scheint also kein weit verbreitetes Allgemeingut zu sein.

Ich versuche, herauszufinden, wer noch eine vernünftige geographische Allgemeinbildung hat. Es wird mir Chbesmoi genannt. Ich lasse sie holen.

Als sie die Brücke betritt, erkenne ich sie wieder: Sie war bei der Gruppe, die Irene und mich ganz am Anfang gefangengenommen und zum Saurierfänger gebracht hat. Jetzt erinnere ich mich auch an ihren Namen. Wie lang das schon her ist!

Chbesmoi weiß in der Tat etwas. Von beiden, von den Braunen und von den Salzigen Quellen hat sie schon etwas gehört. Die Salzigen Quellen, so meint sie, müssen im oder hinter dem Donnernden Meer liegen, und die Braunen auch. Beide sollen aber ziemlich weit voneinander entfernt sein - viele Tagesreisen.

"Wie weit ist das?" frage ich, und schon habe ich mit den ungenauen Entfernungs- und Richtungsangaben der Granitbeißer zu kämpfen. Was ich herauskriege ist, daß Grom und das Donnernde Meer etwa gleich weit von unserem jetzigen Standpunkt entfernt sind, und daß zwischen Grom und dem Donnernden Meer eine ähnlich große Strecke ist.

Ich denke sofort an ein gleichseitiges Dreieck. Wenn diese Angaben stimmen, dann muß der Kurs in das Donnernde Meer über kurz oder lang um mehr als 60 Grad von dem Kurs nach Grom abweichen. Wie sehr sich dieses Bild dadurch modifiziert, daß diese Quellen vielleicht hinter und nicht im Donnernden Meer liegen, weiß ich nicht. Auf jeden Fall muß das Donnernde Meer eine beträchtliche Ausdehnung haben, was die Präzision der Aussagen weiter einschränkt.

"Was ist eigentlich" frage ich "das Donnernde Meer?"

Das weiß Chbesmoi auch nicht so genau. Ihrer Beschreibung nach ist es ein Seegebiet, in dem das Wasser gelegentlich durch großflächige Gaseruptionen aufgewühlt wird. Das erscheint mir unplausibel: Wenn meine Rechnung von neulich stimmt, dann ist bei diesen Gasausbrüchen soviel Gas beteiligt, daß dieses Gas, das ja irgendwohin muß, entweder den Druck in der Welt der Granitbeißer immer weiter ansteigen ansteigen lassen würde, oder irgendwo an der Erdoberfläche austreten müßte. Das Entweichen solcher Gasmengen, wie ich es ausgerechnet habe, würde aber nirgends auf der Welt unentdeckt bleiben können. Wie paßt denn das nun schon wieder zusammen?

Wenn das so weitergeht, mit dem Erklärungsnotstand, dann ist es irgendwann einfacher, anzunehmen, daß wir bei unserem Einstieg in die Welt der Granitbeißer den Planeten gewechselt haben! Und, wenn man diesen Faden weiterspinnt, dann dürfte es nicht einmal ein Planet in unserem eigenen Sonnensystem sein, weil die Schwerkraft nach wie vor unverändert ist - einen solchen planetaren Kandidaten gibt es aber in unserem Sonnensystem kein zweites Mal.

Soweit mit irgendwelchen weit hergeholten, phantastischen Erklärungen will ich denn auch nicht gehen. Und es bietet sich ja auch eine andere Erklärung an, als Chbesmoi erwähnt, daß die Luft auf dem Donnernden Meer nach einem Ausbruch sauer schmeckt, daß man glaubt, zu ersticken, und daß es vorgekommen ist, daß Schiffsbesatzungen ohnmächtig wurden. Sogar Todesfälle hat es gegeben.

Kohlendioxid! Ist es das? Vor meinem geistigen Auge entsteht ein Bild eines Kreislaufes: Lösung von Kohlendioxid in den Wassern dieser Seen, und an einer Stelle lokales Auskochen des Gases, verursacht durch - ja, durch was? Der Wärmestrom aus dem Inneren der Erde wird eine Rolle spielen, denn der treibt ja letzten Endes diese ganze Welt an. Aber den genauen Mechanismus müßte man sich noch einmal überlegen. Das kann ich jetzt nicht tun, weil ich nicht die Löslichkeit von Kohlendioxid in Wasser in Abhängigkeit von Druck, Temperatur und anderen gelösten Komponenten kenne. Auf jeden Fall ist das ein weiteres Mosaiksteinchen zum physikalischen Verständnis dieser Welt. Aber von dem geschlossenen Gesamtbild bin ich immer noch weit entfernt.

Eine Weile werden wir jedenfalls noch im Wasserstraßengebiet sein. Chbesmoi weiß darüber nicht mehr als das, was wir selbst aus den Karten herausgekriegt haben. Aber etwas anderes ist interessant: Die große, acht Kilometer lange Halle, die durch den gigantischen Felsblock gebildet wurde, hat sie nie zuvor gesehen. Der Saurierfänger ist also auf einem anderen Weg in das Gebiet, wo wir ganz zu Anfang an Bord genommen wurden, gefahren! Ich hatte es schon vermutet, wegen der stetigen Windverhältnisse, aber das ist jetzt der erste konkrete Hinweis: Es gibt also irgendwo einen Weg, mit dem Wind die Stelle unserer anfänglichen Gefangennahme zu erreichen. Ich werde mich noch etwas mehr mit diesen Damen über Geographie unterhalten müssen, denke ich.

Das geschieht auch, aber es kommt nicht mehr viel dabei heraus. Informationen kann man aus einem Menschenschädel eben nicht als eine vollständige, irgendwie geordnete Liste abrufen, denn sie sind als vernetzte Assoziationen gespeichert. Erst, als ich den Eindruck habe, daß Chbesmoi durch meine Fragerei schon sehr ermüdet ist und unkonzentriert wird, entlasse ich sie. Meine Uhr zeigt den Datumswechsel an. Das erinnert mich daran, daß ich mich jetzt auch um solche Dinge wie Wacheinteilungen und Schichtwechsel kümmern muß.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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