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******** 068. Tag: Mittwoch 95-10-25 ********
68.1 Das Tal der Titanen
Relativ zu unseren Schiffen und zu unserer Fahrtrichtung scheint sich die Einfallsrichtung dieses Gesanges in den nächsten Stunden nicht zu ändern. Da die Wasserstraße nun auch wieder deutlicher nach rechts abbiegt, was die Windrichtung für uns immer günstiger werden läßt, ergibt sich vor meinem geistigen Auge das Bild, daß wir uns der Quelle des Gesanges etwa auf einer logarithmischen Spirale nähern. Dann allerdings sollte der Gesang lauter werden, und das ist nicht der Fall. Vielleicht wird der geringer werdende geometrische Abstand gerade durch die durch größere Beugungswinkel verursachte Intensitätsabnahme kompensiert. Ich erinnere mich noch, wie ich an Charmion's Grab festgehalten wurde, weil oben auf dem Steilufer jemand sprach, einige Stunden bevor mich die Rebellen da geschnappt haben. Da war der Abstand zur Geräuschquelle vielleicht 50 bis 100 Meter, aber die Beugung hat das Geräusch nur noch ganz schwach an meine Ohren gebracht.
Die Uferlandschaft verändert ihren Charakter. Berge kommen sukzessive näher an das Ufer heran, als ob sie uns in die Zange nehmen wollten, bald gibt es Felsen, die teilweise direkt an die Wasserstraße angrenzen. Dazwischen wieder flache Täler, deren höhere Lagen in steile Wände übergehen, und in einigen davon endlich die Abzweigungen anderer Wasserstraßen, die sich mit den Angaben auf den Karten zur Deckung bringen lassen. Wir sind immer noch richtig.
Zwischen den himmelhoch aufragenden Felswänden hören wir für lange Strecken überhaupt nichts mehr von dem Gesang, obwohl an solchen Stellen die Urwaldgeräusche nicht mehr stören, dann aber, wenn wir uns an die absolute Stille gewöhnt haben, die nur von dem Knarren in der Takelage durchbrochen wird, ist die Stimme wieder da. Und die Einfallsrichtung scheint jedesmal eine andere zu sein.
"Echos!" sage ich zu Ochaum, "da kann man kaum etwas über die Richtungen, aus denen man etwas hört, aussagen."
Die Tiefe der Wasserstraße hat zugenommen, aber da der Wind inzwischen wieder von hinten kommt, sind wir auf das Staken nicht mehr angewiesen. Allerdings müssen auf dem Deck immer noch Leute mit Stakstangen bereitstehen, um uns eventuell von den Felswänden wegzudrücken.
Ich erinnere mich, daß Charmion in einer Schlucht, die dieser hier sehr ähnlich sah, den Fischsaurier angegriffen hat, und ich weise die Mannschaft an, nach Anzeichen dieser Tiere Ausschau zu halten. Sie tun es, und niemand bemerkt irgend etwas Bedrohliches, wie immer, wenn man darauf wartet.
Dann kommen wir durch ein Tal, daß immense Ausmaße hat. Die Talwände fallen steil, aber noch dicht bewachsen, in die Wasserstraße ab, aber weiter oben gehen sie in senkrechte Felswände über, die zwischen 1000 und 1500 Meter voneinander entfernt sind und hoch oben in den leuchtenden Wolken verschwinden. Auf geringerer Höhe, tausend oder zweitausend Meter über uns, treiben vereinzelt Wolkenfetzen verloren zwischen den Felswänden dahin. Die Urwälder an den unteren Talhängen sind immer wieder durch ausgedehnte Schuttkare durchbrochen, und beim Näherkommen sehen wir, daß das Geröll auf diesen Halden aus bis zu hausgroßen Felsbrocken besteht. Gelegentlich gibt es in diesem Tal offenbar gewaltige Steinlawinen.
Das Tal ist sehr lang und es windet sich vielfach, so daß wir es nie in seiner vollen Länge übersehen können. Ich habe die Befürchtung, daß eine jüngst niedergegangene Steinlawine die Wasserstraße unterbrochen haben könnte, aber das ist nirgends der Fall. Dann wäre allerdings auch der Saurierfänger vor uns nicht durchgekommen.
Es ist durchaus möglich, daß wir gerade eine sehr enge Stelle der Welthöhle befahren, und daß dieses Tal bis zu der Leuchtenden Wolkendecke bereits der größere Teil des Querschnittes der Welthöhle ist. Eigentlich sind Karten ja dazu gut, solche Fakten aus ihnen zu entnehmen, aber diese sind dazu wieder zu ungenau: Das Territorium jenseits dieser riesigen Talwände, wenn es dort welches gibt, besteht aus weißen Flecken. Ich weiß also nicht, ob es dort oben Hochebenen über dem Niveau der leuchtenden Wolken, schon im trockeneren Teil der Welthöhle, gibt, oder ob, wenn der uns sichtbare Teil des Tales bereits mehr als die Hälfte des Querschnittes umfaßt, wegen der Kanalisierung des Windes bei Luftdruckgegensätzen hier mit heftigen Stürmen zu rechnen ist. Sichtbare, das heißt, für mich sichtbare und interpretierbare Anzeichen von gelegentlichen Stürmen kann ich nicht finden.
Zunächst hören wir auch ab und zu noch den fernen Gesang. Aber er wird immer schwächer, und es geschieht auch immer seltener. Dann gar nicht mehr. Ein weiteres, ungelöstes Geheimnis dieser Welt, das wir hinter uns lassen. Meine adhoc-Erklärung ist, daß sich in irgendeinem Hochtal eine kleine, völlig isolierte Gruppe angesiedelt hat. Von dort her kam der Gesang, über vielfache Reflexionen. Die Sängerin ist sich gar nicht bewußt, daß sie gehört worden ist, irgendwo, vielleicht Dutzende Kilometer von ihr entfernt. Vielleicht ist in dieser isolierten Gruppe sogar das Wissen, daß es auf der Welt noch andere Menschen gibt, verloren gegangen. Vielleicht kennen sie nur ihr eigenes Bergtal, aus dem sie in einer endlosen Folge von Generationen niemals herauskamen und niemals herauskommen werden. Vielleicht ist es so. Vielleicht auch nicht.
Wir folgen diesem Tal für einige Dutzend Kilometer. Stunden vergehen. Ab und zu sehe ich nach Obanque, dem es immer besser geht. Um 10 Uhr verlangt er nach Essen, aber er bekommt noch nichts. Damit er etwas zu tun hat, empfehle ich ihm, daß er vorsichtig anfangen soll, seinen eigenen Bauch zu befühlen und leicht zu massieren, um herauszubekommen, ob und wie es noch irgendwo weh tut. Als ich um 12 Uhr wieder nach ihm sehe, ist er gerade dabei, sich routinemäßig einen runterzuholen. Sehr schön, denke ich. Das ging ja schnell - oder habe ich mich bei der Erläuterung des Begriffes 'Massieren' mißverständlich ausgedrückt? Wenn er schon soweit auf dem Wege der Besserung ist, dann ist er in einigen Tagen wieder voll einsatzbereit.
Um 15 Uhr wird dieses große Tal allmählich sehr eng und dunkel. Da wir bald für die nächste Schlafperiode die Schiffsinsel bauen wollen, beunruhigt mich das. Ich möchte lieber eine Stelle mit flachen Ufergebieten haben. Aber das ist letzten Endes nur eine subjektive Präferenz, da jede Landschaft ihre eigenen Gefahren hat. Hier, in diesen himmelhohen Schluchten, gibt es wenigstens keine Landsaurier, und auch Flugsaurier könnten hier nicht manövrieren. Dafür ist das Wasser inzwischen so tief geworden, daß unsere Lotungen keinen Grund mehr finden. Das heißt, man könnte im Prinzip mit Fischsauriern rechnen. Und wenn den Schiffen hier etwas passieren würde, gäbe es an den glatten Felswänden keine Stelle, auf die man sich retten könnte.
Hoch über uns teilt sich die Schlucht in Seitenschluchten und vielerlei Klüfte - vielleicht ein Paradies für Kletterer, so wie ich schon viele hier gesehen habe, und vielleicht kann man da irgendwo das Tal der Sängerin erreichen - oder auch nicht, denn wir sind ja schon wieder viele Kilometer weitergefahren. Wie hoch diese ganzen Formationen sogar noch über die leuchtende Wolkenschicht hinausragen können wir natürlich immer noch nicht sagen.
Seit wir in diesem Tal sind, ist der Wind stärker geworden, und in dieser Schlucht frischt er manchmal sogar böig auf. So kommen wir rasch vorwärts. Also doch Querschnittseinengung, denke ich, mit einer größeren Windgeschwindigkeit ist hier unbedingt zu rechnen. Wie stark er wohl schlimmstenfalls werden kann?
Wieder eine geophysikalische Überlegung, die man einmal durchrechnen müßte: Wenn in der Welthöhle ein Sturm ist, so daß viele Quadratkilometer von Felsen von starker Luftströmung mit Geräuschbildung umweht wird, ist die dann erzeugte Schallenergie, die ja auch teilweise in die Felsen hineingeht, stark genug, um auf der Erdoberfläche durch empfindliche Seismophone nachgewiesen werden zu können? Ich nehme mir vor, es irgendwann einmal auszurechnen, wenn ich wieder Zugang zu Bibliothek und Computer habe.
Seitentäler, düster und unzugänglich. Flacher Grund, 50 bis 200 Meter breit, und kilometerhohe, steile Wände. Zugänglich nur von unserer Wasserstraße aus. Und vielleicht von der anderen Seite, wie immer es dort aussehen mag.
Es gibt auch weitere Abzweigungen, und wir können wieder mit den Karten das übliche Ratespiel treiben: Was ist was? Wir folgen immer weiter der Wasserstraße, die uns am wenigsten eine Kursänderung aufzwingt.
Zwischen 16 Uhr und 16 Uhr und 30 Minuten wird die Schlucht sehr eng. Dem Saurierfänger muß es die Rahen beiderseits auf den Felswänden entlanggeschrammt haben, wir haben noch einige Meter Luft. Ich suche nach Kratzspuren, finde aber überhaupt nichts. Dann nach einigen Windungen dieser Schlucht, weitet sich die Wasserstraße wieder. Wir können nun eigentlich daran gehen, uns für die nächste Schlafperiode einen Platz zu suchen - wenn wir vor Anker gehen könnten. Das können wir aber im Moment nicht. Deshalb fahren wir über 17 Uhr hinaus.
68.2 Die Halle der Titanen
Kurz nach 17 Uhr weichen die Schluchtwände wieder auseinander, bleiben aber so steil, wie sie sind. Um eine Biegung herum öffnet sich uns der Blick plötzlich auf ein bedrohlich wirkendes landschaftliches Szenarium:
In die sich wieder auf vielleicht eintausend Meter aufweitende Schlucht, deren Wände immer noch senkrecht bis in die leuchtenden Wolken hinein ragen, ist vor Urzeiten ein gewaltiges Felsmassiv hineingefallen. Ein ganzer Berg, ein riesiger Felsklotz. Es sieht von dort, wo wir sind, so aus wie ein vielleicht acht Kilometer langes und etwa eintausend Meter durchmessendes Felsstück, das sich zwischen den Schluchtwänden verkeilt hat, aber so, daß seine Unterseite stellenweise nur einige hundert Meter über der Wasserfläche ist. Dadurch ist unter diesem Block eine lange, düstere Halle entstanden. An deren anderen Ende sehe ich den helleren Wasserstreifen, der wieder direkt von der leuchtenden Wolkendecke beleuchtet wird - nur das ermöglicht, die Länge dieses Felsstückes abzuschätzen. In diese etwa acht Kilometer lange Halle fällt aber an einigen Stellen auch Licht, das seinen Weg seitlich durch Lücken zwischen den Felswänden und dem riesigen Felsklotz gefunden hat.
Wir würden diese Halle nach etwa einem Kilometer erreichen - dieser erste Kilometer der wieder breiter werdenden Schlucht ist noch nicht von dem Felsstück überbrückt. Wir sind uns sofort alle einig: Wir sollten die Schlafperiode hier verbringen, nicht unter dem gigantischen schwebenden Stein.
Wahrscheinlich bin ich der einzige, der mit ein paar geometrischen Überlegungen eine ungefähre Abschätzung der Masse dieses Steines machen kann. 1000 Meter Durchmesser, acht Kilometer lang, Dichte mag etwa 2500 Kilogramm pro Kubikmeter sein - das bedeutet, daß dieser Berg zwischen zehn und zwanzig Milliarden Tonnen schwer ist.
Es ist mir völlig unklar, wieso ein so großes Stück Felsen bei dem Vorgang, so in diese Schlucht hinein zu fallen, nicht in viele Stücke zerbrochen ist. So zäh und hart ist doch gewöhnlicher Fels nicht, seien es Eruptivgesteine oder gar Sedimentgesteine. Das, was wir hier sehen, mag es in kleinerem Maßstab durchaus geben - in wesentlich kleinerem Maßstab. Schon das ganze in bloß zehnfach kleinerer Ausfertigung wäre immer noch unwahrscheinlich - eine 800 Meter lange und 100 Meter durchmessende Felszigarre, die man in eine gerade knapp hundert Meter durchmessende Schlucht hinein fallen läßt, müßte zerbrechen - um wieviel eher dann dieses Monstrum von einem Felsbrocken!
Und doch, ist da die Lösung der Existenz der Welt der Granitbeißerwelt verborgen? Eine noch nicht bekannte Felsart, die erstens ungewöhnliche mechanische Festigkeit aufweist und so solche Formationen wie auch die immensen lichten Weiten der ganzen Welthöhle erklären kann, und die auch bezüglich der Fortleitung seismischer Wellen so ganz andere Eigenschaften hat als man sie üblicherweise erwartet, so daß sämtliche seismischen Daten, die auf diese Welthöhle hinweisen, immer wieder fehlinterpretiert wurden? Ist es das? Aber heißt das nicht, daß die mechanische Festigkeit dieses Felsens die von bestem Stahl übertreffen muß?
So schwer ist es ja nicht zu überlegen: Höhere Festigkeit des Gesteins um die Welthöhle herum bedeutet größere Phasengeschwindigkeit von seismischen Wellen, und dieses bedeutet, daß seismische Wellen von den Höhlen weggebeugt werden - elementare Wellendynamik. Höhere Phasengeschwindigkeiten bedeuten aber auch größere Wellenlängen solcher seismischer Wellen, und das senkt das Auflösungsvermögen für Details bei allen möglichen Verfahren. Auch Wellendynamik. Außerdem - höhere Festigkeit des Gesteins bedeutet, daß in der Nähe der Welthöhle nie etwas ist, was sich bergwergstechnisch auszubeuten lohnt. Kohleflöze oder Erdöl-haltige Schichten wären ja nicht sehr fest. Dann ist auch von daher eine Entdeckung der Welthöhle unwahrscheinlicher.
Ich weiß es nicht. Ich habe keine Tabellenbände hier, um es nachzurechnen. Ich merke mir Materialkonstanten nicht auswendig, weil man sowas ja nachschlagen kann. Wenn man nicht gerade in der Unterwelt verschollen ist.
Ich denke an die Zähigkeit und Festigkeit von magmatischen Gesteinen unter hohem Druck und mittlerer Temperatur von einigen hundert Grad. Die uns umgebenden Felsen sind im Moment zwar weder hohem Druck noch einer mittelhohen Temperatur ausgesetzt, aber sie könnten es ja mal gewesen sein. Dabei könnten sie in der zähplastischen Phase alle inneren Spannungen verloren haben, was sie vielleicht geeigneter macht, große, stabile Strukturen zu bilden. Auch das müßte man nachrechnen. Ich kann es jetzt nicht. Ich kann immer nur mutmaßen.
Ich denke an den Schwebenden Berg bei Casabones, der auch aus einem großen Felsstück besteht, das irgendwann einmal in seine jetzige Lage gefallen ist. In beiden Fällen muß das Ereignis ein ordentliches Erdbeben ausgelöst haben. Wenn das in geschichtlicher Zeit der Fall gewesen wäre, dann wüßten wir davon. Also geschehen solche Veränderungen hier auf einer wesentlich längeren Zeitskala. Es muß sich um Zeiträume handeln, die größenordnungsmäßig große Teile der Entstehungsgeschichte dieses Planeten umfassen. Also viele hundert Millionen Jahre mindestens. Und das paßt auch wieder nicht zusammen mit dem bißchen, was ich von der Geologie von Mitteleuropa weiß. Da gibt es zwar Formationen, die so alt sind, wie etwa einige der deutschen Mittelgebirge. Da könnte man noch glauben, daß unter ihnen Höhlen sein könnten, die hundert Millionen Jahre alt sind.
Aber wir haben diese Welt von dem Zugspitzgebiet aus betreten! Das sind die Alpen, und die werden zu diesem Zeitpunkt immer noch aufgefaltet! Unter einem Gebirge, das immer noch aufgefaltet wird, können sich einfach nicht solche riesigen Höhlen befinden!
Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Es paßt nicht zusammen. Diese Welthöhle gibt es nicht. Einzige Möglichkeit. Also werden wir gleich aufwachen, weil alles nur ein Traum war.
Es ist kein Traum. Der einfache Job, die Schiffe zu einer Insel zusammenzulegen, erweist sich als real und sehr schwierig. Denn wir würden diese Insel ja wie üblich verankern wollen. Es gibt hier aber nirgends Grund. Wenn wir die Schiffs-Insel aber frei treiben lassen, dann wird sie im Verlaufe der Schlafperiode in die dunkle Halle unter dem riesigen Felsen hineintreiben.
Eigentlich ist das ja nicht besonders schlimm. Wir sind hier überall in einer Höhle, und wenn wir über unseren Häuptern die leuchtende Wolkendecke haben, dann heißt das nur, daß sich darüber doch irgendwo eine Höhlendecke befindet, die wir eben nur nicht sehen. Dafür wird etwas, was von dort herunterfällt, mit sehr hoher Geschwindigkeit hier ankommen. Wo ist es also gefährlicher? Unter 'freiem' Himmel, also unter der leuchtenden Wolkendecke, die nur die eigentliche Höhlendecke unseren Blicken entzieht, oder unter diesem Felsen, der schon seit Jahrmillionen so liegen kann wie er jetzt liegt?
Das Entscheidungskriterium ist ein anderes: Die Granitbeißer fühlen sich in der relativen Dunkelheit unter diesem Felsen unwohl. Objektiv ist keine größere Gefahr dabei als bei einem Aufenthalt an jeder anderen Stelle der Wasserstraße. Nur deshalb möchte man es vermeiden, während der Schlafperiode in diese dunkle Halle hineinzudriften.
Es gibt aber offenbar keinen Weg, das zu verhindern. Also müssen wir es in Kauf nehmen. Es ist auch schon spät. Die schon zu einer Insel zusammengelegten Schiffe werden wieder voneinander gelöst, und wir machen uns auf den Weg, diese acht Kilometer noch vor dem Schlafen hinter uns zu bringen. Es sollte eigentlich schnell gehen, da der im vertikalen eingeengte Querschnitt dieser Halle den Wind auch hier zu höheren Geschwindigkeiten kanalisiert.
Trotzdem ist mir - und wohl nicht nur mir - unheimlich zumute, während wir auf den Halleneingang zudriften. Vorher vesuche ich noch, so viele Einzelheiten wie möglich zu erspähen. So sind wir gerade in einer Gegend, in der es wenig Vegetation gibt, weil es fast überall zu steil dazu ist. Einzig einigen hochgelegenen Tälern sieht man von hier unten einen dichten Bewuchs an, und die Oberseite des großen Felsklotzes, den wir jetzt unterfahren werden, scheint auch von Urwald bewachsen zu sein - man sieht seine Ausläufer so gerade eben über die höheren Grate hervorschauen, die er über tausend Meter über uns bildet.
Dann schiebt sich der Felsen über uns. Ich lasse ständig loten, aber das Wasser bleibt tiefer, als unsere Lote reichen. Allerdings, wie in den letzten Stunden schon, zittern die Lotleinen immer mal wieder, weil irgendwo da unten ein Lebewesen mit ihnen kollidiert. Daran haben wir uns schon gewöhnt. Es gibt also Fische, auch wenn wir jetzt kaum noch welche zu Gesicht bekommen. Ich denke, daß dieses tiefe Wasser sogar wieder sicher genug sein könnte, um darin zu schwimmen.
Auf jeden Fall ist es im Moment nicht notwendig, sich unbedingt leise zu verhalten. Es ist eigentlich auch nicht mehr durchsetzbar, da schon so lange nichts mehr passiert ist. Niemand würde den Sinn dieser Vorsichtsmaßnahme jetzt noch einsehen. Nun ist es nur noch die zunehmende Müdigkeit und die unheimliche Umgebung, die den Männern die Sprache verschlägt. Wenn aber doch geredet wird, dann hallen die Echos der Stimmen von oben und von der Seite zu uns zurück. Trotzdem ist die Stimmung der Männer nicht gedrückt. Nur müde.
68.3 Obanque's Wahnsinn
Als wir etliche hundert Meter in die Halle eingefahren sind, wobei die Schiffe einen Abstand von über hundert Meter voneinander und auch eine seitlich versetzte Formation angenommen haben - wahrscheinlich, weil jeder der Schiffsführer auch ungehindert nach vorne sehen will, und Platz in der Breite ist ja genug da - ertönt plötzlich auf unserem Achterdeck ein einzelner, kurzer und lauter Schrei, eine Mischung zwischen einem Schmerzensschrei und einem Schrei der Verwunderung oder des Erschreckens. Aller anderen Gespräche hören augenblicklich auf - diesen Schrei hat man sicher auch auf den anderen Schiffen gehört. Nur das Echo rollt jetzt noch durch die Halle.
"Das ist Obanque! Was hat er denn?" fragt Ochaum und sieht nach hinten. Auf dem Achterdeck poltert es. Im Halbdunkel sehe ich, wie Obanque von dem Platz, wo er während seiner Krankheit zwischen den Holzvorräten gelegen hat, aufgesprungen ist und auf dem Deck nach vorne rennt.
"Es frißt die Welt! Es frißt die Welt! Es ist schon soviel weg! Hilf mir doch!"
Hastig und laut versucht er auf das Dach des Deckshauses zu klettern. Ich kann sein angstverzerrtes Gesicht sehen. Da stimmt was nicht, denke ich mir.
"Hilf mir doch! Es ist alles nur noch halb!"
Wie ein Kind versucht er, nach Halt zu greifen. Im Dach des Deckshauses sind zwischen den Balken zahlreiche Griffe möglich, wo man sich festhalten kann. Für niemanden ist es ein besonders großes Problem, das Deckshaus an jeder beliebigen Stelle zu erklettern, wenn man dieses aus irgend einem Grunde tun möchte. Sogar, wenn man, wie ich es bei Obanque vermute, noch Bauchschmerzen hat. Es bedarf dazu keiner großen Geschicklichkeit.
Aber Obanque bewegt sich so unkoordiniert, daß er einfach wieder herunterfällt. Und obwohl er so auf seine Beine fällt, daß er sich eigentlich nichts ernsthaftes getan haben kann, bricht er zusammen und kriecht auf dem Deck herum. Dabei schreit er, jetzt völlig unartikuliert. Es ist nur noch ein Gefühl in seinem Schreien: Angst. Dieses Schreien geht in ein langgezogenes Heulen über.
Von einer Sekunde zur anderen bricht er zusammen und bleibt reglos liegen. Das ganze Schauspiel hat nur etwa 20 Sekunden gedauert. Jetzt noch, wo jeder wie vom Blitz gerührt steht, rollen ferne Echos von Obanque's Schreien die Hallenwände entlang.
Wir sind im Augenblick unten. Trotz der Dunkelheit kann ich schnell feststellen, daß Obanque tot ist.
"Was war mit ihm?" fragt Ochaum beunruhigt.
"Ich weiß es nicht. Wirklich nicht."
Die ganze Schiffsbesatzung steht um die Leiche herum. Obanque liegt in einer merkwürdig ungelenken Stellung da, die nichts mehr mit der verkrümmten Schonhaltung eines Menschen zu tun hat, der unter starken Bauchschmerzen leidet. Eher macht diese Haltung den Eindruck, als ob Obanque in seinen letzten Sekunden überhaupt keine klare Vorstellung mehr davon hatte, was man mit den eigenen Armen und Beinen anfängt.
"Das hatte jedenfalls nichts mit dem zu tun, was ihr 'Schiefe Bauchschmerzen' nennt." sage ich, obwohl das eigentlich allen klar sein müßte.
"Ne, das hat es nicht," stimmt Ochaum zu, "ich weiß nichts davon, daß man in solchen Fällen rasend wird."
"Wo es ihm doch auch schon wieder viel besser ging." sage ich, "Ich dachte wirklich, er kommt durch. - Es muß etwas anderes gewesen sein."
Vom Flaggschiff, das sich auf die Höhe unseres Schiffes geschoben hat, ruft Osont herüber: "Was war denn los?"
Ochaum erklärt es in ein paar Sätzen, die man zweifellos auch auf den anderen Schiffen hören kann. Und wenn sonst noch jemand hier in der Nähe sein sollte, denke ich, kann derjenige es auch hören. Rein theoretische Überlegung, denn wer sollte sich außer unseren Schiffen noch hier aufhalten?
Osont hat keine weiteren Fragen, und wir nehmen den normalen Schiffsbetrieb wieder auf. Vorher lasse ich Obanque's Leichnam in den Vorratsraum bringen.
Operationen kann ich in der Welt der Granitbeißer nicht machen, aber eine Autopsie ist möglich - die Expertise dazu haben Kannibalen allemal. Und diesen Blinddarm möchte ich mir jetzt ansehen.
Ich wünsche mir, daß er klare Anzeichen einer eitrigen Entzündung zeigen möge - dann war meine Diagnose richtig, und Obanque ist an etwas anderem, was später hinzugekommen ist, gestorben.
Aber ich habe so das dumpfe Gefühl, daß Obanque's Blinddarm unauffällig aussehen wird.
68.4 Die hängenden Ruinen
Wir haben nicht lange Muße, darüber nachzusinnen. Ochaum ist der erste, der es sieht, weil er als Steuermann genau auf unseren Weg aufpassen muß:
"Sie mal da vorne! An der Höhlendecke!"
Ich spähe genauer hin und sehe es auch erst jetzt: Da sind, einige hundert Meter von uns entfernt, Spuren von Bearbeitung in den unregelmäßigen, hängenden Hügeln der Hallendecke. Beim Näherkommen wird es langsam deutlicher.
Bestimmte Hügelflanken sehen teilweise gemauert aus, und es gibt dort hohle Fensterlöcher. Um andere Hügel winden sich mannshohe Rillen herum, die einmal Wege gesehen sein müssen - die Unterseite dieser Rillen ist manchmal flach genug, daß man darauf stehen oder gehen könnte, meistens jedoch nicht. Da müssen weitere technische Einrichtungen gewesen sein, die längst verschwunden sind. Und diese Rillen bilden auch kein zusammenhängendes Wegesystem - dort, wo diese Wege flachere Teile der Hallendecke überwinden müssen, ist überhaupt nichts zu sehen. Ich denke, daß dort wahrscheinlich einmal Hängende Wege oder Hängende Straßen gewesen sind, aber das ist so lange her, daß nichts mehr davon übrig ist.
Wohngebäude? Befestigungen? Eine Burg, Kasematten? Die Gebäude, die man erkennen kann, sind nicht sehr eindrucksvoll, da die hängenden Hügel auch keine mehrstöckigen Gebäudekonstruktionen erlauben. Die Vorgehensweise beim Bauen und die konstruktive Grundidee ist bei allen diesen Gebäuden dieselbe: Die Flanke eines hängenden Hügels wird seitlich soweit eingehöhlt, daß ein Loch mit horizontalem Boden entsteht. Auf der äußeren Kante dieses horizontalen Bodens kann man dann Mauern hochziehen, in einigen wenigen Fällen, wo doch noch Platz für ein weiteres Stockwerk vorhanden ist, kann dieses zweite Stockwerk über das darunterliegende hinausragen.
Einige dieser Mauern sind längst eingefallen, und in den dunklen Räumlichkeiten dahinter kann man nichts erkennen, was weitere Hinweise auf die ehemaligen Bewohner gibt. Diese Anlagen müssen seit so langer Zeit verlassen sein, daß man ihre Erbauer wahrscheinlich den Erbauern der Toten Städte zurechnen muß. Die Granitbeißer, wie ich sie kenne, würden diese Einrichtungen so nicht bauen.
"Wahrscheinlich sind diese Gebäude über Steige in den seitlichen Klüften der Halle zu erreichen - von oben her. Was meinst du?" fragt Ochaum.
"Schon möglich." sage ich, "Aber jetzt nicht mehr. Die Wege sind an zu vielen Stellen unterbrochen. Was mich mehr interessiert - wozu diese Art von Befestigungen?"
"Um diesen Wasserweg abzuriegeln?" schlägt Ochaum vor.
"Dann ist in eurer Welt in alten Zeiten, als die Erbauer der Toten Städte noch gelebt haben, aber sehr viel mehr losgewesen!"
Ochaum nickt. Während die halboffenen Höhlen und die Ruinen über unseren Köpfen vorbeiziehen, spricht er mit verhaltener Stimme weiter:
"Ich habe früher mal etwas davon gehört. Ganz früher, und ich weiß nicht mehr, von wem. Da gab es Geschichten von großen Kämpfen und starken Helden. Und immer wieder prachtvolle Burgen. - Das sieht hier aber nicht prachtvoll aus. Ich meine, selbst, als diese Anlagen noch unbeschädigt waren. Es sind doch eigentlich nur bessere Hütten, nur, daß sie an sehr ungewöhnlichem Ort gebaut wurden!"
"An was kannst du dich noch erinnern, von diesen alten Erzählungen?" bohre ich nach. Ochaum überlegt lange. Vielleicht gibt es weitere interessante Hinweise, Zusammenhänge. Vielleicht haben die Erbauer der Toten Städte sogar etwas mit dem Geheimnis der Existenz dieser Höhlen selbst zu tun - obwohl ich das nicht glaube. Auch wenn vieles, was sie hinterlassen haben, für solides Verständnis technischer Zusammenhänge spricht - Klettersteige, Stahlseilbrücken, Fahrkunst, große Städte auf isolierten Felsen und dann diese Gebäude - mit der Entstehung der Höhlen selber können sie ja nichts zu tun haben. Das sind Vorgänge, die mindestens soweit zurückliegen wie die Kreidezeit, oder mehr.
Oder, denke ich, und in seiner Plötzlichkeit erregt und elektrisiert mich dieser Gedanke: Sind die Erbauer der Toten Städte tatsächlich Bewohner der Kreidezeit gewesen? Zeitgenossen der Saurier? Wesen, deren kulturelle Artefakte auf der Oberfläche unseres Planeten die mindestens 65 Millionen Jahre nicht überdauert haben, oder die erst anfingen, eine Kultur zu entwickeln, als sie in der Welthöhle seßhaft wurden, vielleicht, weil das Überleben hier andere und härtere Anforderungen stellte? Die schwere Begehbarkeit dieser unterirdischen Welt als Treiber für die Entwicklung der Bautechnik?
Aber wenn ich anfange, über intelligentes Leben soweit in der Vergangenheit zu spekulieren, gibt es sofort wieder neue Fragen. Wer waren sie? Intelligente Reptilien? Die Säugetiere gab es noch nicht, und Primaten schon gar nicht. Und bei der Idee, daß Artefakte einer solchen Frühkultur 65 Millionen Jahre überdauert haben könnten, teilweise sogar in benutzbarem Zustand, muß man sofort auch die Artefakte weiter klassifizieren. Die Fahrkunst im Berg Casabones, zum Beispiel: Die kann keine 65 Millionen Jahre alt sein. Andererseits glaube ich nicht, daß die Granitbeißer mit derem Bau etwas zu tun haben. Und schon haben wir eine neue Unbekannte im Spiel.
Und was ist mit den Klettersteigen? Eisenbügel, in den Felsen gehauen, seit 65 Millionen Jahren ohne jeden Rostansatz? Gewiß, der obere Teil der Welthöhle ist trocken, aber war er es 65 Millionen Jahre lang?
Herwig, du spinnst, sage ich mir. Über die Zeit wüßten die Granitbeißer auch in ihren Überlieferungen nichts mehr, oder solche Überlieferungen wären zu früherer Zeit ohne jeden Bezug zu einer historischen Realität entstanden, nur auf den vorgefundenen Hinterlassenschaften dieser frühen Wesen basierend.
"Ich kann mich nicht an mehr erinnern." antwortet Ochaum auf meine Frage, "Es sind zusammenhanglose Geschichtsfetzen. Und vieles, was in den Geschichten war, gibt es in der wirklichen Welt nicht."
"Mmh. Kennst du jemanden, der sich da eventuell an mehr erinnern könnte?"
Ochaum schüttelt den Kopf. Dann deutet er nach vorne: "Der da vorne, ist das nicht Ozedan?"
Ich folge seinen Blicken. Drei Leute auf dem Vorderdeck sind mit Lotarbeiten beschäftigt. Ozedan kniet und ist dabei, eine Leine wieder sauber so hinzulegen, daß sie rasch ausgelassen werden kann, ohne sich zu verknoten.
"Ich glaube ja. Warum?"
"Sieh mal genau hin. Er hält sich so, als ob er Bauchschmerzen hat!"
Ich sehe genauer hin. "Finde ich nicht." Dann lehne ich mich aus dem Fenster des Ruderhauses und rufe nach vorne: "Ozedan! Komm doch bitte mal zu uns rauf!"
Als Ozedan sich aufrichtet, fällt es auch mir auf. Er geht leicht verkrümmt. Ich habe den Eindruck, daß er verbergen möchte, daß er Bauchschmerzen hat.
"Gut beobachtet, Ochaum!" sage ich leise, "Wäre mir nicht aufgefallen!"
"Ist erst seit einigen Minuten so. - Da ist er."
Dann steht Ozedan im Ruderhaus. Jetzt nimmt er sich sehr zusammen, so daß man ihm wieder nichts anmerkt.
"Fühlst du dich unwohl, Ozedan?" frage ich. Er schüttelt den Kopf. Ich überlege mir, wie ich ihm ein Eingeständnis seines Unwohlseins entreißen könnte, aber da kommt Ochaum mir zuvor: Er fährt blitzschnell mit seiner rechten Hand nach vorne und bohrt sie Ozedan in den Bauch. Dieser klappt mit einem Ächzer zusammen wie ein eingeschnapptes Taschenmesser.
"Das dazu." sagt er.
"Ochaum, eine medizinische Diagnose stellt man nicht, indem man den Patienten so schlägt, daß ihm danach etwas fehlt, was man diagnostizieren kann!"
"Ich wollte ja nur zeigen - wenn er gesund wäre, hätte es ihm nichts ausgemacht!" verteidigt Ochaum sich. Ich helfe Ozedan auf:
"Warum wolltest du uns nicht sagen, daß du Schmerzen hast?"
"Ich will nicht - wie Obanque ..."
"Meinst du, das kannst du verhindern, indem du verheimlichst, daß dir etwas fehlt?"
Ich gehe rasch alle Untersuchungspunkte durch, die ich auch bei Obanque geprüft habe. Bei Ozedan ist das Bild etwas anders: Die Schmerzen sind im Bauch kaum zu lokalisieren, so, als ob der ganze Darm der Ausgangspunkt ist. Enteritis oder Colitis oder beides zusammen. Aber keine Appendizitis. Oder höchstens so am Rande.
"Ozedan! Auf das Achterdeck, da, wo Obanque gelegen hat, hörst du?"
Er erschrickt. Ich versuche, ihn zu beruhigen:
"Es muß dir nicht genauso ergehen wie Obanque. Bei Obanque habe ich das vermutet, was ihr 'Schiefes Bauchweh' nennt. Das war es vielleicht gar nicht. Was es ist, kann ich auch nicht sagen, aber in deinem Falle werden wir eines anders machen: Essen tust du zwar auch nichts mehr, aber du darfst von Anfang an soviel Wasser trinken wie du willst. Damit verhindern wir, daß du durch Wasserverlust unnötig geschwächt wirst. Hast du verstanden? - Das Wasser wird für dich gemacht, da brauchst du dich jetzt nicht mehr drum zu kümmern! Und jetzt ab!"
Nachdem Ochaum das nötige veranlaßt hat, kommt er wieder ins Ruderhaus und fragt mich:
"Das habe ich nicht verstanden. Warum darf Ozedan jetzt soviel trinken wie er will?"
"Weil ich vielleicht bei Obanque einen Fehler gemacht habe! Ich gehe jetzt einmal davon aus, daß sein Darm zwar krank ist - sein ganzer Darm vielleicht - aber daß er an keiner Stelle droht, kaputtzugehen. Das, glaubte ich, war die Gefahr bei Obanque. Wenn aber der Darm okay ist, dann kann man mit Wasser eigentlich keinen Schaden anrichten."
"Aha. Dann kommt Ozedan also durch? Das beruhigt mich."
"So, das beruhigt dich! Mich nicht. Ganz im Gegenteil! Zwei Krankheitsfälle in so kurzer Zeit. Und was haben die beiden gemeinsam?"
Ochaum überlegt: "Sie waren auf dem letzten Schiff, das in der Saurierherde zerstört wurde!"
"Genau. Und beide haben sich auch dieselbe Weise auf andere Schiffe gerettet: Sie sind geschwommen!"
"Aber das ist nicht gefährlich!"
"Das Schwimmen nicht. Aber vielleicht war etwas im Wasser! Ochaum, weißt du, was man unter einer 'Infektionskrankheit' versteht?"
"Nein!"
Ich erläutere ihm in einigen Minuten diesen Themenkomplex in groben Zügen, wobei ich an den erwarteten Stellen auf groben Unglauben stoße: Kleine Tierchen in der Blutbahn und im Körper? Und die sollen auch noch ähnlich viel Schaden anrichten können wie eine große Verletzung? Davon hat er ja noch nie etwas gehört!
"Du kannst noch nicht davon gehört haben, Ochaum! Euer Volk weiß diese Dinge nicht! Ihr habt nicht die Mittel dazu, solche Dinge zu erforschen! Ihr wißt noch nicht einmal, daß es da etwas zu erforschen gibt!"
Nach einigen Minuten habe ich ihn wenigstens so weit, daß er wenigstens akzeptiert, daß ich recht haben und daß es so etwas wie Infektionskrankheiten tatsächlich geben könnte.
"Siehst du! Wenn verschiedene Menschen kurz nacheinander in ähnlicher Weise erkranken, dann muß man immer mit einer Infektionskrankheit rechnen. Und das ist unser Problem: Wenn die beiden, Obanque und Ozedan, sich eine solche Krankheit geholt haben, dann können sie die an uns weitergeben! Dann erwischt es uns über kurz oder lang alle!"
Ochaum wird bei dem Gedanken ein bißchen blaß.
"Es muß nicht so sein. Es kann so sein!"
"Und wir haben uns dann schon alle - wie heißt das? - angesteckt?"
"Das könnte sein!"
Ochaum ist fast sprachlos.
"Siehst du, Ochaum, eure Welt ist sogar noch gefährlicher als du das bis jetzt geglaubt hast. Du - und die anderen Granitbeißer genauso - hast bis jetzt diese Krankheiten praktisch nicht gesehen, weil für Infektionskrankheiten die Bedingungen in eurer Welt ungünstig sind. Ihr pflegt eure Kranken wenig oder gar nicht. Dann sterben sie schnell und können meistens niemanden mehr anstecken. Und außerdem gibt es hier wenig Menschen. Deshalb sind Epidemien, die ganze Völker ausrotten, hier nicht möglich. Nur wir hier, auf diesen Schiffen, hocken jetzt für eine ganze Zeit sehr nahe beisammen. Wenn es eine Krankheit ist, die leicht von einer Person auf die andere übergeht, dann kriegt es jeder hier, ohne Ausnahme!"
"Ob das eine der Gefahren ist, vor denen auf den Karten gewarnt wurde?" überlegt Ochaum laut?
"Möglich. Bei der Präzision der Angaben werden wir das aber nie wissen."
Minutenlang sieht Ochaum wieder nach vorne, um Kurs zu halten. Die hängenden Gebäude haben wir jetzt ganz hinter uns gelassen, und die Hallendecke ist jetzt nirgends mehr sichtbar von Menschen bearbeitet worden. Ich zeige nach rückwärts oben:
"Das könnte zum Beispiel ein Grund sein, warum die Erbauer der Toten Städte ausgestorben sind. Eine Seuche. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht war es ein Gift, in dem Wasser, meine ich. Dann droht uns keine Gefahr."
"Nur Ozedan muß sterben?" fragt Ochaum.
"Nicht unbedingt. Die verschiedenen Menschen haben unterschiedliche Widerstandskraft, und wir werden Ozedan anders behandeln als Obanque. Zum Beispiel kann ihn allein die Tatsache retten, daß er nicht unnötig dürsten muß. - Und bei Infektionskrankheiten ist der menschliche Körper auch nicht ganz wehrlos. Es gibt etwas, das von unseren Ärzten 'Immunsystem' genannt wird. Das ist der Oberbegriff von allen Abwehrmaßnahmen, die der Körper gegen eine Infektionskrankheit treffen kann. Das sind so viele, und die sind so kompliziert, daß ich sie dir nicht aufzählen kann - Ich kenne sie auch nicht alle. Immerhin bewirkt das Immunsystem, daß man von den allermeisten Infektionen überhaupt nichts merkt. Einige wenige machen krank, und nur ein paar davon führen wirklich immer zum Tode. - Von vielen Krankheiten würdest du zum Beispiel nichts weiter merken als eine gewisse Müdigkeit."
"Aha." Ochaum schweigt wieder und kümmert sich weiter um die Navigation. Den größten Teil der Halle haben wir bereits hinter uns gebracht. Den restlichen Teil der Hallendurchfahrt ist er still, und es ist nicht zu erkennen, ob er konzentriert mit der Steuerung und der Beobachtung der Umgebung beschäftigt ist, oder ob er über meine Erklärungen nachdenkt.
Während ich Ochaum diese Erklärungen gegeben habe, ist mir ein anderer Gedanke gekommen: Könnte diese Krankheit etwas mit dem Verschwinden der ersten Besatzung dieses Schiffes zu tun haben? Ich hatte es ja für mich privat mit dem Namen MARY CELESTE getauft, kurz bevor ich das Kommando über sie bekam, aber da sich das Schiff in der letzten Zeit völlig normal verhalten hat, ist mir diese Tatsache fast in Vergessenheit geraten. Könnte die erste Besatzung vollständig einer Krankheit zum Opfer gefallen sein? Aber warum dann die lange Zeitspanne, bis sich bei uns die Symptome zeigen? - Nein, das paßt auch nicht zusammen. Dieses Schiff ist nicht mit einem Fluch belegt, auch nicht mit einem mikrobiologischen Fluch.
Es ist kurz vor 21 Uhr, als wir die Halle verlassen. Gleichzeitig treten beidseitig der Wasserstraße die Berge wieder zurück, und verschiedene Hochtäler, deren Mündungen wir so gerade eben unter der leuchtenden Wolkendecke sehen, werden immer zahlreicher. Die abnehmende Steilheit der Talhänge ermöglicht bald wieder einen Bewuchs, und als unsere Lotungen etwa vier Kilometer hinter der Hallenausfahrt, die wir immer noch wie ein drohend aussehendes Loch sehen können, obwohl uns dort keinerlei Gefahren begegnet sind, Grund finden, legen wir die Schiffe wieder zur Insel zusammen. Zeit wirds.
Ochaum sagt, als er kurz rübersieht: "Wenn es keinen anderen Weg gibt, dann ist das eine Stelle, um den Zugang zu einem ganzen Teil der Welthöhle abzuriegeln!"
"Genau!" sage ich, "Das nennt man eine 'Strategische Position'!"
"So."
"War es jedenfalls mal. Ich kann dir aber nicht sagen, wie lange es her ist, daß dort zum letzten Male jemand auf vorbeifahrende Schiffe ein Auge oder auch mehr geworfen hat. Wirklich, Ochaum, in eurer Welt muß mal viel mehr los gewesen sein!"
"Was soll man da noch runterwerfen?"
Falsche Übetragung in die Xonchen-Sprache. Ich muß es wieder richtig stellen, damit Ochaum nicht denkt, bei uns würde mit Augen geworfen. Aber die Idee, daß man von diesen hängenden Gebäuden Schiffe ganz einfach bekämpfen konnte, indem man Felsbrocken auf sie fallen ließ, kommt ihm erst jetzt.
"Ich glaube nicht, daß ich da durchgefahren wäre, wenn diese Gebäude noch bewohnt gewesen wären!"
"So," sage ich und stelle die ketzerische Frage: "Und wie wärst du umgekehrt, sowie wir mal in der Halle drin waren?"
Es ist wirklich eine interessante Frage, und ich kann sie auch nicht beantworten, wie ich Ochaum sogleich versichern muß. Der Wind hätte uns einfach die Halle entlanggetrieben, auch wenn diese Gebäude noch genutzt worden wären. Wieder eine Gefahr, die wir ohne eigenes Zutun vermieden haben.
Vor dem Schlafen sehe ich noch nach Ozedan. Seine Bauchschmerzen sind konstant und stark, aber sonst geht es ihm gut. Sein Fieber scheint nicht so hoch zu sein wie bei Obanque, und sein Puls ist auch geringer. Er hat auch eine bessere Kondition. Beruhigt suche ich meinen Schlafplatz auf, heute auf dem Dach des Deckshauses. Da ist der Wind etwas deutlicher zu spüren.
Vorm Einschlafen fällt mir auf, daß vor den Hochtälern einige Pteranodons oder eine andere Flugsaurierspezies kreisen. Ich ordne ihnen ein bestimmtes, fernes, hohles Kreischen zu, aber da kann ich mich natürlich auch irren.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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