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******** 072. Tag: Sonntag 95-10-29 ********

"Diesen Armreif? Ja."

"Es ist kein Armreif. Es ist eine kleine Maschine, die die Zeit mißt. Sie zeigt mir an, daß gerade ein neuer Tag angebrochen ist - ein Tag auf unserer Welt."

"Was heißt das? 'die Zeit mißt'?"

"Es zählt mit, wieviel Zeit vergeht."

"Warum? Die Zeit vergeht doch sowieso?"

"Ja, schon. Aber so weiß ich genau, wieviel Zeit es war, die vergangen ist."

"Das weiß man doch sowieso, weil man weiß, was geschehen ist!"

"Ja mei, Ochaum! Das ist jetzt schwer zu erklären! Die Zeit vergeht, auch wenn keine Ereignisse da wären. Sie vergeht, unabhängig davon, ob viel oder wenig geschieht. So, wie du regelmäßig schlafen mußt, unabhängig davon, was du so erlebst!"

"Das ist nicht unabhängig! Wenn ich viel arbeite, dann werde ich müde und muß früher schlafen!"

"Und länger! Aber der Rhythmus bleibt doch: Schlafen - Wachen - Schlafen - Wachen."

"Ja. Sicher."

"Siehst du. Und dieses kleine Gerät macht dasselbe. Es hat seinen eigenen Rhythmus. Der ändert sich überhaupt nicht, egal, was geschieht."

"So." Ochaum überlegt. "Wie ein kleines Tier?"

"Ja, so ungefähr."

"Aber es ist kein kleines Tier!"

"Natürlich nicht!"

"Und wozu ist es dann gut, dieser Rhythmus?

Er macht es mir wirklich schwer. Zwar hat er eine intuitive Vorstellung von Navigation und Geometrie, aber über die Zeit denkt er ganz anders als wir. War das bei Charmion auch so? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht kommt das von der Abwesenheit eines ausgeprägten Hell-Dunkel-Wechsels in dieser Welt. Andererseits - es gibt den Rhythmus von Schlafen und Wachen, der sehr präzise eingehalten wird, und dessen Natur ich immer noch nicht herausgefunden habe. Wie paßt das denn wieder zusammen?

"Also, was ich sagen wollte ist nur, wie lange ich schon in eurer Welt bin. Mit dieser Uhr weiß ich, daß es schon 70 Tage sind - unsere Tage. Das sind etwa 62 von euren Schlafen-Wachen-Perioden. Acht von euren Schlafen-Wachen-Perioden sind so lang wie neun von unseren Tagen."

"Das verstehe ich! Aber dazu brauchst du dieses Ding?"

"Sonst müßte ich doch mitzählen!"

"Wozu mußt du überhaupt wissen, wie viele Perioden es genau waren?"

"Ja, meinst du, es macht keinen Unterschied, ob ich kurz oder lang in eurer Welt war?"

"Vielleicht schon! Aber das weiß man doch auch so!"

Also gut. Keine Gespräche über Zeitmessung. Da denken die Granitbeißer - oder wenigstens Ochaum - völlig anders.

"Ich bin jedenfalls zu lange hier. Länger, als es gut für mich ist. Das ist eigentlich alles, was ich damit sagen wollte."

"Wahrscheinlich," fragt Ochaum, "ist es nicht sinnvoll, wenn du jetzt versuchst, mir zu erklären, warum du nicht in unserer Welt bleiben und hier leben kannst? Oder warum nicht du und deine Frau zusammen auf dieses Schiff kommen können?"

"Da hast du recht. Wahrscheinlich ist das nicht sinnvoll. Obwohl, als Charmion noch lebte ..."

"Wer ist - ach so. Dieses Mädchen."

"Ich bin auch nicht immer objektiv, weißt du. Manchmal habe ich auch seltsame Ideen. Aber ich finde immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, oder auf das, was ich dafür halte. Und die Tatsache ist: ich bin nicht von dieser Welt. - Charmion hätte mich vielleicht hier halten können. - Vielleicht. Vielleicht auch nur eine Zeit lang. - Es wäre aber nicht richtig gewesen."

Ochaum schweigt. Nebeneinander lehnen wir auf der Fensterbank des Ruderhauses und sehen über das Vorschiff hinaus auf den Urwald am Ufer. Wie schweigende und drohende Zeugen stehen die Säulen dahinter, kilometerweit entfernt, und tragen geduldig das Dach dieser Welt. Zeugen, die nichts zur Kenntnis nehmen.

"Bleibst du diese Schlafperiode noch an Bord? Hier an Bord, meine ich?"

"Ich weiß nicht. Hängt von Cherkrochj ab. Ich glaube, sie will sich ficken lassen, und sie will es sich vom Kommandanten dieses Schiffes machen lassen. Verdammt, ich mag nicht!"

"Sie will sich was lassen?"

"Ach, Ochaum! Wie lange warst du auf Casabones! Es gibt Dinge, die ein Mann und eine Frau miteinander anstellen können, die für beide mehr Spaß machen als sich gegenseitig die Köpfe abzuschneiden! - Oder manchmal mehr Spaß machen. Frag rum bei deinen Leuten! Einige müßten etwas davon wissen."

"Ich weiß etwas davon. Ich dachte nur nicht, daß jetzt ..."

"Es ist auch nicht mein Wunsch, überhaupt nicht. Sie wird mich zwingen. Ja, und vielleicht werden einige von euch in dieser Schlafperiode auch rübergeholt. Ich weiß nicht. Sie hatten längere Zeit keine Männer da drüben. Egal, was passiert, Hauptsache, ihr seid morgen früh alle wieder hier an Bord, um ablegen zu können. Verstehst du? Sowie ihr vollzählig seid, müßt ihr schnell handeln."

"Dann wäre es doch besser, wenn wir das heute Nacht täten? - Da drüben auf der Brücke winkt dir jemand!"

"Tu so, als ob du es nicht siehst. Nein, heute Nacht ist es nicht gut. Keine Überraschungen. Morgen müssen sich die Schiffe sowieso voneinander trennen, wenn wir weiterfahren wollen. Allerdings, was auch passiert - genau das muß dann auch geschehen. Nein, Ochaum, heute Nacht besser nicht. Keine Experimente. Riskiert keine Panikreaktionen bei denen da drüben, indem ihr ganz plötzlich und unerwartet ablegt!"

"Jetzt kommt jemand rüber. Die Wache kann nicht so tun, als ob sie es nicht sieht."

"Ja. Ich weiß. Also, Ochaum: Viel Glück! Leb Wohl. Und paßt auf euch auf!"

Es ist Chromargue, die mich holen soll. Zum gemeinsamen Speisen, wie sie sagt. Dem kann ich mich kaum entziehen.

72.1 Abneigung

Es bleibt nicht bei dem gemeinsamen Speisen. Wie ich es gedacht habe. Cherkrochj hat im ersten Stock des Deckshauses einen eigenen Verschlag, den als 'Kapitänskajüte' zu bezeichnen eine glatte Hochstapelei wäre. Ich habe diesen Verschlag noch nicht gesehen. Er bietet jedenfalls etwas Privatsphäre, und privat werde ich auch genau da hinein genötigt. Der eingefangene Körpergeruch seiner Bewohnerin überfällt mich von allen Seiten.

"Vielleicht kannst du wirklich nicht. Aber das glaube ich nicht - was ist das für ein Kommandant, der nicht kann? Jedenfalls wirst du nicht bei deiner Frau schlafen, sondern hier, solange, bis du kannst!"

Schöne Aussichten. Das Schlafen bin ich seit langem unter freiem Himmel gewöhnt, und nicht in einem so muffigen Verschlag wie diesen. Und die wenig anregende Cherkrochj macht diese Aussicht auch nicht angenehmer.

"Meiner Frau wird das gar nicht passen!"

"Es paßt ihr schon! Wenn ich es will, paßt es ihr."

Sie legt ihre Waffen neben ihrem harten Lager ab, meine Waffen und unsere beider Klamotten kommen darüber. Ich habe mich wandseits hinzulegen, damit ich mich nicht unbemerkt davonmachen kann.

"Du steckst einen Finger bei mir rein. Immer. Dann weiß ich im tiefsten Schlaf, daß du noch da bist. Hast du das verstanden?"

"Aber," protestiere ich, "wenn ich einschlafe, dann rutscht er mir doch raus?"

"Dann läßt du dir was einfallen, damit er nicht rausrutscht! Oder hast du was anderes zum reinstecken? - Na bitte."

Eine leidlich ungemütliche Nacht. Die ständige Vaginalpalpation wäre ja noch erträglich, aber ich pflege mich eigentlich alle paar Minuten auf die andere Seite zu legen. Das geht so nicht. Ich kann so nicht einschlafen. Und Cherkrochj merkt ganz schnell, daß das ein Problem ist. Und wartet ab.

So etwa siebzig Minuten nach dem Hinlegen - es ist inzwischen ganz still auf dem Schiff, und ich habe die alberne und völlig unbegründete Vorstellung, daß alle horchen, ob und was wir wohl machen - habe ich endlich eine Spontanerektion, die ich dann sofort nutzbringend einsetze, um meine Finger von ihrer Aufgabe zu befreien. Seitlich von Cherkrochj liegend und mit geschlossenen Augen denke ich an Charmion - nicht an Irene - und dann geht's. Es geht sogar gut und schnell - wegen der langen Enthaltsamkeit vermutlich - und Cherkrochj kommt mit lauten, lustvollen Stöhnen, das man mit aufmerksamen Horchen sicher auf dem ganzen Schiff wahrnehmen kann. Arme Irene. Hoffentlich hört sie nichts.

Aber danach darf ich ohne weitere Fingerakrobatik einschlafen, weil Cherkrochj sich einfach umdreht und auch einschläft. Einfach so. Gerade noch rechtzeitig habe ich meine Finger abgewischt - auf Cherkrochj's Bauch, während sie kam. Diese Bewegungen hat sie natürlich als Streicheln mißinterpretiert, vielleicht auch, weil ich da eine Narbe erfühlte, die ich kurz forschend abgetastet habe. Nun ja.

72.2 Verrat und Massaker

Nach dieser Schlafperiode mit meinem zweitem - oder ist es der dritte? - Ehebruch - mit einer Hexe, so empfinde ich das wenigstens - wache ich nach tiefem Schlaf auf und stelle fest, daß Cherkrochj bereits aufgestanden ist. Ich bin allein in ihrem 'Privatgemach', und trotz des stundenlangen Aufenthaltes engt mir der Gestank immer noch die Nase. Ich habe den Eindruck, wenn ich furze, wird die Luft hier drin besser. Es ist 11 Uhr, und sowohl meine Klamotten als auch meine Waffen liegen vollzählig neben Cherkrochj's Lager. Ein ordentlicher Druck in der Blase und der Wunsch, schnellstmöglich hier rauszukommen, zwingen mich, alsbald aufzustehen.

Das erste, was mir auffällt, als ich auf den Niedergang ins Freie trete, sind einige Frauen der Besatzung des Saurierfängers, die auf meinem Schiff rumlaufen, als ob sie es durchsuchen.

Von meinen Leuten kann ich keinen einzigen sehen!

Mit einigen Sätzen bin ich runter und drüben. Die Planke liegt immer noch als Verbindungssteg zwischen den beiden Schiffen, wie gestern. Aber sie ist dort, wo sie auf meinem Schiff aufliegt, blutbeschmiert. Das war sie gestern nicht.

"Was ist hier los?" frage ich in scharfem Tonfall. Niemand kümmert sich um mich.

"Will mir vielleicht jemand antworten?"

Niemand macht Anstalten, das zu tun. Chromargue tritt aus dem Deckshaus. Ich trete auf sie zu:

"Was ist hier los? Wo sind meine Männer?"

Sie zuckt die Achseln, deutet hinter sich, ins Deckshaus hinein:

"Befehl von Cherkrochj. Heute morgen."

Mit einigen Schritten bin ich drin.

Da liegen sie - alle. Ohmenjenana, Ozedan, Ochaum, alle anderen. Meine ganze Besatzung. Alle tot. Alle auf die gleiche Weise: mit obszön klaffenden Wunden im Hals. Alle sind im Schlaf getötet worden. Ohne jede Gegenwehr, wie es aussieht.

Einer muß doch Wache gehabt haben. Der muß sich gewehrt und sich dabei andere Verletzungen zugezogen haben. Aber ich kann keinen finden - alle sind auf die gleiche Weise getötet worden. Wie in einer Schlachtfabrik. Meine ganze Besatzung. Meine ganze, mir anvertraute Besatzung. Alle.

"Komm von Bord. Dieses Schiff wird verbrannt!"

Cherkrochj ist es selbst, die hinter mir im Türrahmen aufgetaucht ist. Ich sehe ihre sehnige Gestalt, ihre stellenweise schon faltige Haut, ihre Krähenfüße, denke daran, daß ich mit dieser Person letzte Nacht schlafen mußte, und daß diese Person für den Tod meiner Mannschaft verantwortlich ist. Und dann dieses ruhige, routinierte Auftreten! Es paßt alles nicht zusammen. Sie müßte mich ankotzen, aber nicht einmal diese Empfindung stellt sich ein.

"Warum habt ihr das getan? Warum hast du das getan?"

Sie zuckt mit der Schulter.

"Wir müssen weiter. Außerdem sind wir knapp an richtigem Proviant. Und einer von denen war doch krank - deshalb will ich sie nicht als Unterstützung meiner Besatzung an Bord haben. Wir sind vollzählig. Da war es so das Zweckmäßigste."

"Das Zweckmäßigste?"

"Ja, das Zweckmäßigste! Es waren doch Gefangene! Ausgerissene, von Casabones! Sie hatten kein Recht, in Freiheit zu leben!"

Sie legt jetzt etwas mehr Überzeugungskraft in ihre Stimme: "Die sind doch nicht ohne Grund in Casabones festgehalten worden!"

Ich trete dicht vor sie hin:

"Nicht ohne Grund? Ich habe viele gesprochen, in Casabones. Ich habe wenig Gründe erfahren, die rechtfertigen würden, jemanden jahrelang oder lebenslänglich einzusperren! - Und dann, wenn es den besten von ihnen gelingt, zu fliehen, dann macht ihr sie tot!"

"Es sind doch bloß Männer!"

"Ach ja? Aber weil es 'bloß Männer' sind, habt ihr gewartet, bis sie geschlafen haben, um sie umzubringen! Ist das eine Art Tapferkeitsideal, dem ihr nachstrebt? Leute im Schlaf niederzumetzeln? Habt ihr soviel Angst vor 'bloß Männern', daß ihr ihnen nicht in offenem Kampfe gegenübertreten könnt?"

"Vorsicht, Cherwig! Kritisiere nicht, was du nicht verstehst! - Es sind bloß Männer. Da spielen solche Begriffe keine Rolle. - Sei froh, daß du nicht auch hier liegst!"

"Diese Männer," fahre ich fort, "sind alle auf eine Weise von Casabones ausgebrochen, für die die meisten anderen Menschen zu feige sind. Sie sind geflogen! Sie konnten das, weil ich es sie gelehrt habe! Sie konnten mehr als alle anderen Bewohner dieser Welt! Wie die Flugsaurier sind sie vom Himmel gefallen und haben ein ganzes Fort mit überlegener Besatzung eingenommen! Sie sind eine Elite gewesen, nicht 'bloß Männer'! Sie haben Dinge vollbracht, die in eurer Welt noch nie zuvor gemacht worden sind! Wer seid denn ihr im Vergleich?"

Cherkrochj zeigt kaum eine Reaktion, aber ihre Hand liegt wieder auf dem Schwertgriff.

"Es waren 'bloß Männer'!" sagt sie, mit besonderer Betonung auf dem Xonchen-Wort für 'bloß', "Völlig unwichtig. Genau wie du!"

Ich überlege mir noch so manche geschliffene Antwort. Da ist vielleicht einiges drunter, das Cherkrochj erst richtig auf die Palme bringen würde, wenn ich mich nur traute, es zu sagen. Aber ich traue mich nicht. Ich schlage ihr nicht ins Gesicht, ich greife nicht zum Schwert - sie wäre wahrscheinlich sowieso schneller. Nichts dergleichen. Tatenlos sehe ich zu, wie diese noch warmen Leichen meiner Leute in die Küche und in die Speisekammer des Saurierfängers hinübertransportiert werden.

Es muß ganz kurz vor meinem Aufwachen passiert sein, denke ich. Großer Gott. Ochaum. Und ich habe ihm noch geraten, nicht während der Schlafperiode zu versuchen, abzuhauen. Sie hätten eine Chance gehabt! Sie hätten einen Seitenarm befahren können, und der Saurierfänger hätte nicht die Zeit gehabt, hinterherzufahren. Diese immensen Mengen Saurierfleisch müssen ja schließlich irgendwo abgeliefert werden. Ochaum hätte sich sogar einen so flachen Seitenarm aussuchen können, so daß er und seine Mannschaft vor dem Saurierfänger wegen dessen größeren Tiefganges sicher gewesen wäre, selbst, wenn eine Verfolgung versucht worden wäre.

Armer Ochaum! Was für einen schlechten Rat habe ich dir gegeben! Du hattest schon die richtige Idee - du wärst ein kompetenter Schiffskommandant geworden. Einer, der mehr drauf hat als Redensarten. Auch, wenn du die Uhr nicht begreifst.

72.3 Das Ende der MARY CELESTE

Ich muß runter von meinem Schiff. Cherkrochj läßt alles einsammeln, was an Bord des Saurierfängers nützlich sein könnte - sogar Teile unseres Bauholzes und unser Segelmaterial - dann wird der Rest, alles, was nicht irgendwie irgendwo befestigt oder was nach Cherkrochj's Meinung von minderer Qualität ist, auf das Dach des Deckshauses und in das Ruderhaus gelegt. Wahrscheinlich, damit beim Brennen die Luft besser rankommt. Zwischenzeitlich entnehme ich aus einer aufgeschnappten Bemerkung, daß Osont's Schiffe immer noch an der gleichen Stelle ankern. Sie werden also unbehelligt bleiben, aber sie werden auch sehen, daß mein Schiff verbrannt werden wird.

Abfälle, im wesentlichen schlecht gewordener Proviant, werden aus der Küche des Saurierfängers auf mein Schiff gebracht, um dort mit verbrannt zu werden. Es sind kaum Leichenteile darunter - es ist, wie ich dachte: Menschenfleisch ist knapp geworden. Von der eigentlichen Ladung des Saurierfängers wird auch etwas entsorgt, aber im Vergleich zu der Gesamtmenge des geladenen Fleisches wenig. Saurierfleisch hält sich gut. Immerhin, Teile der Ladung müssen schon länger als 50 Tage an Bord sein, und das bei diesen Temperaturen!

Um 13 Uhr ist es soweit. Die Planke wird eingezogen, und Cherkrochj läßt den Saurierfänger durch Staken von der MARY CELESTE wegdrücken. Eine Frau der Besatzung ist noch drüben. Sie wartet, bis die Rahen der beiden Schiffe sich nicht mehr durchdringen, dann erst kann sie Feuer legen. Danach schwimmt sie gewandt und schnell zum Saurierfänger zurück.

Die Segel werden gesetzt, und wir entfernen uns immer rascher von meinem Schiff, auf dem sich das Feuer rasch ausbreitet. Wie immer sorgt der hohe Atmosphärendruck für intensive und heiße Flammen, in die man manchmal kaum hineinsehen kann. Wenn Osont mit seiner zusammengeschrumpften Flotte hier vorbeikommt, dann wird er höchstens noch ein verkohltes Floß finden, wenn nicht die Ankerseile durchbrennen und der Rest des Schiffes davontreibt. Und von seinen Krähennestern wird er schon jetzt sehen, daß hier ein Schiff brennt, und welches von beiden das wohl sein mag, das wird er sich denken können.

Nun hat die Feuersbrunst das gesamte Mastwerk umfaßt. Balken fallen, Funken steigen auf, sogar über die inzwischen einige hundert Meter Abstand hört man das Brausen der Flammen. Ich bin der einzige, der auf dem Achterdeck das Schauspiel verfolgt. Den anderen ist es gleichgültig. Irene vermutlich auch. Sie hat sich heute noch nicht blicken lassen.

Ein Kapitän verliert sein Schiff und seine Mannschaft. Das kann sie nicht verstehen. Nein. Das kann hier und jetzt nur ich verstehen. Und ich kann es auch nicht verstehen.

72.4 Auf dem Großmast

Der Saurierfänger hat bald seine normale Fahrtgeschwindigkeit aufgenommen. Je nach Winddruck, Wassertiefe, Topografie und Besegelung, die öfter geändert wird, sind das zwischen weniger als einem Kilometer pro Stunde und verstärkter Schrittgeschwindigkeit, also vielleicht sechs bis sieben Kilometer in der Stunde. Im Durchschnitt mögen es drei bis vier Kilometer pro Stunde sein, Luftlinie weniger, weil die Wasserstraße sich immer hin- und herwindet, wenn sie sich auch nie so stark aus der Windrichtung dreht, daß Stakarbeit nötig wird.

Niemand hindert mich, den Großmast zu besteigen, wohl auch deshalb, weil ich dazu einen Zeitpunkt abpasse, wo ich niemandem dabei im Wege bin. Damals, als ich Charmion auf dem Mast das erste Mal sah, war es regnerisch und nebelig. Jetzt ist die Sicht klar, und es ist doch beeindruckend, wie groß dieses Schiff eigentlich ist. Auf dem Mast der MARY CELESTE war man in einer Höhe, die so ungefähr den höchsten Bäumen des Urwaldes zu beiden Seiten entsprach. Gerade, daß man die meiste Zeit in den meisten Richtungen weit über den Urwald hinwegsehen konnte, in flachem Blickwinkel. Schon ein paar Meter weniger wären der weiten Sicht sehr hinderlich gewesen.

Auf dem Saurierfänger hier, in fast der doppelten Höhe, sieht man auch die Baumkronen aus der Vogelperspektive. Nahezu wähnt man sich losgelöst vom Schiff, nur zufällig denselben Kurs nehmend. Die Geschäftigkeit unten an Deck ist weit weg.

Ich setze mich auf die Abdeckungen der Rollen, so wie damals, und halte die Mastspitze zwischen den Schenkeln, so daß ich mich mit den Ellenbogen bequem auf sie lehnen kann. Damit ist mein Kopf der höchste Punkt des Schiffes. Allerdings weiß ich, daß ich wachsam sein muß: Nicht nur ich kann von hier aus weit sehen, sondern ich kann auch von weitem gesehen werden. Nicht, daß eine weniger vegetarisch eingestellte Flugsaurierart mich wehrloses Säugetier von der Mastspitze wegfischen will!

Den Verlauf der Wasserstraße kann ich vor uns und hinter uns weit überblicken.

Hinter uns sehe ich noch, in weiter Ferne, die Rauchfahne meines Schiffes, die immer dünner wird. Um die Masten von Osont's Schiffen zu erkennen sind wir schon zu weit weg. Vielleicht sind sie inzwischen am Ort des Geschehens angelangt. Vielleicht auch nicht. Ich werde es nie erfahren.

Osont bleibt eine offene Rechnung. Ich war nicht entschlossen genug. Zuviel gewartet, auf eine günstige Gelegenheit, auf einen Mutanfall meinerseits. Oder bin ich jetzt in Wirklichkeit erleichtert, weil ich es nicht tun mußte? Das wäre unlogisch, da ich ja auch schon andere Granitbeißer getötet habe. Ausgerechnet Osont verdiente da noch am wenigsten Schonung.

Und wieso überhaupt Charmion rächen? Es gibt eine neue Rechnung: Meine ganze Schiffsbesatzung geht auf die Rechnung von Cherkrochj. Ist da nicht viel mehr Grund, Vergeltung zu üben? Rede nicht von Gerechtigkeit, Herwig, solange das, was in dir brennt, nur der aggressive Wunsch nach Rache ist, beeinflußt von persönlichen Sympathien und Antipathien!

Osont ist vor mir sicher, weil wir uns wohl nie wieder sehen werden. Cherkrochj ist vor mir sicher, weil sie als Kommandantin zu mächtig ist. Und selbst, wenn ich ihr ans Leben wollte, etwa, wenn sie mich wieder zu sich in ihren Privatverschlag befiehlt - was ja so unwahrscheinlich nicht ist - ich traute mich doch nicht, ihr etwas zu tun. Von diesem Schiff käme ich dann nicht mehr lebend weg.

Ich habe die Schnauze voll. In dieser Welt kommen immer die Schurken davon. Das ist vielleicht bei uns auch so, aber ich habe den Eindruck, daß ich zuwenig tue, um das zu korrigieren, und daß ich hätte mehr tun können. Zuwenig Taten, zuwenig den Mund aufreißen. Höchstens, wenn Irene mich dumm anredet. Aber die gehört nicht zu den Schurken in diesem Stück. Im Gegenteil. Wahrscheinlich hat sie, seit wir in dieser Welt sind, noch niemanden umbringen müssen. Dafür hat ihr Mann wiederholt Ehebruch begangen, und nicht immer unter Zwang. - Sie hat Grund, sich zu beklagen und mich zu beschimpfen. Und doch werde ich nichts anbrennen lassen, wenn sie das tut, das ist doch klar: Unabhängig von Schuld oder Unschuld, ihre Argumentationen haben damit ja überhaupt nichts zu tun.

Sie hat sich immer noch nicht blicken lassen. Sie schmollt. Sitzt auf ihrem Lager im Masthaus und geht im Geiste meine vergangenen Sünden durch, wie sie es immer macht, wenn Krach ist. Ich kenne meine Irene. Sowohl ihre depressiven als auch ihre optimistischen Stimmungslagen sind sehr stabil und langandauernd. Wenn sie von der einen Stimmungslage zur anderen wechselt, wechselt sie nicht nur ihre Persönlichkeit, sondern, für sie ganz persönlich und subjektiv, ändert sich die ganze Welt. Zwar sind immer noch dieselben Gedächtnisinhalte da. Aber sie sind dann alle emotional neu eingefärbt. So massiv neu eingefärbt, daß die subjektive Welt, in der sie lebt, bei diesen Stimmungswechseln eine völlig andere wird.

Das ist natürlich noch weit entfernt von dem klinischen Bild der 'multiple personality disorder'. In solchen Fällen ensprechen den verschiedenen Zuständen des Bewußtseins sogar unterschiedliche Erinnerungsbestände, so daß man tatsächlich von mehreren Bewußtseinsinstanzen in demselben Kopf sprechen kann. Dabei können die beteiligten Bewußtseinsinstanzen sogar vollständig normalen Persönlichkeiten entsprechen - soweit das überhaupt möglich ist, 'normal' zu sein, wenn man sich mit anderen denselben Körper teilt. Nichtsdestoweniger ist auch die multiple personality disorder immer noch in einer hirnorganisch völlig gesunden Person denkbar - gewisse drastische Ereignisse in der persönlichen Biographie können solche Bewußtseinsarchitekturen schaffen.

Können. Müssen nicht. Wenn ein Hirnschaden sich dahingehend auswirkt, daß verschiedene Gehirnareale zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlichen Stoffwechselrandbedingungen unterliegen, so daß etwa immer wieder Teile zeitweise inaktiv sind, dann ist die multiple personality disorder auch denkbar. Und auch dann können einige oder alle der gebildeten Bewußtseinsinstanzen für sich genommen überall in dem Spektrum geistig gesund - geisteskrank angesiedelt sein.

Ich halte die Irene nicht für geisteskrank, weil sie sich auf halbem Wege zur multiple personality disorder befindet. Ihr Geist ist einfach von seinen verschiedenen emotionalen Zuständen viel abhängiger als der meine. Jeder hat seine Stimmungsschwankungen, die die subjektive Welt verändern. Sie sind halt bei der Irene extremer als bei mir, und sie sind in sich stabil, was erklärt, warum sie solange in den Phasen schlechter Laune verweilen kann.

Vielleicht ist dieses bei Frauen verbreiteter als bei uns Männern. In unserer Welt, versteht sich, nicht bei den Granitbeißerinnen. Cherkrochj zum Beispiel, die so kaltblütig meine Mannschaft liquidiert hat, scheint, nach außen wenigstens, nahezu emotionslos. Spuren von Verärgerung sieht man ihr gelegentlich an, aber ihre Rationalität ist davon unbeeinflußt. Und die Sexualität, die sie sich von anderen holt, so wie letzte Nacht von mir, scheint sie auch völlig kaltzulassen. Sie gönnt ihrem Körper ein schönes Gefühl, das ist alles. Ein erfrischendes Bad, ein starken Schwanz drin, eine gute Mahlzeit - alles erstrebenswerte Dinge. Manchmal muß man es sich holen. Aber es ist nichts, was die Gefühlslage beeinflußt. Nichts, was wirklich wichtig ist. Das ist Cherkrochj.

Was ist denn wohl für sie wichtig?

Charmion war anders. Denke ich. Glaube ich. Will ich glauben. Ich glaube, sie hatte in einer für sie selbst unerwarteten Art Feuer gefangen. Und ich war Anlaß und Ursache und Mittelpunkt. Und Endpunkt.

Während ich den Horizont in Fahrtrichtung mustere, um rauszukriegen, ob dieses Wasserstraßengebiet bald zu Ende ist, überlege ich mir, wie ich es erreichen kann, daß Cherkrochj in sexueller Hinsicht von meiner Person abläßt. Sauberkeit und Geruchsfreiheit geht unter den Bedingungen des Männermangels an Bord nicht mehr, und, so wie es aussieht, kann und will die Irene mich darin auch nicht unterstützen. Ich müßte irgend etwas an mir haben, was ekelhaft ist. Für eine Granitbeißerin ekelhaft, versteht sich. Da fällt mir nichts ein. Und mich auf dem Schiff, so groß es ist, zu verstecken, das dürfte auf die Dauer keine Lösung sein. Ich erinnere mich an eine Sequenz aus dem Roman 'The Caine Mutiny', wo demonstriert wird, wie ein hinreichend paranoider Kapitän es fertigbringt, ein ganzes Schiff samt Mannschaft nach einem kleinen Schlüssel zu durchsuchen! - Nein, an Bord verstecken hat wohl wenig Aussicht auf Erfolg. Ich bin größer als ein kleiner Schlüssel.

Ich fürchte, daß die Irene noch einige Male Grund dazu haben wird, mir wegen Untreue Vorhaltungen zu machen.

Das Wasserstraßengebiet wird noch einige Kilometer so bleiben, wie es ist. Eine größere, offene Wasserfläche kann ich nicht erkennen. Wiederholt sehe ich einige Rotten von Flugsauriern über die Sümpfe ziehen, aber sie sind nie so nahe dran, um mich wirklich zu beunruhigen. So bleibe ich auf meinem Mast sitzen, bis die Schlafperiode näherrückt. Stundenlang.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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