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******** 062. Tag: Donnerstag 95-10-19 ********

62.1 Sargasso und das Juckwasser

19. Oktober. Das erste, was mir am nächsten Morgen durch den Kopf geht, als ich um 8 Uhr aufwache, ist, daß wir jetzt zwei volle Monate in dieser Welt sind. Es kommt mir schon viel länger vor. Fast wie ein Jahr. Wie wenig sind zwei Monate, wenn man da oben seinem ruhigen Leben nachgeht. Etwas mehr als vierzig Arbeitstage, acht bis neun Wochenenden. Ein paar Wochenendwanderungen, wenige oder keine bemerkenswerte Beiträge im Fernsehen, vielleicht die Zeit gefunden, ein neues Buch zu lesen. An eine beliebig herausgegriffene Zeitspanne dieser Länge kann man sich schon ein Jahr später nicht mehr unbedingt erinnern, wenn nicht ein besonderes Ereignis in diese Zeit gefallen ist. In den letzten beiden Monaten aber leben wir ja nur mit besonderen Ereignissen, ununterbrochen.

Meine Nachtwache in dieser Nacht war ruhig gewesen. Die beiden Mannschaften, die mit mir zusammen eingeteilt waren, haben auch nicht in entferntesten versucht, sich irgendwo zum Schlafen hinzulegen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen die ganze Zeit die lange Insel aus zusammengelegten Schiffen auf und ab gehen, und zwar leise. Genau das haben sie getan. Sonst war nur noch das gelegentliche Stöhnen aus dem Deckshaus der MARY CELESTE zu hören. Olch kann sich im Schlafe nicht auf seinen verwundeten Rücken legen. Er wird es aber überleben.

Es gibt eine neue Besprechung der Kapitäne mit Osont, da ja entschieden werden muß, wie wir weiter verfahren und wie wir jetzt die Wasserstraße erreichen.

Eigentlich gibt es keine neuen Gesichtspunkte außer dem, das wir jetzt wissen, daß die gesuchte Einfahrt der Wasserstraße in etwa zwei Kilometern Entfernung zur Linken zu finden ist. Da wir außerdem herausgefunden haben, daß die Wassertiefe von hier fast 200 Metern in Richtung der Küste rasch abnimmt und dort, in ihrer unmittelbaren Nähe, gleichmäßig nur sehr gering ist, scheint die beste Idee zu sein, sich auf die Küste zutreiben zu lassen und dort nicht die Ruder, sondern Stakstangen zu verwenden, sobald dieses möglich ist. Das hat auch den Vorteil, daß man immer über die Wassertiefe informiert ist.

Eine schnelle Fortbewegung ist natürlich weder mit Rudern noch mit Stakstangen möglich, aber bei dem geringen Wind wird uns derselbe wenigstens nicht stören, schon gar nicht, wenn keinerlei Segel gesetzt sind. Wir werden mit bloßer Muskelkraft präzise manövrieren können. Glauben wir.

Das ist schon alles. Die Besprechung geht auseinander, und während auf den Schiffen die Anker gehoben und die Vertäuungen gelöst werden, fährt Okr noch einmal mit seinem Floß hinaus, um die Bojenleine von ihrer Befestigung an dem Baum vor der Küste zu lösen. Warum sollten wir wertvolles Seilmaterial hierlassen?

Wir haben zwar genug zum Staken taugliche Stangen auf jedem Schiff, aber die haben nicht alle dieselbe Länge. Deshalb sind noch weitere Vorbereitungen zu machen. Die auf die Schnelle durch starke Seilbinden verlängerten Holzstangen sehen zwar nicht übertrieben zuverlässig aus, aber man kann so etwas ja rasch reparieren, falls es notwendig werden sollte.

Es ist schon 12 Uhr, als wir in soweit auf die Küste zugetrieben sind, daß wir die ersten schwimmenden Büsche sehen und die Stakstangen Grund fassen. Die sechs Schiffe sind voneinander gerade soweit entfernt, daß man von jedem Schiff aus gerade die zwei nächsten sehen kann. Mehr läßt der Nebel nicht zu.

Wieder beginnt navigatorisches und handwerkliches Neuland. Wenn man weiß, wie man alleine oder zu zweit ein kleines Floß von 6 Metern Länge und 120 Zentimetern Breite und einer Masse von vielleicht bloß einer Tonne durch Staken bewegen kann, dann weiß man noch lange nicht, wie sich dasselbe Prinzip bei einem Schiff von fast den zehnfachen linearen Abmessungen bewährt. Ich muß wahrscheinlich alle Männer mit Staken beschäftigen.

Das jedoch erweist sich als ein Irrtum. Die Männer kommen sich mit den Stangen ins Gehege und treten einander auf die Füße. Schnell lerne ich, daß ein oder zwei Männer auf jeder Seite ausreichen. So haben sie mehr Platz, auf der Seite des Schiffes auf Deck entlang zu gehen und sich die ganze Zeit kräftig gegen die Stangen zu lehnen. Das ergibt, je nach Kondition und Haltung, Dauerantriebskräfte von einem Viertel oder einem Drittel des Körpergewichtes des betreffenden Mannes. Wenn dieser erschöpft ist, kommt ein anderer dran.

Es funktioniert. Träge folgt das Schiff meinen Wünschen. Der Bug richtet sich nach links aus, also vermutlich nach Westen. Ein Teil der Kraft, die die Männer auf das Schiff einwirken lassen können, kompensiert den schwachen, restlichen Winddruck, der uns weiter auf das Ufer zu drücken möchte, das meiste aber treibt uns in die gewünschte Richtung.

Ich sehe, daß es auf den anderen Schiffen hinter uns genauso gemacht wird wie bei uns. Es dürfte nirgends Probleme geben, abgesehen davon, daß die Geschwindigkeit, die wir auf diese Weise erreichen, vielleicht zwanzig Zentimeter pro Sekunde ist. Das heißt, daß wir die Einfahrt in drei Stunden erreichen müßten. Wahrscheinlich wird es mehr, da die Kräfte der Männer erlahmen werden.

Unsere Stakstangen sind etwa sechs bis acht Meter lang. Das heißt, daß man sie ganz aus dem Wasser herausheben und mit einigen Geschick senkrecht gehalten übers Deck transportieren kann. Geschick braucht man, weil man nicht mit einer sechs bis acht Meter hoch aufragenden Stange einfach so übers Deck laufen kann, weil dann die untersten Rahen der Stange im Wege sind. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, man taucht, an der Bordwand stehend, die Stange kurz wieder in das Wasser, um ihr oberes Ende unter der Rahe hindurchzukriegen - das setzt allerdings voraus, daß an der Stelle der Bordwand nicht gerade jemand anderes mit seiner Stakstange arbeitet, oder daß das Wasser schon so flach ist, daß man dabei wieder den Grund erreicht - oder man läßt, wenn man am hinteren Ende des Schiffes angekommen ist, die Stakstange einfach aufschwimmen und schleppt sie so am Schiff entlang wieder nach vorne, wobei man sich an den anderen Stakern geschickt vorbeimogeln muß. Das geht noch einfach, man hat dann aber das Problem, die schwere Stange wieder senkrecht aufzurichten, weil man sie nur so wieder bis zum Grund durch das Wasser hindurchstoßen kann.

Ich bin sicher, daß die Männer im Laufe der Zeit die effektivste Methode schon herausfinden werden. Auf jeden Fall werden sie die kraftsparendste Methode herausfinden, und das ist auch schon wichtig. Das Prinzip Faulheit ist immer ein guter Wegweiser zum effektiven Einsatz der eigenen Kräfte.

13 Uhr. Wir sind immer in Sichtweite der ersten schwimmenden Büsche und im Wasser stehenden Bäume der Küste. Natürlich können wir mit den großen Schiffen nicht ganz so nahe an die Küste heran, wie das mit den kleinen Flößen der Fall war. Deshalb kommt es auch ab und zu vor, daß die Wassertiefe zum Staken wieder zu groß wird. Noch längere Stangen sind unpraktisch. Wir müssen dann rudern, alle Mann zusammen. Glücklicherweise ist das nicht allzuoft erforderlich.

Ich bemühe mich, in dem Gewirr der schwimmenden Büsche, das gerade in unserer Sichtweite ist, etwas von dem wiederzuerkennen, was ich auf meiner Floßexcursion mit Ondar gesehen habe. Aber das gelingt nicht. Und Okr und Oios kann ich nicht fragen, weil sie auf anderen Schiffen sind.

Eine Stunde unterwegs heißt, daß wir 600 Meter geschafft haben. Wirklich sehr wenig. Selbst die meist langsamen Tiere dieser Welt sind größerer Geschwindigkeiten fähig, zu Lande und zu Wasser. Wir wären jetzt nicht in der Lage, vor einer Gefahr zu fliehen. Aber der Nebel nimmt ja nicht nur uns die Sicht, er verbirgt uns auch vor anderen. Ich stelle mir vor, daß vielleicht gerade hier, an dieser Küste, unzugänglich in den Sümpfen, Dörfer mit aggressivsten Volksstämmen sind. Sie sitzen in ihren Pfahlbauten oder auf ihren Flößen oder künstlichen schwimmenden Inseln oder in ihren Baumhütten, oder wie immer sie sonst wohnen mögen, und nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt zieht diese seltsame, von ihnen vielleicht noch nie gesehene Prozession durch den Nebel, die sie sofort angreifen würden, wenn sie sie nur sähen.

Hören könnten sie uns. Aber es ist auf allen Schiffen recht still. Stiller als sonst. Ich überlege mir, woran das liegen mag. Eigentlich ist es klar: Wer immer zu laut oder zuviel redet, der könnte ja seinem zuständigen Kapitän damit andeuten, daß er noch über zuviel überschüssige Kräfte verfügt. Die mögliche Folge wäre eine vorzeitige Einteilung zur Stakarbeit.

Das wollen die meisten doch lieber vermeiden.

Noch neunzig Minuten. Wir müßten die Hälfte geschafft haben. Und so problemlos, denke ich mir.

Diesen Gedanken sollte ich vielleicht nicht formuliert haben. Es ist kurz nach 13:30 Uhr, als wir vor uns auf dem Wasser treibende Pflanzen bemerken. Beim Näherkommen stellt sich heraus, daß es sich um eine zähe, seetangartige Matte handelt. Ich fühle mich an frühe, bedrohliche Erzählungen über die Sargasso-See erinnert. Wieso haben Okr und Oios nichts davon berichtet? Naja, vielleicht erstreckt sich diese Matte nicht soweit auf die Küste zu, und sie haben sie unbemerkt umfahren. Oder diese Matte ist erst jetzt hier angetrieben. Vielleicht. Sehr plausibel kommt mir das nicht vor.

Was können wir tun? Schon kurz nachdem unser Bug auf diese Pflanzen aufläuft, wird deutlich, daß sie uns bremsen. Welche Optionen sind also möglich?

Umfahren? Seewärts geht das nicht, weil wir gegen den schwachen Wind rudern müßten. Innerhalb unserer Sichtweite hört diese Matte auch nicht auf. Sie könnte sich kilometerweit auf die offene See erstrecken, im Prinzip wenigstens. Landwärts können wir auch nicht weit ausweichen, weil wir nirgends durchkommen können, wo uns bereits die schwimmenden Büsche zwischen sich dazu kein Platz mehr lassen. Also müssen wir genau durch.

Bevor die Schiffe hinter uns uns eventuell zu nahe kommen, befehle ich zwei Leute nach vorne. Sie sollen der MARY CELESTE mit ihren Schwertern einen Pfad durch diese treibenden Pflanzen hacken. Es kann ja nicht zu lange dauern.

Das läßt sich gut an. Ich sehe von meinem Ruderhaus aus, daß die Schwerter der Männer offenbar wenig Widerstand finden. Die Pflanzenmatte kann also zerteilt werden, und wir kommen durch, wenn auch nicht mit dem üblichen Tempo. Es wird also keine Probleme geben.

Das stellt sich schnell als ein Irrtum heraus. Als wir uns um soviel weiterbewegt haben, daß sich die Pflanzen schon längst überall rechts und links neben dem Schiff befinden, kommen sie den Stakstangen ins Gehege. Das stört zwar den Vorgang des Stakens nicht besonders, aber immer dann, wenn die Stangen herausgenommen werden müssen, um sie wieder nach vorne zu transportieren, sind sie jetzt nicht nur von Wasser, sondern auch von den Säften der zerschnittenen Pflanzen naß. Zunächst stört das nicht, aber dann bemerke ich, daß einer der mit dem Staken beauftragten Männer seine Stange einen Moment lang loßläßt und sich die Hände aneinander reibt. Einige Sekunden lang liegt die schmierig-nasse Stakstange an seiner Schulter. Wenig später muß er sich auch dort kratzen.

Als ich dasselbe Symptom bei einem anderen Mann auf der anderen Seite des Schiffes bemerke, schrillt in mir eine Alarmglocke.

"Staken aufhören! Stakstangen losschmeißen!" rufe ich laut hinaus, "Ochaum, nach hinten signalisieren: Wir halten an!"

Mit ein paar Sprüngen bin ich unten auf dem Deck. Es ist schon passiert: Irgend etwas ist in dem Wasser, das jetzt das Schiff umgibt, das die Haut rötet und Juckreiz auslöst. Heftigen, unwiderstehlichen Juckreiz. Es ist an den Stakstangen, an den Händen der Männer, die sie gerade bedient haben, an ihren Füßen, weil von den Stakstangen natürlich ständig Wasser auf das Deck getropft ist.

Das Ärgerliche ist, daß wir jetzt kein sauberes Wasser haben, um die befallenen Stellen zu waschen - wir sind ja mitten in der Pflanzendecke drin, und die hat sich hinter unserem Schiff schon wieder geschlossen. Das Wasser dürfte überall die gleichen Eigenschaften haben. Diese Schiffe führen leider kein Frischwasser mit sich, da wir uns ja in dieser Welt immer in Frischwasser hinreichend guter Qualität bewegen. Auf Schiffen, die einen Salzwasserozean befahren, wären wir jetzt nicht so hilflos.

Was ist es? Pflanzensaft, Abwehrreaktion der Pflanzen, eine Allergie-Reaktion auf irgendein Sekret, oder Tiere? Bakterien, aggressive Pilze, kleine Insekten? Ich sehe mir die befallenen Stellen an, aber außer der Hautrötung kann ich nichts Ungewöhnliches erkennen. Diese Hautrötungen scheinen aber sekündlich zuzunehmen. Das Tempo dieser Veränderungen ist beängstigend.

Drei Männer sind befallen, die drei, die gerade mit Staken beschäftigt waren. Es gelingt mir gerade noch, alle anderen davon abzuhalten, auf die feuchten Stellen an den Schiffsrändern zu treten.

Die drei kratzen sich wie wild. Ich sehe, daß die betroffenen Hautareale anschwellen und anfangen, zu nässen. Dann reißt das Reiben und Kratzen die aufgeweichte Haut auch schon auf. Blut fließt.

"Hört auf mit dem Kratzen!" rufe ich, "Das ist ein Befehl!"

Es hilft nichts. Es muß fürchterlich sein. Sie sitzen an Deck, dann rollen sie über die Decksbalken. Ihr ganzes Bestreben ist nur noch, sich zu kratzen.

"Niemand faßt sie an!" rufe ich. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Wenigstens die Gesunden retten. Denn wer den drei Befallenen zu nahe kommt und versucht, sie an der Kratzerei zu hindern, muß damit rechnen, geschlagen zu werden. Außerdem habe ich Angst, daß eine Art Ansteckung erfolgen könnte.

Sie reiben sich mit aller Kraft die Haut von den Handflächen herunter. Dabei schreien sie vor Schmerzen. Und der, der die Stakstange an seinem Hals liegen hatte, ist dabei, sich am Hals regelrecht zu enthäuten. Entsetzt sehen wir zu, wie der Arme sich einen Pflock, der in seiner Reichweite auf Deck lag, greift und beginnt, sich selbst mit kräftigen Bewegungen die Haut zwischen Kinnlade und Schulter abzuschälen. Er macht nicht Halt. Sehnen und Muskeln werden sichtbar, Venen und Arterien reißen auf, Blut fließt in pulsierenden Strömen. Der Mann schreit und schreit, die anderen schreien, aber sie hören nicht auf, keiner von ihnen. Und immer größere Teile des Deckes werden mit Wundsekreten, Blut und dem unheilvollen Seewasser befleckt.

Da faßt der Mann mit der Halswunde seinen Pflock anders. Ich sehe in seinen Augen die Angst vor dem, was ihn das Jucken und der Schmerz zwingen wird, zu tun. Er sieht mich einen Moment an, als erwarte er eine Hilfe von dem Fremden in dieser Welt, der schon so viele erstaunliche Dinge getan hat. Dann fährt er sich mit dem Pflock in den Hals, wie ein Pflug in die Ackererde. Bevor die verletzten Gefäße sein Gehirn von Blut leerlaufen lassen und er ohnmächtig wird - er hat sich längst schon so verletzt, daß er es nicht überleben kann - reißt er sich selbst den Kehlkopf auf. Es ist ein grauenvoller Anblick. Sein Schreien wird durch ein Röcheln ersetzt. Es kann nicht länger dauern als einige Dutzend Sekunden, aber es kommt mir wie Minuten vor. Dann sinkt er endlich reglos in seiner eigenen Blutlache zusammen.

Die beiden anderen sind noch nicht fertig. Sie haben ihre Handflächen soweit aufgerieben, daß man Sehnen und Knochen sieht. Und auch sie hören nicht auf, weder zu schreien noch sich zu kratzen.

Sie haben auch vereinzelte andere Körperstellen mit dem verseuchten Wasser in Berührung gebracht, weil sie sich auf dem nassen Deck wälzen. Deshalb versuchen sie sich überall zu kratzen. Und da sie nicht überall gleichzeitig hinreichen können, greifen sie sich mit Macht in das eigene Fleisch.

Inzwischen höre ich von dem nachfolgenden Schiff, das ja weniger als 100 Meter entfernt ist und die Tangmatte gerade eben erreicht hat, daß es dort mindestens einen ebenso gelagerten Fall gegeben hat. Das Schreien dringt in den Pausen, die unsere beiden Betroffenen machen, bis zu uns herüber. Hoffentlich sind sie da drüben so vernünftig, daß nicht alle anderen die Betroffenen anfassen.

Einer der Männer beginnt vor unseren Augen, sich Haut von seinen Gesäßbacken abzureißen. Dort hat er auf dem getränkten Deck gesessen. Es können nur geringe Mengen Seewasser sein, mit denen er dort in Berührung gekommen ist. Trotzdem, mit welcher Bestimmtheit er diese Selbstverstümmelung betreibt ist grauenhaft. Ohnmächtig sehen wir anderen zu. Beide sind bereits vollständig von eigenem Blut bedeckt, beide haben sich bereits so viele oberflächliche Verletzungen beigebracht, daß sie das eigentlich auch nicht überleben können, selbst bei guter Pflege, die man ihnen unter diesen Umständen aber nicht angedeien lassen kann.

Es dauert noch etwa fünf Minuten. Dann sind auch diese beiden Männer tot, fast gleichzeitig. Erst, als sie sich nicht mehr bewegen, sehen wir genauer, an wie vielen Stellen sie sich bis auf die Knochen bloßgerieben haben. Das Deck ist mit großen Flecken von einer schmierigen Blut-Gewebe-Mischung bedeckt.

"Was sollen wir bloß machen, Herwig?" fragt mich Ochaum. Er ist weiß im Gesicht. Einige der anderen Männer auch. Alle stehen reglos, wo immer sie sich vor den Tobenden in Sicherheit gebracht haben.

"Feuer," sage ich, "ein großes Feuer. Wir müssen das Deck mit glühender Holzkohle reinigen. Mehr fällt mir nicht ein. Ich weiß nicht, was es ist. Mach den Männern klar, daß nur die gerade jetzt trockenen Stellen des Decks betreten werden dürfen."

"Und die drei ..."

"Über Bord. Aber niemand darf sie anfassen. Nehmt die Schwerter da, mit denen vorne das Zeug aufgehackt wurde.

Es ist still auf diesem Schiff. Noch hört man das langgezogene Heulen von Osont's Schiff. Wir wissen, daß es dort auch bald zu Ende sein wird.

62.2 Die Bewohner der Tangmattensee

Ich lasse unser Vorhaben zu den anderen Schiffen hinübersignalisieren. Feuer erscheint mir wirklich das plausibelste, was man anwenden kann. Hitze tötet Mikroben ab, und wenn es sich aber um irgendwelche hochwirksamen Toxine gehandelt haben sollte, dann kann man annehmen, daß auch diese durch höhere Temperaturen in harmlosere Bestandteile aufgebrochen werden. Hoffentlich. Das Risiko, daß wir dann erst recht irgendwelche dann vielleicht sogar flüchtigen giftigen Substanzen erzeugen müssen wir eingehen.

Auf Osont's Schiff, dem uns folgenden, hat es nur ein Opfer gegeben, die anderen vier Schiffe haben die Gifttangmatte noch nicht erreicht und haben inzwischen geankert. Vier Tote also. Vier Tote bei dem trivialen Unternehmen, lächerliche zwei Kilometer an einer Küste entlang zu staken, an der uns auflandige Winde an anderen Methoden der Fortbewegung hindern. Wie wird das erst sein, wenn wir in den Wasserstraßen sind, die wir durchfahren müssen, und die auf den Karten explizit als gefährlich markiert wurden?

Die schöne, romatische Wildnis. Das machen wir versponnenen Zivilisationsmenschen uns selten klar, daß eine naturbelassene Landschaft genauso tödlich sein kann wie eine verdreckte Industrieregion. Die Gefahren, in die wir uns durch unsere selbstverursachte Umweltzerstörung bringen, kennen wir leidlich. Aber hier bin ich ein Fremder. Das macht es vielfach gefährlich. Und die Männer, die mit mir sind, haben Jahrzehnte lang den relativen Schutz durch die Gefangenschaft auf Casabones genossen.

Charmion, denke ich wieder, wenn du doch hier wärest. Du wüßtest, was zu tun ist. Du bist die einzige, die der Welt hier die Zähne zeige würde. Was würdest du tun?

Immer wieder erwische ich mich bei dieser Frage. Was würde Charmion tun. Ob ich diese Frage aus der Erinnerung richtig beantworten kann darf sehr bezweifelt werden. Zu kurz war der Zeitraum unserer Bekanntschaft. Zu wenig weiß ich über sie, um diese hypothetischen Fragen richtig beantworten zu können, so, wie sie geantwortet hätte.

Erst, wenn man mit einem Menschen sehr lange zusammen ist, dann ist dieser Mensch vermöge der detaillierten Erinnerung, die man an ihn hat, ständig in einer gewissen Weise präsent, sogar, wenn er schon tot sein sollte. Die einzige Methode, den Tod auf gewisse Zeit zu überwinden - in der Erinnerung der Nahestehenden. Wie hat Er es vor zweitausend Jahren ausgedrückt? 'Wo immer sich Menschen in meinem Namen versammeln, werde ich bei ihnen sein.' Hat Er es genau so gemeint? Und hat er gewußt, daß die Verfälschung Seiner Person und Seiner Worte diese Gegenwart vielleicht doch nicht länger zuläßt als gerade für den Zeitraum, wo noch Menschen am Leben waren, die Ihn persönlich und als Menschen wirklich gekannt haben? Ob er sich vorstellen konnte, welche Karikatur Seiner Lehre durch die Kirchen erzeugt und gefördert werden würde, zweitausend Jahre lang?

Mir ist schon vor langer Zeit die Idee gekommen, daß diese Präsenz eines anderen, wohlbekannten Menschen sogar sehr konkret zu verstehen ist. Ist doch das Bild, das man von diesem anderen Menschen hat, vermöge eines Netzes von Semantischen, das heißt, bedeutungstragenden Knoten im eigenen Bewußtsein gespeichert, jeder Knoten als Neuronenkomplex mit hoher, durch synaptische Verknüpfungen erzwungener Identität, und jeder solche Knoten hat seine Verbindungen zu den anderen, relevanten Bedeutungsknoten. Das ist ja im Prinzip ganz genau dasselbe wie die Bewußtseinsstruktur des Menschen, von dem man dieses neuronale Bild hat, selbst, denn dessen Bewußtsein basiert ja auch auf einer zugrundeliegenden neuronal gespeicherten Architektur. Der Unterschied ist lediglich, daß das Bild eines Menschen weniger detailliert ist als das Bewußtsein des betreffenden Menschen selbst, und es kann sogar in Einzelheiten oder in weiten Bereichen völlig falsch sein. Wenn man jedoch lange mit einem Menschen zusammen ist und sich in dieser Zeit keinerlei falsche Vorstellungen über den anderen Menschen macht und mehr zuhört als selbst redet, dann hat man wesentliches von diesem anderen Menschen in das eigene Bewußtsein übernommen. Dann ist der andere ständig präsent, in einem echten, nicht im mindesten metaphysischen Sinne.

Ja, da sich jeder Mensch ändert, kann es sogar sein, daß das Bild, welches man über einen anderen Menschen hat, diesem treuer bleibt als der betreffende Mensch sich selbst, selbst, wenn dieser sein Bewußtsein noch gar nicht der Auflösung durch den Tod übergibt, sondern sich eben nur ändert.

Von Charmion weiß ich zu wenig. Wir waren ja erst in einem frühen Stadium des Bekanntwerdens. Ihr Bild in mir ist unvollständig, und so kann man nicht sagen, daß sie gegenwärtig ist. Nicht für mich, und für niemanden sonst. Es wäre eine Illusion, wenn ich das glaubte. Eher ist Irene bei mir, mit der ich jetzt schon zwölf Jahre beisammen war. Sogar die Jahre, in denen wir nicht zusammen gewohnt haben, zählen da, weil wir nie den Kontakt völlig aufgegeben haben. Aber die Irene ist genauso ein Fremdling in dieser Welt wie ich. Charmion's Anwesenheit wäre jetzt besser für uns alle.

Es gibt gar nicht soviel, was man tun kann, und einiges habe ich ja schon veranlaßt: Die Kauterisierung des Schiffes und aller Gegenstände, die mit dem Wasser um uns herum in Berührung gekommen sind, mit glühender Holzkohle. Zwei Schwerter sind bis jetzt in diesem Wasser verwendet worden, und ich stelle zwei Leute dazu ab, rund um das Schiff herum, aber ganz besonders in Fahrtrichtung, die pflanzliche Matte zu zerschneiden, aber so, daß es nicht spritzt. Sie sollen ganz genau aufpassen, ob ihnen im Wasser irgend etwas besonderes auffällt. Falls sie trotzdem irgendwo ein Brennen verspüren, so sage ich ihnen, ist es das Beste, zur nächsten Feuerstelle zu gehen und sich auf die betreffende Stelle brennendes Holz zu drücken. Danach, wenn sie dazu noch in der Lage sein sollten, müssen sie sich um die Stelle kümmern, wo sie das Schwert abgelegt haben, oder sie müssen sich sofort ablösen lassen, wenn sie zu koordiniertem Handeln nicht mehr in der Lage sind.

Die Männer arbeiten schweigend und schnell. Der furchtbare Tod der Kameraden ist ihnen in die Knochen gefahren. Sie glauben oder sie möchten glauben, daß meine Maßnahmen richtig sind. Ich sage ihnen nicht, daß ich auch nicht mehr tun kann als daran zu glauben.

Trotzdem dauert es lange, alle Stellen des Schiffes, die mit dem Wasser rundherum in Berührung gekommen sein könnten, zu behandeln. Es wird darüber 17 Uhr. Weil noch niemand derartige Arbeiten gemacht hat, gibt es schon einige Brandblasen. Aber vor ernsthaften Verletzungen bleibt die Mannschaft verschont, und wir können uns Gedanken darüber machen, wie es weitergeht. Ich behalte die Überlegung für mich, daß dieser fürchterliche Juckreiz eventuell durch Toxine verursacht wurden, die nur kurze Zeit, nachdem diese Pflanzen zerschnitten wurden, wirksam sind. Wir haben nicht die Zeit, systematische Experimente zu machen.

Auch auf dem Flaggschiff denkt Osont mit. Er hat herübersignalisiert, daß zwei Männer zu uns überstellt werden, sowie die Schiffe sich nahe genug kommen sollten. Das ist aber zunächst nicht dringlich. Wir müssen herausfinden, wie wir weiterkommen.

Die beiden, die ich beauftragt habe, rund um das Schiff herum die Pflanzenmatte zu zerhacken, tun ihre Arbeit gut. Sie haben keine Schwierigkeiten und sie sind auch noch nicht mit dem Wasser in Berührung gekommen. Ich gehe nach vorne zu ihnen und sage, sie sollen zunächst weitermachen, aber sich dabei nicht völlig verausgaben. Sie werden demnächst abgelöst werden.

Beim Umhergehen auf den Decksplanken trete ich auch auf die angekohlten Balken. Das läßt sich nicht vermeiden. Auch durch das Schuhwerk könnte ja eine Reaktion eintreten, wenn diese Maßnahme nicht wirksam war. Aber ich spüre nichts, und einige der Männer laufen schon wieder barfuß überall herum. Vielleicht war die Idee mit dem Feuer gut.

"Also. Staken oder Rudern?" frage ich Ochaum, als wir wieder beide im Ruderhaus stehen. Olch ist dabei, aber seit seiner Bestrafung sagt er überhaupt kein Wort mehr. Ich weiß noch nicht, ob ich ihm das Ruder wieder überlassen sollte.

"Beim Staken kann man die Stangen so hantieren, daß sie in etwa immer gleich tief in das Wasser eingetaucht sind. Es ist umständlicher, aber es müßte gehen." fahre ich fort. Diese Aussage ist sehr unsicher, weil sie im Prinzip nur die Extrapolation einiger Dinge andeutet, die ich damals auf dem Jägersbleeker Teich ausprobiert habe. Aber Ochaum weiß es ja auch nicht besser.

"Beim Rudern spritzt es zu leicht!" meint er, "Und langsam ist beides, solange wir in dem Zeug drin sind."

In dem Moment plumpst es achtern außerbord. Wir sehen uns einen Moment lang an, bevor wir nach hinten rennen.

Es ist Olch, der vor kurzer Zeit das Ruderhaus unbemerkt verlassen hat. Er steht an der Bordwand und sieht gleichgültig auf die kreisförmig auseinanderlaufenden Wasserwellen, die von einer Stelle ausgehen, die einige Meter vom Schiff entfernt ist.

"Warst du das? Was hast du da über Bord geworfen?" fahre ich ihn an. Er sieht verständnislos von mir zu Ochaum und zurück. Dann macht er eine obszöne Geste, die Scheißen andeuten soll. Jetzt sehe ich auch die kleinen, braunen Klumpen, die in der geometrischen Mitte der kreisförmigen Wellen noch leicht auf- und abdümpeln.

"In dieses Wasser hänge ich meinen Arsch jetzt nicht!" stellt er aggressiv fest.

"Ach so. Ja, das ist natürlich notwendig. Das geht im Moment wohl nicht anders." Und damit wir nicht ganz umsonst hierhergerannt sind, nur um einen von der Mannschaft beim Scheißen zuzusehen, ermahne ich ihn, dabei aufzupassen, daß er nicht von Spritzern getroffen wird, wenn er etwas über Bord wirft. Diese Ermahnung ist natürlich völlig überflüssig: Olch hat, wie jeder andere auch, gesehen, was den drei Männern vorhin widerfahren ist. Er wird sich genausowenig wie irgendjemand anderes aus der Besatzung in Gefahr begeben.

Nebenbei denke ich daran, wie angenehm es ist, daß unter den Granitbeißern die Sitte des Händegebens nicht üblich ist, und daß ich sowieso keinen Grund hätte, Olch jetzt die Hand zu schütteln, nachdem er seine eigenen Kotstücke ins Wasser geworfen hat. Es ist mir immer noch unangenehm genug, daß ich hier an Bord viele Dinge anfassen muß, die Olch auch anfaßt. Ich weiß natürlich, daß dadurch kein besonderes Risiko entsteht, da niemand der Besatzung ansteckend krank ist. Wir könnten den ganzen Tag die Finger in den Arsch stecken und uns gegenseitig die Hände schütteln, ohne daß etwas passiert. Trotzdem, es wäre mir angenehmer, wenn das Wasser um uns herum zum Händewaschen tauglich wäre.

Ich muß daran denken, das Abkochen von Wasser in die Wege zu leiten. Das muß gehen. Für die Lebensmittelzubereitung brauchen wir über kurz oder lang ja auch etwas.

"Wieso" fragt Ochaum plötzlich, "ist da eine offene Wasserfläche?"

Jetzt fällt es mir auf. Das ist allerdings merkwürdig. Die Gifttangmatte neigt dazu, sich eher in jede Lücke, die unser Schiff oder unsere Schwerter gerissen haben, hinein auszudehnen. Hier ist aber ein offener Kanal von vielleicht eineinhalb Metern Breite, der sich in leichten Biegungen vom Schiff wegschlängelt und immer schmaler wird. Etwa zwanzig Meter vom Schiff entfernt schließt er sich vollständig. Und noch während wir diese schmale, freie Wasserfläche ansehen, bemerken wir, daß sich ihre Ränder wieder aufeinander zubewegen.

"Hast du das gesehen? Wie diese Wasserfläche sich geöffnet hat?" frage ich Olch. Er schüttelt den Kopf.

"Es war so, als ich hierherkam."

"Warum hast du uns nichts gesagt? Es hat doch geheißen, jeder muß alles, was ungewöhnlich ist, melden!"

"Was ist denn an offenem Wasser ungewöhnlich?" faucht Olch zurück. Sein Rücken schmerzt offenbar noch vom Auspeitschen, und er sieht uns nicht sehr wohlgesonnen an.

"Verschwinde!" sage ich. Mit ihm ist jetzt nicht vernünftig zu reden.

Dann stehen Ochaum und ich noch eine Weile auf dem Achterdeck und sehen die längliche Wasserfläche an. Nach 10 Minuten ist nur noch ein Kanal von einem halben Meter Breite zu sehen, nach weiteren fünf Minuten überhaupt nichts mehr.

"Der Wind. Wir haben immer noch etwas Winddruck auf die Schiffsaufbauten!" schlägt Ochaum vor.

"Der Wind kommt von See her, und er ist sehr schwach. Kaum merkbar. Diese Öffnung muß aber von einer Kraft aufgerissen worden sein, die parallel zur Küste wirkt!"

"Gewirkt hat." Korrigiert Ochaum mich.

"Richtig. Gewirkt hat."

Wir gehen zum Ruderhaus zurück, weil man von dort Schiff und Umgebung am besten beobachten kann. Ich bin sehr unruhig. Auch die harmloseste physikalische Erscheinung kann irgend etwas Bedrohliches bedeuten, wenn man keine Erklärung findet.

Es fällt mir wieder ein Ereignis aus meiner Studentenzeit ein. Eine Wanderung irgendwo in den Wäldern um Clausthal. Ich glaube, das Gebiet hieß 'Der Einersberg'. Durch eine Baumschneise sah ich schon von weitem auf einen Teich, auf den ich zuwanderte.

Ich blieb damals wie angewurzelt stehen. Erstens waren dort Wellen zu sehen, die sich ganz klar gegen den Wind bewegten, und zweitens fegten diese Wellen mit hohem Tempo über die Wasseroberfläche. Ein solches Tempo können Oberflächenwellen auf Wasser unter irdischen Bedingungen nicht haben. Ich wußte das zu dem Zeitpunkt ganz genau, da das Thema 'Schwerewellen in Flüssigkeiten' gerade in den Vorlesungen über Experimentalphysik drangekommen war, und der Professor Hentzler hatte es wohl verstanden, den Studenten dieses Thema nahezubringen. 'Sie haben Glück,' pflegte er zu sagen, 'daß Sie gerade in Clausthal Physik studieren. Da steht für jeden Physikstudenten ein ganzer Teich zur Verfügung, wo man Experimente zur Wellenmechanik machen kann!' Damit wies er auf die Tatsachen hin, daß es in der Tat im Harz sehr viele Teiche gibt, und daß es, zumindestens am Anfang der siebziger Jahre, nicht allzuviele Physikstudenten gab.

Aber diese frischen Kenntnisse waren nicht ausreichend, zu erklären, wie es geschehen konnte, daß Wasserwellen mit hoher Geschwindigkeit gegen den Wind anrennen konnten. Das war einfach unmöglich! Und wenn es doch möglich war, dann geschah dort etwas ganz Seltsames und Ungewöhnliches, wer weiß, vielleicht sogar etwas Gefährliches?

Ich schlich mich wie ein Indianer an den See heran, jede Deckung ausnutzend. Es hat vielleicht für einen Unbeteiligten albern ausgesehen, aber ich habe in diesen Momenten tatsächlich eine Menge abenteuerlicher Szenarien entwickelt, um diese seltsame Erscheinung zu erklären.

Es war keine ungewöhnliche Erscheinung. Ich hätte drauf kommen müssen. Es handelte sich einfach um zwei Wellenfronten, die an geeignet zueinander positionierten Ufern reflektiert wurden und die fast genau aufeinander zuliefen. Die Stellen, wo sich diese Wellenkämme begegneten, bewegten sich wegen des kleinen Winkels zwischen ihnen in der Tat mit einer affenartigen Geschwindigkeit über den See entgegen der Windrichtung. Erleichterung und Enttäuschung waren groß. Keine Bedrohung, aber auch kein Abenteuer. Ein friedlicher Teich im Walde, weiter nichts. Hatte ich mir nicht vorgenommen, wieder einmal nach Clausthal zu reisen, dort einige Tage zu verbringen und viele der damals erwanderten Orte und der Schauplätze meiner Studentenzeit wieder aufzusuchen?

"Woran denkst du? Du siehst aus, als ob du ganz woanders bist!" unterbricht Ochaum mich. Er muß eine gute Beobachtungsgabe haben, wenn er meine Rückerinnerung jetzt bemerkt hat.

"Ach, nichts besonderes. Ich dachte an alte Zeiten ... Diese Wasserlücke da hinten muß einen Grund haben!"

"Vielleicht machen wir uns zuviele Gedanken!" sagt Ochaum, "Dieses Zeug da rundherum ist gefährlich, aber wenn es uns Lücken läßt - einen größeren Gefallen kann es uns doch kaum tun! - Es müßte das nur noch in der richtigen Richtung zustande bringen!"

"Hoffentlich hast du recht!" sage ich, "Ich möchte nicht etwas übersehen und wieder deshalb ein paar Leute verlieren!"

"Wie Ondar?" fragt Ochaum nach einer Weile. Er fragt es nicht aggressiv, sondern eher mitfühlend.

"Ja. Ungefähr. Und andere." Ich gehe in den engen Ruderhaus auf und ab, Es ist angenehm, daß Olch nicht hier ist, obwohl er das als zweiter Rudergänger eigentlich sollte.

"Also. First things first. Was machen wir jetzt."

"Was hast du gesagt?"

"Vergiß es. Andere Sprache. Es heißt so etwas wie: die wichtigsten Sachen zuerst. Und das wichtigste ist, weiterzukommen."

"Das Schiff schwankt!" sagt Ochaum.

"Was?"

"Ja. Spürst du das nicht? Da läuft eine langsame Dünung ein. Sehen kann man nichts. Wenn du es nicht spüren kannst, müßtest du in den Mast hinauf. Da merkst du es bestimmt!"

"Nein, nein, ich glaube dir schon! Aber warum sollte da eine langsame Dünung sein?"

Darauf wissen wir natürlich keine Antwort. Ein ferner Sturm, dessen Ausläufer uns gerade erreichen? Ein Einsturz?

Nichts rundherum deutet auf heftige Ereignisse hin. Aber da ist der Nebel dran schuld, der im Moment keine weitere Sicht als etwa hundert Meter erlaubt. Gerade noch, daß das Schiff, das uns folgt, schemenhaft zu sehen ist. Kurz dahinter muß das Wasser noch frei sein, aber das können wir schon nicht mehr sehen. Und auch in jeder anderen Richtung reicht die Gifttangmatte weiter als unsere Sicht.

Die einzigen Geräusche sind das schwache Tröpfeln aus dem Nebel und das Knarren der Decksbalken unter den Füßen der beiden Männer, die immer noch den Gifttang rund um das Schiff mit ihren Schwertern zerteilen. Sie machen es gut - es ist bis hierher nicht zu hören, wie die Klingen das Wasser und das Grünzeug zerschneiden. Dann ist da das Gemurmel einiger der Männer, die sich unterhalten und froh darüber sind, daß sie im Moment nichts zu tun haben. Keine Begeisterung ist in diesen Gesprächen, wenn das je der Fall gewesen sein sollte: Wenn sie den Versprechungen Osont's geglaubt haben und meinten, ihre Bestimmung sei eine Zukunft mit aufregenden Abenteuern und viel Reichtum, dann sind sie sicher schon ernüchtert. Wie die aufregenden Abenteuer aussehen, wie langwierig, mühsam und gefährlich sie sind, das erfahren sie jetzt ja zur Genüge. Und Reichtum und Luxus muß wohl noch eine Weile auf sich warten lassen.

Und daß Osont selbst keine besseren Konzepte hat, wie man in dieser Situation weiterkommt, das sehen sie ja alle: Sein Schiff liegt genauso bewegungslos fest wie unseres.

So ein bißchen erinnert mich die Situation an das Gefühl des 'Per-Anhalter-Reisens': Ich erinnere mich noch gut an eine regnerische Straße in Südwales, an der ich nach vielen Stunden dachte: Ist es mir wirklich bestimmt, hier, an diesem Platz, für alle Zeit zu bleiben? So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt! - 1972 war das. Komisch, daß ich in jenem Moment die unangenehme Zukunftsvision hatte, im Oktober 1995 immer noch an dieser Straße zu stehen!

Natürlich bleiben wir nicht hier. Nur ist das Durchtrennen der Gifttangmatte sehr mühsam, und auf diese Weise können wir viele Tage für einen Kilometer brauchen.

"Vielleicht könnten wir weiter landeinwärts durch die schwimmenden Büsche fahren - vielleicht ist es einfacher, diejenigen auszureißen, die im Wege stehen!"

Ochaum sagt nichts. Warum sollte er auch alle Einwände vorbringen, die ich selbst genauso gut aufzählen kann: Erst mal dahinkommen, das geht nur durch diese Matte, dann ist noch lange nicht gesagt, daß die Ausläufer dieser Tangmatte nicht schon weiter auf das Ufer zugetrieben sind, dann wissen wir nicht, wie leicht oder wie schwer das Entfernen der Büsche wirklich zu bewerkstelligen ist, und letztlich steigt das Risiko der Strandung auch an, wenn wir näher am Land sind.

Einige Sekunden lang glaube ich plötzlich auch, das Schwanken des Schiffes zu spüren. Wahrscheinlich ist es kein Irrtum, da Ochaum es ja auch schon wahrgenommen hat, aber als ich ihn jetzt ansehe, gibt er nicht zu erkennen, daß er in diesem Moment eine Verstärkung der Schiffsbewegungen spürt. Vielleicht hat sich auch nur eine Zone verdickten Blutes durch mein Innenohr bewegt, oder eine Kapillare hat sich momentan verkrampft. Das kommt in meinem Alter vor. Nichts aufregendes. Nur kann es eben Sinneswahrnehmuangen vortäuschen, wo in Wirklichkeit keine sind.

"Siehst du dort unten? Der Wind drückt uns immer noch landwärts. Auf der anderen Seite ist zerhackter Tang schon zwei Meter von der Bordwand entfernt. Man sollte einen Mann abstellen, der mit einer Stakstange ständig eine Kraft auf das Schiff ausübt. Er hat nicht viel zu tun, weil er sich die meiste Zeit praktisch auf die Stange lehnen kann!"

"Das ist die 'Luv'-Seite!" sage ich, "Die dem Wind zugewandte Seite heißt Luv, die andere Lee. Dann braucht man nicht so um die Sachlage herumzureden, wenn man eine der beiden Seiten meint!"

Ochaum sieht mich nur einen Moment lang an, und ich weiß nicht, ob er diese kurze Belehrung zur Kenntnis nimmt. Ist vielleicht nicht der richtige Moment dafür. Aber der Versuch, die Xonchen-Sprache durch diese neuen Fremdworte zu bereichern, bringt sofort wieder ein neues Problem: Meine Eselsbrücke, die ich mir gebaut habe, um Luv und Lee auseinanderzuhalten, funktioniert in der Xonchen-Sprache nicht: 'Luv hat drei verschiedene Buchstaben, 'Lee' nur zwei. Wo mehr Buchstaben sind, da kommt der Wind her - Ist doch klar. Nur - bei einem in die Xonchen-Sprache übernommenem Wort mischen sich immer ein paar Konsonanten hinein. Und dann ist wirklich nicht mehr klar, welches von beiden Wörtern mehr voneinander verschiedene Buchstaben hat. Ochaum wird es sich anders merken müssen.

Ochaum eilt nach unten, um meine Vorschläge in die Tat umzusetzen. Einige Minuten lang habe ich Muße, genau den Schiffsbewegungen nachzuspüren. Aber jetzt liegt das Schiff wieder völlig reglos. Als ob es auf Grund liegt - das allerdings ist nicht das Gefühl, das sich einstellen will. An welchem physikalischen Signal es nun liegt, weiß ich nicht, aber ich bin sicher, daß dieses Schiff noch schwimmt. Nur eben bewegungslos.

"Ich habe Odzden eingeteilt." sagt Ochaum, der das Ruderhaus wieder betritt.

"Den Mann, der von Olch vergewaltigt wurde?"

"Ja. Besonders mitgenommen sieht er nicht aus." Ist das eine Kritik?

"Er sähe mitgenommen aus, wenn Olch mit dem Messer entschiedener herumgefuchtelt hätte. Auf meinem Schiff bedroht niemand mehr einen Kameraden!" stelle ich fest. Ochaum schweigt wieder. Er zeigt den sparsamen Gesichtsausdruck desjenigen, der vielleicht eine andere Meinung als der Vorgesetzte hat, dies aber nicht kundtun und auch nicht versehentlich Zustimmung andeuten will.

Ereignislos fließen die Minuten vorbei. Ich brauche mich nur umzudrehen, um Odzden auf seiner Stakstange lehnen zu sehen. Ein Dutzend Kilopond Antriebskraft haben wir also ständig. Es ist aber nicht zu sehen, daß diese irgend etwas bewirken.

In der Ferne steigt ein dumpfes Brüllen zum Himmel, eine andere, nicht minder animalische Stimme schreit in höheren Tönen. Die Richtung können wir nicht ausmachen, aber die Bedeutung schon: Da wird jemand gefressen. Ein ganz großes Tier bringt ein großes um. Der Kampf ist ungleich, weil er sehr schnell zu Ende ist, und die Geräusche des Zerfleischens der Beute erreichen uns nicht mehr.

Ich erinnere mich an eine laue Sommernacht, in der vor unserem Haus eine jämmerliche Schreierei anfing. Als ob jemand Babies folterte. Es waren natürlich die Stimmen von Katzen - die gibt es in unserem Dorfe genug. Ich nahm an, daß ein aggressiver Räuber des Waldes sich in die Nähe des Dorfes geschlichen hatte und einer Katze den Garaus machte. Die Hinrichtung erschien mir lang und unnötig grausam und hinderte mich am Einschlafen, aber warum sollte ich gerade einer Katze zu Hilfe eilen? Sollen die Leute doch selber auf ihre Haustiere aufpassen! - Wenn es sich um einen Fuchs handeln sollte, dann war der Katze sowieso nicht mehr zu helfen. Sie hätte dann wegen der Tollwutgefahr umgebracht werden müssen, wenn man sie vor einem Fuchs gerettet hätte.

Am nächsten Morgen entnahm ich aber einer Bemerkung unserer Vermieterin, daß es sich bei diesem nächtlichen Spektakel zwar um Katzen, nicht aber um die Tötung derselben durch ein Raubtier gehandelt habe. Es soll wohl eher eine Art nächtlicher sexueller Exzess gewesen sein - ein Besuch des Dorfkaters. Was nun stimmt, weiß ich nicht. Dieses Brüllen eben war sicher kein animalischer Sexualakt. Da wurde getötet. So etwas weiß man, wenn man es hört. So kann keine Saurierkuh schreien, wenn sie lediglich bestiegen wird - oder wie immer diese Tiere kopulieren. Ich muß lächeln, als ich daran denke, wieviel manche unserer Paläobiologen dafür gäben, eine Bandaufnahme der Geräusche zu hören, die wir eben praktisch uninteressiert zur Kenntnis genommen haben.

22 Uhr. Vielleicht haben wir eine ganze Schiffslänge geschafft, oder auch zwei. Genau kann man das nicht sagen, da niemand für Stunden ein gewisses seitab treibendes Stück Tang im Auge behalten kann. Und wenn man nur kurz wegsieht, dann findet man es nicht wieder. Und wenn man die Tangmatte hinter unserem Schiff betrachtet, dann sieht man nicht auf den ersten Blick, mit wieviel Schwerthieben wir uns da durchgekämpft haben. Die Männer, die das tun, haben sich schon mehrfach ablösen müssen. Und wie durch ein Wunder ist immer noch niemand mit dem Wasser in Berührung gekommen.

Vielleicht sollte man ein Stück Holz über Bord werfen, um diese langsame Fortbewegung zuverlässig zu messen. Aber ich habe dagegen so meine Abneigung: Gerade eben haben wir, ganz unvorhergesehen und viel früher als erwartet, viel Holz als Brennmaterial zum Kauterisieren des Schiffes gebraucht. So etwas kann noch einmal nötig werden. Ich will kein Brennmaterial vergeuden.

23 Uhr. Ein paarmal hatte ich in den letzten Stunden den Eindruck, daß das Schiff schwankt. Ich hätte es ohne Ochaum's Bemerkung sicher nicht wahrgenommen. Es ist ohnehin an der Grenze der Wahrnehmung, aber als ich Ochaum einmal befrage, meint er, daß er es in jeder Stunde wenigstens zwei oder drei Mal gespürt hat. Und er sagt, es ist nicht durch Wetter verursacht. Diese Wellen, die das Schiff so sacht bewegen, sagt er, werden durch Tiere aufgewühlt.

"Aber dann sind sie doch weit weg?" frage ich hoffnungsvoll.

Ochaum meint, daß das durchaus nicht der Fall sein muß. Auch große Fischsaurier können sich unter Wasser so geschickt bewegen, daß sie kaum Wirbelschleppen und Kielwellen hinterlassen. Wenn das Wasser hier tief genug wäre, dann wäre es ohne weiteres möglich, daß so ein Tier unter dem Schiff hindurchtaucht, ohne das wir das merken.

"Spricht für flaches Wasser. Wenigstens eine Beruhigung!" sage ich.

Ochaum nimmt mir auch diese Beruhigung. Er meint, daß es Tiere mittlerer Größe gibt, die sich in Wasser von einigen Metern Tiefe sehr wohl fühlen. Da gibt es zum Beispiel mächtige Seeschlangen ...

Wieder unterbricht uns ein Plumpsen von Achtern, ein lautes Plumpsen. Als wir uns umsehen, erwarten wir, daß der Mann, der gerade dabei ist, mit der Stakstange das Schiff vorwärts zu drücken, in das Wasser gefallen ist. Jede Sekunde dürften dann seine Schmerzensschreie anfangen.

Aber der Mann steht noch da. Nur eine Stakstange hat er nicht mehr, und er sieht verduzt und beunruhigt aus. Wir gehen sofort beide nach hinten.

"Es hat mir das Ding aus der Hand gerissen!" behauptet der Mann und zeigt uns seine aufgeschrammten Handflächen, "Auch Odzden, den ich vorhin abgelöst habe, hat gesagt, zweimal hätte etwas leicht an die Stakstange geschlagen, aber es sei nichts weiter passiert!"

"Wie heißt du?" frage ich, "Ich habe deinen Namen vergessen."

"Ohmenjenana. Den Namen können sich viele nicht merken."

"Ohmenjenana. Ich sagte doch, ich möchte so etwas sofort erfahren!"

"Ich kann nichts dafür, daß Odzden nichts erzählt hat! Für mich war es eben das erste Mal!"

Wir lassen uns genau erklären, wie Ohmenjenana die Stakstange aus der Hand gerissen wurde. Es hört sich seltsam an.

"Ochaum," sage ich, "wenn ich unseren Freund hier richtig verstehe, dann ist ihm die Stange nicht so aus der Hand geschlagen worden, wie man es erwarten würde, wenn etwas unter Wasser damit kollidierte - etwa die Seeschlangen, die du vorhin erwähnt hast - sondern ihm ist die Stange richtig aus der Hand gezogen worden. Wie kann das sein? Eine Stakstange steht doch fest auf dem Grund?"

Ohmenjenana nickt.

"Neuer Befehl." sage ich, "Wir müssen weiter staken. Aber wer immer damit befaßt ist, muß angeseilt werden. Sicherheitshalber. Außerdem möchte ich von nun an, daß, wer immer auf Deck geht, sich soweit wie möglich von der Bordkante entfernt hält. Außerdem möchte ich, daß die Männer sachte auftreten - keine Trampelei, kein Herumstampfen. Bitte gib das bekannt!"

Ochaum tut das. Weil wir jetzt so wenige sind, geht er zu jedem persönlich, um ihn diese neue Anordnung nahezulegen. Bei der Gelegenheit kann er erfragen, ob den Männern sonst etwas auf den Herzen liegt.

Als er kurz vor 0 Uhr zu mir ins Ruderhaus zurückkommt, ist sein Gesicht sorgenvoll.

"Kannst du so kurz vorm Schlafen noch Aufregung vertragen?" fragt er in einem Anflug von Humor.

"Das sind noch zwei Stunden. Was ist es?"

"Zwei der Männer haben bemerkt, daß etwas von unten gegen den Schiffsrumpf geklopft hat!"

"Scheiße. Wann war das? Warum haben sie das nicht sofort gemeldet?"

"Sie waren sich selbst nicht sicher. Jetzt erst, als sie es sich gegenseitig erzählt haben, haben sie gemerkt, daß sie ähnliche Wahrnehmungen hatten. Sie sind nicht zu uns gekommen, weil es schon länger her war."

"Und wann?"

"Mehrfach in den letzten Stunden."

"Wie tief ist die augenblickliche Wassertiefe?"

"Tief genug. Wenn du an Grundberührung denkst - das ist ausgeschlossen. Der Grund ist ziemlich eben und schlammig."

Ich lehne mich schwer auf die Fensterbank des Ruderhauses:

"Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Signalisiere alles rüber, zu Osont. Die müssen auch genau wissen, was hier passiert ist!"

"Ich fürchte, unsere Signalsprache reicht für solche Details nicht aus!"

"Stimmt. Zu dumm. Aber allgemeine Gefahrenhinweise, das geht doch!"

"Ich werde mich drum kümmern!" verspricht Ochaum und geht nach achtern. Er wird es wahrscheinlich selbst signalisieren wollen.

Irgendwie fühle ich mich jetzt auf der Brücke sehr allein.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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