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******** 064. Tag: Samstag 95-10-21 ********
64.1 Fußpflege
Ein paar Stunden Inaktivität vor der Schlafperiode. Die Männer genießen sie. Besonders auch deshalb, da sie dauernd an Gefahren erinnert werden, die sich aber im Moment nicht akut aufdrängen.
Nahezu kann man durch den dicken Nebel und den wieder einsetzenden Dauerregen die ungefähre Begrenzung des Landes vor uns erraten, wenn man die Tierstimmen aus dem Urwald genau genug interpretiert. Da ist dauernd etwas zu hören, und viele der tierischen Laute deuten auf größere Tiere hin. Manche der Männer meinen, daß sie sogar schon etwa den Umriß der Wasserstraße ausmachen können, weil es mittendrin eine Richtungszone gibt, aus der wieder weniger Geräusche zu uns dringen. Das kann ich selbst aber nicht nachvollziehen.
Ab und zu ist etwas so nahe, daß es mir schwer fällt, zu glauben, daß der Ausgangspunkt dieser Geräusche noch auf dem Land ist, das ja höchstens nur wenige hundert Meter von uns entfernt sein kann. Wir hören schweres Flügelschlagen im Nebel, ohne etwas zu sehen, und einige Male fliegt auch etwas über uns hinweg, entweder ein sehr großer Vogel oder ein sehr kleiner Flugsaurier.
Allmählich gewöhnt man sich an die ständige, latente Bedrohung, und solange das Schiff nicht direkt angegriffen wird, kann man in diesen Mußestunden anderen Beschäftigungen nachgehen.
Bei mir sind mal wieder die Fußnägel fällig. Zwar ist das Schuhzeug der Grabitbeißer so beschaffen, daß Zehen und damit die Nägel immer mal wieder Bodenkontakt kriegen und sich so abschleifen, trotzdem ist meinen Zehennägeln der zweimonatige Wildwuchs deutlich anzusehen. Ich muß sie kürzen. Sowohl Schwert als auch Messer sind dazu aber reichlich unhandliche Instrumente, und so dauert es recht lange. Wer immer mich bei dieser Tätigkeit auf dem Achterdeck sieht, zeigt einen Anflug von Verwunderung, aber nicht mehr. Erstens sind die Männer weniger pingelig mit ihren Zehennägeln, genauso wie mit ihrer sonstigen Hygiene, und zweitens schleifen sich bei ihnen die Nägel mehr ab, da sie mehr körperliche Arbeit zu tun haben.
Jedenfalls geht die Zeit rum. Ich versuche, an Vergangenes aus der Welt da oben zu denken, aber es gelingt mir nicht so recht: Immer, wenn ich meine Gedanken woanders habe, röchelt und platscht wieder etwas in der Nähe. Manchmal, im Urlaub, habe ich früher in Gedanken spielerisch ganz tolle Rechner-Architekturen entworfen: Innovative Registerkonzepte, raffinierte Adressierungsmodi, geschicktes Speichermanagement, übersichtliche Betriebssystemstrukturen, Busdefinitionen und effiziente Dateiverwaltungen. Einfache und ästhethische Konzepte sind die einzig möglichen, wenn man so etwas im Kopf macht - bei allem, was zu komplex ist, verliert man ohne jede Unterlagen die Übersicht.
Jetzt hätte ich erst recht die Zeit dazu. Aber seit wir in der Welt der Granitbeißer sind, gelingt mir das kaum noch. Diese Welt wird wohl nie eine CPU sehen, oder etwas mit Tastatur und Bildschirm. Nie wird sich jemand hier über Compiler-Architekturen Gedanken machen, oder eine neue Programmiersprache ausdenken, oder innovative Betriebssysteme entwerfen. Die Gedanken kreisen immer nur um das nächstliegende: Am Leben bleiben, weiterkommen, bis nach Grom, Irene wiederfinden. Sogar der Rückweg zurück in unsere eigene Welt ist schon ein nebelhaft weit entferntes Konzept, weil ich noch nicht weiß, wie wir das anstellen wollen. Denselben Weg zurück, oder die braunen oder die salzigen Quellen? Was ist der richtige Hinweis? Es ist wie Geschichten, die uns irgendjemand erzählt hat, oder an die wir uns schwach erinnern, die mit unserem wirklichen Leben aber gar nichts zu tun haben.
Und dabei dachte ich einmal, daß man die Welt des Abstrakten und Formalen bei sich behält, wohin man auch verschlagen wird! Die Physik, die Mathematik. Matrizenrechnung, Volumenintegrale, Fouriertransformation, die Schrödinger-Gleichung, Operatoren-Eigenwerte, Transistorkennlinien, Drehstrommotoren, Neutronensterne und Schwarze Löcher, Bandlücke und pn-Übergang. Alles nicht mehr wahr. Alles nicht mehr relevant. Nur die Tiere da draußen, an Land, im Urwald, die uns vielleicht nur deshalb nichts tun, weil sie auch nicht wissen können, daß wir hier sind.
Ich betrachte meine Zehennägel: Allmählich bin ich mit ihrem Aussehen zufrieden. Dem Fußpilz scheint der Aufenthalt in dieser Welt schlecht zu bekommen - ich kann nichts mehr feststellen. Trotz dieser Feuchtigkeit und dieser Hitze hier, und trotz eines bekannten Liedes, das die Treue am Beispiel des Fußpilzes besingt. Wer war das noch? Weiß ich auch nicht mehr. Irgendeine Pop-Gruppe, am Anfang der Siebziger Jahre. Auch das ist in grauer Vorzeit gewesen, in einem anderen Leben.
Wenigstens ein Grund, zufrieden zu sein: Nicht nur der Fußpilz glänzt durch Abwesenheit. Bis jetzt hat mich auch noch keine ernsthafte Gesundheitsstörung in der Welt der Granitbeißer ereilt, trotz oder vielleicht auch wegen der Anstrengungen und des belastenden Klimas.
Die Stimmen des Urwaldes tun uns nicht den Gefallen, zur Schlafenszeit abzuebben. Aber die Müdigkeit und die immer größere Flexibilität in solchen Dingen und das Vertrauen auf die, die Wache haben, bewirken, daß wir dennoch leidlich gut zum Schlafen kommen.
64.2 Die Wasserstraße
14 Uhr. Die Schlafperiode ist zu Ende und das überfällige Schiff ist nicht wieder aufgetaucht. Der Nebel ist ein wenig dünner geworden, aber nicht viel, und es ist Wind aufgekommen, aber auch nicht viel. Wenigstens geht er in die richtige Richtung, also ungefähr auf die Urwaldgeräusche zu.
Osont entschließt sich, so, wie er es angekündigt hat, die Flottille wieder in Bewegung zu versetzen. Meinen Vorschlag, das Verschwinden des Nebels ganz abzuwarten, lehnt er ab. Wir müssen auf Sichtweite ans Ufer ran, um zu sehen, wo die Einfahrt nun tatsächlich ist.
Das gelingt uns schon bald nach dem Ankerheben und dem Auflösen der nun aus nur noch fünf Schiffen bestehenden Insel. Mit Unterstützung einiger Segel und hauptsächlich Korrekturen durch viel Stakarbeit kommt das Ufer schon sehr bald in Sicht, und nachdem wir seiner gekrümmten Uferlinie eine Weile gefolgt sind, taucht gegenüber eine weitere grüne Dschungelwand aus dem Nebel auf. Wir sind genau richtig.
Inzwischen sind auch auf allen Schiffen die Feuer entfacht, so wie wir es uns vorgenommen haben. Vielleicht locken diese aber auch eher ein Unheil an als uns bei Eintreffen eines solchen zur Abwehr desselben nützlich zu sein. Andererseits - auch in der Welt der Granitbeißer ist der Mensch das einzige Lebewesen, das das Feuer beherrscht. Das gibt etwas subjektive Sicherheit. Und manchmal das Krone-der-Schöpfung-Gefühl.
Zusätzlich zu den Feuern habe ich die Aufstellung von Gefäßen mit Wasser veranlaßt. Wenn mal wieder etwas im Wasser ist, was diesen unwiderstehlichen Juckreiz veranlaßt, dann soll man sich rasch mit unbedenklichem Wasser waschen können. Vielleicht hilft es. In der Praxis ist es den Stakern nämlich nicht möglich, den Hautkontakt mit dem Wasser dauernd zu vermeiden.
Der Abstand der Schiffe voneinander ist gering - wir halten jetzt etwa eine Schiffslänge zwischen Heck des vorausgehenden und Bug des folgenden Schiffes. Auch diese enge Formation gibt uns einen Anflug von Sicherheitsgefühl. Trotzdem sind wir alle wachsam, und wie schon vor Tagen beschlossen sitzt in jedem Schiff ein Mann im Krähennest. Es wird leise gesprochen, oder überhaupt nicht.
Die beiden Ufer mögen zwischen hundert und zweihundert Meter voneinander entfernt sein, wie breit das nutzbare Fahrwasser dazwischen ist, werden wir schon früh genug erfahren. Die Geographie des Grundes ist unübersichtlich: Auch, wenn wir uns in der Mitte des Wasserweges aufhalten, finden die Stakstangen Grund - meistens. Dort, wo sie plötzlich keinen Grund finden, machen wir ab und zu Lotungen, und an einigen solchen Stellen finden wir auch damit keinen Grund, solange die Lotleinen reichen - also einige hundert Meter. Eine merkwürdige Topografie. Ich habe Visionen von wassergefüllten Höhlen, die sich unter dieser ganzen Gegend erstrecken. Was darin wohl leben mag? - Jedenfalls haben diese Wasserstraßen von ihrer Entstehung her nichts mit Flüßen zu tun.
Die Urwälder beiderseits des Wassers sind undurchdringlich und dicht, meistenteils mit hohen Bäumen bestanden, an einigen Stellen gibt es aber auch wieder Buchten mit nur flachem Bewuchs, was auf Sumpf hindeutet.
Nun ist es an der Zeit, daß sich herausstellen kann, was die vielerlei Warnungen vor diesem Gebiet auf den Karten bedeuten. Die Seeschlangen gestern, das war ja schon eine konkrete Gefahr, und ein Schiff ist ja auch schon verloren - allerdings hat nichts auf den Karten auf eine Gefahr hingewiesen, die einem schon vor dem Einfahren in diese Wasserstraßen drohen könnte.
Stunde um Stunde geht es dahin. Mehrfach berichten die Männer, daß irgend etwas unter Wasser die Stakstangen angestoßen hat. Gelegentlich beobachten wir in den Ufersümpfen ausgewachsene Exemplare mittelgroßer Bronto- oder Brachiosaurier. Von denen geht aber keine Gefahr aus - den meisten fällt nicht einmal die vorbeidriftende Flotte der fünf Schiffe auf. Das gibt mir Gelegenheit, darüber nachzudenken, daß die Evolution es nicht für nötig gehalten hat, für Vegetarier große intellektuelle Kapazitäten zu entwickeln, sondern nur für Lebewesen, denen das Raubtierdasein gemäßer ist. Intelligenz ist ein Aggressionsmittel.
So um 18 Uhr lasse ich Küchenabfälle in das Wasser bringen, so lautlos, wie wir es verabredet haben: das heißt, jeder abgenagte Knochen wird mit spitzen Fingern in das Wasser gesenkt und dann erst losgelassen. Das Experiment ist durchaus nicht uninteressant: Das meiste schwimmt zunächst, 10 oder 20 Sekunden. Ein paar Dutzend Meter vom Schiff entfernt spritzt es dann plötzlich um so ein Stück Abfall auf, und es ist von der Wasseroberfläche verschwunden. Später berichtet der Ausguck, daß er von seinem erhöhten Aussichtspunkt schnelle Schatten auf diese Reste hat zuschwimmen sehen.
Das Experiment funkioniert auch mit Scheiße. Was immer es ist, was unter unseren Schiffen herumschwimmt, es ist nicht sehr wählerisch.
20 Uhr. Mit unserer geringen Geschwindigkeit haben wir bisher kaum mehr als fünf Kilometer zurückgelegt. Glücklicherweise ließ sich der Wind die ganze Zeit verwenden, da der Wasserweg keine so starken Biegungen machte, daß wir zeitweise Höhe am Wind gewinnen mußten. Die geringe Geschwindigkeit zehrt an den Nerven. Ein Fußgänger ist etwa fünf mal so schnell. Wenn einer von uns auf dem Wasser schreiten könnte, dann hätte derjenige große Schwierigkeiten: bleibt er stehen, fahren ihm die Schiffe davon. Geht er, dann überholt er sie.
Wir passieren eine Stelle, wo die Ufer sich auf vierzig Meter nahe kommen. Dazu gibt es dort ausladendes Astwerk von Bäumen auf beiden Seiten. Zwar kommen die Schiffe immer noch bequem hindurch, und zwischen den Rahen und dem undurchdringlichen Blattwerk ist auf beiden Seiten noch ein Abstand von einigen Metern. Trotzdem könnte ein pantherähnliches Tier an dieser Stelle bereits mit einem Sprung auf die Schiffe gelangen.
Es passiert nichts. Aber kann nicht die nächste Durchfahrt schon halb so eng sein? Dann müßten wir bereits mit den Äxten in die Bäume, um Platz für unser Mastwerk zu schaffen. Oder umkehren. Aber wohin? Noch sind wir an keiner Abzweigung vorbeigekommen, die uns eine Alternative böte. Die Karte zeigt zwar, daß bald Abzweigungen kommen müssen, aber wann, das kann man bei der schlechten Maßstabstreue überhaupt nicht sagen.
23 Uhr. Wir passieren ein Gebiet, wo sich die Fläche der Wasserstraße auf 500 Meter aufweitet. Leider nimmt auch die Tiefe ab, und über die ganze Fläche hinweg sind schwimmende Pflanzen zu sehen, wie ich sie schon kenne. Ich weiß, daß jede einzelne davon mit ihren ankerkettenartigen Wurzeln Grundkontakt hat, und daß das Wasser hier überall ensprechend flach sein muß. Wir lassen die Geschwindigkeit auf noch geringere Werte sinken - weniger als zehn Zentimeter pro Sekunde. Bloß nicht in dieser Gegend auflaufen! Ich sehe vom Ruderhaus aus, wie hoch die Stakstangen stehen, wenn sie auf dem Grund aufsitzen. Außerdem müssen die Männer die Stakstangen dauernd von irgendwelchen Schlingpflanzen befreien, die sich um sie herum gewickelt haben, und weil dieses auch noch so leise wie möglich geschehen soll, sind sie damit voll beschäftigt. Das ist eine anstrengende Arbeit, und schon im Interesse dieser Männer hoffe ich, daß wir irgendwann wieder vorwiegend mit Segelkraft fahren können.
Ich frage Ochaum, wie groß unser Tiefgang eigentlich genau ist, aber er weiß es auch nicht. Bis jetzt mußten wir das nicht wissen. Es müßten einige Dezimeter sein, und da wir über weite Strecken eine Wassertiefe von weniger als einen Meter haben - stellenweise sind es nur fünfzig Zentimeter, und ich versuche, uns um diese Stellen herumzunavigieren - dürfte sich jetzt die meiste Zeit nur eine Handspanne Wasser unter den flachen Rümpfen der Schiffe befinden.
Ich denke daran, daß hier auch der vollbeladene Saurierfänger durchgekommen sein muß. Höchstwahrscheinlich jedenfalls. Der hat etwas mehr Tiefgang als unsere Schiffe, und auch eine größere Breite. So sehr ich mich aber auch bemühe, es gibt keine Anzeichen, daß vor kurzem ein größeres Schiff diese Stelle passiert hat. Ich beruhige mich mit dem Gedanken, daß sich die schwimmende Vegetation wahrscheinlich sehr rasch von Beschädigungen durch ein anderes Schiff erholt haben könnte. Außerdem versteht Cherkrochj ihr Handwerk in solchen Gewässern sicher besser als wir, auch mit ihrem viel größeren Schiff.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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