Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** 066. Tag: Montag 95-10-23 ********

66.1 Irene's Taschentuch

Eine Stunde später passiert das, was ich schon lange befürchtet habe: Die Richtung der Wasserstraße weicht nach links aus. Die Stakstangen müssen häufiger zu Hilfe genommen werden, und schließlich, als der Wind genau von links kommt, müssen alle Segel geborgen werden. Die Geschwindigkeit unserer kleinen Flotte sinkt wieder auf jämmerlich geringe Werte, und genauso beunruhigend ist, daß diese Richtungsänderung sich nicht mit den Karten zur Deckung bringen läßt.

Ich versuche, den wahrscheinlichen Verlauf der Wasserstraße anhand der sichtbaren Säulen abzuschätzen. Wenn wir diejenige Säule, von der ich noch vor einer Stunde angenommen habe, daß wir rechts an ihr vorbei fahren, links umfahren müssen, mit all ihren Vorgebirgen, dann heißt das, daß wir mit mehr als zehn Kilometer Wegstrecke mit nur seitigem Wind rechnen müssen. Andererseits kommen wir dann vielleicht in den Windschatten des Gebirgszuges und der Säule, die wir vor einiger Zeit links hinter uns gelassen haben - diese könnte die Windrichtung auch beeinflußen.

Ich befürchte, daß ich die Orientierung bald ganz verliere. Wenn der Wind, so, wie ich es vermute, tatsächlich hauptsächlich nach Norden geht und dieses damit auch unsere bisherige Bewegungsrichtung war, dann sind wir jetzt auf einem Westkurs. Aber genaugenommen weiß ich das nicht - seit ich bei Casabones von Irene getrennt wurde, habe ich keinen Kompaß mehr gesehen.

Zehn Zentimeter pro Sekunde - drei Stunden für jeden Kilometer. Osont muß an allen Nägeln kauen vor Ungeduld. Das sollte mich mit dieser Unpäßlichkeit versöhnen, aber mir geht es ja genauso.

Die Idee, die wir mal gehabt hatten, nämlich die Schiffe mit Seilen vom Ufer zu schleppen, ist in dieser Gegend weit hergeholt. Dazu braucht man eine Art Weg am Ufer. Hier stehen die Bäume beidseits im Wasser, und wo die eigentliche Uferlinie ist, das sehen wir nicht. Dazu sehen wir ab und zu kleinere Reptilien im Uferschlamm, die uns träge mustern. Sie werden uns nicht gefährlich, solange wir auf dem Schiff sind. Aber die Vorstellung, jetzt an diesen Gestaden ausgesetzt zu werden, ist sehr unangenehm: Man käme nicht einmal richtig vorwärts, um das Gebiet in bloß einigen Metern Umkreis zu untersuchen. Tief im Wasser waten - mit diesen krokodilartigen Tieren auf den Fersen - oder sich von Busch zu Baum zu Busch zu schwingen, die dazu nicht sehr geeignet sind - keine Stelle, an der man sich ausruhen könnte, ohne sich irgendwo festhalten zu müssen und die direkte Umgebung im Auge behalten zu müssen. Und überall greift man in Parasiten, die sich in diesem Sumpfklima wohlfühlen. Widerliche Vorstellung.

Wenn Osont jetzt auf die Idee käme, seine Widersacher unter der Mannschaft, oder die, die er dafür hält, hier loswerden zu wollen, dann würde denen kein abenteuerliches Robinsondasein blühen. Sehr unwahrscheinlich, daß man sich zu dem weiter landeinwärts gelegenen höheren Hinterland durchschlagen könnte. Es wäre ein Todesurteil.

Allerdings glaube ich, daß Osont nicht auf diese Idee verfallen würde: Er will seine Opfer sterben sehen, und zwar weil er erstens bei so etwas ganz gerne zusieht und weil er zweitens sicher sein will, daß seine Opfer dann auch wirklich tot und unschädlich sind. Beides hätte er nicht, wenn er jemanden hier aussetzte. Ja, und drittens würde er es für zweckmäßig halten, daß Leute, die er loswerden will, den Speiseplan der Schiffe bereichern. So ist er eben.

So um 3 Uhr taucht in der Mitte der Wasserstraße eine flache, langgezogene Insel auf, so, als sei der Boden eben zufällig für viele hundert Meter in der Mitte der Wasserstraße aufgefaltet. Diese Insel ist sumpfig und ähnlich bewachsen wie der eigentliche Grund. Vielleicht ist es auch gar keine Insel, sondern nur ein Gebiet, in dem die Wassertiefe so gering ist, daß der Grundbewuchs die Oberfläche erreicht und durchstößt.

Die langgezogenen Ränder dieser Formation erinnern wieder ganz stark an eine Insel, die durch eine Strömung geformt wurde. Aber nach wie vor gibt es keine Strömung. Nur diese Insel, zwischen zehn und dreißig Metern breit, viele hundert Meter lang, und rechts und links die etwa 50 bis 150 Meter breite Wasserfläche. An ganz wenigen Stellen haben es echte Landpflanzen geschafft, auf dieser Insel Fuß zu fassen. Unsere Flotte hat die rechte Hälfte der Wasserstraße gewählt, weil ich als Führer des ersten Schiffes damit angefangen habe. Einen anderen konkreten Grund für diese Wahl gibt es nicht.

Während sich unten die Männer mit der Stakerei abmühen, lasse ich meinen Blick über die Insel schweifen. Vielleicht sehe ich irgend etwas, das mir einen Hinweis auf ihre Entstehung geben wird.

Das ist nicht der Fall. Aber so etwa um 4 Uhr sehe ich vielleicht 150 Meter voraus in dem grasartigen Bewuchs einen hellen Fleck. Einen viel zu hellen Fleck. Das ist seltsam. Ich mache Ochaum drauf aufmerksam. Auch er sieht genauer hin.

Wie jeder weiß, der mit dem Leben in der freien Natur vertraut ist oder sich dort nur häufiger aufhält, ist die Farbe Weiß eigentlich selten. Das ist bei uns so und das ist in der Welt der Granitbeißer nicht anders. Weiß sind vielleicht Kalksteine, aber sie müßten schon sehr rein sein, und ich habe hier noch keine Kalkfelsen gesehen - übrigens vielleicht auch ein Hinweis auf die Entstehung der Welthöhlen. Dann gibt es weiße Blütenblätter. Aber die sind auch schon selten, jedenfalls in der Größe dieses weißen Fleckes da vorne, und hier, in der Welt der Granitbeißer, sind Blüten sowieso sehr selten, weil es weniger Insekten gibt, und weil es kein ultraviolettes Sonnenlicht gibt, das manche Blüten in sichtbares Licht umsetzen können. Knochen sind auch hell, aber nicht völlig weiß, und sie werden bei längerem Liegen dunkel. Das kann es auch nicht sein. Während des Näherkommens geht mir auf, daß es für einen weißen Fleck in dieser Welt kaum eine Erklärung gibt. Ich bin gespannt. Jetzt sind es noch 100 Meter. Ich dränge Ochaum, so nahe wie möglich an die Mittelinsel heransteuern zu lassen.

50 Meter. Es könnte natürlich wieder irgend etwas Unappetitliches sein. Damit muß man in tropischer Umgebung rechnen. Zwischen Stoffwechselendprodukten und Gelegen von Eiern irgendeiner Tierart ist eigentlich alles möglich. Ich denke jetzt auch an Eier. Wenn es ein Saurierei ist, dann könnte ich es mitnehmen - wenn die vielen logistischen Fragen des Weitertransportes bis in unsere Welt gelöst werden. Diese sind aber nicht einmal hinsichtlich meiner Person gelöst, und so bleibt das nur ein Gedankenspiel. Außerdem glaube ich zu wissen, daß Sauriereier eine lederartige Umhüllung haben, aber das ist wahrscheinlich eine unfundierte Vermutung, da ich noch keines mit Bewußtsein gesehen habe. Wahrscheinlicher ist, daß ich irgendwann einmal eine Geschichte gelesen habe, in der Sauriereier vorkamen, und die waren eben von lederartiger Oberfläche. - Ich weiß nicht einmal, welche Saurier Eier legen, und welche lebendgebären.

20 Meter. Allmählich kommt mir der Gegenstand bekannt vor. Angetrieben an der äußersten Kante des Pflanzenbewuchses der Insel, so, daß dieser Gegenstand gerade eben von langen, grasartigen Blättern festgehalten wird.

Es sieht aus wie ein weggeworfenes, gebrauchtes Tempotaschentuch.

10 Meter. Ochaum soll das Schiff an dieser Stelle zum Stillstand bringen. Ich will es genau wissen. 5 Meter. Nun ist es auf gleicher Höhe mit unserem Bug.

ES IST ein gebrauchtes, teilweise zerknülltes und weggeworfenes Tempotaschentuch!

Mittschiffs kommt die Bordwand auf weniger als einen halben Meter an die Fundstelle heran. Mit der hohlen Hand greife ich unter das durchnäßte Ding und hebe es heraus, als ob es jeden Moment zerfallen könnte.

"Ochaum! Lass alle Männer nachsehen, ob einer noch irgend etwas Ungewöhnliches herumliegen sieht, hier, oder da drüben, am anderen Ufer! Wir müssen gleich weiterfahren - Osont da drüben sieht schon wieder ungeduldig aus!"

Das tut er in der Tat, weil ja auch die uns folgenden Schiffe anhalten müssen. Aber zumindestens die Information, daß der Saurierfänger hier vorbeigekommen sein muß, dürfte ihn wohl genauso interessieren wie mich.

Es gelingt mir, das nasse Stück Zellstoff auf einem Decksbalken auszubreiten, so daß jeder die quadratische Form sehen kann. Da ist eine Randprägung, die man gerade noch erkennen kann, während die Faltung nicht mehr erkennbar ist. Auch das ausgeschneuzte Material, wenn das Tuch tatsächlich dazu verwendet worden sein sollte, ist spurlos weggelöst.

"Sowas habe ich noch nie gesehen, so ein feines Tuch! Und so hell!" sagt Ochaum, als er mir über die Schulter guckt.

"Wenn wir auf Casabones noch mehr über das Papiermachen gelernt hätten, dann hätten wir so etwas auch herstellen können!" erkläre ich.

"Und wozu ist das gut?"

"Man kann sich damit säubern. Siehste, das ist das sicherste Zeichen, daß meine Frau hier war. Dann war auch der Saurierfänger hier!"

"Dann waren sie aber in Schwierigkeiten!"

"Nein. Wieso? Woraus schließt du das?"

"Sie - deine Frau - hat doch dieses Tuch weggeworfen oder verloren!"

Ich versuche, Ochaum zu erklären, daß es in unserer Zivilisation Wegwerfartikel gibt, und daß dieses Tuch dazu gehört.

"Wahrscheinlich hat sie nur noch wenige davon - sie hat ja unser Gepäck! - und sie hätte es wohl nicht so einfach weggeworfen. Also entweder war sie einen Moment lang unüberlegt, oder sie hat es absichtlich weggeworfen, um eine Spur zu legen. In der Hoffnung, irgendwann würde ein Mensch - oder ich - vorbeikommen, und wissen, daß jemand - oder daß sie hiergewesen ist. Mein Gott, ist sie in Schwierigkeiten? Wenn sie es absichtlich gemacht hat, dann muß sie doch wissen, wie unwahrscheinlich es war, daß hier jemand vorbeikommt, der dieses Tuch identifizieren kann! - Dann muß sie sehr verzweifelt sein, wenn sie alles auf diese Karte setzt."

Ich habe mehr laut gedacht. Ochaum weiß von Irene nichts. Er weiß nicht, unter welchen Umständen sie auf welche Ideen kommen könnte. Genaugenommen weiß ich das auch nicht. Dieses braucht nicht das erste weggeworfene Tuch zu sein - seit Casabones und hier können Dutzende davon im Wasser schwimmen. Wieviel Päckchen haben wir mitgenommen? Jedesmal, wenn wir in die Berge gehen, nehmen wir viele Päckchen Tempotaschentücher mit, wenigstens so viele, daß im Freien wenigstens einer von uns Durchfall bekommen könnte und sich mehr als einmal säubern kann. Diese Päckchen wiegen ja fast nichts.

"Es kann noch nicht lange her sein, daß sie hier war!" sage ich, "Dieses Tuch ist zu gut erhalten."

In diesem Punkte bin ich Fachmann. Papiertaschentücher sind Zellstoff, und da nehme ich es selbst bei meinen Waldläufen mit der Müllvermeidung nicht immer so genau. Gelegentlich werfe ich schon mitten im Wald eins weg. Deshalb weiß ich, wie so ein Taschentuch im Laufe weniger Monate zerfällt und verschwindet. Zellulose zu Zellulose. Da habe ich kein schlechtes Gewissen - jeder Forstbeamte, der sich auf einem Dienstweg mit seinem Dienstfahrzeug auf Forststraßen bewegt, trägt mehr dazu bei, den Wald zu ruinieren, als jemand, der ein Papiertaschentuch wegwirft. Auch PKWs im Forstdienst produzieren Stickoxide und Kohlendioxid.

Wir haben die normale Fortbewegung wieder aufgenommen. Und in meinen Gedanken rotiert die Phantasie. Auch schlimme Szenarien sind darunter, sehr schlimme.

Hat es den Saurierfänger doch erwischt? Ist Irene dabei, sich ganz allein durch den Dschungel zu schlagen, mit unserem Gepäck, oder Teilen davon, ziellos und ohne Konzept? Ist sie hier irgendwo? Sind wir schon an ihr vorbei? So dicht, wie hier der Urwald ist, sie könnte wach und aufmerksam nur hundert Meter von uns entfernt im Urwald sein, und sie würde von uns nichts bemerken, und wir nichts von ihr. Ist sie verletzt, schwach, krank, hilflos?

Neues Szenario: Sie hat es geschafft, die gefährlichen Uferdschungel zu verlassen und ist in die Berge aufgestiegen, die wir über den Baumwipfeln in allen möglichen Richtungen immer wieder sehen. Sie denkt, daß sie an eine der Säulen heran kann, und daß an dieser Säule zufällig auch ein Weg in die Welt nach oben führt, so unwahrscheinlich, wie das ist. Vielleicht ist sie in klettertechnische Schwierigkeiten gekommen und sitzt nun fest, in einer der Felswände, die wir von weitem sehen, immer noch im Glauben, daß es da irgendwie noch weiter geht. Vielleicht sieht sie uns, oder wenigstens unsere Schiffe, vielleicht vermutet sie, daß ich an Bord bin, vielleicht will sie auf sich aufmerksam machen, und Schwäche und Entfernung machen ihr das unmöglich. - Und vielleicht ist sie aber auch gerade auf der anderen Seite einer Felsformation, und ein Sichtkontakt ist nicht möglich.

Und selbst, wenn sie so nahe dran ist, daß ich sie mit bloßem Auge erkennen kann - so erkennen kann, daß ich wenigstens weiß, da ist ein Mensch - dann heißt das immer noch, daß ich in jeder Sekunde so viele verschiedene Richtungen abmustern müßte, daß ich überhaupt nichts anderes mehr tun könnte, und doch gäbe es Blickwinkel, die bei der Durchmusterung nicht mehr drankämen. Es ist eine einfache Rechnung: Das Auge hat ein Auflösungsvermögen von etwa einer Bogenminute. Zwei Richtungen gelten als dann verschieden, wenn sie sich wenigstens um diesen Winkelbetrag unterscheiden. In diesem Sinne gibt es von einem gegebenen Standort etwa 120 Millionen verschiedene Blickrichtungen.

Ich denke an den Vorfall auf Casabones, wo ich auf einem fernen Hügel, der gerade aus den Wolken ragte, eine Gestalt gesehen habe, die ich nie entdeckt hätte, wenn ich nicht zufällig genau in diese Richtung geblickt hätte. Die anderen hatten ja auch nichts gesehen. Aber in jenem Fall war es einfach, weil diese Gestalt sich an einem auffälligen Punkt aufgehalten hat. Wenn Irene hier irgendwo ist, dann hat sie vielleicht nicht die Möglichkeit, sich so schnell einen auffälligen Standort zu suchen, bevor wir wieder aus ihrem Gesichtskreis entschwinden.

Ich nehme mir vor, daß, wenn eine auffällige Formation auftaucht, die vom Uferdschungel aus relativ leicht erreicht werden kann, etwa ein malerischer Felsen, der direkt an die Wasserstraße angrenzt und hoch über diese aufragt, diesen ganz genau anzusehen. Das wäre ein Punkt, den ich auch zu erreichen versuchen würde. Glaube ich. Wissen kann ich es nicht - mir fällt es schwer, mich in diese Situation absoluter Hilfslosigkeit hineinzuversetzen, die eine Aussetzung in dieser Gegend bedeuten würde. Und Irene empfindet ja noch anders als ich. Außerdem ist eine solche Formation bis jetzt nicht aufgetaucht, die Felsen stehen in dieser Gegend erst im Hinterland.

Andererseits - eine Katastrophe, die den ganzen Saurierfänger samt Besatzung umbringt und nur von Irene überlebt wird, kann ich mir kaum vorstellen. Wenn Irene noch lebt, dann ist sie mit anderen zusammen, und so, wie ich sie kenne, bleibt sie mit anderen zusammen. Die Szenarien, die mir durch den Kopf schwirren, sind sinnlos: Wären sie wahr, dann könnte ich für Irene nichts tun, und höchstwahrscheinlich sind sie nicht wahr. Wahrscheinlich ist: Irene ist noch auf dem Saurierfänger, und der hat vor nicht allzulanger Zeit diese Stelle passiert.

Trotzdem, in den nächsten Stunden beobachte ich die Umgebung mit über das Übliche erhöhter Aufmerksamkeit, werfe auch einen Blick in die unwahrscheinlichsten Stellen. An mir soll es nicht liegen, wenn sie doch in greifbarer Nähe von mir gesehen werden könnte und der Hilfe bedarf.

Die Insel in der Mitte der Wasserstraße bleibt uns noch einige Kilometer erhalten, bevor sie wieder völlig verschwindet. Das ist gerade kurz vor 11 Uhr der Fall, als wir die vier Schiffe wieder zu einer schwimmenden Insel zusammenlegen.

Wenn ich aber dachte, ich könnte gleich bis zu meiner Wache schlafen gehen, dann habe ich mich geirrt: Es gibt noch ein bißchen Ärger.

Osont betritt mein Schiff und kommt auf mich zu.

"Was hast du da heute aus dem Wasser gefischt?"

Ich erkläre es ihm.

"Es hat uns aufgehalten. Das nächste Mal fragst du mich, wenn du so etwas vorhast!"

"Aber wir wissen doch jetzt, daß der Saurierfänger hier war!" sage ich.

"Na und? Ändert es etwas an unseren Plänen, ob der hier war oder nicht? Na also. Ich möchte keine unbegründeten Aufenthalte mehr, verstanden?"

'Und wie hätten wir uns denn absprechen sollen, so auf verschiedenen Schiffen?' möchte ich fragen, aber Osont sieht mich so an, daß völlig klar ist: Er möchte keine Widerrede. Schon gar nicht von mir. Also halte ich den Mund.

Irgendwann werde ich ihn totschlagen.

66.2 Schiefe Bauchschmerzen

Als Osont auf sein Schiff zurückgekehrt ist, kommt Ochaum auf mich zu. Er hat die kurze Diskussion eben mitangehört, aber nicht dazu will er sich äußern:

"Ein Mann hat Bauchschmerzen!"

"Wer?"

"Obanque."

"Kenn ich nicht. Ist das einer von den neuen?"

"Ja. Es sind die Schiefen Bauchschmerzen."

"Die was?"

"Die Schiefen Bauchschmerzen."

"Ich seh's mir mal an!" sage ich, "Wo ist er?"

Ochaum führt mich zum Achterdeck.

Obanque liegt in verkrümmter Stellung auf dem Achterdeck, zwischen den Holzvorräten. Er ist noch jung, vielleicht 18, und er will aufstehen, als er mich kommen sieht.

"Bleib liegen!" sage ich, "Du heißt Obanque?"

"Ja." Er kann noch sprechen ohne zu ächzen, aber er ist nicht mehr sehr weit davon entfernt. Er hat Angst.

"Klingt französisch."

"Klingt wie?"

"Das ist eine Sprache, da, wo ich herkomme. Zeig mal. Wo tut es weh?"

"Die Schiefen Bauchschmerzen," wirft Ochaum ein, "führen meistens zum Tode!"

"Nun laß doch mal deine Zwischenbemerkungen! Willst du ihn so ermutigen? Soweit sind wir noch lange nicht!" fahre ich Ochaum an, und dann zu Obanque: "Also, wo tut es weh?"

Er deutet auf seinen rechten Unterbauch. Sein Gesicht ist mit Schweiß bedeckt, und sein Lederrock ist mit Erbrochenem beschmutzt. Ich fühle zunächst seinen Puls, was ihn sehr verwundert, denn er kann sich nicht vorstellen, was ich mit seinem Handgelenk will, wo er mir doch gerade erzählt hat, daß es bei ihm im Bauch wehtut. Über Fieber kann ich ohne Meßinstrument sowieso nichts aussagen, weil die Körpertemperatur der Granitbeißer höher als unsere ist, aber die erhöhte Pulsfrequenz weist auch auf Fieber hin. Seine Stirn fühlt sich jedenfalls sehr heiß an.

"Erzähl mir, wie es angefangen hat, und sag mir, wenn ich dir weh tue, ja?"

Während ich mich zu erinnern versuche, wo ungefähr der McBurney-Punkt ist, weil ich ja natürlich zuerst an die häufigste Ursache des akuten Abdomen denke, nämlich die Appendizitis, erzählt er mir, daß es vor einigen Stunden mit Bauchschmerzen angefangen hat, dann kam ein Schluckauf, aber nur kurz, und dann wurde ihm übel. Es hat aber dann noch eine Weile gedauert, bis er sich erbrochen hat. Unterdessen hatte der Schmerz sich verstärkt und hatte sich im rechten Unterbauch festgesetzt.

"Autsch!" ruft er und unterbricht seine Erläuterungen. Ich habe den Loslaßschmerz auf der dem McBurney-Punkt gegenüberliegenden Seite ausprobiert. Funktioniert hervorragend. Nur der McBurney-Punkt selbst zeigt nicht das gewünschte Verhalten. Aber vielleicht drücke ich meinen Finger nicht skrupellos genug hinein. Außerdem heißt es ja, daß die akute Appendizitis sich hinter sehr ungewöhnlicher und wechselnder Symptomatik verstecken kann. Schon die Art, wie der Appendix tatsächlich positioniert ist, kann den Schmerzcharakter beeinflußen.

Dann probiere ich noch, ob die Sache mit dem Rovsing-Verschiebeschmerz funktioniert, aber Obanque reagiert nicht darauf, wenn ich versuche, ihm den Oberbauch seitlich zu verschieben. Vielleicht mache ich das auch falsch - ich bin ja kein Arzt.

"Was hast du gegessen?" frage ich ihn. Dabei lege ich mein Ohr auf seinen Bauch, versuche, seinen Körpergeruch zu ignorieren und mache ein paar Klopfschallversuche. Übertrieben große Hohlräume scheinen da nicht zu sein, so daß man nicht unbedingt an einen Darmverschluß denken muß. Aber auch dabei habe ich keine Vergleiche, da ich nicht routinemäßig Kranke untersuche. Was ich so weiß, habe ich mir nur angelesen, wenn mir mal selbst etwas gefehlt hat - dann wird die medizinische Fachliteratur plötzlich interessant. Wenn es mir schlecht geht, lese ich immer im Harrison's wie andere Leute im Quelle-Katalog, um herauszufinden, was mir Schönes fehlt.

Außerdem sind der Klopfschall und auch die Darmgeräusche schwer zu hören, weil im Urwald beiderseits der Wasserstraße soviele Tiere rumkrakelen. Bei solchen Gelegenheiten merkt man erst, wie laut der Urwald ist.

Obanque's Speiseplan hat sich in der letzten Zeit in nichts von dem seiner Kameraden unterschieden, und auch der Stuhlgang und Urin waren in Menge und Qualität wie immer. Die einzige Aufregung war für ihn in letzter Zeit, als sein Schiff von dem Brontosaurier überrannt wurde. Die Beschwerden fingen aber erst viel später an. Ich lasse mir erzählen, wie dieses Ereignis für ihn abgelaufen ist, um herauszufinden, ob er eventuell dabei einen starken Stoß in den Bauch oder sonstwohin erhalten hat. Aber dem ist nicht so - Obanque kann sich erinnern, daß er nahezu am Heck des Schiffes stand, als der Bronto auf sie zukam. Sekunden vorher hat er begriffen, was passieren würde, dann war es aber auch schon zu spät, noch irgend etwas zu unternehmen. Als der riesige Saurier mit seiner Brust das Schiff traf, gab es einen Ruck und Obanque war im Wasser - das Schiff war einfach unter seinen Füßen weggezogen worden. Er hat dann sofort gemerkt, wie es um das Schiff steht und ist deshalb auf das nächste Schiff zugeschwommen und hat es auch erreicht. Keinen Kratzer hat er bei der ganzen Sache abbekommen, und die gefräßigen Fische haben ihn auch verschont.

Obanque's Bauchmuskeln sind kaum verspannt, aber das kann ja noch kommen. Seine verkrümmte, asymmetrische Schonhaltung läßt auch auf ein asymmetrisches Problem schließen - das kann aber auch noch ein Ileus sein. Und was es sonst noch für Gründe für ein akutes Abdomen geben kann, da habe ich überhaupt keine Übersicht. Allerdings bin ich schon ziemlich sicher, daß der Blinddarm die Ursache ist.

Trotzdem, mal durchgehen, was da noch sein könnte: Pankreatitis? Vielleicht, aber Obanque ist ja kein Raucher. Das und sein geringes Alter schließen auch einen Herzinfarkt mit untypischer Symptomatik aus. Nieren, etwa Nierensteine? Nein, nicht bei klarem Urin. Ein orthopädisches Problem, etwa an der Wirbelsäule? Nicht auszuschließen, glaube ich aber auch nicht. Gallenblase, Gallensteine, dadurch verursachte Koliken? Sollte der Schmerz mehr kolikartig und oberbauchnahe sein. Also unwahrscheinlich. Dann, ein Darmkatarrh. Möglich, aber auch unwahrscheinlich. Obanque hat dasselbe gegessen wie die anderen auch. Und ich bin überzeugt, daß die Granitbeißer Aas essen können, Fleisch in fortgeschrittenem Verwesungsstadium. Ich habe es ja selbst schon gesehen, wie wenig Ansprüche sie an die Frischhaltung stellen. Nein, bakterielle Darminfektionen kann man auch ausschließen. Man würde es auch am Stuhlgang sehen und riechen. Und andere Darmentzündungen? Morbus Crohn? Da kenne ich die genaue Symptomatik nicht.

Eigentlich müßte ich noch eine rektale Untersuchung machen, um festzustellen, ob auch da ein rechtsseitiger Druckschmerz besteht. Aber ich habe absolut keine Lust, Obanque den Finger in den Arsch zu stecken. Außerdem sage ich mir, daß ich ja auch für diese Untersuchung keine Vergleichsmöglichkeiten habe. Es wird schon eine Appendizitis sein. Die hohe Inzidenz der Appendizitis spricht auch dafür. Ich lasse ihn noch, um die Diagnose zu bestätigen, sein rechtes Knie anwinkeln und ruckartig strecken, weil dann auch ein plötzlicher Schmerz auftreten soll. Tut es aber nicht - es schmerzt vor, während und nach dieser Aktion gleichermaßen. Symptomatik wie im Bilderbuch: uneinheitlich.

"Das Schiefe Bauchweh also." sage ich und stehe auf. "Soso. Ich kann dazu nicht viel sagen. Wir kennen diese Krankheit. Man müßte sofort operieren."

"Man müßte sofort was?" fragt Ochaum.

"Operieren. Man schneidet den Bauch auf. Am Darm, etwa hier unten," ich zeige es an mir, "ist eine Art kleiner Seitenweg, der zu nichts nütze ist. Ihr müßtet ihn kennen - ihr kennt euch doch im Gedärm eines Menschen aus, oder? Dieser Seitenweg ist bei Obanque schlecht geworden und müßte abgeschnitten werden. Dann näht man den Bauch wieder zu."

Obanque wird noch blässer, als er sowieso schon ist.

"Den Bauch aufschneiden?" ruft Ochaum, und alle blicken her, auch von den anderen Schiffen, "Dann ist er ja gleich tot!"

"Wenn ihr es macht, ja. Man muß sehr sorgfältig und sauber dabei vorgehen."

Ochaum sieht mich ungläubig an: "Ja, kannst du denn sowas?"

"Ich? Nein. Unmöglich. Ich habe das nicht gelernt."

"Und was kannst du dann machen?"

Ich überlege. Da stehe ich nun, mit den Erfahrungen einer hochtechnisierten Zivilisation im Nacken, und mit leeren Händen:

"Nichts."

"Aber du weißt ganz sicher, daß das geht? Mit dem Bauchaufschneiden, meine ich?"

"Hör zu," sage ich zu Ochaum, "bevor du auf dumme Gedanken kommst: Man braucht für so etwas absolute Sauberkeit. Die ist hier nirgends zu finden. Man braucht Instrumente, die tausendmal schärfer sind als unsere Schwerter, und die viel feiner geschmiedet sein müssen. Und auch die müssen absolut sauber sein. Dann braucht man Betäubungsmittel, damit der Patient bewußtlos wird. Nicht nur bewußtlos, seine ganze Muskulatur muß ruhiggestellt werden, damit nicht beim Einschnitt seine eigenen Muskeln alles zerreißen. So etwas gibt es hier nicht. Und außerdem darf so etwas nur von einem Arzt gemacht werden, der Jahre seines Lebens darauf verwendet hat, das zu lernen. Den gibt es hier auch nicht. Unter den Bedingungen hier eine Operation zu versuchen hieße, Obanque mit Sicherheit umzubringen. Ebensogut könnte man ihn gleich in die Speisekammern schaffen."

"Da wird er sowieso hinkommen!" sagt Ochaum, "ich sagte doch schon: Das Schiefe Bauchweh überlebt niemand. Ganz selten, daß es doch einmal einer überlebt!"

"Das ist seine einzige Chance!" sage ich, "er muß still liegen bleiben, darf nichts zu essen und zu trinken bekommen. Trinken in einigen Tagen vielleicht wieder, in kleinen Mengen. Aber es darf nichts mehr in den Darm hineinkommen, bis er es überstanden hat. Seine einzige Chance!"

Ochaum sieht mich ungläubig an.

"Ist denn das so schwer einzusehen?" frage ich, "Hast du es nicht verstanden? Da ist ein Seitenweg seines Darmes, der vielleicht aufbricht. Wenn dann etwas im Darm ist, dann ergießt sich das in die Bauchhöhle! Dann ist er ganz schnell tot!"

"Und wenn er nichts ißt, dann überlebt er?"

"Vielleicht. Versprechen kann ich gar nichts. Er ist in sehr großer Gefahr. Er soll still liegen. Und er muß ständig bewacht werden, damit er sich nicht selbst irgendwann etwas zu essen oder zu trinken holt. Das muß sofort die Nachtwache mit übernehmen!"

Ich bemerke, daß Osont uns von seinem Schiff die ganze Zeit zugehört hat. Jetzt kommt er wieder zu uns herüber. Aber er sagt noch nichts.

"Gut." sagt Ochaum. "Soll er genau an dieser Stelle liegen bleiben?"

"Wo er sich wohl fühlt und wo er nicht im Wege liegt." sage ich.

"Und wie lange wird es dauern?"

"Das weiß ich auch nicht genau. Wenn wir großes Glück haben - wenn er großes Glück hat - dann gibt es keine Perforation des Blinddarms. Dann könne es in einigen Tagen vorbei sein. Sonst dauert es Wochen. Oder er ist schon in einigen Tagen tot."

Obanque folgt unserer Unterhaltung mit wechselnden Graden an Entsetzen. Bei meinem letzten Satz verspannt er sich richtig. Ich lasse mich wieder auf die Knie herunter.

"Obanque, du hast doch alles mitbekommen, was wir gesagt haben, oder? Also: Ruhig liegen bleiben, nichts essen, nichts trinken. Mehr weiß ich nicht. Ich kann nicht mehr für dich tun! Vielleicht wird es noch schlimmer, vielleicht auch nicht. Hörst du? Bleib ganz ruhig liegen! Dann geht in deinem Bauch nicht noch mehr kaputt, und alles wird wieder gut. Hast du verstanden?"

Obanque nickt. Als ich wieder aufstehe, steht Osont direkt neben uns.

"Ah, das ist ja wirklich interessant. Man kann einen Menschen aufschneiden, und er bleibt dabei am Leben?"

"Im Prinzip ja," sage ich, "hier geht das aber nicht."

"Also, das möchte ich zu gerne einmal sehen!"

"Ich wüßte nicht, wie man das einrichten kann. Du müßtest unsere Welt besuchen!" sage ich vorsichtig.

"Ja. Das wäre möglich." Osont sieht sich Obanque sehr genau an.

"Du hast ihn doch so angefaßt, daß du herausgekriegt hast, was bei ihm nicht stimmt?"

"Ja, ich habe ihn untersucht."

"Also verstehst du doch etwas davon!"

"Nur ein bißchen!"

"Aber du weißt jetzt schon, was mit ihm los ist. Dabei kannst du doch nicht in ihn hineinsehen. Oder kannst du das?"

"Nein das kann ich nicht."

"Also weißt du auch nicht mit restloser Sicherheit, ob es richtig ist, was du gesagt hast?"

"Nein. Solche Dinge weiß man nie mit restloser Sicherheit. Es gibt nur mehr oder weniger wahrscheinliche ..."

"Aber wenn du ihn aufschneiden würdest, dann wüßtest du es, oder?"

"Ja. Und er wäre tot." Ich versuche es noch einmal eindringlich zu sagen: "Mit den Mittel in eurer Welt kann man keinen Menschen operieren!"

Osont sagt nichts mehr. Er kratzt sich am Kopf und geht wieder auf sein Schiff zurück.

"Morgen," sagt Ochaum leise zu mir, so daß Obanque ihn kaum hören kann, "morgen mußt du ihn aufschneiden. Osont will das so. Ich kenn ihn. Du wirst sehen!"

"Scheiße." sage ich. Obanque hat vielleicht nicht genau gehört, was wir gesprochen haben, aber er kann den Sinn erraten. Auch er hat Osont gesehen und seinen Tonfall gehört. Ihm steht die Todesangst in den Augen. Ochaum legt mir die Hand auf die Schulter, um mich etwas von Obanque wegzudrücken.

"Wie können wir es verhindern?" frage ich Ochaum, "wenn ich es nur versuche, wenn ich anfange - er stirbt sofort! Und qualvoll ..."

"Ja, er. Aber du nicht. Osont hat dann seinen Spaß gehabt."

"Dann müssen wir Osont klarmachen, daß das nur einen nutzlosen Aufenthalt bedeutet. Wir müssen doch sofort weiter. Das Argument versteht er doch!"

"Ja, normalerweise," schüttelt Ochaum den Kopf, "aber jetzt hat er sich etwas in den Kopf gesetzt. Die ganze Flotte wird warten, bis die Operation fertig ist."

"Naja, das wird ja nicht sehr lange dauern. Eine Operation gilt auch dann als fertig, wenn der Patient gestorben ist."

"Zeig ihm halt den Blinddarm!" schlägt Ochaum vor, "Wir haben doch noch vollständige Leichen in der Speisekammer. Daran kann man es doch demonstrieren!"

"Glaubst du, daß es das ist, was Osont will?"

Nein, das glaube ich nicht. Ochaum hat recht: Osont hat ein neues, grausames Spiel gefunden.

Ich gehe zu dem kranken Jungen hin und beuge mich über ihn. Er sagt nichts. Hat er nun was mitgekriegt?

"Versuche, zu schlafen. Im Schlaf merkt man den Schmerz nicht!" Das ist natürlich gelogen. Ein starker Schmerz weckt aus jedem Schlaf auf. Aber er muß etwas haben, woran er sich die nächsten Stunden lang festhalten kann - die Hoffnung, in Schlaf zu fallen, und dann ist zeitweise alles vorbei.

"Wirst du mich töten?" fragt er. Mist. Er hat doch etwas gehört. Oder er hat verstanden, genausogut wie Ochaum, was Osont vorhat.

"Ich versuche, es nicht zu tun. Aber ..."

"Aber?"

"... aber es ist am leichtesten für dich, wenn du in den nächsten Stunden gesund wirst. Vielleicht hast du ja Glück, und es ist etwas ganz anderes. Vielleicht verschwindet es ja wirklich in einigen Stunden! Bei manchen Krankheiten ist das so."

Ich wollte noch sagen, daß es genauso leichter für ihn ist, wenn er in den nächsten Stunden stirbt, als wenn Osont mich morgen zwingt, ihn zu operieren. Aber ich traue mich nicht, das zu sagen.

"Kannst du dich an deine Eltern erinnern?"

Er schüttelt den Kopf.

"Versuch es. Jeder kann sich an seine Eltern erinnern. Denk an sie. - Ich muß jetzt weg."

Und so trete ich mal wieder eine Flucht an. Vielleicht wäre es für Obanque leicher, wenn jetzt jemand mit ihm spricht. Aber ich kann es nicht. Ich mag es nicht.

Wenn ich ihn morgen operieren muß, dann will ich ausgeschlafen sein. Vielleicht können rasche Reflexe die fehlende medizinische Ausbildung wenigstens teilweise ersetzen. Und wenn es denn gar nicht geht - ich überlege mir jetzt schon, wie ich den armen Jungen mitten in dieser schauerlichen Operation absichtlich und schnell vom Leben zum Tode bringen kann. Wenn man schon mit einem Messer in der Bauchhöhle arbeitet, dann, eine schnelle Bewegung mit der Klinge nach oben, durch das Zwerchfell, auf das Herz zu ... aber Osont wird mir zu genau über die Schulter sehen.

In was für einen Alptraum bin ich da wieder hineingeraten. Sollte ich Obanque vielleicht in den Stunden der vor uns liegenden Schlafperiode umbringen, um dieses Gemetzel zu vermeiden? Und wenn Osont doch noch nicht so entschlossen ist, dieses unnötige Schauspiel zu veranstalten? Ich weiß es nicht. Was soll ich tun? Osont müßte ich umbringen - wenn es eine moralische Verpflichtung zu irgend etwas gibt, dann dazu. Osont hat es verdient. Aber der paßt auf sich auf, läßt auf sich aufpassen, gerade jetzt. Ist nicht zu schaffen. Was kann ich denn dann noch schaffen?

Irene wiedersehen. Sie und mich nach oben bringen. Deshalb das geringste Risiko für mich und meine Person eingehen. Deshalb Obanque operieren.

Scheiße, verdammte Scheiße.

66.3 Appendektomie?

Es ist nichts mit dem ruhig durchschlafen, um am anderen Morgen eine ruhige Hand zu haben. Ich hätte genausogut die Wache für die ganze Schlafperiode übernehmen können. Dabei weiß ich genau, wie übel sich bei mir Schlafmangel auf alles auswirkt, was erhöhte intellektuelle und motorische Anforderungen stellt.

Den anderen, auch Ochaum, geht es nicht so. Aber sie müssen es ja nicht tun, wenn Osont es wirklich dazu kommen läßt. Nur Obanque bleibt wach, jedenfalls lächelt er mich jedesmal hilflos an, wenn ich während meiner Wache nach ihm sehe. Als ob ich etwas ändern kann.

Ich versuche, mich zu erinnern, was ich über Operationstechniken weiß. Es ist jämmerlich wenig. Da gibt es zum Beispiel das System der Langerlinien, die an jeder Stelle des Körpers eine wohldefinierte Richtung haben. Wenn man eine chiurgisch gesetzte Wunde so schneidet, daß sie zu diesen Linien parallel ist, dann gibt es fast keine Narbe. Wahrscheinlich hat jeder Chiurg dieses Liniensystem genau im Kopf. Ich aber nicht. Dann - womit soll ich Blut und Eiter absaugen? Womit nähen? Haken brauche ich, um die Wundränder auseinanderzuhalten. Und was ist eigentlich alles zwischen Bauchdecke und Appendix, wo man hindurch muß? Bei welchen großen Gefäßen muß ich aufpassen, um sie nicht zu verletzen? Wo sind wichtige Nervenbahnen? Ich habe doch nie im Leben eine Anatomievorlesung besucht!

Dann, die genaue Position des Appendix ist auf dem ersten Drittel zwischen Beckenknochen und Bauchnabel. Bei uns Menschen. Bei den Granitbeißern kann sich das im Laufe der Evolution geringfügig geändert haben, und da der Appendix gelegentlich beliebt, sich etwas zu verstecken, könnte eine größere Suchaktion im geöffneten Bauch erforderlich werden, und dazu muß die Wunde wieder vergrößert und von Blut freigehalten werden. Dann, nach der Operation, gibt man Antibiotika. Charmion hat mir zwar damals diese schachtelhalmartige Pflanze gezeigt, von der ich glaube, daß sie Antibiotika erzeugt, aber wir haben dieses Kraut wahrscheinlich nicht an Bord. Und wenn wir sie erst suchen müssen, hier, in diesem Urwald?

Am Morgen geht es Obanque genauso schlecht wie am Abend zuvor. Noch vor 20 Uhr gehe ich zu ihm und versuche ihm klarzumachen, daß, wenn er schon nicht schlafen kann, er wenigstens so tun soll, als ob er schliefe. Vielleicht kann ich Osont dann klarmachen, daß er damit auf dem konservativen Wege der Heilung ist und eine Operation damit unnötig. Ich muß es jedenfalls wenigstens versuchen.

Bevor ich Obanque verlasse, schärfe ich ihm noch einmal ein, daß er streng hungern und dursten muß. Er nickt. Noch ist er weniger als 27 Stunden in diesem Zustand - seine Kooperation wird wanken, wenn er erst einige Tage so liegt.

Dann, während die Insel wieder in Einzelschiffe aufgelöst wird, rede ich noch einmal mit Ochaum. Nahrungskarenz ist ja ganz gut, aber unter den hiesigen klimatischen Bedingungen kann niemand lange ohne Flüssigkeitszufuhr leben, auch ein Granitbeißer nicht. Obanque muß spätestens in einem Tage kleine Mengen abgekochtes Wasser verabreicht bekommen - wenn er dann noch lebt. Ich stelle mir vor, daß kleine Mengen Wasser von einem dehydrierten Körper absorbiert werden, lange bevor sie das Coecum erreichen. Diese kleinen Mengen erhöhen wir dann so, daß Obanque gerade eben am Leben bleibt. Wenn die Symptome dann wieder abflauen, kann er wieder an feste Nahrung gewöhnt werden. Es muß gehen. Warum soll ein Appendix durchbrechen, der keinen mechanischen Belastungen ausgesetzt wird?

Osont sieht vor dem Auseinanderdriften der Schiffe selbst nach Obanque, aber Ochaum's Befürchtung, daß er auf eine Operation bestehen wird, erfüllt sich glücklicherweise nicht. Und so nehmen die Schiffe wieder in ihrer üblichen Formation Fahrt auf. Für die Staker nach wie vor mühsam, aber die Schiffe bewegen sich dabei so gleichmäßig, daß Obanque davon nichts bemerkt.

Trotzdem steigt sein Fieber weiter an, und der Ruhepuls ist doppelt so schnell wie mein eigener während des Messens. Ich erreiche als trainierter Dauerläufer in Ruhe 40 Schläge pro Minute, aber so mich über ihn beugend und ihm den Puls messend, müssen es bei mir mehr als 60 sein. Das heißt, sein Herz schlägt über 120 mal pro Minute. Naja, wer sonst gesund ist, sollte das einige Tage aushalten.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite