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******** 070. Tag: Freitag 95-10-27 ********
70.1 Freie Fahrt
Ich werde früher als 5 Uhr geweckt, und ich merke sofort, warum: der Wind hat aufgefrischt, und er weht tatsächlich immer noch in die richtige Richtung. Das muß natürlich ausgenutzt werden! Und so sind wir in Rekordzeit wieder unterwegs.
Auf längeren, in günstiger Richtung verlaufenden Abschnitten der Wasserstraße setzen wir alle Segel, die wir natürlich immer sofort bergen müssen, wenn die Richtung sich wieder zu stark ändert. Jedenfalls sind wir heute so schnell, daß ein Fußgänger auf einem befestigten Weg am Ufer in den Laufschritt verfallen müßte, um uns zu folgen.
Um 10 Uhr passieren wir einen Saurierkadaver, der im Uferschlamm liegt. Ein bißchen weiter draußen, und er wäre ein Schiffahrtshindernis. Wir halten nicht an, um ihn zu untersuchen, weil wir gerade so gut vorankommen, aber wir sehen ihn uns trotzdem so genau wie möglich an, um herauszufinden, ob dort Fleisch von menschlicher Hand abgetragen wurde oder ob dieses Tier Opfer eines anderen gewesen ist. Tatsächlich sieht es so aus, als ob der Kadaver nur teilweise ausgebeutet wurde: Da sind Rippen zu erkennen und daneben ist die Körperoberfläche noch unbeschädigt. Als ob die Fleischgewinnung unterbrochen worden wäre. Warum das so sein mag, kann ich mir schon vorstellen: Allmählich muß der Saurierfänger ja unter der Fleischlast fast untergehen - sie können eigentlich nicht viel mehr Ladung an Bord nehmen. Oder haben sie irgendwo größere Mengen des Fleisches gelöscht?
Oder: Sie wollten auch den guten Wind ausnutzen und haben deshalb einen guten Fang aufgegeben. Das hieße aber, daß der Saurierfänger nicht mehr weit vor uns sein kann!
Ich beginne zu hoffen, suche noch im Vorbeifahren nach irgendwelchen weiteren Anzeichen dafür, daß dieses Tier mit Cherkrochj's Schiff aneinandergeraten ist. Eine Harpunenspitze, zum Beispiel, wäre mir jetzt recht. Aber ich sehe nichts dergleichen. Dafür verfolgt uns im Weiterfahren noch eine ganze Weile eine ordentliche Gestanksfahne.
Vielleicht, weil ich das Ufer nun genauer beobachte, fallen mir einige weitere Tiere auf, die ich bis jetzt noch nie gesehen habe: Mitten im Ufersumpf sind zum Beispiel gelegentlich etwa eineinhalb Meter lange Echsen zu sehen, die einen beeindruckenden Rückenkamm haben, die sie wesentlich höher erscheinen lassen als sie wirklich sind. Ich erinnere mich, über diese Rückenkämme, die es über lange Zeit bei vielen Saurierarten gegeben hat, etwas gelesen zu haben: Man ist sich bis heute nicht darüber klar, wozu die gut sein sollten.
Die Ideen reichten von einer Funktion als Segel, um Gewässer ohne größeren Aufwand überschwimmen zu können - erscheint mir unplausibel, denn die Tiere, die ich hier sehe, liegen meistens ruhig und reglos, als ob sie auf Beute warteten - bis zu einer Abschreckungsfunktion durch vorgetäuschte größere Körpergröße - was mir genauso unplausibel erscheint, denn irgendwelche anderen Raubtiere werden schon dahinterkommen, daß dieses Rückensegel nur eine Kulisse ist.
Das plausibelste, was ich gehört habe, war die Funktion dieser Rückensegel als Regulativ der Körpertemperatur. Je nach Ausrichtung zur Sonne kann damit ein wechselwarmes Tier Wärme entweder bevorzugt aufnehmen oder abstrahlen.
Jedenfalls auf der Erdoberfläche. Hier, in der Welthöhle, funktioniert das nicht, da der gleichmäßig graue Himmel Strahlungswärme in alle Richtungen gleich gut verteilt, und weil die Lichtstärke, ob nun im Sichtbaren oder im Infraroten, sowieso nur gering ist.
Also bleibt diesem Rückensegel nur die Funktion, die metabolische Exzesswärme des Körpers abzugeben - wenn das Tier davon genug erzeugt - oder es hat überhaupt keine Funktion mehr, und die Evolution hat noch nicht die Zeit gefunden, dieses Rückensegel wieder verschwinden zu lassen. Wer weiß, vielleicht ist es sogar irgendwie noch nützlich, aber nur so, daß es mir nicht ins Auge springt. Wahrscheinlich wissen diese Tiere das nicht einmal selber.
Ob wohl irgendwann einmal jemand das herausfinden wird?
14 Uhr. Die Wasserstraße teilt sich. Ausnahmsweise sagen die Karten etwas darüber: Die Wasserstraße zerteilt sich in viele parallel mäandrierende Wege, die wieder zusammenführen. Einige, nicht alle: Es gibt auch Wasserwege, die blind enden, und solche, die zunehmend flach und unschiffbar werden. Sagt die Karte. Sie sagt aber nicht, welche das sind. Wir müssen langsamer fahren, und wir müssen damit rechnen, daß wir umkehren müssen. Bei diesem günstigen Wind. Scheiße.
Jedenfalls brauchen wir soviele Leute zum Loten, daß nicht mehr alle Krähennester besetzt gehalten werden können, und ein Teil der Segel muß auch geborgen werden. So fahren wir in diejenige Wasserstraße ein, die am erfolgversprechensten erscheint.
Aber auch diese wird im Verlaufe der nächsten Stunden sehr flach. Es geht mit unserem Tiefgang so immer gerade eben. Aber mit jeder weiteren Abzweigung steigt unsere Furcht, wir könnten uns in eine Sackgasse verrennen und müßten dann tagelang gegen den Wind zurückstaken.
Bis zum Abend geschieht uns das zwar nicht, aber trotzdem ist die Nervenanspannung nicht spurlos an uns vorübergegangen. Ich bin sehr müde, und Ochaum sieht man es auch an. Sogar Osont wirkt erschöpft, als wir die Schiffe um 23 Uhr zusammenlegen, obwohl er ja in der blendenden Position ist, Navigationsfehler auf den Kapitän des ersten Schiffes schieben zu können, also auf mich.
Ozedan geht es besser. Aber vier andere Männer klagen über Bauchschmerzen, allerdings in geringem Maße. Spricht das für eine Infektion, die bei den meisten mit längerer Inkubationszeit symptomatisch wird, weil sie vielleicht größere Widerstandsfähigkeit haben? Ich weiß es nicht, aber das ist erst einmal die Version, die ich Ochaum und Osont als plausible Vermutung verkaufe.
Die Wachen werden eingeteilt, und damit geht der zweite Tag ohne weitere besondere Vorkommnisse zu Ende.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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