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******** 065. Tag: Sonntag 95-10-22 ********
65.1 Die Herde der Giganten
Drei Stunden dauert es, bis wir die bloß 800 Meter überwunden haben und das Wasser wieder tiefer wird und die Ufer einander wieder näher kommen. Daß keines der Schiffe Grundkontakt bekommt ist bestimmt nicht unserer seemännischen Expertise zu verdanken, sondern nur dem Zufall. Und der langen Erfahrung der Granitbeißer in dieser Welt, die überhaupt nur solche flachen, floßartigen Schiffe bauen.
Die ganze Zeit haben wir uns möglichst in der Mitte der Wasserstraße gehalten, weil man dort die größten Wassertiefen vermuten kann. Wenn natürlich, aus irgendeinem seltsamen geologischen Umstand, dicht an einem der Ufer eine schöne Fahrrinne war, dann haben wir uns umsonst abgemüht. Aber um das herauszufinden hätten wir diesen ganzen Abschnitt der Wasserstraße genau absuchen müssen, und dafür sind solche Überraschungen wieder nicht wahrscheinlich genug.
Überhaupt, immer wieder geologische Erwägungen: Wenn dieses Wasser nicht fließt, dann ist diese Wasserstraße eben nur ein flaches Tal mit variabler Tiefe, das zufällig mit Wasser gefüllt ist. Dann aber kann, genauso zufällig, der Talgrund über die Wasserlinie ansteigen. An einer solchen Stelle kämen wir natürlich nicht weiter. Warum aber bleibt der Talgrund immer knapp unter der Wasserlinie? Bei nichtfließendem Wasser gibt es dafür keinen Grund. Ich verstehe das nicht. Ich verstehe das genausowenig wie die anderen geologischen Formationen in dieser Welt.
Jetzt fällt es mir auf: Das meiste, was ich in der Welt der Granitbeißer nicht einmal spekulierend verstehe, betrifft die Geologie. Die Tier- und Pflanzenwelt mag sich evolutionär ohne weiteres so entwickelt haben, wie das hier unter diesen Umständen geschehen ist, und das gleiche trifft auf die Granitbeißer und ihre sozialen Strukturen zu. Es ist nur notwendig, anzunehmen, daß es zu einigen wenigen, verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit eine Verbindung zur Biosphäre auf der Erdoberfläche gegeben hat. Damit türmen sich in diesem Kontext keine Fragen auf, die unlösbar scheinen. Ich weiß bloß die biologisch-historischen Einzelheiten nicht.
Aber in Sachen Geologie liegen die Verhältnisse ganz anders. Welche geologischen Vorgänge die Bühne der Granitbeißerwelt vorbereitet haben könnten, das bleibt mir völlig verschlossen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung einer Idee, jedenfalls, solange ich mich im Rahmen der mir bekannten Naturgesetze bewege.
Manchmal denke ich, daß die Antwort vor meinen Augen liegen könnte, und ich in irgendeiner Weise zu voreingenommen bin, um sie zu sehen, so, wie ich zu voreingenommen wäre, die Biologie dieser Welt zu beurteilen, wenn ich zu den Creationisten gehörte. Geologie und Geophysik - das sind die Wissenschaften, die beschreiben, was mit einem Haufen Dreck und Steinen passiert, der sich vermöge der Gravitation zu einem Planeten formiert hat und so bleibt, dem Einfluß eines Zentralgestirns und damit dem Einfluß des Wetters ausgesetzt, und vermöge innerer Wärmequellen wie etwa schwacher radioaktiver Zerfallswärme ebenso dem Einfluß tektonischer und vulkanischer Vorgänge. Wo ist da Spielraum für ein Geheimnis? Ich muß wohl annehmen, daß ich derjenige bin, der zu dumm ist, es zu sehen. Die Welt der Granitbeißer bleibt für mich, in geologischer Hinsicht, unerklärbar. Dabei sollten die geologischen Dinge noch am allereinfachsten sein.
Wieder festige ich in meinem Bewußtsein den Vorsatz, über meine Abenteuer ein ausführliches Buch zu schreiben, wenn ich je wieder die Erdoberfläche erreichen sollte. Für die Biologen und die Meteorologen wird mein Bericht interessant und aufregend sein, aber die Geologen und Geophysiker, fürchte ich, werden Alpträume bekommen. Sie werden es als Fantasy-Literatur abtun, abtun müssen, um nicht alles in Frage stellen zu müssen, was sie in ihrem Fachgebiet gelernt haben. Man wirft die Lernarbeit eines ganzen Lebens nicht so leicht über Bord, bloß, weil Fakten nahelegen, dies zu tun.
Ist das vielleicht die beste Strategie? Diesen Reisebericht erst als Fantasy-Buch herausgeben, und dann, wenn das Buch eine gewisse Marktverbreitung geschafft hat, sagen: 'Ätsch, es ist gar kein Roman, es ist ein Tatsachenbericht!' Ich muß noch darüber nachdenken. Später.
3 Uhr. Der Nebel ist schwächer geworden, hat sich zu einer tiefhängenden Wolkendecke gehoben. Manchmal können wir bewaldete Hänge im Hinterland sehen, und auch schroffe Felsen, die rasch in den Wolken verschwinden. Wieder fahren wir streckenweise über Abschnitte der Wasserstraße, wo die Stakstangen unvermutet ins Leere stoßen. Inzwischen haben wir uns angewöhnt, dieses immer sofort den nachfolgenden Schiffen hinüber zu signalisieren. - Jedenfalls hätten wir große Schwierigkeiten, wenn der Wind nicht immer noch, wenn auch schwach, in unserer Fahrtrichtung wehte.
Von den auf den Karten angekündigten Gefahren ist immer noch nichts zu sehen, wenn wir davon absehen, daß dieses Wasser immer wieder von Fischen wimmelt, die einen piranhaartigen Appetit haben. Hoffentlich finden sie nicht Geschmack an den Balken unserer Schiffe, oder an den Seilen, die diese zusammenhalten.
Zweimal scheuchen wir in der nächsten Stunde irgendwelche Großtiere im ufernahen Dschungel auf. Wir sehen nichts, aber wir hören, wie sie durch das Holz brechen, und einige der Baumwipfel geraten in heftige Schwankungen. 'Mögen sie uns hassen, wenn sie uns nur fürchten!' denke ich. Aber es ist auch ein Hinweis, daß wir uns noch lange nicht leise und langsam genug fortbewegen, um von jeder Tierart ignoriert zu werden.
Und immer wieder wendet und windet sich der Verlauf des Wasserweges, und immer wieder kommen neue Urwaldgebiete in Sicht, genauso unbekannt und genauso neu, und letztlich bleiben sie uns auch unbekannt und neu, wenn wir vorbei sind. Glück gehabt, Dschungel! denke ich, wir bleiben nicht hier und roden nicht und bauen keine Siedlung. Wir wissen ja, wie schlecht das einem Urwald bekommt.
4 Uhr. Wieder weitet sich der Wasserweg auf, diesmal sogar auf etwa 750 Meter, als wir um eine Biegung driften. Das ist aber nicht das eigentlich Aufregende:
Mitten in diesem See, einige hundert Meter von uns entfernt, hat sich eine ganze Herde von äsenden Brontosauriern verteilt, von einem Ufer bis zum anderen!
Ich lasse mein Schiff zum Stillstand kommen. Die Männer tun das Notwendige: Das Segel einholen, einer lehnt sich so auf eine Stakstange, daß er den schwachen Restwinddruck gerade kompensiert. Die anderen Schiffe kommen von hinten auf uns zu und bremsen ihre Fahrt ebenfalls ab. Bald ist auch das letzte Schiff so nahe heran, daß man auch von dort die Saurier vor uns im Wasser stehen sehen kann.
"Jedenfalls ist das Wasser dort tief genug!" sage ich zu Ochaum, "Sieh doch! Den Bauch haben sie alle im Wasser! - Jetzt müßten sie nur noch weitergehen!"
Ochaum sagt darauf nichts. Er sieht so gut wie ich, daß diese Tiere - es müssen etwa dreißig sein - dazu keinerlei Anstalten machen. Sie haben uns bis jetzt nicht einmal sichtbar zur Kenntnis genommen. Immer wieder tauchen sie den langen Hals mit dem lächerlich kleinen Kopf - der so groß wie ein Auto ist - unter Wasser, und wenn dieser nach einer Minute wieder auftaucht, dann kauen sie etwas. Vermutlich handelt es sich um eine Mischung von irgendwelchen Pflanzen, die auf dem Grunde wachsen, und Grundschlamm und allen Kleintieren, die das Pech hatten, zufällig sich in der Nähe des Sauriermauls aufzuhalten.
"Das Wasser müßte jetzt eigentlich so tief bleiben oder wenigstens häufiger so tief sein. Sonst weiß ich nicht, wieso die hier leben können. Es ist die größte Sorte, und die halten sich selten an Land auf!" sagt Ochaum. Ich überlege, ob ich mein Erlebnis mit dieser Art von Saurier, das ich mit Irene beim Abstieg in diese Welt hatte, zum Besten geben soll, entscheide mich dann aber dagegen: Wir haben dabei nichts über diese Tiere erfahren, was Ochaum nicht auch schon wüßte. Mal einen Saurier gesehen zu haben ist in dieser Welt schließlich nichts besonderes.
Also: Wie kommen wir da vorbei? Jeder an Bord unserer Schiffe dürfte sich jetzt genau diese Frage überlegen.
Osont springt von seinem Schiff mit Hilfe eines Seiles, das von einer Rahe herunterhängt, auf das unsere hinüber. Sicher kennt er den literarischen Vergleich mit Tarzan nicht, aber er macht es genauso gut. Sekunden später steht er neben uns im Ruderhaus, von wo man die beste Aussicht hat. Nur der Ausguck im Krähennest dürfte noch mehr Übersicht haben.
"Was hältst du davon, Herwig?"
"Nichts," sage ich, "wenn wir uns nicht bewegen, dann tun sie uns nichts!"
"Sicher. Aber wir sind hier, um uns zu bewegen!"
"Dann warten wir, bis sie weg sind! Es ist ohnehin bald Schlafperiode!"
Osont schüttelt den Kopf: "Ich habe einen Mann auf meinem Schiff, der behauptet, sich etwas mit diesen Tieren auszukennen. Der meint, die können tagelang so im Wasser stehen. Bis sie das abgegrast haben, was sie da futtern! Die schlafen sogar so!"
"Ich glaube, das ist zu pessimistisch! Der Saurierfänger ist doch auch hier vorbei gekommen! Also muß diese Saurierherde erst vor kurzem aufgetaucht sein. Also 'wohnen' sie nicht direkt an dieser Stelle!"
"Das kann sich auch um Tage handeln, seit der hier war." entgegnet Osont, "Wir wissen doch nicht, wann der von Casabones abgelegt hat, und wie schnell er vorangekommen ist."
Ich sehe ihn an. Wenn er nach vorne hinausblickt, dann sieht er verbissen drein. Das Hindernis paßt ihm überhaupt nicht ins Konzept. Wahrscheinlich sind seine Nerven schon arg beansprucht, wegen des ohnehin langsamen Vorwärtskommens. Armer Osont, denke ich, der Managerstreß hat dich voll im Griff! Vielleicht droht dir bald ein Infarkt!
Moment mal, wie komme ich denn dazu, ihn zu bedauern? Soll er doch einen Infarkt bekommen. Wegen Charmion. Diese Rechnung ist noch nicht beglichen!
"Ich will da durch. Ich glaube, das geht. Diese Tiere reagieren langsam. Die Schiffe sollen einzeln durch die Herde durch, damit es keine Panik gibt. - Ja, ich denke, das geht!"
Osont scheint wirklich fest entschlossen. Er sucht wohl nur noch Zustimmung.
"Die stehen doch so nahe zusammen! Meinst du, die weichen aus, wenn eines unserer Schiffe auf sie zutreibt?"
"Nein," widerspricht Osont, "guck doch genau hin! Da, die beiden da, Rücken an Rücken! Dazwischen könnte man durch! Und da ..."
"Wenn es leblose Felsen wären, dann ja! Aber die hier können jederzeit ihren Standpunkt verändern!" versuche ich, aber:
"Nein, nein! Sie werden doch nicht auf etwas zugehen, was für sie wie eine steil aus dem Wasser aufragende und dicht bewachsene Insel aussieht!"
"Weißt du das, oder glaubst du das?"
"Das ist doch klar!"
"Das sind Tiere," argumentiere ich, "die denken nicht in unseren Bahnen! Wenn sie überhaupt denken, gerade diese hier. Denen sind unsere Schiffe vielleicht tatsächlich egal, aber vielleicht sind wir ihnen auch mal im Weg, wenn sie sich nur mal zufällig bewegen wollen! Und dann marschieren sie durch uns durch, als ob so ein Schiff aus Luft besteht!"
"Hast du Angst, Herwig?"
"Nein, ich vermeide nur überflüssige Risiken!"
"Wie zum Beispiel ein Gleitschirmsprung, an dem du eigentlich nicht teilnehmen solltest?" Lauernd sieht er mich an.
Jetzt kommt er damit. Wie Irene im Streit: Wenn man bei einem Thema mit den Argumentationsmöglichkeiten am Ende ist, dann wird eben das Thema gewechselt. - Bin neugierig, wann er auf die Idee kommt, darauf hinzuweisen, daß die Chancen der Leute, die jetzt noch auf Casabones sind, von dort wegzukommen, wesentlich gesunken sind, weil ich mich mit der ersten Welle abgesetzt habe.
"Wenn wir hier noch länger so laut herumreden, dann locken wir noch wer weiß was für Viecher an! Du kannst überhaupt froh sein, daß es keine Raubsaurier sind!" sagt er.
Als ob es sein Verdienst wäre. Als ob er eigenhändig diese Saurier ausgesucht hätte. Aber ich sage nichts.
"Ich möchte da durch, jedes Schiff einzeln, alle nacheinander. Du bist der erste. Jetzt gleich. Haben wir uns verstanden?"
Ich nicke. Bleibt mir auch nichts anderes übrig. Osont hat das Sagen, und in diesem Moment hat er nicht die Absicht, um diesen Tatbestand herumzureden und wenigstens die Illusion einer kollegialen Problembewältigung aufrecht zu erhalten. Dazu hat er so laut geredet, daß alle an Bord den letzten Teil des Wortwechsels mitbekommen haben. Nur für den Fall, daß jemand vergessen haben sollte, wer die Flottille eigentlich kommandiert - jetzt ist das wieder allgemein bekannt.
"Noch vorm Schlafen haben wir es hinter uns!" Osont springt in großen Sätzen den Aufgang vom Deck zum Ruderhaus hinunter und verläßt mein Schiff so, wie er es betreten hat.
Befehl ist Befehl. Ich nicke Ochaum zu. Der zuckt die Schultern. Was kann er auch machen?
"Topsegel!" ruft er gedämpft nach draußen, und dann "Schiff freilassen!"
Der Mann auf dem Vorderdeck hebt seine Stakstange aus dem Wasser. Schon jetzt, wo unser Segel erst noch gesetzt wird, fangen wir an, uns unmerklich langsam auf die Saurierherde zuzubewegen. Vielleicht dreihundert Meter trennen uns noch von dem ersten Tier.
65.2 Zwischen den Zeitlosen
Ochaum hat schon mitgedacht. Er hat nur das Topsegel setzen lassen, damit das gelegentlich flatternde Tuch soweit wie möglich außerhalb des Sichtwinkels dieser Tiere ist. Die interessieren sich ja auch im Moment mehr dafür, was sie unter der Wasseroberfläche finden.
Mit sehr sparsamen Einsatz der Stakstangen driften wir auf die urweltlichen Tiere zu, die erfreulicherweise fortfahren, uns zu ignorieren. Ich versuche, den Kurs durch diese Tiere zu optimieren. Dazu sehe ich mir die Verteilung derselben auch einmal aus dem Krähennest an. Aber das gibt auch keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte. Die Steuerung des Schiffes erledigt Ochaum. Es ist besser so, weil seine Reflexe jetzt gut auf die Ruderhandhabung eintrainiert sind.
Diese Aufweitung der Wasserstraße ist anders als die, die wir vor einigen Stunden befahren haben: Das Wasser wird nicht flacher, sondern eher tiefer. Wenn ich mich an das Bild und die Größe des ausgewachsenen Brontosaurus erinnere, den Irene und ich ganz am Anfang gesehen haben, und das zu dem in Beziehung setze, was wir von diesen Sauriern über der Wasserlinie sehen, dann können wir hier mit einer Wassertiefe von fünf und mehr Metern rechnen. Zu tief, um die Stakstangen dauernd effizient verwenden zu können. Damit sind die meiste Zeit Ruder und Segel unsere einzigen Werkzeuge zum Manövrieren.
Wie gut, denke ich, daß diese Saurierart so schön dem Klischee entspricht, das man sich von ihnen so macht! Dumm und gefräßig. Da wird es wenigstens keine Überraschungen geben. - Dabei hat es, habe ich gehört, in den letzten Jahren in der wissenschaftlichen Literatur auch Vermutungen gegeben, die vielen Saurierarten mehr Intelligenz zuschrieben als bis dahin angenommen. Sogar über die Mechanismen der Verwaltung der Körpertemperatur gab es neue Spekulationen, die bis zur konstanten Körpertemperatur reichten. - Ich habe das nicht sehr genau verfolgt. Präzise Kenntnisse würden uns jetzt auch nicht allzuviel nützen, da sich die Evolution hier in den letzten Jahrmillionen neue Dinge hat einfallen lassen.
Wir driften auf die ersten beiden zu, zwischen denen wir durchfahren wollen. Die nehmen von uns keine Notiz, aber einer dahinter sieht uns lange an und vergißt dabei sogar das Kauen.
"Der denkt nach, der dahinten!" sage ich im Scherz zu Ochaum, aber der findet das gar nicht lustig. Er legt die Finger auf die Lippen. Diese Geste kennen sie also bei den Granitbeißern auch, denn ich kann mich nicht erinnern, es ihnen beigebracht zu haben. Ich glaube, beim Absprung von Casabones habe ich diese Geste auch verwendet, wenn ich mich recht erinnere, und sie ist von dem Mann, den ich Sekunden danach umbringen mußte, ebenfalls verstanden worden. Das hatte ihn ja die für ihn fatalen Sekunden zögern lassen. - Ich drücke die Erinnerung schnell wieder beiseite - hier zählt nur die Gegenwartsbewältigung, nicht die Vergangenheitsbewältigung.
So etwa 50 Meter, bevor wir die beiden ersten erreichen - Ochaum bemüht sich bereits schon eine ganze Zeit, das Ruder möglichst lautlos zu drehen - erreicht uns der erste Eindruck der körperlichen Ausdünstung dieser Tiere - gegen den Wind! In der Welt der Granitbeißer darf man nirgends empfindliche Nasen haben.
Ochaum steuert gut. Präzise steuern wir auf die kaum dreißig Meter große Lücke zwischen den beiden Tieren zu. Eines, das zu unserer Linken, hat gerade seinen Kopf aus dem Wasser gehoben und schaut uns direkt an - kauend, und aus einer Höhe, die noch über dem Niveau des Ruderhauses liegt. Der Saurier reagiert ansonsten überhaupt nicht.
Ich fasse Hoffnung: Ein so langsam treibendes Konglomerat aus Holz und Seilen wie unser Schiff kommt in der beschränkten Erfahrungswelt dieser Saurier nicht vor. Und vor dem Unbekannten zu fliehen hat ihnen die Evolution nicht beigebracht, da die schiere Größe dieser Tiere eine Flucht vor was auch immer eigentlich unnötig macht. Raubsaurier vergreifen sich nicht an den ihnen in der Größe überlegenen Brontos, habe ich gehört, auch wenn sie dabei wegen ihrer Intelligenz und ihrer Stärke und ihrer Schnelligkeit dabei die besseren Karten hätten. Auch der Tyrannosaurus Rex oder der Allosaurus wird durch die bloße Größe eines Brontos abgeschreckt - zu seinem Nachteil, denn von einem erlegten Brontosaurus könnte er lange fressen. Die einzige Instanz, die in dieser Welt einem Bronto und jedem anderen Saurier gefährlich wird, ist ein Saurierfänger mit gut ausgebildeter Besatzung. Ich habe es ja schließlich mit eigenen Augen gesehen. Und diese Saurierfänger gibt es vielleicht auch noch nicht lange genug, um das Verhalten der Brontosaurier durch Auslese evolutionär verändert zu haben.
Wieso eigentlich, frage ich mich, hat der Saurierfänger unter dem Kommando von Cherkrochj nicht hier gejagt, von wo es doch weniger weit nach Grom ist als von der Stelle aus, an der wir an Bord gingen, und wo es hier doch genug jagdbare Tiere gibt? Noch ein ungelöstes Rätsel.
Unser Ruderhaus treibt an dem beobachtenden Kopf des Brontosaurus vorbei. Man sieht ihm an: Er merkt, daß etwas Ungewöhnliches geschieht. Aber er versteht es nicht. Die Langsamkeit unserer Bewegung erweckt keinerlei Reflexe in ihm, weder Flucht noch Angriff. Was immer an derartigen möglichen Reflexen er haben könnte.
Vielleicht, denke ich, sind diese relativ kleinen Augen - die immer noch größer sind als die fast aller anderen Lebewesen, aber viel kleiner als zum Beispiel die Augen des Fischsauriers, den Charmion erlegt hat - auch sehr schlecht. Die Evolution entwickelt ja nur das zum Überleben allernotwendigste, weil Fähigkeiten über das Bewältigen des Überlebens hinaus dem Überleben an sich nicht mehr nützlich sind. Und diese großen Tiere brauchen kein scharfes Sehvermögen, um Feinden auszuweichen, weil sie keine Feinde haben. Da sie unterschiedslos alles Organische fressen, brauchen sie auch zum Erkennen und Bewerten der Nahrung kein gutes Augenlicht. Eigentlich brauchen sie überhaupt keine Augen mehr. Wahrscheinlich sind es nur Rudimente aus ihrer paläobiologischen Vergangenheit, als ihre entfernten Vorfahren noch nicht so groß waren wie heute und deshalb das Sehvermögen zum Überleben brauchten. Wer weiß, wenn sie nicht aussterben, so wie es den Sauriern auf der Erdoberfläche passiert ist, dann könnte es sein, daß sie in einigen Dutzend Millionen Jahren gar keine Augen mehr haben.
Wie viele Fragen man wenigstens plausibel spekulierend beantworten kann, wenn man den Evolutionsmechanismus verstanden hat! Selbst bei den Eigenschaften der Menschen ist es so. Ich weiß nicht, warum es mir gerade jetzt einfällt, aber bei der Lektüre eines Buches über Augenmedizin ist mir aufgefallen, daß die Hornhaut des menschlichen Auges trotz ihrer Feinheit und Dünne und trotz ihrer Durchsichtigkeit, was ja eine weitere die Konstruktion einschränkende Forderung ist, enorm stabil ist, jedenfalls bessere Reißfestigkeitswerte aufweist als die übrige Haut. Warum ist das so? Wenn eine so stabile Haut biologisch möglich ist, warum ist dann nicht unser ganzer Körper mit dieser Superhaut bedeckt?
Die Antwort ist klar. So eine stabile Haut war zum Überleben nicht notwendig. Schließlich gibt es die menschliche Rasse ja immer noch, auch ohne eine solche Panzerhaut. Die wenigen Vorfälle, bei denen eine so starke Haut Verletzungen verhindern würde, bedrohen unsere Existenz als Spezies ja nicht.
Die Augen hingegen sind für unser Überleben eminent wichtig. Ein Mensch, dessen Hornhaut in ihren mechanischen Qualitäten bloß der übrigen Körperhaut entsprechen würde, der würde sich schon beim Reiben der Augen schwer verletzen. Er würde bald blind werden, durch nichts anderes als die Zufälligkeiten des Alltages, im Laufe einiger Jahre. Eine solche Menschenrasse würde aussterben. Das ist der Grund, warum unsere Hornhaut so stabil ist, das ist der Grund, warum unsere Augen in den Schädel eingesenkt sind und rundherum durch den Schädelknochen geschützt werden, so daß jeder mechanische Stoß auf den Kopf die Augen nicht unbedingt beschädigt, obwohl sie ja die empfindlichsten Organe des Kopfes sind.
Auch andere Eigenschaften unseres Sehens lassen sich so erklären. Zum Beispiel: Eine Landschaft im Sonnenlicht, ohne Wind, ohne Tiere. Sie scheint ohne Bewegung. Ist sie aber nicht: Jeder weiß, daß sich die Sonne am Himmel weiterbewegt und so auch alle Schatten wandern. Diese Allmählichkeit der Schattenwanderung nehmen wir aber nicht als Bewegung wahr. Warum nicht? Auch klar: Wären wir in der Lage, eine so langsame Bewegung leicht zu erkennen, dann wären wir in freier Natur völlig hilflos. Die Wanderung der Schatten würde rund um uns her ein Chaos von Bewegung schaffen, und die wirklich relevanten Bewegungen, wie etwa durch nahe Raubtiere bewegte Pflanzen, würden wir übersehen. Das wäre nicht gut für unsere Überlebenschancen. Unsere Vorfahren, die diese subtileren Bewegungen besser wahrnehmen konnten als wir - wenn es sie denn gegeben hat - sind deshalb ausgestorben.
Man kann diese Gedanken immer weiter spinnen. Warum finden wir zum Beispiel diese Konstruktion des menschlichen Kopfes, die in allen Merkmalen ja der Forderung des Überlebens entspringt und deshalb in gewissem Sinne als eine Defensivwaffe anzusehen ist, so schön, wenn es sich zufällig um den Kopf eines jungen, hübschen Mädchens handelt? Und warum ist im Allgemeinen in den Augen vieler Frauen bei Männern wirtschaftlicher Erfolg attraktiv und Aussehen eher zweitrangig, obwohl wirtschaftlicher Erfolg zunächst mal gar nicht direkt wahrnehmbar ist? Natürlich aus genau dem gleichen Grund. Das Überleben der Spezies. Eine fehlende Attraktion zum anderen Geschlecht in jungen Jahren wäre für das Überleben unserer Spezies tödlich. Und sie war auch tödlich bei den Individuen, die es im Laufe der Entwicklungsgeschichte an der Fähigkeit zur Wahrnehmung von Attraktion haben fehlen lassen. Aber die Kriterien für die Wahrnehmung von Attraktion sind bei den Geschlechtern zweckmäßigerweise etwas unterschiedlich.
Man kann sich da keinen Illusionen hingeben: Alle körperlichen und seelischen Eigenschaften des Menschen sind Antworten auf die Frage, wie man als Individuum und als Rasse am besten überlebt. Antworten, die durch lange Ketten von Versuch und Irrtum über viele Jahrmillionen ausgedacht worden sind. Antwortenfindung durch Wegwerfen der Ergebnisse der falschen Antworten. Antworten, die in Relevanz zu den vorherrschenden Umweltbedingungen entwickelt worden sind. Genau wie diese Saurier: Auch sie sind Antworten auf die Frage, wie man existiert. Und da sie noch existieren, im Gegensatz zu den Sauriern, die es auf der Erdoberfläche gegeben hat, ist diese Antwort immer noch richtig. Jedenfalls hier unten in der Welthöhle.
Damit ist diese Antwort sogar 'richtiger' als die Antwort auf die Existenz, die der Mensch bis jetzt gegeben hat: Die Saurier haben die Erdoberfläche für hundert Millionen Jahre beherrscht. Weitere 65 Millionen Jahre nach ihrem dortigen Aussterben haben sie hier in der Welthöhle gelebt, und es sieht nicht so aus, als ob sie hier am Aussterben sind, im Gegenteil. Diese lange Zeitspanne hat der Mensch noch lange nicht zustande gebracht, und es sieht eigentlich auch nicht so aus, als ob er das jemals tun würde.
Einfachste Überschlagsrechnungen belegen das: Seien wir mal optimistisch und nehmen wir an, daß die Wahrscheinlichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit pro Generation nur ein Promille ist. Damit wäre die Wahrscheinlichkeit für den individuellen Menschen, durch so eine globale Katastrophe ums Leben zu kommen, selbst in jungen Jahren wesentlich geringer als seine Alltagsrisiken, wie Krankheit, Verbrechen oder Verkehrsunfall. Schon diese Wahrscheinlichkeiten addieren sich zu einer Todeswahrscheinlichkeit von mehr als einem Promille pro Jahr für jeden von uns! Und hier, bei den Granitbeißern, ist die individuelle Wahrscheinlichkeit, in einem Jahr ums Leben zu kommen, noch um einiges größer.
Also ein Promille Selbstvernichtungswahrscheinlichkeit pro Generation. Optimistischste Annahme. Eine Generation, das sind etwa 25 Jahre. 99.9 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit für die menschliche Art in dieser Zeitspanne. Das ist wirklich immens optimistisch! - das sind aber in tausend Generationen nur noch etwa 40 Prozent. 0.999 hoch tausend. Etwa eins durch die Zahl "e". Müßten etwa 40 Prozent sein, eher etwas weniger. Jeder naturwissenschaftlich rudimentär vorgebildete Mensch kann das im Kopf abschätzen.
1000 Generationen sind 25000 Jahre. Das ist viel, verglichen mit den Zeiträumen der bekannten Geschichte der Menschheit. Aber es ist wenig, gemessen an den geologischen Zeiträumen, oder den Zeiträumen, mit denen die Paläobiologen rechnen.
40 Prozent in bloß 25 tausend Jahren. Verzehnfachen wir den Zeitraum noch einmal, dann beträgt unter weiter gleichbleibenden Extinktionswahrscheinlichkeiten die Überlebenswahrscheinlichkeit der menschlichen Art nur noch diese 40 Prozent hoch zehn. Moment, das kann man leicht ausrechnen, denn 40 Prozent sind 10 hoch minus 0.4. Das hoch zehn ist 10 hoch minus 4, das ist ein Zehntausendtstel! Eine immens geringe Wahrscheinlichkeit, diese Viertel Million Jahre zu überleben. Ein zehntausendstel bei einer Viertel Million Jahre, das ist eine Wahrscheinlichkeit von einem hundertmillionstel, um eine halbe Million Jahre als Art zu überleben, und ein zehnbilliardstel, um eine ganze Million Jahre zu überleben. Das ist praktisch Null.
Und doch haben es die Saurier in allen ihren Arten geschafft, Zeiträume zu überdauern, die noch einige hundert mal länger sind. Wenn das der Maßstab ist, nach dem man den Erfolg einer Lebensform mißt, dann sind wir Menschen - und auch die Granitbeißer - wirklich die Benjamine der Evolution. Wir können noch gar nicht mitreden, wenn es um die Dauerhaftigkeit einer Art geht.
Die Saurier sind die wahren Zeitlosen - verglichen mit uns sind sie wie die Berge und die Ozeane: Auch deren Dauer ist endlich. Aber um was für Äonen handelt es sich dabei.
Ich zwinge mich zu etwas mehr Aufmerksamkeit. Diese seltenen Gelegenheit, diese Großtiere aus der Nähe zu sehen, sollte man nicht mit Überlegungen verbringen, die man auch zu einem anderen Zeitpunkt anstellen kann. Herwig, laß die Wirklichkeit auf dich einströmen! Jetzt! Gedanken kannst du dir auch nachher machen.
Ich sehe, daß die Männer auf Deck wie erstarrt sind. An beiden Seiten des Schiffes graue Inseln - die fleischigen, schuppenbedeckten Rücken der Saurier - und dazu jetzt ein durchdringender Gestank. Der zweite hat uns immer noch nicht bemerkt, dafür beobachtet uns der, der uns bis jetzt am längsten zugesehen hat, immer noch mit etwas, was in Saurierkreisen wahrscheinlich als 'gespannte Aufmerksamkeit' gilt. Er hat schon über eine Viertelstunde die Kaubewegungen vergessen. Hoffentlich kann er sich noch daran erinnern, wie man das macht, wenn er wieder damit anfangen möchte.
Diese Idee ist soweit hergeholt nicht: Angenommen, diese Tiere essen ununterbrochen, was bei ihrer Größe nicht unwahrscheinlich ist. Dann könnte es sein, daß die Fähigkeit zum Kauen nur in ihrem Kurzzeitgedächtnis gespeichert ist, weil es keine Notwendigkeit für ein Langzeitgedächtnisspeicherung für die Fähigkeit des Kauens gibt. Oder der Kaureflex funktioniert nur, solange gekaut wird. Vielleicht schlafen sie ja auch nicht einmal. Dann würden sie tatsächlich von Geburt bis zum Tode ununterbrochen kauen. Und dann könnte es tatsächlich sein, daß eine längere Unterbrechung des Kauens es ihnen unmöglich macht, mit dem Kauen wieder anzufangen, so, wie wir keine Pause in der Tätigkeit des Herzens tolerieren können. Das hieße, daß ein Brontosaurier, der sich über etwas so wundert, so daß er darüber das Kauen vergißt, daran sterben wird. Das wiederum würde für ihn bedeuten, daß die Brontosaurier mit der geringsten Intelligenz die allerbesten Überlebenschancen haben, weil sie sich am wenigsten über etwas wundern. Das wiederum würde bei den Brontosauriern im Laufe der Jahrmillionen die Durchschnittsintelligenz immer weiter absenken und würde ganz zwanglos ihre jetzige Dummheit erklären.
Aber das ist eine weit hergeholte Idee. Schade. Es würde nämlich erklären können, warum Brontosaurier bei uns auf der Erdoberfläche ausgestorben sind, wenn man den Gedanken weiterverfolgt: Sie haben sich über das Auftauchen der Säugetiere einfach so gewundert, daß sie dabei alle verhungert sind.
Den Männern sind solche Überlegungen über die evolutionäre Herkunft der Saurier natürlich fremd. Für sie sind das einfach entsetzlich große und deshalb potentiell entsetzlich gefährliche Tiere. Auch eine durch den Lauf der Evolution und gelegentlich durch eigene, individuelle Erfahrung gefestigte Meinung. Diesen Männern ist der Gedanke fremd, daß nicht unbedingt von etwas, das wir nicht beeinflußen können, eine Gefahr ausgehen muß. Diese Saurier sind uns nur in dem Sinne gefährlich wie auch ein Erdrutsch uns gefährlich ist: Beiden sollte man nicht im Wege stehen.
Jedenfalls sind das genau die Gedanken, mit denen ich mich jetzt zu beruhigen versuche. Ich bin immer wieder versucht, mich mitzuteilen, aber ich weiß, daß niemand hier versteht, wovon ich rede, wenn ich anfange, über Evolution zu sprechen. - Ich denke wieder an das Buch, das ich schreiben will, wenn ich wieder nach Hause komme: Meine Leser kann ich damit malträtieren - die können sich nicht wehren, weil sie das Buch schon gekauft haben. Die Granitbeißer zwingt nichts, mir zuzuhören.
65.3 Das Riff des Fleischlosen
Nun schwenkt Hals und Kopf des Sauriers zu unserer Linken herum, um unserem Schiffe nachzusehen. Das ist aber auch alles. Es ist schlimm genug, weil damit sein Maul genau windaufwärts von uns ist. Das bekommen wir sogleich zu riechen. Diese Mäuler, denke ich, sind eine Lebensaufgabe für ein Team von Zahnärzten. Aber der Gestank ist so atemberaubend und durchdringend, daß ich diesen Gedanken gar nicht lustig finden kann. Ochaum, scheint es, nimmt das gelassener hin.
Er wirbelt das Ruder herum. Seine Bewegungen sind sehr präzise. Er sieht jetzt zuversichtlich aus. "Wenn wir einem zu nahe kommen, stoßen wir uns mit Stakstangen ab!" sagt er, fast fröhlich, "Die merken das doch nicht!"
"Wir sollten es nicht drauf ankommen lassen!"
"Wieso? Sieh sie dir doch an! Wie sie da stehen!"
Hat er recht? Bin ich übervorsichtig, um das wenig schmeichelhafte Wort 'feige' zu vermeiden? Dauernd versuche ich, mir selbst klarzumachen, daß diese Tiere nicht gefährlich sein können. Aber Ochaum ist mit seinem Wagemut schon weiter als ich, ohne elaborierte Überlegungen über Evolution und dergleichen.
"Jetzt geht es zwischen den beiden da durch." beschließt er, "die sind alle beide nicht besonders aufmerksam!"
"Sieh mal da drüben!" sage ich und weise auf einen der Saurier, der etwa 250 Meter zu unserer Rechten ist, "der hat angefangen, sich zu bewegen!"
"Na und? Dem kommen wir doch überhaupt nicht nahe!" sagt Ochaum nach einem kurzen Seitenblick.
"Aber der bewegt sich sicher nicht ohne Grund. Vielleicht ist das der Anfang einer Stampede!"
"Einer was?"
"Einer panikartigen Massenflucht!"
"Ach Blödsinn!"
Er sieht über die Schulter zurück:
"Sieh mal dahin! Osont kann es auch nicht abwarten! Sein Schiff macht sich auch schon auf den Weg!"
"Das ist sein Problem. Ich an seiner Stelle würde abwarten, bis wir ganz durch sind und die Herde sich beruhigt hat. So, wie er es am Anfang selbst geplant hat."
Ochaum steuert weiterhin konzentriert, und ich bemerke, daß zu unserer Rechten bereits ein zweiter Saurier begonnen hat, sich zu bewegen. Langsam zwar, aber es beunruhigt mich doch.
Minuten vergehen. Es gelingt Ochaum tatsächlich, ohne jeden weiteren Einsatz der Staker an einigen anderen Sauriern vorbeizutreiben.
Und wieder befallen mich üble Vorstellungen: Was, wenn der Wind plötzlich um 180 Grad dreht? Was, wenn wir über eine Stelle der Wasserfläche fahren, wo plötzlich eines der Riesenviecher seinen Kopf und seinen Hals aus dem Wasser heraushebt? Naja, das erste Risiko ist nicht sehr wahrscheinlich, und auf das zweite paßt Ochaum schon auf.
Als ich mich umsehe, bemerke ich, daß nicht nur das Flaggschiff bereits auf dem Wege in die Saurierherde ist und diese schon fast erreicht hat, sondern daß auch das dritte Schiff bereits das Topsegel gesetzt hat. Ich halte das nicht für weise. Aber ich kann es nicht ändern.
Wieder treiben wir zwischen zwei nahe beieinander stehenden Fleischbergen hindurch. Beide Tiere ignorieren uns. Allmählich senkt sich mein Adrenalinspiegel. Es ist ja wirklich ungefährlich. Es ist so ungefährlich wie etwa eine Weide mit Kühen im Spätsommer zu betreten. Auch das sind große Tiere, aber von denen geht genausowenig eine Gefahr aus. Es sei denn, sie sind erst seit einigen Tagen auf der Weide - dann sind sie noch übermütig. Dieser Übermut wird aber bald durch Phlegma ersetzt. Verglichen mit diesen Sauriern ist eine Kuh allerdings quicklebendig und hochintelligent.
Als ich mich gerade an den Gedanken gewöhnt habe, daß wir diese Saurierherde tatsächlich, wider alle Befürchtungen, problemlos durchschiffen werden, ruckt unser Schiff und bewegt sich dann nicht mehr.
"Scheiße. Wir sind aufgelaufen!" stellt Ochaum fest. Er ist aber nicht sonderlich beunruhigt.
"Wo?" frage ich, "sieh dir diese Tiere rechts und links von uns an! Das Wasser muß hier durchgehend drei Manneslängen tief sein - eher mehr."
"Was weiß ich. Pflanzen. Ein Baum. Ein Felsen." Er sieht sich um: "Wir müssen machen, daß wir weiterkommen. Osont's Schiff ist bald hier. Weiter rechts und weiter links kommt er auch nicht durch, weil die Tiere da zu eng stehen. Einen ganz großen Umweg bis in Ufernähe wird er nicht machen wollen. Er muß hier durch!"
Er denkt nur kurz nach. Dann gibt er Befehl, Segel zu setzen. Alles, was wir haben. "Das Hindernis kann nicht groß sein!" erklärt er, "Mit etwas mehr Kraft können wir es schaffen!"
'Wir können auch die Brontos um uns herum beunruhigen.' denke ich, aber ich sage nichts. Wieso das offensichtliche aussprechen?
Die Szene ist nun gespenstisch. Schweigend turnen die Männer in den Masten herum. Ab und zu flattert Segeltuch, wenn es sich ausbreitet und festgezurrt wird. Schweigend äsen die Saurier rechts und links von uns weiter. Sie haben noch nichts bemerkt! Aber weiter entfernt sehen uns bereits drei Tiere aufmerksam zu. Die beiden, die sich vorhin zu unserer Rechten in Bewegung gesetzt haben, stehen wieder und wenden ihre Aufmerksamkeit dem rechten Ufer zu. Wir interessieren sie überhaupt nicht. Das ist seltsam. Aber jetzt müssen wir uns erst einmal um uns selbst kümmern.
Rasch haben wir unsere Segelfläche vervielfacht, und auch mit dem schwachen Wind müßten die Segel mehr Kraft erzeugen als die Männer mit ihren Stakstangen aufbringen könnten, wenn sie hier den Grund mit schräg aufgesetzten Stakstangen erreichen könnten.
"Nichts." stellt Ochaum fest, als alle Segel oben sind, "Wir sitzen fest. Wenn wir nicht schnell weiterkommen, muß Osont Anker werfen. Der wird sauer sein!"
"Es ist nicht wichtig, ob Osont sauer ist. Wir müssen weiter, das ist wichtig!"
"Was schlägst du vor, Herwig?"
"Erst mal müßte jemand den Kopf ins Wasser stecken, um zu sehen, was da los ist."
"In das Wasser? Hast du nicht gesehen, was für gefräßige Fische da herumschwimmen? Da willst du deinen Kopf reinstecken?"
An meinen eigenen Kopf dachte ich dabei am allerwenigsten. Aber Ochaum hat recht: Diese Gewässer sind zum Schwimmen und zum Tauchen nicht geeignet.
"Wir könnten auf einer Seite des Schiffes Köder auswerfen, um die andere Seite des Schiffes von den Viechern freizubekommen."
"Das geht nur kurzzeitig. Diese Fische würden sich aus der ganzen Gegend hier sammeln, wenn wir anfangen, sie in großem Maßstab zu füttern. Und dann haben wir das Problem erst recht."
Hat er auch wieder recht. Was also dann?
"Schließen wir alle Möglichkeiten aus, die es erfordern, daß jemand ganz oder teilweise ins Wasser geht. Was bleibt denn dann?" frage ich.
Ochaum zuckt mit den Schultern. Ich habe noch eine Idee:
"Wir nehmen ein Seil. Das tun wir um den Bug herum in das Wasser. Rechts und links hält es jemand fest. Die beiden gehen dann jeweils an ihrer Seite des Schiffes an der Bordkante nach hinten. Dabei muß das Seil immer hin und her bewegt werden, wie eine Säge."
Ochaum sieht mich zweifelnd an.
"Dabei muß keiner ins Wasser. Wenn's schief geht, verlieren wir höchstens ein Seil - man kann es ja rasch loslassen. Haben wir geeignete Seile?"
"Genug," sagt Ochaum, "daran soll es nicht liegen. Aber wie lange dauert das? Und wie laut wird das?"
"Wir werden es herausfinden! - Und wenn wir das Schiff auf diese Weise nicht freibekommen, dann werden wir wenigstens wissen, wo genau der Rumpf auf dem Hindernis aufsitzt. Dann können wir vielleicht mit Umladen der Holzvorräte etwas erreichen!"
"Denkst du, diese Saurier lassen uns solange in Ruhe?" Jetzt ist es wieder Ochaum, der die Kolosse beunruhigt mustert.
"Ich glaube, ja. Sieh doch mal da rechts rüber! Die vier da beobachten nur das Ufer! Wir sind überhaupt nicht interessant für die!"
Ochaum folgt meinem Blick. "Das ist aber merkwürdig." sagt er, führt aber nicht aus, warum er das meint. Er läßt sofort das Experiment mit den Seilen vorbereiten.
Inzwischen ist Osont's Schiff nahe heran, und die Besatzung macht sich dort zum Ankern fertig. Ich bin sicher, Osont wird es brennend interessieren, warum wir unter vollen Segeln nicht weiterkommen und was wir an Deck so geschäftig treiben, so, als ob es die beiden Saurier rechts und links von uns gar nicht gäbe. Auch einen dieser beiden Saurier, den zu unserer Rechten, interessiert das jetzt: Er hat seinen Kopf so zu uns herumgeschwenkt, daß er hoch über dem Achterdeck schwebt, nur wenige Meter von unseren Segeln entfernt. Aber die Segel haben auch ihr Gutes: Aus dem Blickwinkel sieht man kaum ungehindert bis auf das Deck hinunter. Und weil dieser Saurier sein Kauen nicht unterbricht, bin ich voller Hoffnung, daß dieser Interesseanfall bald wieder abebben wird.
Das geht schneller, als ich es erwartet habe: Vom rechten Ufer her ertönt die röhrende Stimme eines dieser Saurier, tief und langgezogen. Ein eindrucksvoller Baß, teilweise im Infraschallbereich, denke ich - man hört es mehr mit den Fußsohlen als mit den Ohren. Auf dieses Röhren hin richten die meisten Tiere ihre Aufmerksamkeit in diese Richtung. Was da so interessant ist, können wir nicht erkennen.
Inzwischen haben wir mit der Seilsäge angefangen. Die ersten paar Meter, vom Bug an beginnend, sind bereits auf diese Weise untersucht worden. Da ist nichts. Noch nicht. Beide Männer gehen langsam weiter nach achtern, immer mit kräftigen, alternierenden Bewegungen das Seil aus dem Wasser ziehend und wieder eintauchend.
"Da will uns jemand sagen, auf was wir aufgelaufen sind!" sagt Ochaum plötzlich und deutet auf Osont's Schiff. Tatsächlich ist es Oios selbst, der uns mit einem Gemisch aus Signalsprache und Gesten etwas mitteilen will.
"Gehen wir mal ein kalkuliertes Risiko ein und fragen laut nach?" frage ich Ochaum. Noch ehe dieser antwortet, rufe ich laut:
"Was ist es denn?" Unten, auf Deck, schrecken die Männer zusammen. Dauernd müssen sie sich leise verhalten, so ist ihnen wiederholt gesagt worden, und nun brüllt der Fremde so laut herum. Dann lege ich deutlich meine Hände an meine Ohrmuscheln.
"Kadaver!" höre ich. Das einzige Wort, das Oios sich laut herauszuschreien leistet.
"Wir sind auf einem Saurierkadaver aufgefahren!" sage ich betont leise zu Ochaum. Alle, die zusehen, begreifen, daß nach wie vor leise gearbeitet werden soll. Wir mußten uns einfach diese Information verschaffen, das hat den momentanen Bruch der 'Funkstille' gerechtfertigt.
"Wahrscheinlich kann man es von drüben aus besser sehen, vermutlich aus dem Krähennest." sage ich.
Jetzt, wo wir es wissen, ist es nicht besonders schwierig, diese Aussage zu verifizieren. Da ein großer Saurierkadaver über die Grundfläche des Schiffes hinausreicht, braucht man nur an solchen Stellen über die Bordwand zu sehen, das Gesicht dicht über das Wasser zu halten und mit den Händen zusätzlich die Reflexion des Himmels abzuschirmen. Dann kann man trotz des schwachen Wellenganges ungefähr sehen, was da unten liegt. Allerdings nur sehr ungefähr, weil da auch eine Menge anderes Zeug am Grunde wächst, und weil der Saurierkadaver noch nicht skelettiert ist.
Unser Seil-Experiment ist damit allerdings noch lange nicht gegenstandslos, weil wir nicht unter das Schiff sehen können. Nur mit dem Seil können wir herauskriegen, wo das Schiff aufsitzt. Vielleicht fällt dann der Kadaver unter unserem Schiffsboden auch auseinander, aber viel Hoffnung habe ich nicht.
Weitere röhrende und donnernde Schreie kommen vom rechten Ufer. "Was ist denn da los?" frage ich, aber Ochaum weiß es auch nicht. Vielleicht sieht man von einem der folgenden Schiffe etwas mehr - inzwischen hat auch das letzte Schiff Fahrt in die Saurierherde hinein aufgenommen, und das Schiff, das dem Flaggschiff folgt - das mittlere - ist inzwischen ebenfalls dabei, eine Schiffslänge hinter dem Flaggschiff Anker zu werfen.
"Wir machen mit den Schiffen eine richtige Absperrung, quer durch die Saurierherde hindurch!" sage ich zu Ochaum, "Eine Inselkette. Ich weiß nicht, ob das gut ist!"
Ochaum antwortet nicht, weil gerade in diesem Moment die beiden Männer mit dem Seil fündig geworden sind. Genau mittschiffs, die ungünstigste Stelle, wenn man durch nichts anderes als Gewichtsverlagerung das Schiff freibekommen möchte.
"Versucht mal, so richtig zu sägen!" rufe ich zu den Männern hinunter, die jetzt beidseitig auf der Höhe des Ruderhauses an der Bordkante stehen, "Macht euch keine Gedanken wegen der Geräusche! Unsere Freunde hier" ich zeige auf die beiden benachbarten Brontos, "sind im Moment abgelenkt!"
Das tun sie minutenlang, mit wenig Erfolg, selbst, als wir an jedem Seilende zwei Männer aufstellen, damit sie mit doppelter Kraft arbeiten können.
"Die anderen Schiffe müssen sowieso einen anderen Weg nehmen, sonst laufen die hier auch auf!" sage ich zu Ochaum, "Hoffentlich ist denen das klar!"
"Vielleicht geht es doch hier? Mit Anlauf, unter vollen Segeln?" vermutet Ochaum. Ich schüttele den Kopf. Eigentlich müßte ihm klar sein, daß sich dabei der Kadaver unter uns so verkanten könnte, daß das auflaufende Schiff erst recht festsitzt.
Wir arbeiten immer noch, als das letzte Schiff unserer Flottille längst Anker geworfen hat. Meine Befürchtungen, daß die Herde dadurch in Aufregung geraten könnte, waren bis jetzt unbegründet.
"Wie gut, daß da drüben jetzt wieder Ruhe ist! Was da wohl los war!" sage ich. Ochaum späht ans rechte Ufer.
"Da sind einige an Land gegangen - oder besser, in den Sumpf dort. Außerdem sind da noch einige Jungtiere."
"In der Bucht da?"
"Ja."
"Jetzt sehe ich sie." Ich sehe eine Weile genauer hin. Ich habe den Eindruck, daß die ausgewachsenen Tiere sich weniger für ihre Jungen interessieren als für etwas, was dort im Urwald verborgen ist. Aber vielleicht irre ich mich auch.
So ein bißchen stört es meine Eitelkeit als Homo Sapiens: Da sind wir hier, mit Schiffen, die diese Saurier vielleicht noch nie gesehen haben, und was geschieht? Nichts. Die meisten sehen uns nicht einmal an. Wenn ihr so weitermacht, denke ich, werdet ihr genauso aussterben wie eure Artgenossen vor 60 Millionen Jahren auf der Erdoberfläche. Irgendwann.
Dann denke ich daran, daß es sich vielleicht bei diesen Sauriern um ein Verhalten handeln könnte, das man manchmal bei Kleinkindern beobachtet: Wir nehmen die Gefahr, die von diesen Schiffen ausgehen könnte, gar nicht zur Kenntnis, sondern tun mal so, als ob da etwas im Dschungel ist, was uns viel mehr interessiert. Vielleicht etwas Gefährliches. Vielleicht wird dann die Aufmerksamkeit dieser seltsamen Wesen von diesen seltsamen schwimmenden Inseln auch abgelenkt. - Ich glaube nicht, daß es so ist, weil dieses Verhalten wohl mehr Intelligenzresourcen erfordern würde als diesen Sauriern zur Verfügung steht. War ja auch nur so ein Gedanke.
Unten ist das schwere Atmen der Männer zu hören, sogar gegen den akustischen Hintergrund der schmatzenden Saurier, die uns nun wieder völlig ignorieren, trotz der jetzt fünf Schiffe, die direkt vor ihrer Nase ankern.
"Vielleicht hat der Saurierfänger diesen Saurier erlegt!" spekuliere ich laut.
"Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Saurier sterben auch, ohne daß jemand nachhilft. Verdammt, ich glaube, wir kommen hier so nicht los!"
65.4 Die Schlacht der Sauropoden
Unser Gespräch wird von wüstem, vielstimmigen Röhren aus der flachen Bucht zu unserer Rechten unterbrochen. Als wir hinsehen, gefriert mir das Blut in den Adern.
"Tyrannosaurus Rex! Oder sind es Allosaurier? Eine ganze Herde! Sie haben es auf diese Brontos abgesehen, oder wenigstens auf ihre Jungen!"
Fasziniert sehe ich die mächtigen Tiere aus dem Wald brechen. Vielleicht nicht gerade Tyrannosaurus Rex, aber irgendeine Art von großen, aggressiven Raubsauriern. Mit aufbrausenden Bugwellen werfen sie sich ins Wasser, nur auf ihren mächtigen Hinterbeinen laufend und mit den lächerlich kleinen Vorderbeinen offenbar zwecklos herumgestikulierend. Und dann, ohne Vorwarnung, brüllen auch die Tiere in unserer Nähe los, und das Schiff zittert wie bei einem Erdbeben.
Hat mir nicht vor kurzem jemand erzählt, daß sich kein Raubsaurier an den großen Brontosauriern vergreift? Das sieht mir hier nicht so aus. Ich kann schon sieben mittelgroße Raubsaurier zählen, und noch während ich hinsehe, brechen weitere vier aus dem Uferurwald ins Freie und werfen sich ins Wasser. Das sieht doch wie eine koordinierte Aktion aus! Die Fontänen spritzen turmhoch.
"Die haben's auf ihre Jungen abgesehen!" schreit Ochaum. Kein Grund mehr, leise zu sein: All die Saurier in unserer Nähe antworten auf das Brüllen am Ufer mit ähnlichen Lauten. Uns dröhnen die Ohren. Aus irgend einem Grund habe ich bis vor kurzem noch gedacht, daß harmlose Großvegetarier über keine laute Stimme verfügen können. Diese Ansicht wird jetzt korrigiert.
Und dann kommt Bewegung in die Herde. Aber sie fliehen nicht - nein, alle, so scheint es, wollen sich auf das Ufer, an dem die Raubsaurier aufgetaucht sind, zubewegen!
Auch die beiden rechts und links von uns. Wo eben noch die sanft gekräuselte Wasserfläche war, wogt und schwallt nun um die großen Körper das Wasser. Das Schiff schwankt und schüttelt sich. Dann streift der Saurier zu unserer Linken das Schiff, als er anfängt, sich hinter unser Heck herum in Richtung auf das Land zu zubewegen. Unser Schiff dreht sich dadurch um fast 45 Grad, und ich spüre es am knirschenden Zittern der Decksbalken: Unser Schiff kommt durch diesen Stoß frei!
Dann aber habe ich die Idee: Ich brülle, so laut ich nur kann, nach hinten, in Richtung der anderen Schiffe: "Ihr da! Osont! Segel setzen, und dann durch! Nichts wie weg! Schnell!"
Zwecklos. Meine Stimme ist gegen den akustischen Hintergrund des vielfachen urweltlichen Röhrens nicht zu hören. Außer von Ochaum:
"Wieso sollen sie denn jetzt Segel setzen?" ruft er mir zu. Er steht neben mir im Ruderhaus und muß trotzdem brüllen, um sich verständlich zu machen. Ein weiterer Stoß trifft unser Schiff und wirft uns gegen die Fensterbänke.
"Damit die gesehen werden! Damit sie möglichst massiv aussehen! Und damit wir alle hier wegkommen!"
Es argumentiert sich nicht gut, wenn man schreien muß. Außerdem haben wir dafür keine Zeit: Wir müssen auf unser Schiff aufpassen.
Mehrfach sind schon Wasserwellen auf das Deck niedergegangen. Der ganze Abschnitt dieser Wasserstraße ist zu heftiger Dünung aufgewühlt. Nur wenige Sekunden haben die aufgebrachten Brontosaurier dazu gebraucht. Die ganze Herde zieht an Land - auf die Raubsaurier zu! Diese großen, dummen Vegetarier - aber sie ziehen in den Kampf! Wahrscheinlich bringt ein kollektiver Instinkt die Herde dazu, die Jungen zu schützen.
"Das gibt eine Auseinandersetzung!" sage ich, aber niemand kann hören, wenn ich mit normaler Stimme spreche. Inzwischen glaube ich, in den Stimmen der Brontos so etwas wie Wut zu hören. Wie das wohl ausgehen wird?
Es ist nicht genau zu erkennen, wieviele Raubsaurier da tatsächlich aus dem Dschungel aufgetaucht sind. Diese Seitenbucht, die wir da sehen, wenn auch nicht in ihrer ganzen Ausdehnung, ist weiß von Schaum und Gischt. Die Raubsaurier haben die ersten Jungen erreicht, aber auch die ersten der Brontosaurier sind am Ort des Geschehens angekommen. Ihre Strategie ist einfach, die einzige, die ihnen möglich ist: Sie rennen einfach alles nieder, was ihnen in den Weg kommt, in der vagen Hoffnung, daß darunter die Angreifer sind. Die Raubsaurier - kleiner, flinker, intelligenter, mit besseren Gebissen ausgestattet, weichen immer wieder aus und fallen den ihnen gewichtsmäßig so überlegenen Riesen in die Seite. Ich sehe von hier aus bereits Brontosaurier, die an ihrer Seite klaffende Wunden haben, in die ein Chirurg hineinklettern müßte, um sie nähen zu können. - Ich bin parteiisch. Die Brontos tun mir leid. Sie sind angegriffen worden.
Die anderen Schiffe setzen Segel. Es ist das Sinnvollste, was man im Moment tun kann. Und unser eigenes Schiff, offenbar von dem Hindernis freigekommen, richtet sich wieder aus und nimmt Fahrt auf. Allerlei Gerümpel schwimmt auf dem Wasser. Ich weiß nicht, ob wir irgendwelche wichtigen Dinge verloren haben. Nur weg von hier!
Aber noch sind Brontosaurier zu unserer Linken, weit von dem Ufer des Geschehens entfernt. Auch sie sind unterwegs, um in dem Kampfgetümmel mitzumischen. Dazu müssen sie notwendigerweise die Linie unserer Schiffe überqueren - hinter uns, vor uns, oder zwischen den Schiffen hindurch. Damit sind sie, trotz meiner grundsätzlichen Sympathien, für uns die größere Gefahr.
Keiner hält genau auf uns zu. Drei oder vier erwischen eine Lücke, vermeiden tatsächlich, die Schiffe rechts und links von ihrem Kurs zu überrennen, weil sie ja nicht wissen, daß diese ihnen bei einer direkten Kollision wahrscheinlich kein großes Hindernis bieten würden. So haben wir nur mit dem aufgewühlten Wasser und den Brechern auf Deck zu kämpfen. Dann aber sehe ich, daß einer der Brontos in blinder Wut genau auf das letzte Schiff zuhält. Sein Instinkt sagt ihm, daß er am jenseitigen Ufer Raubsaurier zertrampeln soll. Diese schwimmende Insel, die ihm da im Weg ist, wird ihn nicht aufhalten. Wenn er denken kann, denke ich, wird er es so sehen: Das Schiff in seinem Wege interessiert ihn nicht. Vielleicht sieht er es auch gar nicht. Vielleicht sind meine Vermutungen bezüglich der schlechten Augen der Brontosaurier richtig. Oder er hat es als schwimmendes Konglomerat erkannt, vielleicht, weil er sich erinnert, daß da vor kurzem noch gar keine Insel war.
Die anderen drei Schiffe versperren etwas die direkte Sicht auf das Geschehen, und in dem Brüllen der Herde kann man das Bersten der Decksbalken, das Herabstürzen der Rahen, das Knicken der Masten und das Zerplatzen der Decksaufbauten nicht hören, und auch die Schmerzensschreie der Männer, die dort jetzt verwundet werden oder ihr Leben verlieren, dringen nicht an unsere Ohren. Als der Brontosaurier an der anderen Seite wieder deutlich in unser Gesichtsfeld kommt, sehen wir, daß er sich in allerlei Seilwerk verheddert hat. Tücher und Balkenstücke schleppt er mit sich herum, und er schüttelt sich, weil es ihm lästig ist. Aber er hält weiter auf die angreifenden Raubsaurier zu. In seinem Kielwasser schwimmen zahllose Gegenstände, wirbeln in Strudel, tauchen wieder auf. Balken, Köpfe? Ich kann nicht alles genau sehen. An einer Stelle hebt sich ein Arm aus dem Wasser und winkt. An einem anderen schwimmenden Balken klammert sich ein Körper, der wie leblos scheint.
Jetzt sehe ich, daß sich in den Seilen, die sich um den Hals des davonstampfenden Brontosaurus gewickelt haben, ein Mensch verfangen hat. Die Reste der Takelage halten ihn unerbittlich fest. Er winkt, aber ich weiß nicht, ob er das selbst tut, oder ob er schon tot oder bewußtlos ist, und nur die Erschütterungen des großen Tieres den Körper des Bedauernswerten bewegen. Was er wohl denken mag, wenn er noch lebt und bei Bewußtsein ist? Und was er erst denken wird, wenn er tatsächlich noch lebendig ist, wenn der Bronto sein Ziel erreicht hat und sich auf die Raubsaurier stürzt?
Dann driftet ein größerer Teil des zerstörten Schiffes in unser Gesichtsfeld - ein Floß ohne größere Aufbauten, Decksbalken, die in unsinnigen Winkeln abstehen, eine Qualmfahne von einer naß gewordenen Feuerstelle, zahllose verschiedenartige Trümmer im Kielwasser. Auch darauf bewegt sich noch jemand. Jemand, der nicht von dem Schiff heruntergeschleudert wurde, aber möglicherweise schwer verletzt worden ist. Dieses Floß ist weniger als halb so groß wie das Schiff, aus dem es herausgeschlagen wurde. Wenig später kommt die andere Deckshälfte in Sicht. Eine grüne Platte ganz ohne jede Aufbauten, glitschig bewachsen. Diese Hälfte des Schiffes treibt kieloben - wir sehen die Unterseite. Immer wieder nehmen einem größere Wellen die Sicht auf die Dinge, die da im Wasser treiben.
So schnell wie möglich weg hier, und aus sicherer Entfernung dem Kampf der beiden Saurierherden zusehen, und dem havarierten Schiff zu helfen - das läßt sich alles schwer miteinander vereinbaren. Ich denke eigentlich, daß es am zweckmäßigsten wäre, wenn das jetzt letzte Schiff an Ort und Stelle bliebe, um die Überlebenden des zerschlagenen Schiffes aufzusammeln. Aber ich sehe, daß die genauso Segel setzen wie alle anderen.
Sie lassen ihre Kameraden im Stich!
Für die Schiffsbesatzungen davor gibt es erst recht keinen Grund, sich länger als unbedingt notwendig in diesem Gebiet aufzuhalten. Einschließlich unserem Schiff. Was soll ich tun? Die MARY CELESTE ist am weitesten vom Ort der Havarie entfernt. Niemand würde es verstehen, wenn ausgerechnet wir versuchen würden, mühevoll gegen den Wind zurückzufahren. Ochaum würde das nicht verstehen und die Besatzung auch nicht.
Bin ich wieder zu weich? Oder ist eine Logik hinter diesem Verhalten? Etwa die: Wer dieses Unglück unverletzt überlebt hat, ist in der Lage, schwimmend die Schiffe einzuholen, die ja auch mit vollen Segeln bei dem schwachen Wind nicht sehr schnell sind. Die anderen, die Schwerverletzten, wären ja ohnehin nur ein Klotz am Bein. Klar. Die Logik und die Denkweise der Granitbeißer.
Herwig, spiel bloß nicht den Helden, denke ich. Du weißt nichts von dieser Welt. Du weißt nicht, ob sich nicht dieser mörderische Kampf, der da jetzt in dieser Sumpfbucht tobt, nur wenige hundert Meter von uns entfernt, auf dieses Wasser hinausverlagert. Vielleicht ist das bei derartigen Herdenkämpfen üblich. Dann könnte das jeden Moment passieren. Wir müssen hier weg. Am Leben bleiben. Diese armen Männer auf dem letzten Schiff bedauern, das darfst du, und ein schlechtes Gewissen darfst du auch haben. Das ist deine Privatsache. Aber wegen dir und wegen der Schiffsbesatzung, die dir anvertraut ist, darfst du nicht zurück. Überleben ist euer Ziel. Sei froh, daß du das nicht tun darfst, wovor du Angst hättest, es zu tun, wenn du es doch tun müßtest!
Langsam treiben wir auf die nächste Biegung der Wasserstraße zu. Sie verengt sich dort wieder, und dort werden wir auch die Sicht auf die kämpfenden Saurierherden verlieren. Jetzt, wo es nichts mehr zu tun gibt außer Kurs zu halten, können wir auch wieder den Kampf beobachten.
Das Wasser wird dort immer noch so aufgewühlt, daß uns massive Wellen erreichen, aber sie sind etwas regelmäßiger als wenn sie in direkter Nähe unseres Schiffes erzeugt würden. Unser Vorwärtskommen wird dadurch nicht behindert.
So heftig, wie dort der Kampf tobt, habe ich die Befürchtung, daß jeden Moment einer der Kombatanden ausbrechen und in Richtung auf unsere vier Schiffe fliehen könnte. Er wäre schnell hier, und die Verfolger auch. Aber Flucht ist im Verhaltenskodex dieser Monster nicht vorgesehen. Bei den Brontosauriern nicht, weil sie keine Feinde haben, und bei den Raubsauriern auch nicht, weil sie auch keine Feinde haben. So sieht das also aus, wenn man keine Feinde hat!
Es liegen schon einige Körper reglos im Wasser, weitere vielleicht unter Wasser. Es muß bereits viel Blut geflossen sein, denn das Wasser ist dort bereits deutlich gefärbt. Und im Uferurwald bricht ein Baum nach dem anderen um.
Ich denke daran, daß eigentlich in der gesamten Tierwelt solche Massenauseinandersetzungen nicht üblich sind. Die Populationsverluste sind einfach zu hoch. Erst der Mensch hat die Massentötung erfunden, unter Tierherden und natürlich ganz besonders unter seinesgleichen. Also sind wir entweder Zeuge eines sehr seltenen Ereignisses, das normalerweise von beiden Seiten vermieden wird, oder aber die Bevölkerungsdichte verschiedener Saurierarten ist in dieser Gegend so hoch, daß solche Auseinandersetzungen eben doch etwas häufiger vorkommen. Trotzdem merkwürdig - zumindestens die Raubsaurier müßten sich doch eigentlich vermöge ihrer höheren Intelligenz über ihre Verluste klar werden. Warum tun sie das nicht? Warum haben sie sich nicht zurückgezogen, als sie merkten, daß die Brontosaurierherde sich geschlossen gegen sie wendete?
Ist ihr Verhalten am Ende durch kurz zurückliegende Ereignisse beeinflußt worden? Etwa durch Begegnung mit dem Saurierfänger? Oder hat es unter den Saurierspezies in der Welt der Granitbeißer große Wanderbewegungen gegeben, ausgelöst durch was auch immer, vielleicht durch den Druck der Bevölkerungsdichte anderer Spezies, und diese Wanderbewegungen führen jetzt zum Aufeinanderprallen von Populationsgruppen, die das gleiche Territorium beanspruchen?
Spekulation. Ich weiß es nicht. Aber die Menge der getöteten Saurierkörper, die dort im Wasser liegen, läßt die Vermutung aufkommen, daß hier zwei Saurierspezies um die Vorherrschaft kämpfen, vielleicht ohne sich des Zieles dieses Kampfes bewußt zu sein. Sie wollen ja auch bloß überleben, genau wie wir.
Der Kampf verlagert sich zusehends vom Ufer weg in den Wald hinein. Heißt das, daß die Brontos dabei sind, die Raubsaurier zu verjagen? Andererseits sehe ich, wie schwerfällig sie sich an Land bewegen. Es könnte auch eine - beabsichtigte? - List sein, die Brontos an Land zu locken, wo sie über kurz oder lang bewegungsunfähig liegen bleiben, vielleicht eine leichte Beute. So eine Absicht würde für erhebliche Intelligenz auf Seiten der Raubsaurier sprechen. Dagegen aber spricht, daß auch bereits viele getötete und zertretene Raubsaurier herumliegen, vielleicht sogar noch weitere, die wir nicht sehen, weil sie in den Grundschlamm hineingestampft worde sind. Und mein Klischee, daß die großen Brontosaurier nicht dauernd an Land leben können, muß ja auch nicht richtig sein.
Mir kommt das alles sinnlos vor. Aber was weiß ich schon über diese Welt, um das beurteilen zu können? Gleich werden wir die nächste Biegung erreichen und ein ordentliches Stück Urwald zwischen uns und diesen Tieren bringen.
Vier Schiffe noch. Ein Drittel von uns ist tot. Dazu ist nicht viel Zeit nötig gewesen. Ob ich dich wiedersehen werde, Irene? Manchmal gibt es wirklich Grund, daran zu zweifeln.
65.5 In Sicherheit
Vielleicht einen Kilometer weiter ist die Wasserstraße wieder so flach, daß es eigentlich unwahrscheinlich ist, daß sich Brontosaurier freiwillig bis hierher begeben, wenn es wirklich wahr ist, daß sie sich lieber in tiefen Wasser aufhalten. Wenigstens vor denen wären wir sicher. Die Geräusche des Kampfes sind hinter uns verebbt, entweder, weil der Urwald sie verschluckt, oder weil er endlich vorbei ist. Die Ufer sind nur 200 Meter voneinander entfernt, aber etwas besseres bekommen wir so schnell nicht, um die Schlafperiode zu verbringen. Wir bauen die übliche Insel aus den vier Schiffen, um die Schlafperiode vorzubereiten. Sie wird genau in der Mitte zwischen den beiden Ufern plaziert und verankert.
Dabei erfahre ich, daß es tatsächlich drei Männer von dem zerschlagenen Schiff geschafft haben, schwimmend das letzte Schiff zu erreichen. Ihre Erzählungen wollen alle hören, immer wieder. Das ist in der Welt der Granitbeißer die Hauptquelle der Unterhaltung: Erzählungen. Zunehmend übertriebene Erzählungen, wie ich höre: Alle haben doch gesehen, daß es nur ein einziger Brontosaurus war, der das Schiff zerschlagen hat. Wieso werden es jetzt immer mehr?
Interessant ist, daß diese Männer offenbar nicht darüber verstimmt sind, daß keines der Schiffe ihnen zu Hilfe gekommen ist. Oder, wenn sie doch verstimmt sind, dann verbergen sie es geschickt. Oder die Freude darüber, daß sie noch am Leben sind, überdeckt alle anderen Überlegungen. Oder sie haben überhaupt nicht erwartet, daß ihnen irgend jemand zu Hilfe kommt. Sie kennen ja die Gepflogenheiten unter den Granitbeißern, und Erwartungen, die man nicht hat, können nicht enttäuscht werden: 'Erwartungslosigkeit ist der Schlüssel zu einer glücklichen Ehe' pflege ich manchmal zu sagen, aber das Prinzip ist natürlich weitaus allgemeiner.
In dieser Schlafperiode halten wir strenge Wache. Aber obwohl der Urwald so dicht ist, daß wir nicht das mindeste davon wissen, was sich bereits einige Meter landeinwärts herumtreiben könnte, passiert in dieser Schlafperiode nichts, was erwähnenswert wäre. Nur der akustische Hintergrund hält das Bewußtsein wach, daß dauernd etwas passieren kann.
Ich denke daran, wie schön es beim Ausschlafen zuhause war: Außer den spielenden Kindern der Nachbarn und den Traktoren unseres Vermieters gab es nichts, was einen vor Mittag störte. Nichts davon war existenzbedrohend. Ich konnte mich an Irene kuscheln und weiterschlafen.
Und irgendwo unter uns, mehr als zehn Kilometer tiefer, lebte Charmion, und wir wußten noch nichts voneinander.
65.6 Klebewürmer und Kopulationstänze
17 Uhr. Ich wache pünktlich auf, wie erwartet. Osont fängt bereits an, während die meisten noch mit dem Frühstück oder der Morgentoilette beschäftigt sind, die Trennung der vier Schiffe zu veranlassen. Er will schnell weiter.
Ich bekomme zwei der drei Männer, die sich von dem zerstörten Schiff gerettet haben, weil meine Mannschaft durch die Sache mit dem Juckwasser so dezimiert wurde. Dann wird wieder die übliche Fahrtformation eingerichtet, also mein Schiff als erstes, dann Osont's Flaggschiff, dann die beiden anderen.
In den nächsten Stunden passieren wir die verschiedenartigsten Landschaften. Die Sicht wird besser und es wird auch etwas heller, da sich der Nebel bis auf einige Nebelbänke und Schwaden, die immer wieder dem Dschungel entsteigen, verzieht. Über den Baumwipfeln des Urwaldes an beiden Seiten sehen wir die Berge des Hinterlandes und neue, unbekannte Säulen, die in der leuchtenden Wolkenschicht vier- oder fünftausend Meter über uns verschwinden.
Wir passieren Abzweigungen im System der Wasserstraßen und versuchen, das, was wir vorfinden, so gut es geht mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was auf den Karten eingezeichnet ist. Glücklicherweise bleibt unsere Hauptbewegungsrichtung immer die Richtung des vorherrschenden Windes, und die steigende Geschicklichkeit der Rudergänger auf allen vier Schiffen ermöglicht, immer besser mit immer weniger Stakarbeit auszukommen. Deshalb haben die Männer aber auch wieder weniger zu tun, und Langweile macht sich breit. Das führt zu gelegentlichen Streitigkeiten, die wiederum zu zuviel Lautstärke führen. Ich bin gezwungen, mehrfach einige der Männer einige Dutzend Male in das Krähennest hinauf- und hinunterklettern zu lassen, damit sie ihre überschüssige Energie loswerden. Auch auf den Schiffen hinter uns beobachte ich Männer, die Dutzende Male in den Mast hinaufklettern und wieder herunter. Auch die tun das bestimmt nicht freiwillig.
Dann versuche ich, einige dazu anzuhalten, sich mit Fischfang zu beschäftigen, um unsere Diät aufzulockern. Angeln ist schließlich eine hervorragend personalintensive Tätigkeit. Aber das ist nicht besonders von Erfolg gekrönt. Es gibt zwar nicht überall diese gefräßigen Fische, aber wenn sie auftauchen, dann geschieht das ohne jede Vorwarnung, und im Allgemeinen ist der Köder dann weg. Diese Fische sind einfach besser als wir! - Vielleicht liegt das aber auch daran, daß die Männer nicht einsehen, warum man Arbeit in das Besorgen von Nahrungsmitteln investieren sollte, solange die Schiffsvorräte nicht zur Neige gehen, und das auch noch mit einer so ausnehmend langweiligen Methode.
Gegen 22 Uhr kommen wir durch ein Gebiet, in dem es im Wasser von zahllosen schwimmenden Würmern wimmelt. Diese Würmer sind daumendick, und wenn man einen an Deck holt, dann sondern sie eine eklige klebrige Flüssigkeit ab, die das Holz angreift, es quellen läßt und dann faserig auflöst. Ich habe die beunruhigende Vision, daß diese immensen Schwärme dieser Würmer, die niemand an Bord kennt und von denen noch nie jemand etwas gehört hat, unter Wasser das Schiff auflösen könnten. Aber offenbar tun die Würmer nichts, solange sie im Wasser bleiben dürfen, und so bleiben sie für eine knappe Stunde der Hauptgrund für unseren angehobenen Adrenalinspiegel. Aber es passiert nichts, wenn man davon absieht, daß unsere gefräßigen Fische in der ganzen Zeit, während wir durch diese Würmer-Wasser-Mischung treiben, sich nicht blicken lassen. Sie sind aber sofort wieder da, als wir das Gebiet mit den Klebewürmern wieder verlassen.
War das eine der angekündigten Gefahren? Und wenn ja, was hätten wir anders oder falsch machen müssen, damit es uns wirklich gefährlich geworden wäre? Ich wünschte, daß diese Kartenzeichner etwas präzisere Angaben gemacht hätten. So regen wir uns vielleicht über die falschen Dinge auf und übersehen die richtigen Gefahren, wenn wir erst müde werden, hinter allem und jedem, was ungewohnt ist, eine drohende Katastrophe zu vermuten.
Gegen 0 Uhr bekommen wir noch im Uferdschungel kopulierende Saurier zu sehen - das heißt, die meiste Zeit sehen wir nicht sehr viel. Es handelt sich um einen kleineren Raubsauriertyp, der immer noch eine Schulterhöhe von einigen Metern aufweist. Sie rennen in der üblichen kopulierenden Stellung - das Männchen penetriert das Weibchen von hinten - planlos durch den Wald, ohne auf andere Pflanzen und Tiere zu achten, die ihnen den Weg versperren. Als Folge dieser Bumserei fallen einige mittelgroße Bäume, und viele kleinere werden einfach zertrampelt. Die ganze Zeit schnattern die beiden mit in den Nacken geworfenen Köpfen - als ob sie den Himmel auf ihr Tun aufmerksam machen möchten. Es sieht weiß Gott merkwürdig aus. Schließlich entfernen wir uns soweit von dem Pärchen, daß wir nicht feststellen können, ob sie zu einer Art Höhepunkt kommen, oder ob das ganze eine Art permanenter Höhepunkt war. Die Aufklärung über das Sexualleben dieses Raubsauriertypes war nicht umfassend. Immerhin hat dieser hektische und langdauernde Geschlechtsakt wieder gezeigt, daß wir, sowohl die Welt der Granitbeißer als auch unsere Welt da oben, biologisch gemeinsame Wurzeln haben. Ich bin überzeugt, auf der Abstraktionsebene der DNA-Ketten, der Verschlüsselung der Erbinformationen, der Eiweiße und ihrer Verwendung als Bausubstanz und im Stoffwechsel und der anderen Komponenten des Stoffwechels der hiesigen Tier-und Pflanzenwelt würden wir noch viele Entsprechungen finden, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten, die Spuren aus der Zeit sind, als die beiden Biosphären noch nicht so radikal getrennt waren.
Während der Minuten, als wir dem Schauspiel zwischen den Bäumen hindurch immer wieder mal zusehen konnten, habe ich auch die Männer auf meinem Schiff beobachtet. Als sie erst begriffen hatten, daß von den beiden Sauriern keinerlei Gefahr droht, weil diese zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, haben sie sich nicht mehr um die beiden gekümmert. Weder die Saurier an sich noch ihre spezielle Tätigkeit waren interessant.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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