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******** 069. Tag: Donnerstag 95-10-26 ********
69.1 Autopsie
Diese verkürzte Nacht ist um 2 Uhr ohne besondere Vorkommnisse zu Ende. Die Schiffe werden aber noch nicht auseinandergenommen, weil Osont dieselbe Idee hatte wie ich: Obduktion von Obanque. Das ist gut: da muß ich es nicht selbst machen. Aber zusehen muß ich schon.
Es ist so, wie ich es befürchtet habe: Obanque's Blinddarm ist mit dem Coecum kompliziert verwachsen, aber nicht entzündet, obwohl er in naher Vergangenheit eine entzündliche Phase gehabt haben könnte. Die Gefahr einer Perforation hat jedoch nicht bestanden.
Auch ob der restliche Darm kürzlich entzündet war kann ich mangels Erfahrung nicht entscheiden. Eigentlich sieht alles im Bauchraum unauffällig aus, was ich zweifelsfrei feststellen kann, nachdem Osont anordnet, eine weitere Leiche aus dem Vorratsraum zu holen und zum Vergleich nachzusehen. Es handelt sich um eine der Verteidigerinnen vom Unterfort von Casabones, und ihr Anblick ist sehr unangenehm. Trotzdem muß ich mich überwinden, und, nachdem der Salzstein vorübergehend aus ihrem Bauchraum entfernt worden ist, anatomische Vergleiche anstellen. Sie hat einen Wurmfortsatz, der nicht so mit dem Coecum verwachsen ist wie bei Obanque. Das würde also die auf Appendizitis hinweisende Symptomatik bei Obanque erklären. Okay - aber woran ist er nun wirklich gestorben?
Sein Wahnsinnsanfall zum Schluß kann toxische Ursachen haben - dann würden wir nichts finden - oder er kann einen ganz normalen apoplektischen Insult gehabt haben, einen Gehirnschlag. Gar nicht so unwahrscheinlich, wenn durch Flüssigkeitsentzug die mechanischen Eigenschaften des Blutes sich zu sehr geändert haben sollten. Das würde ich eventuell dem Gehirn ansehen können.
Aber ich habe wenig Neigung, diese Leichenfledderei weiterzuführen. Es gelingt mir, mit der Wiederholung der Dinge, die ich schon Ochaum über Infektionskrankheiten erzählt habe, den anderen die Lust auf eine weitere Ausdehnung der Leichenschau zu nehmen. Die Gefahr, auch die Schädel sezieren zu müssen, kann ich abwenden. Die beiden Leichen verschwinden also wieder in der Vorratskammer, und während des Auseinandernehmens der Schiffe finde ich Zeit, über die Bordkante zu kotzen. Es ist mir egal, ob das jemand sieht. Mehr als zwei Monate bei den Granitbeißern haben mich immer noch nicht abgebrüht genug gemacht, unbefangen an menschlichen Leichen herumschneiden zu können, ganz gleich, mit welcher Absicht.
69.2 Die Windsbraut
Ozedan geht es unverändert, aber wenigstens nicht schlechter. Ich frage, ob jemand irgendwelche Krankheitsanzeichen bei sich selbst verspürt, aber das ich nicht der Fall. Oder die Betroffenen versuchen noch, es zu verschweigen.
Unsere Flottille folgt weiter ihrem Kurs. Die Ufergebiete werden wieder flach, und die Tiefe der Wasserstraße nimmt ebenfalls wieder ab. Bald ist die Landschaft wieder so ähnlich, wie sie war, als wir in dieses Wasserstraßengebiet einfuhren, und wie sie nach den Karten die ganze Zeit hätte sein sollen. Ich bin wirklich neugierig, ob wir auf diese Weise jemals nach Grom kommen, mit Karten, die Preise für Fantasy-Literatur verdient hätten. Von dieser Halle, die wir durchfahren haben, zum Beispiel, ist absolut nichts auf den Karten zu finden, und nur einige lassen die Existenz des großen Tales vermuten. Trotzdem, als ich wieder über den Bäumen des Uferurwaldes in größerer Entfernung zu beiden Seiten die bekannten Säulenformationen sehe, empfinde ich sie schon als einen vertrauten Anblick.
Das Wasser ist wieder dicht belebt, und ich halte ständig einen Mann im Krähennest. Im großen Tal und in der Halle hatten wir diese Vorsichtsmaßnahme etwas vernachlässigt.
Die Wasserstraße windet sich, so daß wir ab und zu staken müssen, aber die ungünstigen Richtungen bleiben uns nie sehr lange erhalten. Mehrmals sehen wir in den Ufersümpfen die grauen Berge von Brontosauriern, die von uns aber kaum Notiz nehmen. Trotzdem ist es bei solchen Vorbeifahrten an Bord noch leiser als sonst, und die Männer, die nichts zu tun haben, sehen sich die manchmal weniger als 100 Meter entfernten Tiere an. Der Kampf der beiden Saurierherden ist ihnen noch gut in Erinnerung. Raubsaurier sehen wir aber überhaupt nicht. Vielleicht sind sie vorsichtiger und neigen dazu, beim Anblick unserer Schiffe etwas in Deckung zu gehen.
Meiner Ansicht nach werden die Flugsaurier in der letzten Zeit etwas häufiger, und ich bilde mir ein, daß ich schon sieben verschiedene Spezies zählen kann. Manchmal ziehen Gruppen in unserer Nähe vorbei oder über uns hinweg. Es beunruhigt mich, obwohl auch von diesen keine Gefahr ausgeht. Sie ignorieren uns, und ein Angriff auf ein Schiff würde ihnen ja nicht gut bekommen: Sie würden sich hilflos in der Takelage verheddern. - Zunächst mal, wenigstens.
Trotz der gelegentlich ungünstigen Richtung der Wasserstraße kommen wir an diesem Tag sehr gut voran, so daß ich sogar Osont eine gewisse Zufriedenheit ansehe, als wir nach diesem Tag ohne besondere Vorkommnisse die Schiffe um 20 Uhr zusammenlegen.
Nur Ozedan's Zustand bleibt unverändert. Und auf dem letzten Schiff hat ebenfalls ein Mann Bauchweh, aber als ich mit ihm spreche, stelle ich fest, daß die Schmerzen nicht sehr schlimm sein können, oder daß er simuliert, vielleicht um sich vor der Arbeit zu drücken. Als ich ihm während der Untersuchung ein paar Schreckensgeschichten über Erkrankungen im Bauchraum erzähle - alles medizinisch exakt, aber mit allen möglichen Komplikationen ausgemalt - ist dieser Mann sich immer weniger sicher, ob er noch Bauchschmerzen hat. Trotzdem wird er zunächst zur strengen Liegeruhe auf dem Achterdeck seines Schiffes verurteilt. Wir werden sehen.
Um etwa 18 Uhr, also zwei Stunden vor Beginn der Schlafperiode, spüre ich plötzlich einen Druck auf meinen Ohren, dann knackt es in der Eustachischen Röhre. Dieses Gefühl schwillt innerhalb einiger Minuten an und ab.
Gleichzeitig gibt es Schwankungen in der Windstärke. Der Wind kommt zum Erliegen, dann wieder frischt er zu größerer Stärke als vorher auf, dann nimmt er wieder ab. Man hört es auch deutlich am Flattern der Segel.
Es kann keine Einbildung sein. Ich habe zwar gelegentlich Kummer mit meinem Hörapparat: Bei längerem, inaktiven Stehen kann es vorkommen, daß meine Eustachischen Röhren sich öffnen und nicht wieder zuzukriegen sind. Dann dröhnt die eigene Stimme unangenehm in den Ohren, und Niesen oder Schneuzen bringen sofort einen Druck direkt auf die Trommelfelle. Nase zuhalten und kurz einatmen kann diesen Zustand für kurze Zeit beheben, dann aber habe ich solange einen Unterdruck im Mittelohr, der das Hören behindert. Besonders tiefe Töne sind dann kaum noch wahrnehmbar.
Wegen dieser gelegentlichen Erscheinungen kann ich gut beurteilen, ob mein Trommelfell durch Druckwechsel belastet wird. Und genau das ist jetzt der Fall. Die Druckwechsel entsprechen einem Höhenwechsel von mindestens einigen hundert Metern nach oben und nach unten.
Nach einigen Minuten ist es vorbei. Ganz schwach glaube ich, ein hohles Grollen in der Ferne zu hören, aber ich kann mich auch irren. Nicht einmal die Einfallsrichtung dieses Schalles kann ich angeben. Dieses Geräusch ist nach vielleicht acht Minuten unter jede Hörgrenze gefallen.
Ich frage Ochaum, ob er etwas gemerkt hat, und er bejaht das, mißt dem aber keine Bedeutung bei. Auf die Frage, ob er so etwas schon früher erlebt hat, kann er nicht antworten. Er erinnert sich nicht, schließt es aber nicht aus.
Ich denke an unseren Abstieg in die Granitbeißerwelt. Am Anfang der großen Seilbrücke habe ich, wenn ich mich richtig erinnere, mit dem Höhenmesser schwache Druckschwankungen bemerkt. Die müssen aber schwächer gewesen sein als das, was wir gerade gespürt haben, denn an meinen Trommelfellen habe ich nichts wahrgenommen.
Bleibt wieder etwas zum Spekulieren. Die Druckschwankungen sind real, und sie müssen ihren Ausgang in der Welt der Granitbeißer gehabt haben. Bei der Größe derselben muß ein Ereignis, das den Druck in einem solchen Volumen um einige Promille des Gesamtdruckes schwanken lassen kann, recht energiereich sein. Um was kann es sich wohl handeln? Es ist leicht nachzurechnen: Wenn in einer Höhle mit einem Volumen von eintausend Kubikkilometern der Druck um ein Promille schwankt - und der Teil der Welthöhle, den ich bis jetzt gesehen habe, umfaßt mindestens einige tausend Kubikkilometer - dann muß die Ursache etwa dem Hinzufügen oder dem Wegnehmen von einem Kubikkilometern Luft entsprechen. Das heißt also, daß das verursachende Ereignis dieser Druckschwankungen etwas von dieser Größenordnung ist.
Andererseits können sich Druckschwankungen als Druckwellen ausbreiten, und in dem Fall sind die Druckänderungen ja nicht überall zu gleicher Zeit vorhanden. Dann ist das verursachende Ereignis weniger heftig. Genau ausrechnen kann ich aber nichts, schon auch deshalb, weil jede Ausbreitung von Druckwellen in der Welthöhle wegen deren komplizierter Geometrie schwer zu quantifizieren ist.
Als ich schlafen gehe, habe ich das Ereignis praktisch schon vergessen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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