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******** 063. Tag: Freitag 95-10-20 ********
63.1 Die Fratze im Gifttang
Die restlichen zwei Stunden des Tages vergehen ohne Ereignisse. Die Männer essen kaum etwas. Auch kleinere Streitereien und heftigere Wortwechseln sind seltener als sonst. Vielleicht liegt das an den wenig appetitlichen Erinnerungen an die drei, die vor wenigen Stunden auf so grauenhafte Weise ums Leben gekommen sind. Das ist das erste Mal, daß ich eine solche Reaktion bei den Männern feststelle. Es dürfte sich aber weniger um Mitgefühl handeln, eher denke ich, daß sie Furcht vor dem gleichen Schicksal haben. Aber vielleicht ist 'Mitgefühl' eine Umschreibung genau dieses Tatbestandes.
Ich teile die Nachtwachen ein und übernehme selbst die erste. Nicht ganz selbstlos, denn ich kann im Moment sowieso nicht schlafen.
Als ich so um 2:30 Uhr den Eindruck habe, daß sowohl bei uns als auch auf dem Flaggschiff alles zur Ruhe gekommen ist, steige ich ins Krähennest auf, so leise wie möglich, um niemanden im Schlafe zu stören. Mein Hintergedanke ist, dort etwas mehr von den Schwankungen des Schiffes wahrzunehmen, wenn es welche geben sollte. Das gelingt mir aber nicht. Das Schiff liegt vollkommen ruhig. Wenn der Mast sich bewegt hat, dann waren es nur die Erschütterungen, die ich selbst beim Hinaufsteigen verursacht habe. Sogar der Wind ist jetzt völlig eingeschlafen. Deshalb sind auch leisere Tierstimmen aus dem Urwald, der unseren direkten Blicken entzogen ist, klar zu hören.
So ein bißchen hat man auf dem Mast auch das Gefühl, daß man etwas sicherer ist als auf dem Schiff unten, weil man weiter vom Wasser und den unbekannten Wesen darinnen entfernt ist. Das ist natürlich Blödsinn - wenn etwas das Schiff als Ganzes bedroht, dann ist man auf dem Mast nicht besser dran. Aber auch die bloße Illusion einer Sicherheit ist etwas wert - man gönnt sich ja sonst nichts.
Wenn der Nebel nicht wäre, dann hätte man von hier oben einen hervorragenden Rundblick. Aber so verschwindet rundherum die Tangmatte in wesenlosem Grau, vermischt sich mit dem Nebel. Beruhigend die Silhouette des Flaggschiffes - es gibt doch noch andere Dinge auf der Welt als dieses Schiff! Aber in allen anderen Richtungen ...
Ich erschrecke zutiefst. Eine Sekunde lang glaube ich, an der Grenze des Sichtkreises, wo der Tang in den Nebel übergeht, in etwa 120 Meter Entfernung vom Schiff eine Art übergroße Krokodilsfratze zu sehen. Das Tier liegt dort bewegungslos und sieht dieses Schiff an, ja, ich habe sogar den Eindruck, daß es genau mich, hier auf dieser Mastspitze, ansieht, und in seinen Augen ist eine Art boshafte, lauernde Intelligenz.
Aber nein, das kann nicht sein. Die Farbe dieses Gesichtes ist die Farbe des umgebenden Tangmaterials. Es muß eine zufällige Form in den schwimmenden Tangblättern sein, die so gerade eben einem Gesicht ähnelt. Ich glaube, die Höcker mit den Nasenlöchern zu erkennen und natürlich die Augen. Das Maul liegt geschlossen in Höhe der Wasserlinie, vom restlichen Körper ist nichts zu sehen. Irgendwie ist es auch nicht die typische Handlungsweise, die ich einem Krokodil oder einer Seeschlange oder einem Saurier oder sonst einem Reptil unterstelle, nämlich, einfach da draußen im Tang zu treiben und ganz genau dieses Schiff in Augenschein zu nehmen.
Also mal nachdenken: Wenn dort wirklich ein Tier im Wasser läge und uns beobachtete - und wenn ich es von hier so sehe, dann muß es groß sein! - dann müßte man von einem Beobachtungspunkt tiefer auf dem Schiff von diesem Kopf eine Silhouette sehen. Das erst wäre ein Beweis, daß da wirklich etwas ist. Das muß ich feststellen. Sofort.
Geschwind klettere ich den Mast hinunter. Dabei muß ich natürlich aufpassen, wo ich hintrete, und ich kann nicht die ganze Zeit in die Richtung dieser Erscheinung sehen.
Das Ergebnis ist, daß ich von unten, von der Bordkante aus, gar nichts mehr sehe. Ich suche den unscharfen Rand des Gesichtsfeldes über ein paar Dutzend Winkelgrade ab. Nichts. Also wieder auf den Mast hinauf.
Aber auch von dort sehe ich nichts mehr. Der Tang, wenn es eine Form aus solchem war, hat sich in den schwachen Strömungen umpositioniert und sieht nun eben nicht mehr einem Gesicht ähnlich. Und wenn es ein Gesicht war, dann ist es untergetaucht. Ohne eine Lücke zu hinterlassen. Oder finde ich einfach nicht mehr die richtige Stelle? Müssen meine Augen auf Bruchteile eines Grades auf diese Erscheinung ausgerichtet sein, damit ich sie bemerke? Dann gibt es sehr viele Richtungen, die systematisch durchkämmt werden müßten. Es wäre ein Kinderspiel, diese Erscheinung wiederzufinden, wenn sie sich bewegt. Das ist aber die ganze Zeit nicht geschehen. Was mir bleibt ist, die Erinnerung durchzuanalysieren. Das ist aber wenig ergiebig. Erinnerungen pflegen sich auch zu verändern, wenn man sie zu häufig memoriert. Das ist also ein nutzloses Unterfangen.
Gegen Ende meiner Wache zittert plötzlich der Mast. Ich sehe runter. Ist jemand dabei, hinaufzusteigen oder sich sonstwie an Deck zu schaffen zu machen? Mein Nachfolger vielleicht? Ich sehe niemanden, und ich muß, nachdem ich vom Mast heruntergestiegen bin, Ochaum, der die Wache nach mir hat, auch tatsächlich wecken, weil er noch nicht von selbst aufgewacht ist. Es ist nicht viel Aufwand, dabei festzustellen, daß auch sonst niemand aus der Mannschaft wach ist. Alle schlafen so fest, daß keiner vor kurzem wach gewesen sein kann.
Warum also hat der Mast dann gezittert?
63.2 Der Tanz der Seeschlangen
Am anderen Morgen, nach 11 Uhr, frage ich, ob noch irgend jemand in dieser Schlafperiode eine besondere Beobachtung gemacht hat. Das ist nicht der Fall. Bis auf die Wachzeiten haben die Männer fest durchgeschlafen. Nicht einmal durch eine Pinkelpause wurde der Schlaf unterbrochen, bei keinem von ihnen. Bin ich jetzt der einzige, der etwas gemerkt hat? Fast glaube ich meinen eigenen Erinnerungen nicht mehr, so frisch sie auch noch sind. Deshalb erzähle ich meine Erlebnisse auch nicht allgemein, sondern vertraue sie nur Ochaum unter vier Augen an, als wir wieder im Ruderhaus sind. Olch ist der erste, der heute staken soll. Das verschafft mir die besondere Freude seiner Abwesenheit.
Während ich Ochaum informiere, denke ich daran, wie vergleichsweise ungefährlich unsere vergangenen Abenteuer mir jetzt vorkommen - mein Abstieg in diese Welt mit Irene, die Besteigung Casabones mit Charmion über diese widerlich überhängende Felswand und durch die gefährlichen Innereien des Berges Casabones. Aber das ist natürlich nur eine Illusion, die perspektivische Verzerrung einer vergangenen Bedrohung. Im Moment stehe ich auf festem Boden, und das, was uns akut bedroht, ist eigentlich, wenn überhaupt etwas, nur ein Tier. Nehme ich an. Die Gefährlichkeit der Situation resultiert eigentlich nur daraus, daß wir sie im Moment erleben. Objektiv bin ich und sind wir zur Zeit vergleichsweise sicher.
Ochaum sagt nichts zu meinen Beobachtungen. Als ich ihn direkt frage, ob er es für denkbar hält, daß da draußen ein Reptil im Wasser gelegen und uns ganz genau gemustert hat, zuckt er die Schultern. Intelligente, richtig intelligente Reptilien sind ihm in der Welt der Granitbeißer jedenfalls nicht bekannt, und ich selbst habe ja auch noch nie von solchen gehört, seit ich hier bin. Ochaum meint, wenn ein Reptil so einfach inaktiv im Wasser liegt, dann ist es in den meisten Fällen einfach faul, weil es im Moment keinen Hunger hat oder weil es schläft. Dann würde es aber auch eher eine noch größere Entfernung zwischen sich und dem Schiff halten.
"Auf dem Saurierfänger habe ich aber Dinge erlebt, die nur bedeuten können, daß es auch Saurierarten gibt, denen das inaktive Rumliegen überhaupt nicht liegt!" wende ich ein.
"Natürlich. Wenn deine Beobachtung aber so etwas bedeutete, dann wüßten wir es schon. Ein Raubsaurier läßt sich nicht lange bitten, weder die Landbewohner noch die Arten, die im Wasser leben."
"Ja. Sicher hast du recht. Wie gut, daß wenigstens du dich mit dieser Tierwelt auskennst!" sage ich.
"Nein, das tue ich nicht. Die meisten Tiere, von denen ich in meinem Leben gehört habe, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Und wer weiß, von wie vielen ich noch nichts gehört habe!"
Also kein Ergebnis. Wir folgen weiter der Ereignislosigkeit des zentimeterweisen Vorankommens. In den nächsten Stunden passiert auch überhaupt nichts Beunruhigendes.
Unser Abstand zum Flaggschiff bleibt ungefähr gleich. Das heißt, daß Osont genauso schnell vorankommt wie wir. Das heißt aber auch, daß die Tangmatte sich hinter uns wieder dicht schließt, obwohl ständig zwei Männer damit beschäftigt sind, auf sie einzuhacken. Unsere Vorarbeit erleichtert den Männern auf dem nächsten Schiff ihre Arbeit nicht im geringsten.
Meine Armbanduhr hat gerade 16 Uhr überschritten, da ertönt ein tiefer, sonorer Rülpser direkt in unserer Fahrtrichtung, und es hört sich sehr nahe an. Ich befrage Ochaum und Olch, der jetzt wieder im Ruderhaus ist, welche Richtung sie gehört zu haben glauben, und beide sagen übereinstimmend, daß es genau von vorne kam.
Andererseits gab es keine Schiffsbewegungen, die auf irgend etwas hindeuten, das das Wasser aufwühlt. Seit Stunden hat niemand so etwas wahrgenommen.
Wir versuchen, mit unseren Blicken den Nebel in Fahrtrichtung zu durchbohren und irgend etwas auf der gleichmäßigen Tangmatte zu erkennen. Nichts. Und der Rülpser wiederholt sich auch nicht.
"Wir könnten drumrum fahren." denkt Ochaum laut nach.
"Bei diesem Tempo? Nein. Wir wollen ja noch irgendwann irgendwo ankommen!"
"Wir fahren genau drauf zu!"
"Weiß ich. Vielleicht ist es so freundlich, uns aus dem Weg zu gehen!"
Ich glaube selbst nicht so recht daran. Eher, daß sich ein Tier zufällig aus unserem Weg hinausbewegt, aber aus Freundlichkeit sicher nicht. Aber was ich eigentlich möchte, ist, einen Blick auf das zu werfen, was uns im Wege liegen mag. Konkrete Gefahr ist besser als die ständige, substanzlose Bedrohung. Abdrehen können wir immer noch. Ich glaube eigentlich nicht, daß sich unser Schiff als angreifenswertes Ziel präsentiert, solange wir uns ruhig verhalten - und unsere geringe Geschwindigkeit der Fortbewegung ist 'sich ruhig verhalten'.
Wir alle schweigen, versuchen, das Geräusch in der Erinnerung zu analysieren. Treibt da ein Riesenvieh genau in unserem Weg im Wasser oder unter der Tangmatte und pennt? Hat es im Schlafe nur mal so gerülpst? Oder hat der Nebel unserer Richtungswahrnehmung einen Streich gespielt, und vor uns ist genauso wenig eine Gefahr wie hinter uns? Vielleicht ist die Gefahr in der Richtung, aus der wir sie am allerwenigsten erwarten? Und das alles bei diesem nervenaufreibenden, zentimeterweisen Vorwärtsschleichen!
Da rührt sich das Schiff, und unser unmittelbarer Eindruck ist, daß von unten etwas seitlich am Schiffsboden vorbeistreift. Die Bewegung ist nicht stark, aber niemand hat sie erwartet. Auch nicht die beiden Männer, die am Bug rechts und links mit ihren Schwertern den Tang im Wasser zerschneiden. Einer von ihnen fällt hinein. Der andere erstarrt mitten in seiner Bewegung.
"Großer Gott!" sage ich. Die schauderhafte Vorstellung von dem, was diesem Mann schon in den nächsten Sekunden widerfahren wird, überfällt uns alle. Die Erinnerung an die anderen drei ist noch zu frisch im Gedächtnis. Wir sind im Augenblick unten auf Deck und rennen nach vorne.
"Es ist Ohmenjenana!" ruft Ochaum mir zu, "warum paßt er auch nicht besser auf!"
"Ihr da!" rufe ich gleichzeitig den anderen Männern zu, die auch nach vorne rennen, "bleibt vom Rand weg und haltet euch in der Nähe von etwas, woran man sich festhalten kann!"
Und zu dem anderen Mann, der bis vor wenigen Sekunden noch mit seinem Schwert den Tang zerschnitten hat:
"Habe ich nicht gesagt, ihr sollt euch anseilen?"
"Ich denke, nur der Staker?" entgegnet dieser. In derselben Sekunde greift Ohmenjenana über die Bordkante. Gewandt schwingt er sich wieder auf das Deck hinauf. Alle springen zurück, in panischer Angst, von einem Spritzer getroffen zu werden. Ohmenjenana ist triefend naß und natürlich der Panik am nächsten. In wenigen Sekunden dürfte der Juckreiz anfangen, der ihn umbringen wird. Gebannt starren alle ihn an, die meisten mit Furcht, einige mit Interesse. Vielleicht ist auch bei den Granitbeißern die verbreitete, aber durch nichts zu belegende Überlegung üblich, daß man von einem Unheil mit geringerer Wahrscheinlichkeit ereilt wird, wenn es jemandem anderen in der unmittelbaren Nähe widerfährt.
In Ohmenjenana's Augen ist die Angst. Er zittert. Auch er weiß, was ihm blüht, und daß ihm niemand helfen kann. Er ist vor Schreck zu koordinierter Handlung unfähig.
"Ohmenjenana," sage ich, "auch wenn es dich vielleicht gleich eine fürchterliche Überwindung kosten wird - du könntest es überleben, wenn du dich nicht kratzt, hörst du? Um keinen Preis der Welt, du darfst nicht anfangen, dich zu kratzen! Vielleicht hört es nach einer Viertelstunde auf!"
Wirr sieht er mich an. Er glaubt mir nicht. Ich mir auch nicht. Er sitzt nur da und zittert. Und ich? Ich habe Angst vor dem ekelerregenden Schauspiel, das kommen wird. Dabei ist es meine Pflicht, das Schiff vorzubereiten - etwas hat uns unter Wasser gestreift, und das kann der Anfang einer heftigeren Ereigniskette sein.
Ist es auch. Rechts von uns, landwärts, brüllt es auf, so nahe, daß wir eigentlich etwas sehen müßten. Wahrscheinlich ist es dieselbe Stimme, die den Rülpser in Fahrtrichtung verursacht hat, aber genau kann ich das natürlich nicht sagen. Dann rauscht es dort, als ob sich ein Eisberg im Wasser dreht. Nach wenigen Sekunden fängt die Tangoberfläche rechts von uns an, auf und ab zu schwingen. Ich bemerke, daß sie von dort gezogen wird, wie ein Bettuch, das man von einer Seite greift, um es vom Bett herunterzuziehen. Da reißt auch schon vor unserem Bug eine Wasserstraße auf. Ich springe zur Seite: Hinten sieht man auch schon ein Stück offenes Wasser! Im Augenblick gibt es eine Wasserlücke in der Tangmatte, die bis zu Osont's Schiff reicht!
Das ist die Gelegenheit: Unser Schiff hat die Tangmatte geschwächt, und in dem Moment, wo etwas sie auseinanderzieht, da entsteht der Riß gerade dort, wo wir sind, und er breitet sich in beiden Richtungen aus.
"An die Stakstangen! Los vorwärts! Jetzt kommen wir vorwärts! Ochaum, signalisiere zum Flaggschiff: Sie sollen losstaken, hinter uns her, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre! Alle! Und seid leise, verdammt noch mal!"
Es ist der Teufel hinter uns her. Schon kommen die ersten Ausläufer großer Wellen bei uns an. Aber der Riß in der Tangmatte ist fast schon so breit wie unser Schiff.
20 Zentimeter pro Sekunde. Vielleicht mehr, für eine begrenzte Zeitspanne. Wir könnten das Gebiet mit der Tangmatte überwinden und vielleicht dem entfliehen, was da rechts von uns das Wasser durchwühlt, bevor es uns bemerkt.
Ich muß mich um das Schiff kümmern. Jeder ist an seinem Posten. Nur Ohmenjenana sitzt am Bug, schlottert vor Angst und Hilflosigkeit.
Die Männer haben schnell begriffen, was zu tun ist. Jetzt, wo das Schiff nicht mehr durch den Tang festgehalten wird, können wir Fahrt aufnehmen, auch, wenn es bei aller Anstrengung nicht viel mehr als ein Kilometer pro Stunde sein wird. Aber eine Stunde Anstrengung heißt, diesen Kilometer zwischen sich und diesem Tier da im Nebel zu bringen. Das reicht, das ist der Weg in die Sicherheit! Und ein Kilometer sollte uns sogar bis zur Einfahrt in die Wasserstraße bringen.
Das Rollen des Schiffes macht den Männern die Stakerei nicht unbedingt leichter. Aber noch sind ihre Muskeln frisch und ausgeruht, und sie lehnen sich kräftig gegen ihre Stangen.
"Sieh mal! Ohmenjenana kratzt sich gar nicht!" Ochaum deutet nach vorne.
"Vielleicht beherzigt er meinen Ratschlag. Das hätte ich ihm nicht zugetraut! Aber wir müssen jetzt ..."
"Nein," sagt Ochaum, "ich glaube, ihn juckt gar nichts! Es müßte doch schon angefangen haben!"
Ochaum hat recht. Ohmenjenana hat sichtbar Angst, aber er kratzt sich nicht und reißt sich nirgends die Haut vom Leibe. Das ist im Moment keine Selbstbeherrschung.
"Olch, geh runter zu ihm: Er ist wahrscheinlich gar nicht in Gefahr. Dann kann er auch ebensogut mitarbeiten."
"Warum ist er denn nicht in Gefahr?" fragt Ochaum dazwischen.
"Weiß ich es? Olch, und du könntest dir auch eine Stakstange nehmen und mal etwas Nützliches tun!"
Ich kümmere mich nicht um Olch's beleidigtes Gesicht. Wir sehen nach rechts aus dem Ruderhaus hinaus. Über uns knarrt es im Mastwerk, als ob Wind aufgekommen wäre. Es sind aber nur die Trägheitskräfte, die durch die Schaukelei verursacht werden.
Das Rollen des Schiffes wird so heftig, daß ab und zu kleine Fontänen an den Bordwänden hochschießen. Das ist völlig harmlos, es sei denn, das Wasser hätte immer noch die Eigenschaften, die es vor Stunden gehabt hat. Die Staker werden nämlich häufiger durch Spritzer getroffen. Aber jetzt habe ich begründete Hoffnung, daß das Juckwasser nur eine lokale Erscheinung war.
Einmal sehe ich ganz undeutlich etwas, das wie ein langer, schlangenartiger Arm von immensen Ausmaßen aussieht. Es peitscht auf die Wasseroberfläche, und man hört es auch. Ein kanonenartiger Knall, wie Wale ihn manchmal mit der Schwanzflosse machen, gefolgt von einem Rauschen. Was immer es ist, es könnte unser Schiff ohne weiteres zerschlagen, wenn es auf die Idee käme. Ich bin in diesem Punkte sicher, auch wenn ich noch immer nicht die genaue Anatomie des Wesens zu unserer Rechten kenne.
Ein knappes Manöver: 120 bis 150 Meter rechts von uns tobt ein Großreptil seinen Übermut aus, und es hat uns trotz der geringen Entfernung nicht bemerkt! Ja, ich bin sicher, daß es schon näher dran war - woher sonst die Erschütterungen des Schiffes - aber wahrscheinlich waren wir aus seiner Sicht nur eine Art schwimmende Insel inmitten der Tangmatte. Völlig uninteressant. Wir müssen uninteressant bleiben. - Vielleicht, denke ich einen Moment, war sogar die Beobachtung während meiner Nachtwache korrekt, und da hat das Vieh tatsächlich im Wasser gelegen und uns angestarrt. Aber da sich an Bord nichts bewegt hat, weil ja alle schliefen, hat es uns einfach nicht zur Kenntnis genommen. So etwas wie wir und unsere Schiffe waren für sein begrenzten Erfahrungshorizont eben eine kleine Insel mit seltsamen Bäumen drauf.
Jetzt haben wir eine Geschwindigkeit von 30 Zentimetern in der Sekunde. Da wir dem seewärtigen Rand der aufgerissenen Tangmatte ausweichen müssen - die zerreißende Kraft wirkte ja in Richtung Land und hat die gesamte Tangdecke in dieser Richtung ein wenig in Bewegung gebracht - müssen wir uns etwas weiter nach rechts halten. Auf das Reptil zu. Noch ein paar Dutzend Meter weniger, und wir können es und es kann uns deutlich sehen!
20 Meter in der Minute. Ich überschlage unseren leicht gebogenen Kurs, gebe gleichzeitig den Stakern Zeichen, so daß wir nicht doch noch gegen die Tangmatte driften. Das könnte uns unangenehm aufhalten. Wir müssen so knapp wie möglich an dem seewärtigen Teil der Tangmatte vorbei. Das gelingt auch so gut, daß ihr Rand immer nur ein oder zwei Meter von unserer linken Bordwand entfernt ist.
Einige Minuten lang werden wir um die derzeitige Position des Tieres einem Kreisbogen folgen, so daß unsere Entfernung zu ihm konstant bleibt. Dann wird sie wieder wachsen, und in etwa zehn Minuten von jetzt müßten wir wenigstens so weit von ihm entfernt sein, daß kein direkter Sichtkontakt mehr möglich ist. Wenn es seine Position nicht allzusehr verändert. Wenn nicht plötzlich die Tangmatte den Weg doch noch versperrt. Wenn nicht plötzlich der Nebel aufreißt. Wenn nicht bei Ohmenjenana der Juckreiz einsetzt und er das Tier durch lautes Geschrei erst auf uns aufmerksam macht. Lauter 'Wenns'.
Unten, an den Schiffsrändern, keuchen die Männer, lehnen sich schwer auf ihre Stakstangen. Auch Ohmenjenana, immer noch naß, aber offenbar gesund, leistet seinen Teil. Er scheint sich auch zu beruhigen und seine Furcht an der Stakstange auszutoben.
Undeutlich sehe ich, daß auch auf Osont's Flaggschiff gestakt wird. Für die uns nachfolgenden Schiffe ist die Situation ja unangenehmer, weil sie sich dem Großreptil zunächst noch nähern müssen. Weiter seewärts zu fahren läßt die Tangmatte ja nicht zu. Wenn alle Schiffe 20 Meter in der Minute erreichen, dann ist das letzte Schiff dort, wo wir sind, in etwa 25 bis 35 Minuten, einen durchschnittlichen Schiffsabstand von 100 Metern angenommen. Und so lange soll das Vieh nichts merken? Wenn man es nur genau sähe, um es beurteilen zu können! - Aber dann sähe es uns ja auch.
Wie dem auch sei, für die Besatzungen der letzten Schiffe dürfte dieser Nervenkrieg viel länger dauern. Ich beneide sie nicht, aber ich erwische mich bei Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen: 83 Prozent zu unseren Gunsten, wenn es ein Schiff wahllos entdeckt. Andersrum: 17 Prozent zu unseren Ungunsten, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, daß es überhaupt unsere Schiffe entdeckt und irgendwie angreift.
Fast beruhigend. Aber nur fast. Es könnte mehrere Schiffe angreifen. Es könnte, ohne aggressive Absicht, sein spielerisches Toben in dem flachen Wasser verstärken oder näher auf uns zu verlagern. Es könnte einen ausgeprägten Spieltrieb haben - bei Reptilien nicht sehr wahrscheinlich, aber bei großen Reptilien genauso gefährlich wie echte Aggressivität.
Die Schatten und Schemen, die wir, immer mal wieder, durch den Nebel erspähen, lassen immer noch keine genauen Rückschlüsse auf die Anatomie des Tieres zu. Einzige Beruhigung: Es bleibt ortsfest. Und eine Minute ist um.
Es spielt, oder es tobt einen ihm eigenen Putztrieb aus. So hört es sich jedenfalls an. Ich fasse wieder Hoffnung, daß wir aus dieser Sache ohne Konfrontation und ohne Schaden herauskommen.
Da braust es in der Gegenrichtung auf, zur Linken von unserer Fahrtrichtung, als ob dort ein zweites Tier aufgetaucht wäre. Es ist kleiner oder weiter entfernt, oder beides, aber alle haben es gehört, wie die hastigen Blicke seewärts beweisen. Natürlich ist nichts zu sehen, aber jeder an Bord weiß: Wir sind eingekesselt - genau zwischen zwei Großtieren. Wenn es bis jetzt nicht gefährlich war, dann wird es das jetzt.
Das seewärtige Tier macht nicht soviel Lärm und Wellen, und es beeinflußt auch noch nicht die Tangmatte. Wir wissen auch nicht, ob es sich um dieselbe Spezies handelt, und ob es sich der Gegenwart des Tieres zu unserer Rechten bewußt ist. Das rechte fährt mit seinem Prusten und Schnauben und dem Aufwühlen des Wassers fort. Vielleicht hat es noch nichts von dem anderen Tier gemerkt.
Eine unangenehme Vision: Am Ende fahren wir gerade in eine ganze Herde dieser Tiere ein? Soll ich Ochaum mit dieser Überlegung belasten? Wenn es so wäre, dann erfahren wir es früh genug.
Da kreischt es in hohen Tönen von See her auf, kaum daß wir einige Sekunden in Ruhe staken konnten. Einen Moment scheint das landwärtige Tier mit seinen heftigen Bewegungen einzuhalten - horcht es ? - als es dann wieder loslegt, das Wasser zu durchwühlen, hören wir es sofort: Es kommt auf uns zu.
Glücklicherweise legt es jetzt mehr Wert auf schnelles Vorwärtskommen als auf spielerisches Aufwühlen des Wassers. Es sieht so aus, als ob etwas unsichtbares, das eine starke Bugwelle erzeugt, fast direkt auf uns zu kommt. Es schwimmt dicht unter der Wasseroberfläche. Tief kann es ja nicht schwimmen, weil das Wasser hier nicht tief ist.
Ohne uns zu beachten rauscht es dicht hinter unserem Heck vorbei. Ein ordentlicher Brecher wirft Tonnen von Wasser auf das Deck, aber es entsteht kein Schaden dabei.
"Weitermachen!" rufe ich vonm Ruderhaus runter. Die Bugwelle des Tieres beult die seewärtige Tangmatte auf und reißt sie stellenweise auf. Dann ist sie auch schon im Nebel verschwunden. Aber fast gleichzeitig hören wir ein Rauschen, daß ich als das Wiederauftauchen des Tieres interpretieren muß.
"Es ist schlangenartig. Eine Seeschlange! Was meinst du?" frage ich Ochaum. Der zuckt nur mit den Schultern und durchbohrt mit seinen Blicken den Nebel in der seewärtigen Richtung, aus der jetzt vielfache Schreie dringen. Im Vergleich ist jetzt deutlich zu hören, daß es sich um zwei verschiedene Stimmen handelt, unterschiedlich hoch und mit unterschiedlicher Modulation. Immer noch wissen wir nicht: Dieselbe Spezies oder nicht? Kämpfen oder spielen die miteinander? Oder kopulieren sie?
Das Schiff rollt bockend, weil jetzt immer noch von rechts Wellen einlaufen, aber auch schon von links. Das gibt unangenehme Kreuzsehen, und die Männer unten haben große Schwierigkeiten, sich energisch genug gegen ihre Stakstangen zu lehnen. Wir werden wieder langsamer. Ich denke daran, daß uns Osont's Schiff nicht zu nahe kommen sollte, solange wir so chaotisch manövrieren. Bei der geringen Geschwindigkeit sind die Schiffe zwar nicht gefährdet, aber wenn die Takelagen aneinander geraten, dann geht da immer soviel kaputt, daß wieder viel Reparaturaufwand nötig ist.
Jetzt ziehen die Tiere, immer noch laut brüllend, in östliche Richtung ab, also entgegen unserer Fahrtrichtung. Damit wird das Wasser bei uns rasch wieder ruhiger - die Tangmatte dämpft den Wellengang sehr schnell - aber die Besatzungen der hinteren Schiffe kommen nun rascher in den Genuß der größeren Nähe dieser Tiere.
Allmählich haben wir Übung darin, die genaue Richtung von Geräuschen aus dem Nebel wahrzunehmen. Noch ehe die Entfernung mehr als ein paar hundert Meter betragen kann, glaube ich, daß die tierischen Laute genau von hinten kommen. Auch Ochaum ist dieser Meinung.
"Dann müssen sie sehr nahe bei den letzten Schiffen sein!" sage ich. Wir horchen auf das allergenaueste. Splitterndes Holz? Balken, die auf die Decksplanken fallen? Lassen die Schreie dieser Tiere erkennen, daß sie durch irgend etwas beunruhigt werden? - Man kann nichts genaues sagen. Und die Entfernung wird immer größer.
"Da vorne! Die Tangmatte ist zu Ende!" sagt Ochaum, der gewissenhaft den Ausblick in alle Richtungen im Auge behält.
"Ja wirklich?" Er hat recht. Keine hundert Meter vor uns weitet sich der Riß in der Tangdecke, in dem wir fahren, nach rechts und links aus. In spätestens fünf Minuten sind wir da.
In diesen fünf Minuten nimmt die Lautstärke der beiden Tiere soweit ab, daß die Männer schon wieder Witze machen. Auch ihre Kraft erlahmt wieder. Aber das ist jetzt egal. Wenn wir die der Küste vorgelagerte schwimmende Vegetation im Auge behalten und uns in gleichbleibenden Abstand von der Küste halten, sollten wir bald die Einfahrt der Wasserstraße erreicht haben.
Von Osont's Schiff wird etwas herübersignalisiert. Ochaum sieht es rechtzeitig und quittiert mit seinen Winksignalen.
"Ankern," sagt er, "alle Schiffe sollen nahe beieinander ankern."
"Warum denn? Jetzt schon? Wir sind doch bald ..."
"Osont will es so." Ochaum gibt umgehend die notwendigen Befehle. Erleichtert hören die Männer mit dem Staken auf. Das Ankern wird vorbereitet.
Noch bevor alle Schiffe einander längsseits liegen, erfahren wir schon den Grund: Das letzte Schiff hat einen zu großen Abstand zum vorletzten gehalten. Immer wieder ist es im Nebel verschwunden.
Und dann, so einige Stunden vor dem Zeitpunkt, wo diese Tiere auftauchten, blieb es verschwunden. Als ob die Tangdecke es gefressen hätte.
Osont will deshalb die verbliebenen fünf Schiffe sammeln und warten.
Es ist 19 Uhr, als die fünf Schiffe sich komplett zur Insel vereinigt haben. Das Warten beginnt.
Die Besprechung, die Osont nach einigen Stunden einberuft, ist nur kurz. Vom vorletzten Schiff ist nichts besonderes beobachtet worden, nur eben, daß das letzte Schiff immer mal wieder zurückfiel, dann aber auch immer wieder aus dem Nebel auftauchte. Und das tat es plötzlich nicht mehr.
Spekulieren ist müßig. An den Seeschlangen, an denen wir uns gerade so glimpflich vorbeigemogelt haben, ist das Schiff wohl nicht gescheitert, weil es schon lange vorher zurückblieb. Aber was dann? Das Juckwasser? Technische Schwierigkeiten? Andere wilde Großtiere? Haben sie sich eventuell 'bloß' verirrt?
"Wir können nicht zurückfahren und sie suchen!" sagt Osont, "Das würde zuviel Zeit kosten! - Was immer ihnen passiert ist, das könnte dann weiteren Schiffen passieren!"
Ich beobachte die versammelten Schiffsführer. Diese Argumentation ist natürlich richtig und zugleich eine Argumentation des schlechten Gewissens. Niemand möchte das eigene Schiff in die Tangmatte zurückführen.
"Wahrscheinlich haben sie sich verfahren. Sie werden hinter uns herkommen, wenn der Nebel erst wieder verschwindet!" setzt er hinzu.
Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, wie schnell unsere Zahl kleiner wird. Ich würde lieber mit sechs als mit fünf Schiffen in die Wasserstraße einfahren. Allerdings möchte ich auch nicht allzulange warten. Hier ist kein Platz ungefährlich. Je eher wir durch sind, desto besser.
"Ich schlage vor," werfe ich ein, "daß wir hier einen Tag warten. Wenn sie dann nicht auftauchen - und wenn sie sich bloß verfahren haben, dann sollten sie das schaffen - fahren wir weiter."
Osont blickt in die Runde. Die Männer versuchen, zu erraten, ob Osont eher Zustimmung oder Ablehnung von ihnen hören möchte. Auch Osont scheint nicht sehr entschlossen, und deshalb konvergiert das Meinungsbild sehr rasch auf meinen Vorschlag.
"Morgen, gleich nach der Schlafperiode geht's weiter!" stellt Osont fest, als die Besprechung auseinandergeht.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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