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******** 071. Tag: Samstag 95-10-28 ********
71.1 Die fremde Mastspitze
Um 2 Uhr trete ich meine Wache an. Wie üblich verziehe ich mich, nachdem ich mich vergewissert habe, daß Ozedan ruhig schläft, in das Krähennest, weil ich mich da einfach am wohlsten fühle und weil man von dort eigentlich alles sieht, sowohl auf den Schiffen unten als auch in der direkten und ferneren Umgebung. Außerdem erinnert mich jeder Aufenthalt im Mastwerk an Charmion - auf einem Mast habe ich sie schließlich das erste Mal gesehen. - Ich bin sicher, wenn ich den Saurierfänger jemals wieder betreten sollte, dann werde ich aus Sentimentalität häufiger mal die Mastspitze des Großmastes aufsuchen. Vielleicht.
Eigentlich ist das Krähennest wirklich der ideale Aufenthaltsort für Wachaufgaben. Ich nehme an, daß vielen der anderen der Aufstieg einfach zu anstrengend ist. Mein Vorgänger war vermutlich während seiner Wache überhaupt nicht im Krähennest, nicht ein einziges Mal. Ist mir unverständlich, wie man sich mit der beschränkten Sicht vom Deck des Floßes aus begnügen kann - es ist doch eigentlich schon eine Sache, die durch den bloßen Selbsterhaltungstrieb nahegelegt wird, nämlich sich über die Umgebung so gut wie irgend möglich informiert zu halten.
Ich sehe mich um, versuche, irgend etwas über den Verlauf der benachbarten Wasserstraßen herauszufinden. Der viel höhere Mast des Saurierfängers wäre da ein viel besserer Aussichtspunkt. Man sähe von dort weiter, besonders, weil der Höhenunterschied zu den höchsten Bäumen, auf den es ankommt, wesentlich größer wäre. Man könnte ...
Einen Moment stockt mir der Atem. Ich glaube nicht, was ich sehe: Dort, nach rechts, dicht über den Bäumen, vielleicht 500 Meter von uns entfernt, sehe ich gerade eben einen senkrechten Stab, von dem feine Linien schräg nach unten gehen. Er zeichnet sich deutlich vor dem Hintergrund der fernen, grauen Säulen ab.
Eine Mastspitze!
Ist es der Saurierfänger? Ist es etwas anderes? Bewegt sich das Schiff dort, wenn es eins ist? Kann ich noch etwas mehr zu Gesicht bekommen, wenn ich mich hier im Krähennest noch weiter aufrichte?
Gerade noch habe ich an die Mastspitze des Saurierfängers gedacht, und jetzt sehe ich sie? Wäre das nicht zuviel des Zufalles? Oder ist es doch eine Baumspitze, die zufällig merkwürdig geformt ist? Ich weiß ja, wie eine Täuschung neurologisch zustande kommen kann: gerade noch habe ich an eine Mastspitze gedacht, so daß der Begriff 'Mastspitze', und alle verwandten sprachlichen und bildlichen Begriffe im Cortex deutlich angeregt worden sind und zum Teil auch gerade eben benutzt wurden. Dann kann alles aus diesem Gedankenkomplex viel leichter assoziiert werden, wenn eine geeignete Sinneswahrnehmung hereinkommt. Deshalb muß ich vorsichtig sein, um keiner Selbsttäuschung zu erliegen. Sieht das Ding da wirklich wie eine Mastspitze aus? Wäre mir das auch aufgefallen, wenn ich kurz zuvor an Käsekuchen oder an digitale Standleitungen gedacht hätte? - Ich glaube, ja.
Was soll ich jetzt tun? Osont alarmieren? Die Chancen sind gut, daß, zumindestens für den Rest der Nacht, niemandem sonst dieser Mast dort auffallen wird, und auch von dort wird man unseren Mast kaum sehen, weil unser Mast niedriger ist und sich von dort kaum gegen den Urwaldhintergrund abhebt. Es sei denn, es ist gerade jemand oben, so wie ich jetzt, und der- oder diejenige ist auch ähnlich aufmerksam.
Da drüben wird jedenfalls vom Krähennest genauso ungern Wache geschoben wie hier. Die Mastspitze dort ist ja verwaist. Oder ist das ein aufgegebenes Schiff? Auf Grund gelaufen? Von der Besatzung verlassen? Und wo ist die Besatzung geblieben? Und warum steht jenes Schiff, wenn es aufgegeben sein sollte, dann noch aufrecht, sogar genau senkrecht, jedenfalls, so wie es von hier aussieht? Liegt das bloß an der hier üblichen floßartigen Rumpfform der Schiffe?
Ich überlege mir, ob ich während meiner Wache versuchen sollte, dort hinüber zu gelangen. Aber so schnell, wie man unter guten Bedingungen 500 Meter zurücklegen kann, so aufwendig und gefährlich wird das in diesem Dschungel. Es könnte sein, daß ich nicht bis zum Ende meiner Wache zurück bin. Und ich bin mir nicht sicher, ob es mir recht ist, wenn jetzt schon jemand anderes von jenem Schiff dort erfährt. Aus ähnlichen Grunde kann ich auch nicht das kleine Floß nehmen: Zu Wasser wäre ich zu kilometerlangen Umwegen gezwungen. Die genaue Topographie des Netzes der Wasserstraßen hier kenne ich nicht. Und das kleine Floß kriege ich nicht alleine ins Wasser, und unbemerkt schon gar nicht.
Meine Gedanken wirbeln um die beste Strategie, während ich noch versuche, so hoch wie irgend möglich zu steigen. Ein wenig mehr kommt von jenem Mast dort in Sicht, aber schon die anderen Masten jenes Schiffes sind geringfügig zu niedrig und bleiben von hier aus unsichtbar hinter einigen mächtigeren Baumkronen versteckt. Jetzt glaube ich aber, die Wetterabdeckungen der obersten Seillaufrollen erkennen zu können, auf denen Charmion und ich gesessen haben, als wir uns zum ersten Male begegneten.
Es muß der Saurierfänger sein!
Sie schlafen dort genauso wie hier. Und diese Schlafperiode dauert noch bis 8 Uhr. Was kann ich unternehmen? Was sollte ich unternehmen, auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit, daß es sich bei jenem Schiff nicht um den Saurierfänger handeln könnte?
In dieser Welt sind die die Frauen die herrschende Klasse. Das darf ich nicht vergessen. Ein nur von Männern bemanntes und geführtes Schiff würde sich immer verdächtig machen. Vielleicht würde diese Tatsache alleine ausreichen, daß jedes andere Schiff feindliche Aktionen gegen uns in die Wege leitet, ohne vorher nachzuforschen, was wir für Leute sind und woher wir kommen. 'Erst schießen und dann Fragen stellen.' Mit solchen Wildwestmethoden muß man rechnen.
Es gibt auch noch die prinzipielle Möglichkeit, daß die Kunde von der Meuterei auf der Gefängnisinsel Casabones auf anderem Wege sich längst in dieser Welt verbreitet hat. Vielleicht ist das dort ein Kriegsschiff, das genau auf uns wartet, und auf niemanden sonst? Schließlich ist dieses ja der einzige oder der wahrscheinlichste Weg von Casabones nach Grom. Wir müssen hier vorbeikommen.
Andererseits, um uns aufzulauern, ist es denkbar ungeschickt, sich gerade dieses Gebiet, wo die Wasserstraßen sich so verzweigen, auszusuchen, weil verschiedene Schiffe hier ja aneinander vorbeifahren können, ohne sich gegenseitig zu bemerken. Also entweder ist dieses Schiff erst im Anmarsch auf seine eigentliche Abfangposition und hat diese noch nicht erreicht, oder sie lauern uns eben nicht auf. Ich denke, sie lauern uns tatsächlich nicht auf, denn woher sie auch kommen, es wäre unzweckmäßig, die Abfangposition so zu wählen, daß man dieses Gebiet dazu vorher durchqueren muß. Also, denke ich, kann ich diese Möglichkeit ausschließen.
Also wird es höchstwahrscheinlich der Saurierfänger selbst sein.
Dann ist Irene jetzt nur noch 500 Meter von mir entfernt!
Bis 8 Uhr wird weder bei uns noch bei dem Schiff da drüben etwas geschehen - ich nehme an, daß sie denselben Tagesrhythmus haben. Höchstens, daß die Wachen hier oder dort drüben von dem jeweils anderen Schiff etwas bemerken könnten, so wie ich es eben getan habe. Gut. Zeit zum Denken.
Meine eigene Wache geht bis 3:30 Uhr. Noch etwas mehr als eine Stunde. Aber meine Handlungsfreiheit ist etwas eingeengt, wegen der beiden Männer da unten auf den Decks, die mit mir zusammen Wache schieben müssen. Und selbst ohne das wäre diese Zeitspanne zu kurz, um drüben einmal nachzusehen.
Ich werfe einen Blick nach unten. Die beiden Männer stehen auf dem Achterdeck des letzten Schiffes beieinander, sehen nach hinten raus und halten offenbar ein Schwätzchen. Hören kann ich davon nichts. Instinktiv oder bewußt oder auch rein zufällig haben sie die Stelle gewählt, wo sie von dem Wachhabenden am weitesten entfernt sind. Da sie nicht allzu aufmerksam sind, haben sie noch nicht gemerkt, daß ich etwas gesehen haben muß - ein aufmerksamer Beobachter müßte mir das ja angesehen haben. Im Moment ist es mir nur zu recht, auch wenn ich als Wachhabender mehr Wert auf Aufmerksamkeit in meiner Schicht legen sollte.
Mir kribbelt die Ungeduld im Nacken. Irene nur 500 Meter von mir entfernt! 500 Meter - das sind im Laufschritt auf ebenem Boden lächerliche 3 Minuten. Im Dauerlauftempo, im Sprint wäre es halb soviel. Wenn der Dschungel dazwischen nicht wäre, dann wäre das sogar Rufweite. Es ist weniger als von unserer Haustür bis zur S-Bahnstation.
3 kurze Minuten bis Irene, und auch bis zu dem Platz, an dem ich Charmion das erste Mal gesehen habe - auch das beflügelt. Eine bedeutungslose Assoziation zwischen ihr und jenem Schiff.
Ich steige schnell, aber ohne sichtbare Hast, den Mast wieder hinunter, gehe ins Ruderhaus, breite die Karten aus. Nach außen gleichgültig aussehen, sage ich mir!
Aber es ist, wie ich dachte: Die Topographie der näheren Umgebung ist nur ungenau und widersprüchlich zu ermitteln. Auch eine andere Idee muß ich deshalb verwerfen: Kappen der Haltetaue zwischen den Schiffen und der Ankertaue, dann sofort Wecken meiner eigenen Schiffsbesatzung und sie zwingen, Kurs auf das andere Schiff zu nehmen. Wenn Osont nicht mit ganz genau derselben Rigorosität die Insel aus den restlichen drei Schiffen auseinandernimmt, dann wird er zuviel Zeit brauchen, um die Verfolgung aufzunehmen. Und wenn wir erst einmal nicht mehr in Sicht sind, hätte ich schon fast gewonnen.
Aber nicht nur wegen der unklaren Kursvorstellung kommt dieses Husarenstück nicht in Frage. Ich weiß nicht, wie lange ich die ganze Besatzung zwingen kann, zu tun, was ich will, wenn vermutlich jedem klar ist, daß das gegen den Willen von Osont geschieht.
Aber eine Modifikation dieses Verfahrens ist möglich: Wenn wir morgen zufällig auf das andere Schiff stoßen sollten, dann könnte ich mein Schiff noch dort anlegen, bevor die Besatzung und Ochaum begriffen haben, warum ich das tue, und bevor Osont es verhindern kann.
Das ist ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten. Genauso gut, noch wahrscheinlicher, ist, daß wir dem Saurierfänger nicht begegnen. Ein unerträglicher Gedanke, jetzt, wo Irene so nahe ist! - Es ist natürlich ein unlogischer Gedanke, aber irgendwie ist für mich im Moment das Wiedersehen mit Irene eine Vorstufe zum Verlassen der Welthöhle. Das motiviert doppelt.
Denk, Herwig, denk! Wie kann man die Wahrscheinlichkeit, morgen auf das andere Schiff zu treffen, optimieren? Wenn sie nicht gerade mit weiteren Fangaktionen beschäftigt sind, dann sind sie schneller als wir. Größere Segelfläche. Oder langsamer - schwierigeres Manövrieren durch diese engen und flachen Wasserstraßen. Kompensiert sich vielleicht gerade.
Dann fällt mir ein, daß Ochaum - und nicht nur er - sich schon einmal verwundert darüber geäußert hat, daß ich mich so gerne im Krähennest aufhalte, während ich doch an anderer Stelle viel eher von Höhenschwindel befallen werde als ein durchschnittlicher Granitbeißer. Da weiß ich, was ich tun muß.
71.2 Havarie
Um 8 Uhr geht der Schiffsbetrieb wie üblich los. Ich habe nach meiner Wache wenig geschlafen, immer gegenwärtig, daß meine Wachnachfolger etwas von jenem Schiff bemerken könnten, oder daß etwas anderes passiert, was meine Pläne durchkreuzt. Trotzdem fühle ich mich so wach wie schon lange nicht mehr.
"Ochaum," sage ich, während die Ablegemanöver der Schiffe untereinander in vollem Gange sind, "mir ist schlecht. - Keine Angst, das ist nicht diese geheimnisvolle Krankheit von Obanque und Ozedan. Es ist nur die monatelange Hitze in eurer Welt, die ich nicht gewohnt bin. Ich bleibe heute den ganzen Tag da oben im Mast. Da ist mehr Wind, das wird mir guttun. - Wir können uns ja trotzdem verständigen!"
Ochaum nickt, sichtlich angetan, daß ihm sein Vorgesetzter eine Schwäche offenbart und ihn damit gleichzeitig ins Vertrauen zieht. Er meint, daß er mit der Schiffsführung schlimmstenfalls alleine fertig wird.
"Wenn's dir zuviel wird," sage ich, "du kannst dich ja auch ablösen lassen. Was ist eigentlich mit Olch? Den sehe ich kaum noch im Ruderhaus? Ich habe in den letzten Tagen den Eindruck, du bist unser alleiniger Steuermann!"
"Er ist nicht sehr scharf drauf, überhaupt etwas zu tun. Deshalb gibt er sich unauffällig."
"Das ist ihm in letzter Zeit gut gelungen!"
"Jedenfalls," fährt Ochaum fort, "fühle ich mich wohler, wenn ich selber am Steuer bin. Es macht mir nichts aus, das den ganzen Tag zu tun."
"Das kann ich wohl verstehen. Okay. Du weißt, wo ich bin!"
Vom Moment des Ablegens an bin ich oben im Mast. Und nun muß ich dauernd ein Täuschungsmanöver machen, denn es soll ja niemand sehen, daß ich mich besonders für etwas interessiere, das ständig in einer bestimmten Richtung zu finden ist. Deshalb muß ich genauso interessierte Blicke in jede andere Richtung werfen.
Die Mastspitze ist noch da, und wir sind als erste unterwegs. Als ich bemerke, daß diese Mastspitze zurückbleibt, sorge ich dafür, daß sehr vorsichtig und umsichtig manövriert wird. Kaum, daß Ochaum begriffen hat, daß ich das so möchte, legt er sehr viel Umsicht an den Tag, und wir kommen ensprechend langsam vorwärts. - In jüngeren Jahren hätte ich mir etwas auf meine Gerissenheit eingebildet!
Trotzdem, auf dem fremden Schiff denkt man nicht daran, abzufahren, und allmählich fällt es immer weiter zurück. Es wird immer schwerer, den Mast gegen den Hintergrund der fernen Formationen der Welthöhle auszumachen. Nagende Zweifel kommen hoch: War es vielleicht doch kein Mast?
Schon vor 10 Uhr habe ich ihn völlig verloren. Alles, was ich tun kann ist, das Vorwärtskommen weiter zu verlangsamen und zu versuchen, immer dann, wenn wir auf Abzweigungen stoßen, diejenige zu wählen, die uns wahrscheinlich in den Weg des fremden Schiffes bringen wird. Allerdings weiß ich nicht, ob das die geschickteste Entwicklung der Dinge wäre, wenn das fremde Schiff, ob Saurierfänger oder nicht, von hinten auf unsere Flottille aufschließen wird.
Zwischen 12 und 13 Uhr werde ich jedoch der Sorge, eine Grund für weitere verzögernde Operationen zu finden, enthoben: Das letzte Schiff unserer Flottille läuft auf Grund.
Wir haben schon beim Passieren dieser Stelle gemerkt, daß die an dieser Stelle 150 Meter breite Wasserfläche sehr flach ist. Es müssen nur noch wenige Zentimeter Wasser unter unserem Boden gewesen sein. Trotzdem sind wir problemlos rübergekommen, das Flaggschiff und das dritte Schiff auch, nur das letzte sitzt fest. Vielleicht haben sie unter ihrem Boden eine Unebenheit, die sich im Grund verhakt hat, oder sie haben tatsächlich etwas mehr Tiefgang.
Osont signalisiert uns vom Flaggschiff folgendes Manöver, für das er sich entschieden hat, herüber: Zwei Schiffe sollen rechts und links von dem Havaristen längsseits anlegen. Dann soll das aufgelaufene Schiff soweit wie möglich entladen werden, bis es wieder flott wird. Wenn während des Manövers eines der beiden anderen Schiffe auf Grund aufsetzt, dann wird dasselbe Manöver in Gegenrichtung gemacht - jedenfalls scheint das so ungefähr Osont's Absicht zu sein. Genauer kann man das mit unserer Signalsprache ja nicht ausdrücken.
Das vordere Schiff, also meins, nimmt an diesem Manöver zunächst nicht teil, weil wir am weitesten von dem Havaristen entfernt sind, und weil in der engen Wasserstraße nicht genug Platz zum gleichzeitigen Herummanövrieren für vier Schiffe ist.
Weil uns nicht signalisiert wurde, was wir sonst tun sollen, werfen wir einfach Anker und warten ab. Ich bleibe natürlich die meiste Zeit im Krähennest.
Dieses Manöver, das sehe ich gleich, wird sich hinziehen. Das fängt schon damit an, daß die beiden assistierenden Schiffe durch Staken gegen den Wind zurückbewegt werden müssen. Außerdem ist noch lange nicht sicher, ob rechts und links von dem Havaristen genug Wassertiefe für dieses Manöver ist. Wir werden es sehen. So habe ich Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, was passiert, wenn uns das fremde Schiff einholen sollte. Wahrscheinlich wird es ja diese Wasserstraße entlangkommen, wenn sie sich ihren Weg nach ähnlichen Gesichtspunkten wie wir aussuchen müssen.
14 Uhr. Die beiden assistierenden Schiffe haben längs beigelegt und die Umladeaktion ist in vollem Gange, als ich, weit entfernt in der Richtung, aus der wir kommen, über den Baumkronen des Urwaldes eine Bewegung sehe. Bald bin ich mir sicher, daß es sich tatsächlich um die Mastspitze handelt. Endgültig sicher, weil sie sich jetzt ja bewegt.
Da sie sich überhaupt vor dem Hintergrund bewegt, heißt das, daß das andere Schiff sich nicht genau auf uns zu bewegt. Das heißt aber nicht, daß sie sich nicht auf der zu uns führenden Wasserstraße bewegen: Die Gewässer winden sich hier so vielfältig und unübersehbar, daß man eine genaue Vorhersage, ob das andere Schiff hier entlangkommen wird oder ob es auf einer der parallelen Wasserwege vorbeifahren wird, überhaupt nicht treffen kann. Ich muß es im Auge behalten. Natürlich so, daß niemand da unten auf meinem Schiff merkt, daß ich mich für etwas Spezielles interessiere. Auf den drei Schiffen werden sie sich schon gar nicht dafür interessieren, wo ich gerade hinsehe: Erstens sind sie einige hundert Meter von uns entfernt, und zweitens sind sie zu beschäftigt.
15 Uhr. Ich sehe von meinem Beobachtungspunkt aus, daß das mittlere Schiff dabei ist, freizukommen. Wenn ich das schon von hier erkennen kann, dann werden sie es dort auch schon gemerkt haben. Trotzdem verstehe ich nicht, warum es noch so lange dauert.
Mittlerweile ist der fremde Mast sehr viel näher gekommen, und ich habe den Eindruck, daß das fremde Schiff wieder rechts an uns vorbeifahren wird.
Die Besatzung meines Schiffes, die anfänglich noch mit verhaltenem Interesse die Umladearbeiten auf den anderen Schiffen beobachtet hat, zeigt längst Anzeichen ausgedehnter Langeweile. Ochaum hat keine Intention, sie irgendwie sinnvoll zu beschäftigen, und ich kann von hier oben auch keine detaillierten Arbeitsanweisungen absetzen. Was mich daran stört ist, daß das laute Gerede und das gelegentliche Gelächter eventuell auf dem anderen, fremden Schiff gehört werden kann. Sie könnten dann nämlich auf die Idee kommen, ihren Kurs zu ändern und auf unsere Wasserstraße zu steuern. Ich möchte jetzt aber lieber, daß sie vorbeifahren. Wenn es tatsächlich der Saurierfänger sein sollte, dann möchte ich nicht, daß er ausgerechnet mit den Schiffen der Meuterer zuerst Kontakt kriegt, auf denen ich mich nicht aufhalte.
Es hilft nichts. Als unten auf dem Vorderdeck eine Schlägerei ausbricht - keine ernsthafte, aber die umstehenden Männer sind mir mit ihrem Gejohle definitiv zu laut - klettere ich vom Mast herunter. Ochaum sieht das, und er interpretiert meinen Gesichtsausdruck schon richtig, aber trotzdem bin ich zuerst am Ort der Auseinandersetzung.
"Wir haben einen Kranken an Bord! Könnt ihr darauf keine Rücksicht nehmen?" frage ich.
"So krank ist der nicht mehr!" Ohmenjenana hat offenbar schon wieder vergessen, wie elend man sich sogar dann noch fühlen kann, wenn man nur mit dem Ausbruch einer baldigen Krankheit rechnen muß.
"Ach! So krank ist der nicht mehr! Fühlst du dich krank, Ohmenjenana?"
"Nein. Eigentlich nicht. Oder?" Er wird unsicher, weiß wohl, was kommt. Genau das kommt auch:
"Dann auf den - nein, Liegestütze. Jetzt gleich! Ich zähle. Und wer etwas dazu kommentiert, der macht gleich mit. Verstanden?"
Während Ohmenjenana zerknirscht seine Pumpübungen auf dem Deck beginnt, sehe ich Ochaum's Blick auf mir ruhen: Er hat gemerkt, daß ich aus irgendeinem Grund Ohmenjenana nicht in den Mast geschickt habe. In letzter Zeit ist mir diese Strafe nämlich lieber gewesen, weil man den Kreislauf dieser Leute mit Klettern wesentlich besser trainieren kann als mit Liegestützen. Nötig haben sie es alle.
Ein paar Minuten später bin ich wieder im Krähennest oben. Unten, auf Deck, wird nicht mehr geprügelt und nicht mehr laut geredet. Ich weiß zwar, daß das nicht ewig so bleiben wird, aber für die Vorbeifahrt des fremden Schiffes wird die Dauer der akustischen Funkstille wohl reichen. Ich sehe deutlich, daß Ochaum mir nachsieht. Er überlegt sich, warum ich niemanden auf den Mast hinaufklettern lassen will. Ob ich ihn ins Vertrauen ziehen sollte, bevor er selbst die Anwesenheit eines fremden Schiffes herausfindet? Ich winke ihn herauf. Damit entscheide ich noch nichts, ich kann es mir immer noch überlegen, ob ich ihm etwas sagen sollte. Mal sehen, ob er den fremden Mast von selbst bemerkt.
71.3 Alarmstart
"Ich meine, wir sollten es nicht herausfordern." sage ich, als er oben neben mir angekommen ist, "Wir sind zwar bisher relativ glimpflich durch diese Gegend gekommen, aber das ist kein Grund, leichtsinnig zu werden. Besser nicht irgend jemanden oder irgend etwas durch überflüssigen Krach auf uns aufmerksam machen!" sage ich zu Ochaum, als er neben mir im Krähennest sitzt.
"Relativ glimpflich? Wir haben zwei Schiffe verloren, und ihre Besatzungen! - Nein, seit Casabones ja schon vier, genaugenommen."
"Du hast recht. Ich sollte nicht von 'glimpflich' reden, unter diesen Bedingungen. Ich habe aber eigentlich Schlimmeres erwartet. Deshalb. Natürlich. Einer von zweien oder dreien ist tot oder vermißt. Das ist nicht 'glimpflich'. Du hast recht."
Da hat er mich doch tatsächlich einmal dabei erwischt, daß ich schon lockerer mit dem Verlust von Menschenleben umzugehen scheine als so mancher Granitbeißer. Ich habe unbewußt aus meiner Perspektive argumentiert. Ein Drittel Verluste sind wenig, wenn man mehr befürchtet hat, und natürlich bin ich nicht selbst bei dem Drittel. Das ist nach wie vor immer noch das subjektiv Wichtigste.
"Es soll nicht wieder vorkommen. Ich werde drauf achten, daß die Leute ruhig sind." verspricht Ochaum.
"Teile doch Olch für diese Aufgabe ein!" schlage ich vor.
"Warum gerade den?"
"Damit er sich unbeliebt macht, und nicht du. Ich bin sicher, er hat ein Talent, sich unbeliebt zu machen!"
"Gute Idee." Ochaum überlegt. Währen wir sprechen, sieht er in die Runde. Er hat noch nichts gemerkt, obwohl er schon ein paarmal ungefähr in die richtige Richtung gesehen hat. Natürlich kann es sein, daß der Mast sich gerade sehr wenig bewegt. Ich kann jetzt leider nicht selbst zu genau hinsehen.
"Aber es geht nicht."
"Was geht nicht?"frage ich.
"Olch einteilen. Er hat auch die Krankheit. Nicht schlimm, aber er hat über Leibschmerzen geklagt."
"Wann?"
"So vor einige Stunden."
"Als wir noch nicht wußten, daß wir bei den Arbeiten dahinten gar nicht gebraucht werden?"
Ochaum denkt nach. "Schon möglich."
"Ich glaube, die Art Krankheit kenne ich. Sieh mal - da unten steht er doch! Sieht er krank aus?"
"Nein." gibt Ochaum zu, "Er steht völlig gerade. Nicht wie einer, der sich vor Schmerzen krümmt."
"Dann teil ihn dazu ein, für Ruhe zu sorgen. Davon werden ihn seine 'Bauchschmerzen' nicht abhalten, du wirst sehen. Nach einer Weile wird ganz klar werden, daß er gar nicht krank ist."
Jetzt ist die fremde Mastspitze wieder weniger als einen Kilometer von uns entfernt. Sogar aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie sie sich bewegt. Ochaum sieht immer noch nichts.
"Manchmal denke ich, alle machen sich über einen lustig, wenn man ihnen nur den Rücken kehrt!" seufzt er.
"Dann habe ich gute Nachrichten für dich. Die meisten Menschen mit Führungsverantwortung kennen solche Selbstzweifel gar nicht. Wenn man sie hat, machen sie einem das Leben zwar nicht leichter, aber man ist in besonderer Weise dafür geeignet, eine Führungsverantwortung zu übernehmen."
"Wirklich?" fragt Ochaum verwundert.
"Ja, sicher. Leider ist es so, daß die Fähigkeiten zur Führung meistens mit Charakterzügen einhergehen, die die Betreffenden davon abhalten, Führungsverantwortung zu übernehmen. Und dann gibt es wieder solche Klötze, die sich für unfehlbar halten."
"Osont." sagt Ochaum.
"Du traust dich aber was! Ja, du hast recht. Der zweifelt nicht an sich."
Ich überlege noch, ob ich nicht zu dick auftrage. Unsere Ansichten von Subtilität sind verschieden.
"Wenn mir etwas passiert, Ochaum, oder wenn ich auch nur zeitweilig nicht dazu in der Lage sein sollte, dann mußt du das Schiff führen."
Und nach einer Weile, in der er nichts sagt, setze ich noch hinzu:
"Letzten Endes entscheidet natürlich Osont."
"Was sollte dir passieren?" fragt Ochaum.
"Gerade noch haben wir drüber gesprochen. Eure Welt ist kein sicherer Aufenthaltsort."
"Naja, schon. Aber uns ist doch noch nichts passiert!"
"Bis jetzt, ja. Glaubst du, daß wir deshalb unverwundbar sind? Die, die es schon erwischt hat, sind nämlich gar nicht mehr in der Lage, solche Betrachtungen anzustellen!"
Eine Weile sagen wir überhaupt nichts. Villeicht denkt Ochaum über diesen Gesichtspunkt nach. Dabei sieht er dem Ladegeschäft auf den drei Schiffen zu. Der fremde Mast ist jetzt etwa querab. Ochaum müßte seine Blickrichtung um neunzig Grad zur Linken wenden, dann müßte er ihn einfach bemerken.
"Was hältst du davon, ein fremdes Schiff zu entern?" werde ich direkt.
"Was? Wieso? Das verstehe ich nicht!"
"Sieh dich mal um. Na, mach schon!"
Für Ochaum ist diese Bemerkung völlig unverständlich. Aber gehorsam blickt er in die Runde. Nicht sehr gründlich, sondern nur, weil ich es gesagt habe. Aber der fremde Mast ist deutlich zu sehen. Ochaum bemerkt ihn jetzt augenblicklich.
"Pst! leise!" sage ich mit gedämpfter Stimme.
"Ist das - ist das der - das Schiff, von dem du gekommen bist?" fragt er.
"Ja. Oder sehr wahrscheinlich. Ich weiß es nicht, genaugenommen. - Ich sehe es schon eine ganze Weile."
"Und was meinst du, was sollen wir tun?"
Ich erläutere ihm meinen Plan.
"Sie kennen mich dort," sage ich schließlich, "es ist für uns keine Gefahr dabei! Wir kommen ohne Kampf an Bord! Wir müssen nur sofort losfahren!"
"Die sind noch nicht fertig da, wir müssen ..."
"Nein! Nicht mit allen Schiffen! Alleine, ein Schiff! Sonst könnten sie sich bedroht fühlen, und dann schießen sie. Die haben schwere Harpuniergeräte an Bord!"
"Osont hängt uns auf!" wendet Ochaum ein.
"Er kommt nicht hinter uns her. Sieh doch hin: Die Schiffe sind noch gar nicht bereit zur Weiterfahrt. Außerdem signalisieren wir etwas hinüber. So etwas wie 'Greifen fremdes Schiff an!'. Die Antwort von Osont warten wir gar nicht ab. Das ist erstmal halbwegs plausibel."
"Meinst du?"
"Ja, natürlich. Sowie wir Segel setzen und diese Botschaft loslassen, wird Osont selbst auf den Mast klettern. Zumindestens wird er dann sehen, daß es dieses andere Schiff gibt. Und er wird nicht mittun können! - Aber wir müssen schnell sein!"
"Er wird toben!"
"Wird er das? Wenn seine Leute, nämlich wir, plötzlich diesen Mut- und Aggressionsausbruch demonstrieren? Glaubst du, er will als Feigling dastehen?"
Ochaum zögert noch. Mein Plan ist erst jetzt klar, wo ich ihn Ochaum erläutert habe.
"Tust du mit? - Wir müssen so tun, als ob wir das fremde Schiff jetzt erst bemerkt haben!"
Ein paar Sekunden sehen wir uns in die Augen. Ochaum hat noch nicht alle Aspekte dieser neuen Situation überdacht. Schließlich nickt er. Ich beuge mich über den Rand des Krähennestes:
"ALARM! ALLES HERHÖREN! DIE SEGEL SETZEN, SOFORT! LOS, BEWEGT EUCH, IHR FAULEN HUNDE! GEFECHTSBEREITSCHAFT HERSTELLEN, ALLE!"
In der nächsten Sekunde bin ich auf dem Weg nach unten, vielleicht auch, weil ich vermeiden will, daß Ochaum mich fragt, wieso ich durch diese Schreierei eventuell das andere Schiff auf uns aufmerksam mache. Ochaum kommt hinterher.
"Los! Habt ihr nicht gehört! Dort ist ein Kriegsschiff aufgetaucht, und wir müssen uns verteidigen! Die anderen können das noch nicht! Es liegt jetzt nur an uns!"
Es gibt immer noch einige Männer, die ungläubig gucken.
"Wer sich jetzt nicht bald bewegt, der lernt mich kennen! Und jeder, der nicht gerade im Mastwerk zu tun hat, trägt ab sofort ein Schwert bei sich, ist das verstanden? Die Gefechtsbereitschaft gilt für alle!"
Nun kommt Bewegung in die Mannschaft. Ochaum hat seinen Platz im Ruderhaus eingenommen. Ich werde gleich wieder nach oben müssen, nachdem ich sichergestellt habe, daß auch wirklich alle mit anpacken.
Ozedan hat sich auf dem Achterdeck aufgesetzt.
"Wie geht es?" frage ich ihn, "Noch Schmerzen?"
"Ja, etwas, aber ich kann schon ..."
"Nein, das kannst du noch nicht. Laß dir von jemandem dein Schwert bringen, damit du's zur Hand hast."
Olch brauche ich nicht zur Arbeit anzutreiben. Er hat seine Bauchschmerzen, wenn er denn wirklich welche hatte, vergessen und ist im Moment dabei, das Ankerseil zu heben.
Okay, denke ich mir. Kaum, daß alle Segel flattern, steige ich wieder auf den Großmast. Früher gings nicht, weil ich da zu vielen Leuten im Wege gewesen wäre. Aber sie waren sehr schnell, diesmal. Adrenalin beschleunigt!
"Ochaum, jetzt fragen sie wohl nach, was los ist?" sage ich, als ich in der Höhe des Ruderhauses bin.
"Ja."
"Dann signalisiere zurück, daß wir das fremde Schiff angreifen. Aber nicht mehr als das. Sollen sie sich selber den Kopf zerbrechen. Alle weiteren Signale von Osont's Schiff ignorieren wir!"
Dann bin ich schon wieder im Krähennest. Ich spüre, wie das Schiff sich unter mir bewegt. Langsam, sehr langsam. Viel schneller wird es auch nicht werden. Der Wind ist zu schwach. Zunächst werden wir mit dem fremden Schiff höchstens Schritt halten können.
Der fremde Mast ist immer noch steuerbord querab zu sehen, vielleicht 80 Grad zu unserer Kursrichtung. Eigentlich sollte dort, wenn man mich gehört hat, jemand in den Mast steigen, um nachzusehen, woher diese Stimme gekommen ist. Aber da braucht nur irgendein Tier im nahen Urwald zum richtigen Zeitpunkt laut gekreischt zu haben, und sie haben nicht das geringste gehört.
Aber auf den drei Schiffen hinter uns hat man etwas gehört, und natürlich, man sieht, wie wir uns davon machen. Niemand arbeitet dort, alle sehen uns nach. Und natürlich: in jedem Krähennest hockt jetzt jemand! Vielleicht ist einer der Leute, die da im Mastwerk so wild herumgestikulieren, sogar Osont selber.
Das mittlere Schiff scheint jetzt freigekommen zu sein, dafür sind die beiden assistierenden Schiffe gehandicapt. Außerdem sehe ich, daß sich zwischen den Schiffen Seile spannen - wahrscheinlich hat man, um starke Kräfte zu erzeugen, Flaschenzüge improvisiert. Auf jeden Fall dürfte es sehr lange dauern, bis auch nur eines von Osont's Schiffen wieder frei kommt, geschweige denn alle drei. Wahrscheinlich sind sie noch Stunden beschäftigt.
Allmählich kommt mir die Idee, daß ich Osont vielleicht nie wieder sehe. Wenn das fremde Schiff nicht aufgetaucht wäre, hätte ich dann auch die Idee gehabt, auszureißen? Vielleicht, aber die Mannschaft und Ochaum hätten wohl nicht mitgespielt. Und daß sie mir die Gefolgschaft verweigern, das kann auch immer noch passieren. Trotzdem - eine Zeitlang wird das fremde Schiff als Grund unseres schnellen Aufbruches tragfähig genug sein.
Osont nie wieder sehen! Reizvoller Gedanke. Abgesehen von der Rechnung, die ich noch begleichen muß. Ist der Tag der Rache nun nur aufgeschoben? Charmion, hatte ich es dir nicht versprochen?
Jedenfalls ist es jetzt unwichtig, was auf diesen drei Schiffen da geschieht. Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Wir müssen auf die Wasserstraße des andern Schiffes gelangen. Wir müssen den Kontakt herstellen!
In den nächsten Minuten sieht es so aus, als ob wir genau die gleiche Geschwindigkeit halten wie das fremde Schiff. Das ist etwa Schrittgeschwindigkeit. Wenig. Aber nach einer Viertelstunde hat bereits eine Biegung uns die direkte Sicht auf die drei zurückbleibenden Schiffe genommen.
So hektisch wie unser Aufbruch war, so ereignislos wird es jetzt. Die Männer tragen befehlsgemäß ihre Schwerter, aber außer Lotungen fallen im Moment keine Arbeiten an. Nur Ochaum muß steuern. Bloß jetzt nicht auflaufen - wir haben keine begleitenden Schiffe mehr, die assistieren können!
Ich bleibe die meiste Zeit oben auf dem Mast. Immer noch werfe ich ab und zu einen Blick auf die Karten, aber es ist unerträglich: Wenn man nicht sehr viel Zeit in die Versuche steckt, Umgebung und Karteninhalt ineinander zu interpretieren, dann nützen sie überhaupt nichts. Nicht einmal, wie lange es noch dauern mag, bis dieses verzweigte Wasserstraßengebiet zu Ende ist, nicht einmal das kann man den Karten entnehmen. Danach scheint aber wieder offenes Meer zu kommen.
18 Uhr vorbei. Vielleicht haben wir jetzt zehn Kilometer zwischen Osont's Schiffen und uns gelegt. Ich glaube kaum, daß sie inzwischen losgekommen sind. Aber noch könnten sie uns gut folgen, weil es noch nicht viele Wegealternativen gegeben hat. Dreimal verzweigte sich die Wasserstraße, dreimal nahmen wir jeweils die rechte, und jedesmal kamen die Wasserstraßen wieder zusammen. Es gab auch andere Abzweigungen, die aber sehr flach waren und sich höchstens für ein kleines Floß geeignet hätten. Und diese Seitenarme 'Wasserstraßen' zu nennen wäre auch übertrieben - 'verstärkt überschwemmter Urwald' wäre korrekter. Zu gefährlich für ein kleines Floß und für uns sowieso völlig nutzlos, da wir mit dem fremden Schiff Schritt halten wollen.
Jetzt aber scheint der Mast, der jetzt genau querab ist, eher sogar etwas zurückgeblieben ist, plötzlich näher zu kommen. Vielleicht ist dort drüben eine Wasserstraße abgezweigt, und das fremde Schiff hat diese Abzweigung genommen! Ich versuche, zu sehen, ob weiter voraus ein Anzeichen ist, daß sich eine Wasserstraße von rechts mit der unsrigen vereinigt.
Immer noch, über zwei Stunden lang, ist dort niemand in den Mast gestiegen. Allerdings hat in den letzten zwei Stunden auch niemand mehr bei uns herumgebrüllt.
Jetzt ist mir doch etwas mulmig zumute. Wie wird die Begegnung ablaufen?
Ich winke Ochaum hinunter, deute nach rechts. Er nickt. Er hat verstanden. Geflüsterte Anweisungen. Die Männer stehen in gespannter Erwartung auf Deck. Was wird geschehen?
Das andere Schiff ist jetzt 250 Meter querab und ebensoviel hinter uns. Endlich sehe ich vor uns die Stelle, wo wir auf die andere Wasserstraße stoßen werden. Da werden uns die anderen ganz plötzlich sehen. Ich sehe wieder nach unten, lege die Finger auf die Lippen. Ochaum sorgt dafür, daß sich alle an das Schweigegebot halten.
Noch 700 Meter bis zur Einmündung. Dort ist die vereinigte Wasserstraße dann fast 300 Meter breit. Später wird sie vielleicht wieder enger, aber wenigstens ist dort Platz zum Manövrieren.
Noch 500 Meter. Das andere Schiff ist immer noch Steuerbord achtern 300 Meter entfernt. Ich glaube, wenn es Cherkrochj's Schiff ist, dann kennt sie dieses Gebiet so gut, daß sie nur aus Navigationsgründen niemanden im Krähennest halten muß. Sie weiß genau, wo sie ist. Mit auftauchenden Großtieren würden sie fertig, und andere Gefahren erwarten sie nicht. Es ist schon plausibel, daß sie sowenig aufpassen.
Noch 300 Meter bis zur Einmündung. Ich klettere flink vom Mast herunter, um mit Ochaum durch die Fenster des Ruderhauses zu sprechen:
"Wenn sie uns sehen können, dann sind sie etwa 300 Meter hinter uns. Wenn sie auch alle Segel gesetzt haben sollten, dann versuche ich, herauszukriegen, ob es 'mein' Saurierfänger ist. Wenn ja, drehen wir bei. Wenn nein, dann reißen wir aus. Es kann sein, daß die langsamer als wir sind, weil sie viel Ladung haben."
"Aha." sagt Ochaum.
"Wenn die nicht alle Segel gesetzt haben, dann drehen wir auch bei, wenn es mein Saurierfänger ist. Wenn er es nicht ist, versuchen wir zunächst, so schnell wie möglich weiter zu fahren. Wenn er dann alle Segel setzt, dann würde er uns vielleicht einholen können, egal, was wir machen. Dann kommt es vielleicht zum Kampf. Vielleicht aber auch nicht. Ich werde reden. Verstanden?"
Ochaum nicht, und schon bin ich wieder oben. Im Raufklettern überlege ich, daß ich die Anweisungen eben einfacher hätte strukturieren können. Als professioneller Programmierer hätte ich über die paar Fallunterscheidungen vorher nachdenken sollen. Egal, Ochaum hat es auch so verstanden.
Noch 100 Meter. Die Spannung ist unerträglich. Immer noch ist die Mastspitze drüben verwaist. Es wird eine große Überraschung auf dem anderen Schiff sein.
Oder ist dort eine Seuche ausgebrochen, und sie können niemanden mehr in den Mast schicken, weil niemand mehr dazu die Kraft hat? Im Ansatz hatten oder haben wir das Problem ja auch. Ach was, denk jetzt nicht an alle möglichen Probleme, Herwig. Das Rendezvous muß jetzt problemlos ablaufen.
Wir ziehen an der Spitze der Halbinsel, die zwischen den beiden sich treffenden Wasserstraßen gebildet wird, vorbei. Die letzten Bäume, die da im Wasser stehen, sind niedriger. Wie ein Vorhang, der nach unten fällt, geben sie mir den Blick auf das andere Schiff frei. 300 Meter ist es immer noch entfernt, und wir sehen es genau von vorne, während sie uns jetzt schräg von achtern sehen müssen, wie ein plötzlich aufgetauchtes Gespensterschiff in einem als menschenleer vermuteten Sumpfgebiet.
71.4 Wiedersehen
Das große Deckshaus, das vertraute vordere Masthaus, in dem wir Sprachunterricht gehabt haben, das mittlere hohe Deckshaus - Ballen von Fleisch auf jeder offenen Stelle auf dem Deck, die Decksbalken so tief wie die Wasseroberfläche rundherum, aufgestellte Harpuniergeräte. Verwirrendes Mastwerk, komplizierter als das unserer Schiffe, viele Segel sind gesetzt, aber nicht alle. Es ist 'mein' Saurierfänger! So gleichartig kann kein anderes Schiff gebaut sein. Ich sehe sogar die Spuren von der Kollision mit dem Saurier, deren Zeuge wir ganz am Anfang waren.
Ich sehe Gestalten auf der Brücke, und ich sehe an ihrer Haltung, daß sie uns in diesem Moment auch sehen.
"Hallo! Hey! Hallo! Cherkrochj! Irene! Ich bin es! - Ochaum, Segel bergen! - Hallo, Hey! IRENE! CHERKROCHJ!"
Flink bin ich runtergeklettert. Die Männer stehen etwas verwirrt, weil die meisten nichts oder wenig über meine Beziehungen zu diesem Schiff wissen.
"Habt ihr nicht gehört? Segel bergen! Das ist kein feindliches Schiff! Wir drehen bei!"
Das Manöver wird in die Wege geleitet. Als man vom Saurierfänger sieht, daß wir die Segel abnehmen, machen sie dort dasselbe. Langsam kommen sie näher.
Nun stehe ich unten am Bordrand, bilde mit den Händen einen Trichter vor dem Mund:
"Irene! Bist du da?"
200 Meter Entfernung. Eine der Gestalten, die gerade auf dem Deck aufgetaucht ist, fällt nach Figur und Haltung etwas aus dem Rahmen. Sie trägt zwar das übliche Lederzeug, genau wie ich, aber ich erkenne sie deutlich: Es ist meine Irene! Sie lebt!
Mit gespannter Aufmerksamkeit steht sie drüben auf dem Deck, dann tanzt sie herum und winkt. Sie erkennt mich!
150 Meter Entfernung. Sie hat sich verändert. Etwas mehr als sieben Wochen ist es her, daß wir uns aus den Augen verloren haben. Sie ist schmaler geworden und hat Muskeln bekommen.
Ich bemerke auch, daß man drüben Bögen auf uns angelegt hat, und einige Frauen der Besatzung machen sich an den Harpuniergeräten zu schaffen. Das macht mir keine Sorgen, weil ich denke, daß meine bloße Anwesenheit Cherkrochj von feindlichen Aktionen abhalten wird. Sie wird ja schließlich wissen wollen, was aus unserer Gruppe geworden ist, und wie ich auf dieses Schiff komme.
Einige der Männer auf meinem Schiff sehen mich sehr mißtrauisch an. Auch Ochaum weiß nicht, was er von der Sache halten soll.
"Es wird alles gut, Ochaum! Du wirst sehen!" rufe ich ins Ruderhaus hinauf. Ochaum bleibt aber skeptisch.
"Lasst eure Hände von den Schwertern! Wir wollen ihnen keinen Grund zum Schießen liefern!" sage ich dann zu den anderen. Hoffentlich ist die Tatsache, daß Männer überhaupt Waffen tragen, nicht schon für sich allein Grund genug für Cherkrochj, uns anzugreifen.
Die Schiffe wenden sich jetzt die Breitseiten zu. 50 Meter von Bordkante zu Bordkante. Irene steht da, als ob sie auf eine Weihnachtsbescherung wartet. Beruhigt sehe ich, daß einige der Frauen da drüben die Bögen wieder sinken lassen. Vielleicht halten sie uns nicht für einen ernstzunehmenden Gegner.
Jemand winkt drüben mit den Ankertauen. Wir sollen offenbar vor Anker gehen. Ich sage Ochaum Bescheid, der das sofort in die Wege leitet. Cherkrochj steuert inzwischen den Saurierfänger so, daß er mit den restlichen seiner Segel uns den Wind aus den Segeln nimmt - er ist jetzt genau windaufwärts von uns, und langsam driftet der Saurierfänger seitlich auf uns zu. 30 Meter von Bordkante zu Bordkante.
"Wer führt dieses Schiff?" ruft eine mir unbekannte Frau von drüben herüber.
"Ich!" rufe ich zurück.
"Wer ist 'ich'?"
"Cherkrochj weiß es!"
Die Unbekannte sieht zur Brücke hinauf. Einige Worte werden gewechselt. Überhaupt sind mehr Menschen auf dem Schiff, als ich es erwartet und in Erinnerung habe, und die meisten habe ich noch nie gesehen. Vielleicht hat Cherkrochj ihre Besatzung aus dem Unterfort von Casabones vervollständigt, weil wir nicht mit der beabsichtigten Lieferung von Arbeitssklaven von Casabones zurückgekehrt sind.
15 Meter Abstand. Auf dem Saurierfänger wird die Ankerung in die Wege geleitet. Die Frau, die mich vorhin angerufen hat, spricht wieder:
"Cherwig! Du kannst an Bord kommen. Alle anderen bleiben drüben!"
Das klang wie ein Befehl.
"Ihr habt's gehört!" sage ich zu Ochaum.
Als die Bordkanten einen Abstand von nur 5 Metern haben und oben, im Mastwerk, sich die Rahen bereits gegenseitig durchdringen, kommt der Saurierfänger völlig zum Stillstand, vermutlich auf den Zentimeter genau in dem Abstand, den Cherkrochj beabsichtigt hat. Mit lautem Gepolter landet das Ende einer Planke vor meinen Füßen. Das kommt mir ein bißchen vor wie ein Tritt, den man meinem Schiff verpaßt, auch, wenn es dadurch keinen Schaden nimmt und die Planke niemandem auf den Fuß gefallen ist. Ich trete auf die Planke hinaus.
Als ich drüben das Deck betrete, löst sich sofort eine Gruppe von Bewaffneten und geht hinter mir über die Planke auf mein Schiff.
71.5 Spannungsfall
"Heh! Was soll denn das? Ich habe niemandem erlaubt, an Bord zu kommen!" protestiere ich.
"Das ist so schon in Ordnung. Sicherheitsmaßnahme. Cherkrochj will dich sehen!" sagt mir jemand, "Folge mir!"
Nur sieben Meter von mir entfernt steht die Irene. Hindert man sie, auf mich zuzutreten? Mal sehen, ob man mich hindert. Ich gehe nicht sofort auf die Brücke, sondern trete zu Irene.
"Irene, Schatz! Du siehst gut aus! Wie ist es dir ergangen?"
Im Augenblick hängt sie mir am Hals, sagt nichts und weint mir nur an die Schulter. Es tut gut, nach so langer Zeit wieder ihre bloße Haut zu berühren.
"Es ist ja gut. Ich bin ja wieder bei dir!"
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie mein Schiff durchsucht wird und wie die Mannschaft sich vollständig auf Deck aufstellen muß, sogar der immer noch kranke Ozedan. Diese Entwicklung der Dinge paßt mir nicht. Dann sehe ich, daß man meinen Leuten die Schwerter abnehmen will. Das kann ich nicht zulassen. Ich löse mich von Irene und trete an die Bordkante:
"Halt! Ihr da! Niemand gibt ein Schwert ab! Ist das verstanden? Schlagt sofort zu, wenn sie versuchen, euch zu entwaffnen!"
Drüben kommt der Vorgang ins Stocken. Fragende Blicke zurück zur Brücke des Saurierfängers.
"Ochaum! In einer Minute sind alle Fremde wieder von Bord! Ist das verstanden? Wer dann noch da ist, der werden auf der Stelle beide Hände abgeschlagen! Das ist ein Befehl!"
Ich spiele hoch, aber ich muß verhindern, daß Cherkrochj's Leute uns wie den letzten Dreck behandeln und sich gleich zu Anfang daran gewöhnen, daß sie das straflos tun dürfen. Daß ich mit einer grausamen Verstümmelung drohe und nicht mit Hinrichtungen, ist im Moment mehr noch ein Experiment: Den Gepflogenheiten der Granitbeißer nach würde man von mir erwarten, sofortige Hinrichtungen zu befehlen. Schon, daß ich etwas anderes mache, muß die Gegenseite beunruhigen und verunsichern. Und letzten Endes sind abgeschlagene Hände in der Welt der Granitbeißer sowieso ein Todesurteil. Das habe ich ja schon seinerzeit bei Chmerm gesehen. Jeder und jede dürfte sich darüber klar sein. Die Drohung dieser Verstümmelung ist also nicht weniger schlimm als die Drohung, sofort zu töten, wenn nicht geschieht, was ich sage.
Niemand bewegt sich drüben.
"Ochaum! Die Schwerter raus! Alle! Zähl von zehn an rückwärts!" Und zur Brücke des Saurierfängers: "Cherkrochj! Hol deine Leute zurück! Oder du wirst nicht erfahren, was auf Casabones geschehen ist!"
Sie stecken auf der Brücke die Köpfe zusammen. Dann ertönt ein kurzer Befehl. Einzeln kommen die Enterinnen wieder zurück.
"Ochaum! Ständige Wache am Übergang! Niemand betritt das Schiff ohne meine Erlaubnis!"
So, das wäre geschafft. Mein Adrenalinspiegel sinkt wieder. Cherkrochj weiß nun, daß sie nicht beliebig mit uns umspringen kann. Hoffe ich. Allerdings, auch da mache ich mir keine Illusionen: Wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt, dann sind wir der Besatzung des Saurierfängers hoffnungslos unterlegen. Es ist für Cherkrochj im Moment nur die Überraschung, daß ein von Männern bemanntes Schiff sich überhaupt so entschieden zur Wehr setzt. Ich nehme Irene wieder in den Arm.
Trotz der gerade überstandenen Krisensituation bleibe ich unruhig. Gewissermaßen habe ich Flagge gezeigt, und mit genau den von mit vorgeschlagenen Maßnahmen könnten wir nun irgendwann konfrontiert werden.
"Cherkrochj wartet!" sagt die Frau, die mich schon vorher angesprochen hat. Sie zieht ihr Schwert. Offenbar hat sie eine höhere Stellung an Bord.
Ich sehe erst das Schwert und dann sie an. "Wer bist du?"
"Chromargue." Sie müßte in den Dreißigern sein, und sie macht einen sehr ergeizigen Eindruck. Hager und giftig.
"Benenne deinen Nachfolger oder steck das Schwert weg!"
"Nicht, Herwig!" flüstert Irene mir auf deutsch zu. Es ist das erste, was sie sagt. "Die ist unangenehm!"
"Ich auch!" Ich sehe Chromargue in die Augen: "Das Schwert weg!"
Fast dreißig Sekunden lang sehen wir uns in die Augen, dann tut sie es endlich.
"Cherkrochj möchte ..."
"Ja doch! Gleich!" Und zu Irene, wieder in deutsch: "Wir haben sicher viel zu erzählen. Würdest du zu dem Gespräch mit Cherkrochj hinzugezogen werden können?"
"Höchstens als Dolmetscher. Aber dein Xonchen ist perfekt!" sagt sie.
"Deins auch!" Und zu Chromargue in Xonchen: "Gehen wir!"
"Nach dir!" sagt sie, "Dort, auf die Brücke!"
"Dort, auf die Brücke!" wiederhole ich zustimmend, "aber nach dir!"
Wieder Sekunden des Abwägens. Ich bemerke, daß drüben, auf meinem Schiff, sich zwei Männer beiderseits der aufgelegten Planke aufgestellt haben. Wie Zielscheiben stehen sie da. Auch die anderen achten nicht besonders auf eine Deckung, obwohl ihnen die Anspannung im Gesicht zu lesen ist. Mit einer Breitseite von Pfeilschüssen könnte die Besatzung des Saurierfängers meine Leute jederzeit in einer einzigen Sekunde ohne eigenes Risiko erledigen. Ich muß ihnen noch einiges über Infanteriekampf beibringen, denke ich mir. Später. Aber Cherkrochj wird längst wissen, daß wir kein ernstzunehmender Gegner sind.
"Nach dir!" sage ich. Endlich bewegt sich Chromargue. Ich bin sicher, daß die Konfrontation nur aufgeschoben wurde.
Als ich an der Planke vorbeitrete, rufe ich noch in Richtung meines Schiffes:
"Ochaum! Wer nicht in 25 Sekunden eine anständige Deckung gesucht hat, macht das Schiff von unten sauber! Mit den Fingernägeln!"
Auf meinem Schiff ist sofort Bewegung. Mein Selbstbewußtsein hat es zwar nicht nötig, daß andere springen, wenn ich etwas sage, aber im Moment ist es besser, wenn meine Mannschaft einen disziplinierten und kampfbereiten Eindruck macht, und wenn halbwegs glaubwürdig ist, daß sie auf ein Wort von mir zuschlagen können.
Außerdem hat mich etwas anderes innerlich aufgerichtet: Die paar Worte, die ich mit Irene in Deutsch gewechselt habe. Seit sieben Wochen rede und denke ich ja nur noch in Xonchen. Dieses Deutsch ist wie ein Zeichen, daß meine eigene Welt als wirklich ausweist. Ich habe mir meine Vergangenheit nicht eingebildet! Wir sind nicht aus dieser Welt. Und wir werden zurückkommen. Das verspreche ich.
71.6 Bericht an Cherkrochj
Ein paar Sekunden später, in denen ich nicht allzuviele Einzelheiten auf dem Saurierfänger aufnehmen konnte, stehe ich auf der geräumigeren Brücke des Saurierfängers. Außer Cherkrochj kenne ich nur noch Chibargch. Die dritte auf der Brücke habe ich noch nie gesehen, genausowenig wie Chromargue, die vor mir die Brücke betreten hat.
"Wir haben dich früher zurückerwartet. Wo sind die anderen?" fragt Cherkrochj kühl. Ihre Hand ruht auf ihrem Schwertknauf. Das muß aber nichts zu sagen haben, weil das einfach ein Platz ist, wo man die Hand eben läßt, wenn man nicht weiß, wo man sie sonst lassen soll. In unserer Welt würde man die Hände in die Hosentaschen stecken.
"Sie sind tot. Alle."
"Tot?"
Ich gebe einen kurzen Bericht, der nicht unterbrochen wird. Wie ich, Charmion, Chrwerjat, Chechmirch und Chmerm losgezogen sind, die Schwierigkeiten beim Aufstieg, Chrwerjat's Absturz, Chechmirch's Kampf mit dem Rhchochchider und ihr Absturz, die Sache mit Chmerm, wie ihr die Hand von Charmion abgeschlagen wurde und wie sie dann wahrscheinlich Selbstmord gemacht hat, der Aufstieg im Inneren von Casabones, die brennende Wendeltreppe und damit das Abgeschnittenwerden von jedem möglichen Rückweg. Dann das Ankommen beim Oberfort und die Entdeckung, daß dort gerade eine erfolgreiche Gefangenenrevolte stattgefunden hatte. Unsere Festnahme.
"Und ihr konntet euch nicht wehren?" unterbricht Cherkrochj mich jetzt doch.
"Zwei gegen zweitausend? Wie denn?"
Ich fahre fort. Wie die Idee, Casabones zu Luft zu verlassen, geboren wurde. Die Experimente mit den Gleitschirmen. Die Auseinandersetzungen mit den Rebellen. Das Verstecken von Charmion, das Niederbrennen des Oberforts, Charmion's Entdeckung und ihre Hinrichtung.
"Und du hast nichts dagegen getan?"
"Sie hätten mich sofort auch ans Kreuz geschlagen, wenn ich es nur versucht hätte!"
"Aber du wußtest doch, daß sie dich wegen dieser Gleitschirme unbedingt brauchten!"
"Ich schon. Aber sie nicht. Es gab lange Skepsis, ob wir es überhaupt schaffen würden. Die Skeptiker hätten die Oberhand bekommen können."
"Mmh. - Weiter."
Ich erzähle von den ersten erfolgreichen Flugversuchen, der immer besser werdenden Produktion von Gleitschirmen, vom Übungsbetrieb. Dann der durch Osont vorgezogene Absprung. Der 'Luftangriff' auf das Unterfort, der Sieg.
"Ist jemand mit dem Leben davongekommen?"
"Von der Unterfort-Besatzung?"
"Ja."
"Nicht eine einzige."
"Und was hast du ..."
"Nichts. Ich habe nichts zu sagen gehabt. Nachdem ich die Sache mit den Gleitschirmen in die Wege geleitet hatte, war ich überflüssig und wurde praktisch nur noch geduldet, so wie jeder andere auch."
"Aber du hast 2000 Gefangene befreit!"
"Ein Zehntel davon. Ob die anderen es schaffen, weiß ich nicht. Ich sagte schon, die Rohstoffe für den Gleitschirmbau auf Casabones wurden knapp."
"Weiter."
Ich erzähle von der Beladung der Schiffe und von der Abfahrt der kleinen Flotte. Von den vier Schiffen, die unterwegs verloren gingen, von der Havarie und davon, wie ich mich mit einem Schiff abgesetzt habe, als ich den Mast dieses Saurierfängers gesehen habe und die anderen drei Schiffe so mit sich selbst beschäftigt waren.
"Die könnten doch inzwischen damit fertig sein, das eine Schiff wieder flott zu machen?"
"Ich denke schon. Es schien aber schwierig. Vielleicht haben wir eine Stunde Vorsprung, vielleicht auch vier."
"Und dieser Osont hat da immer noch das Kommando?"
"Ja."
"Das heißt also, sie könnten jede Sekunde auftauchen."
"Ich habe mich schon gewundert," werfe ich ein, "daß die ganze Zeit niemand hier im Krähennest war!"
"Jetzt ist jemand oben."
"Gut. Dann wird es uns nicht entgehen, wenn die Schiffe in der Nähe auftauchen sollten."
"Dann wird es MIR nicht entgehen!" stellt Cherkrochj richtig.
71.7 Anmache
Weil ich mit meinem Bericht fertig bin, werden Chromargue und Chibargch mit einigen Befehlen weggeschickt. Im wesentlichen handelt es sich darum, Wachen zu verstärken und die Besatzung des Saurierfängers kampfbereit zu machen. Cherkrochj scheint sich nicht viel Sorge um die Ankunft von drei weiteren Schiffen zu machen. Offenbar meint sie, damit leicht fertigwerden zu können, oder sie glaubt, daß die drei Schiffe sich uns gar nicht nähern werden.
Sie sieht mich von oben bis unten an. Ihr Blick bleibt auf meinem Lederrock hängen:
"Hast du mit Charmion oft gefickt?"
"Was?"
"Ob du mit Charmion oft gefickt hast?"
"Ja. Es hat sich so ergeben!" Was soll diese Fragerei?
"War sie zufrieden?"
"Ich habe keine Klagen gehört. Ist das jetzt wichtig?"
Cherkrochj tritt nahe an mich heran.
"Ich möchte jetzt von dir gefickt werden. Auf der Stelle."
"Aber wir können doch nicht ..." Ich denke an Irene, die uns beobachten könnte: "Hier? Jetzt gleich?"
"Ja."
"Aber, da ... wenn jemand kommt ..."
"Na und?"
Mit ein paar Handgriffen hat Cherkrochj sich von ihrer Kleidung befreit. Mit ein paar weiteren Handgriffen mich. Dabei findet sie die Garotte, die ich noch immer unter dem Lederstreifenrock trage, aber das kommentiert sie nicht.
"Von Kommandant zu Kommandant. Es ist doch so! Stell dich nicht so an!"
Mir fällt die widerliche Hinrichtungsszene ein, die Cherkrochj und Charmion uns ganz am Anfang einmal vorgeführt haben. Damals habe ich begriffen, daß Cherkrochj keinen Widerspruch duldet und daß sie in Männern sowieso nur Gegenstände des täglichen Bedarfs sieht. Ob sämtliche Männer, die sich damals auf dem Schiff aufhielten, kulinarisch verbraucht worden sind und deshalb für diese Dienste nicht mehr zur Verfügung stehen? Vielleicht wurde damals mit baldigem Nachschub gerechnet, und da wir ja keinen Nachschub von Casabones geholt haben, gibt es vielleicht an diesen Gegenständen des täglichen Gebrauchs nun einen gewissen Mangel. Oh, wie soll das noch weitergehen?
Cherkrochj hällt das schlaffe Beweisstück meiner erschreckten Männlichkeit in der Hand:
"Ist der kaputt?"
"Nein. Ich kann nur nicht!"
"Warum nicht?"
In diesem Moment betritt Chromargue wieder die Brücke. Sie dürfte etwa zehn Jahre jünger als Cherkrochj sein, aber nicht wesentlich reizvoller. Trotz langer sexueller Karenz hat die Anwesenheit dieser beiden Frauen keinerlei aufrichtende Wirkung auf mich.
"Sieh mal das hier!" sagt Cherkrochj zu Chromargue, "Hast du so etwas schon mal gesehen?"
"Ist der kaputt?" fragt Chromargue mit genau demselben Tonfall, in dem Cherkrochj noch vor Sekunden dieselbe Frage gestellt hat, nur vielleicht noch eine Spur desinteressierter. Sie hat wichtigere Neuigkeiten: "Es sind Masten in Sicht. Es müssen drei Schiffe sein."
"Wann sind sie hier?"
Chromargue deutet eine halbe Stunde an. "Eher mehr." sagt sie.
"Gut. Dann machen wir erst einmal hier weiter. Hilf mir."
Die folgende Szene ist widerlich. Sie drücken mich mit vereinten Kräften auf den Boden - das ist nicht schwer, sie sind durchtrainierter als meine eigenen Leute auf meinem Schiff drüben - und dann versuchen sie, bei mir mit allen Mitteln die notwendigen anatomischen Veränderungen zu erzeugen. Das mißlingt in spektakulärer Weise. Wer weiß, was sie noch alles anstellen würden, wenn sich da nicht Osont's Schiffe angekündigt hätten. Schließlich, nach wenigen, für alle Beteiligten mühsamen und unerfreulichen Minuten, gibt Cherkrochj auf:
"Wie machen später weiter. Geh weg."
Beide lassen naßgeschwitzt von mir, und ich kann mich unter ihren kritischen Blicken wieder anziehen. Vielleicht war es Cherkrochj's Absicht, dem Kommandanten des anderen Schiffes zu zeigen, wie die sozialen Hierarchien hier an Bord und überhaupt verteilt sind. Das wenigstens ist ihr gelungen. So ähnlich, denke ich, muß sich eine gebrauchte Kloschüssel vorkommen.
Wenigstens ging es mir nicht ans Leben oder an die Gesundheit. Als ich den Niedergang auf das Deck hinuntergehe, hat nur mein Selbstbewußtsein einen schweren Schlag erlitten - Über den fischartigen Geschmack in meinem Mund werde ich wohl hinwegkommen - alles irgendwelche Eiweißkomplexe, sage ich mir, nichts Giftiges. Wenn ich mich recht erinnere - Charmion hat sich am Anfang von mir ja auch die reine körperliche Befriedigung mit Gewalt geholt, aber es war doch anders. Besonders das, was nachher daraus wurde.
Mein Adrenalinspiegel flaut wieder ab. Der Wunsch, auf der Stelle Vergeltung zu üben, verblaßt wieder, nicht nur, weil dazu jetzt keine Möglichkeit besteht. Es sind eben die hiesigen Gepflogenheiten - das war, sage ich mir immer wieder, eine Art Zwangshändeschütteln. Nur etwas intensiver. Ich muß mich bemühen, das abstrakt zu sehen.
Vielleicht sollte ich es Cherkrochj bei Gelegenheit auch heimzahlen - aber die Rache an Osont ist natürlich wichtiger. Und richtiger.
71.8 Irene's Eifersucht
Irene wartet auf dem Vorderdeck auf mich. Ob sie was gemerkt hat? Wir setzen uns auf den Reelingsbalken. Stapel von Saurierfleisch verdecken die Sicht auf die Brücke.
"Die haben versucht, mich zu ..."
"Ich weiß," sagt sie, "ich weiß. Das tun sie ja dauernd. Jedenfalls, als noch Männer an Bord waren. Jetzt haben sie ja alle aufgegessen. - Ich hätte mich gewundert, wenn sie es nicht getan hätten."
Ich spucke über die Bordwand ins Wasser. Was Ochaum von dem Vorgang wohl gesehen hat, drüben aus dem Ruderhaus?
"Die anderen Schiffe kommen. Oder auch nicht. Vielleicht traut Osont sich nicht in unsere Nähe."
"Wer? Was? Wer ist Osont?" fragt Irene. So, wie ich vorhin Cherkrochj Bericht erstattet habe, so bringe ich jetzt Irene auf den neuesten Stand. Das Erzählen bringt mich auch wieder auf andere Gedanken, läßt mich diese unschöne Angelegenheit eben vergessen. Allerdings arbeitet es in meinem Unterbewußtsein weiter: Wie kann ich es vermeiden, daß sich das wiederholt? Ich denke, daß man eventuell mit der Krankheit von Obanque und Ozedan etwas anfangen könnte. Mögliche Ansteckung. Aber bis ich den Begriff einer Infektionskrankheit genügend weit verbreitet habe, vergeht zuviel Zeit. Und was kann ich noch tun?
Ich hatte ja mal die Vermutung, daß unsere Hygienegewohnheiten und das daraus resultierende Fehlen starker Körpergerüche uns vor sexueller Belästigung schützen. Das mag so sein, aber wo bei den Granitbeißerinnen ein hinreichender Triebstau ist, da wird wohl sogar Sauberkeit bei einem Sexualpartner in Kauf genommen.
Natürlich habe ich die Hoffnung, daß die Anwesenheit so vieler Männer auf meinem Schiff die groben Annäherungsversuche wenigstens von meiner Person etwas ablenken könnten. Solange es dabei bliebe, hätte ich ja nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Aber das hieße, daß die Männer in die Besatzung dieses Schiffes integriert würden, als unterste Schicht natürlich, und daß sie dann nicht nur sexuell, sondern langfristig auch kulinarisch mißbraucht werden würden. Das kann ich auch nicht zulassen. Aber habe ich eine Wahl? Muß ich am Ende kollaborieren? Zulassen, daß, wieder einmal, der kleine Mann politische Fehler ausbaden muß? - Mir fällt einfach kein Patentrezept ein.
Ich konzentriere mich darauf, Irene alles über meine bisherigen Erlebnisse zu erzählen. Allerdings lege ich meine Schwerpunkte etwas anders als ich es bei Cherkrochj getan habe.
Dabei bin ich leichtfertig, weil Irene eben nahezu fast gleichgültig den Vergewaltigungsversuch an meiner Person durch Cherkrochj und Chromargue kommentiert hat. Das verleitet mich dazu, anzunehmen, daß sie auch mein Verhältnis zu Charmion gelassener sieht. Dem ist nicht so:
"Ihr habt es also schon auf dem Schiff getrieben, bevor ihr nach Casabones aufgebrochen seid?" fragt sie.
"Sie hat mich vergewaltigt! Genau wie eben!"
"Aber du hast mir davon nichts erzählt!"
"Charmion hat damit gedroht, es dir zu erzählen, wenn ich mich nicht füge. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich ihr dieses Druckmittel genommen hätte, indem ich es dir selber erzählt hätte!"
"So." Irene sieht mich zweifelnd an, sagt aber nichts mehr. Ob sie weiß, daß ich eben gelogen habe?
"Außerdem - was regst du dich über Charmion auf? Sie ist tot!"
Eine Weile sagen wir nichts. Dann versuche ich, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen:
"Kann ich jetzt weiter erzählen?"
Ich kann. Aber nicht lange. Sowenig sie sich für die technischen Einzelheiten der Gleitschirmherstellung interessiert, sosehr wird sie aufmerksam, als ich von Charmion's Versteck im Turm des Oberforts erzähle. Es nützt mir wenig, daß ich gewisse Szenen von unserem Aufstieg auf Casabones - der Kürze wegen, natürlich - in meiner Erzählung übergangen habe.
"Dann hast du sie doch in voller Absicht in deiner Nähe versteckt?"
"Es ging nicht anders. Ich mußte sie ja auch ernähren und häufig technischen Rat einholen!"
"Und Trost, und Streicheleinheiten?"
"Nein." Genauso war es, aber wenn mir Irene in diesem Tonfall kommt, warum sollte ich dann noch etwas zugeben?
"Du willst mir doch nicht erzählen, daß sie drauf verzichtet hat?"
"Die Machtverhältnisse waren jetzt umgekehrt! Sie konnte mich nicht mehr zwingen! Sie war allein, gegen 2000 männliche Gefangene, die besser nichts von ihrer Existenz wissen sollten!"
"Ja," analysiert Irene mit ungewohnter Schärfe, "aber du mußtest ab und zu zu ihr rauf! Und wenn du es nicht freiwillig gemacht hast und sie dich gezwungen hat, bei wem hättest du dich dann beschwert? Du hast doch gesagt, daß sie während eures ganzen Aufstieges keine Gelegenheit ausgelassen hat, dir klarzumachen, wer der Boß ist? Und sie war stärker als du! - Ich wette, ihr habt es sogar während des Aufstiegs miteinander getrieben!"
Gute Analyse. Sie hat recht. Woher nehmen die Frauen bei diesem Thema bloß den Scharfsinn?
"Aber sie hat mich nicht gezwungen!" versuche ich, aber die Formulierung ist denkbar ungeschickt:
"Also hast du es freiwillig mit ihr gemacht!" stellt Irene fest. Peng. Es gibt nichts mehr, was ihr nun diese Überzeugung nehmen könnte. An solchen Aussagen pflegt sie sich festzubeißen. Das kenne ich schon. Ich muß passen:
"Ja. Habe ich. Ich mußte sie doch bei Laune halten, sonst hätte ich das Abenteuer doch nicht überlebt! Und ich muß es überleben, um auch der Irene hier wieder raushelfen zu können!"
Irene schweigt. Ob ich noch dazu komme, den Rest der Geschichte zu erzählen, Charmion's Kreuzigung und den erfolgreichen Gleitschirmabsprung von Casabones? Zu den vielen Gelegenheiten, wo ich selbst ums Leben hätte kommen können?
Es ist etwas unruhig auf dem Deck. Man bereitet sich weiter für das mögliche Auftauchen der drei Schiffe von Osont vor. Die lassen sich aber nicht blicken. Vielleicht hat Osont halten lassen - er müßte jetzt ja Beobachter in den Krähennestern haben, und sowohl Cherkrochj als auch Osont wissen, wo sich die jeweils anderen Schiffe aufhalten. Welche Rolle wird jetzt die Besatzung meines Schiffes dabei spielen?
Irene sieht nicht so aus, als ob sie mir weiter zuhören will. Ich versuche, einen anderen, versöhnlicheren Gesprächsfaden zu finden:
"Was hast du denn erlebt, nachdem wir getrennt wurden?"
"Du hast mit ihr geschlafen, die ganze Zeit, allein in diesem Turm!" Sie nickt, wie sie es immer tut, wenn sie einen Vorwurf gegen mich durch Wiederholung bekräftigen will. "Freiwillig!"
"Es war notwendig!"
"Geiler Bock!"
"Das ist nicht sehr schön, was du sagst! - Ich wollte dich nicht betrügen, wirklich nicht! Es wäre aber nicht anders gegangen! Und Charmion hat nachher bitter dafür bezahlen müssen!"
"Wie flüssig du ihren Namen aussprichst! Wie vertraut!"
"Wie soll ich ihn den sonst aussprechen?"
"Und ich habe hier die ganze Zeit auf dich gewartet!"
"Ja - hätte man dich denn woanders warten lassen, wenn du gewollt hättest?"
Als geplagter Ehemann sollte man wissen, wann man seiner Ehefrau nicht mit Logik kommen darf. Irene steht auf.
"Wie gut, daß dieses Flittchen wenigstens draufgegangen ist."
"CHARMION IST KEIN FLITTCHEN!"
"Schrei mich nicht an!"
"Wie kommst du dazu, über Leute ein Urteil zu ..."
"Schrei mich nicht an!"
Sie läßt mich einfach stehen und zieht sich ins vordere Masthaus zurück.
So habe ich meine Frau noch nie kennengelernt. Gewiß, es war der erste Seitensprung, den ich in unserer Ehe getan habe - aber unter diesen Bedingungen? Es gab doch wirklich keine andere Möglichkeit, oder? Und Charmion ein Flittchen? Was für eine Beurteilung. Das hat keine Frau, der am Kreuze die Glieder zum Verfaulen abgedreht wurden, verdient.
Gewiß, ich bin mit meinem Erzählen noch gar nicht soweit gekommen, daß ich Charmion's Ende beschrieben habe. Aber daß sie tot ist, das weiß Irene schon. Und trotzdem. Daß die mir angetraute Frau so auf Charmion und ihrem Andenken rumtrampelt, das haben weder Charmion noch ich verdient.
Und überhaupt - die für mich doch viel unangenehmere und gefährlichere Situation des drohenden sexuellen Mißbrauches meiner Person durch Cherkrochj und Chromargue vorhin auf der Brücke hat sie mit einem Achselzucken übergangen. Wieso ist sie da nicht so auf der Palme? Habe ich keinen Anspruch auf Schutz vor solchen Dingen? Ich meine, wenn in dieser Welt die Frauen schon die herrschende soziale Klasse sind, dann wäre es die Aufgabe der Irene gewesen, mich davor zu bewahren oder angemessen Vergeltung zu üben. Hat sie aber nicht. Cherkrochj darf tun, was Charmion nicht tun darf, und ich bin an allem schuld. Was für eine Logik!
Vielleicht kommt als nächstes der Vorwurf, daß ich uns seinerzeit absichtlich in die Welt der Granitbeißer geführt habe, um hier sexuelle Abenteuer zu suchen! Daß das schon meine Absicht war, als wir am 19. August früh am Morgen unsere Wohnung zu dieser Zugspitzbesteigung verließen!
Ich stehe auf und sehe mich etwas auf dem Schiff um. Eigentlich würde ich ganz gerne einmal ein Blick auf meinen Kompaß werfen, um zu sehen, ob und wie stark mein Orientierungssinn richtungsmäßig außer Tritt geraten ist. Aber ich müßte Irene fragen, wo sie ihn aufbewahrt. Das geht wohl im Moment nicht. Ein andermal.
Dann wüßte ich ganz gerne, ob Chechmon noch da ist, weil ich sie noch nicht gesehen habe, seit wir hier angekommen sind. Müßte ich den ganzen Saurierfänger durchsuchen, oder auch Irene fragen. Geht also auch nicht. Nichts geht, wozu Irene's Kooperation notwendig ist.
Aber es gibt auch noch anderes: Es interessiert mich, ob sich Osont's Schiffe nun blicken lassen oder nicht. Und was aus meinem Schiff wird.
71.9 Ochaum's Enttäuschung
Ungehindert kann ich dasselbe über die Planke betreten. Seltsam - solange beide Schiffe so aneinander längsseits liegen, kann weder der Saurierfänger noch mein Schiff manövrieren. Offenbar nimmt Cherkrochj das in Kauf, trotz der möglichen Bedrohung durch drei weitere Schiffe, deren Kampfstärke sie ja nicht kennen kann. Oder sie denkt, daß es sich in den letzten drei Stunden vor Beginn der Schlafperiode nicht mehr lohnt, weiterzufahren.
Ochaum ist im Ruderhaus, alle anderen haben halbwegs brauchbare Deckungen aufgesucht, so, wie ich es befohlen habe. Wer nichts zu tun hat, hält sich auf der dem Saurierfänger abgewandten Seite der MARY CELESTE auf. Allerdings macht mir ein Blick nach oben klar, daß Cherkrochj mein Schiff sogar von Mastwerk zu Mastwerk betreten könnte, wenn sie es nur wollte. Bogenschützen könnten jedenfalls von der Höhe der Masten des Saurierfängers mein ganzes Schiff bestreichen.
"Wer ist denn oben, im Krähennest?" frage ich Ochaum.
"Ohmenjenana."
"Und? Was ist mit Osont?"
"Kommt nicht näher. Die Schiffe sind etwas mehr als vier Kilometer entfernt und liegen offenbar vor Anker."
"Soviel? Dann hat sich Chromargue aber grob verschätzt."
"Wer?"
"Eine von den untergeordneten Hexen, die da drüben etwas zu sagen haben. Sie hat gemeint, daß die fremden Schiffe in einer halben Stunde hier sind. Die halbe Stunde ist längst vorbei."
"Aha."
"Ochaum, wenn Cherkrochj merkt, daß die anderen Schiffe sich nicht nähern, dann wird sie weiter wollen. Ich weiß nicht, was sie dann mit uns vorhat."
"Würden wir nicht alleine weiterfahren können?"
"Können schon. Aber ob sie euch läßt ..."
"'Euch'?"
"Ja. Ich bleibe auf dem Saurierfänger. Da ist meine Frau - wir wollen doch wieder in unsere eigene Welt zurück."
"Ach so ..."
Plötzlich macht Ochaum ein Gesicht wie ein kleiner Junge, dem man die Butter vom Brot gestohlen hat. Und ich merke, daß er Hoffnungen in mich gesetzt hat, so, wie viele vorher in Osont.
"Ich kann hier nicht bleiben!" sage ich.
"Und deshalb der Angriff? Du hattest von Anfang an die Absicht ..."
"Ja. Ich glaube, ja. Es tut mir leid."
Lange Pause. Dann fragt er:
"Und was wird dann aus uns?"
"Das, was ihr vorher vorhattet. Wenn ihr euch von dem Saurierfänger trennt - das wird wahrscheinlich nach der nächsten Schlafperiode der Fall sein - dann könntet ihr euch Osont wieder anschließen. Du sagst, ich hätte euch zur Kontaktaufnahme mit dem Saurierfänger gezwungen. Stimmt ja auch. - Schieb einfach alle Schuld auf mich. Das ist für ihn glaubwürdig."
Und als Ochaum mich sprachlos ansieht, sage ich: "Ihr kommt ohne mich genauso gut zurecht. Du kannst es. Du bist der neue Kapitän dieses Schiffes! Ihr fahrt weiter, bis ihr findet, was ihr sucht."
"Und du willst auf dieses Weiberschiff!"
"Um in meine eigene Welt zurückzukommen. Das könnte ich nicht, wenn ich bei Osont's Leuten bliebe."
"Ja, glaubst du, daß diese Leute dort euch dabei helfen werden?"
"Vielleicht nicht mehr als ihr. Aber ich bin mit meiner Frau zusammen. Und wenn sich eine Gelegenheit findet, dann können wir diese sofort und unverzüglich wahrnehmen. - Angenommen, ich hätte in der letzten Zeit eine Möglichkeit gefunden, wieder in meine Welt zurückzukehren. Ich hätte diese Möglichkeit gar nicht wahrnehmen können, weil meine Frau die ganze Zeit nicht bei mir war."
"Soviel Rücksicht nimmst du auf eine Frau?" Ochaum ist genauso verwundert wie seinerzeit Ondar, dem ich auch etwas über das Verhältnis der Geschlechter in unserer Welt erzählt habe. Es ist mir damals, auf dem umgestürzten Baum in den Ufersümpfen, die Ondar nicht lebend verlassen sollte, kaum gelungen, und jetzt habe ich noch weniger Zeit, langatmige Erklärungen und Beschreibungen unserer Welt zu liefern.
"Sie ist ein Mensch wie ich, und ich bin ein Mensch wie sie. So ist das bei uns. In eurer Welt müßt ihr bis dahin noch einen langen Weg gehen. Du wirst es nicht mehr erleben, Ochaum: Daß alle Menschen gleiche Rechte haben, daß die Freiheit jedes einzelnen dort aufhört, wo die Freiheit eines anderen anfängt. Unabhängig von Alter, Aussehen, Stärke oder Geschlechtszugehörigkeit."
"Klingt gut." sagt Ochaum nach einer Weile, "Aber, ob das funktioniert?"
"Das tut es. In unserer Welt gab es viele Gebiete und Nationen, die bestimmte Gruppen der Bevölkerung ..."
"Was ist 'Nationen'?"
Jetzt ist es an mir, zu seufzen. Ich hatte es doch schon einmal erklärt, aber natürlich jemandem anderes. War es Charmion? Bei so vielen Aussagen über meine Welt müßte ich geschichtliche, geographische und technische Hintergrundinformationen liefern.
"Ich kann es dir nicht mehr erklären, Ochaum. Soviel Zeit ist nicht mehr. Es tut mir leid. Siehst du das Ding an meinem Handgelenk?"
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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