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******** 061. Tag: Mittwoch 95-10-18 ********
61.1 Die Floßexcursion
Das Wetter ist beim Aufwachen um 5 Uhr genauso trist wie am Tage zuvor. Eigentlich wollte ich mein Frühstück irgendwo für mich alleine einnehmen, aber noch bevor ich meine Morgenwäsche vollständig beendet habe, kommt ein Mann zu mir und bedeutet mir, daß Osont das Frühstück mit seinen Schiffsführern zusammen einnehmen möchte. Dann war es eben nichts mit der Ruhe beim Frühstück.
Dieses Frühstück ist wieder ein kannibalistischer Schmaus. Osont zerschneidet die frisch aus der Speisekammer zubereitete Leiche selbst und teilt die Stücke zu. Wie so oft schon habe ich Schwierigkeiten, zu erläutern, daß ich von diesem Fleisch nichts habe möchte, auch wenn es sich um unsere Feindin gehandelt hat. Und wie schon so oft droht die Sache wieder in einer Grundsatzdiskussion über den Kannibalismus auszuarten. In diesem Punkte denken alle Bewohner dieser Welt ähnlich, Charmion wie Osont. Bei dieser diesen Punkt betreffenden weltanschaulichen Einmütigkeit kommt man schon allmählich dahin, die Menschenfresserei für normal und legitim zu halten. 'Gruppendynamik' nennen die Psychologen das, glaube ich.
Auf jeden Fall gelingt es mir auch an diesem Morgen, mich von Kraut und Wurzeln zu ernähren.
"Eigentlich komisch, Herwig - dieses Mädchen da, mit dem du zusammenwarst, die hat ein gutes Stück Fleisch doch sicher auch nicht verabscheut! Wenn es dich so ekelt, warum hast du dich dann nicht vor ihr geekelt? Oder hast du das?"
Wie oft muß ich noch erklären, was man einem Granitbeißer oder einer Granitbeißerin nicht erklären kann? Außerdem habe ich schon gleich gar nicht die Absicht, mein Verhältnis mit Charmion mit irgend jemandem zu diskutieren. Mühsam gelingt es mir, das Thema auf die bevorstehende Erkundungsfahrt zu bringen, immer die obszön auf dem Tisch liegende ausgeweidete und halbgare Frauenleiche ignorierend. Es ist eine Granitbeißerin, sage ich mir immer wieder, sie war schließlich auch eine Menschenfresserin.
Aber da es mir erfolgreich gelingt, das Thema auf die Erkundungsfahrt zu bringen, habe ich auch Erfolg darin, zu erfahren, wer es denn nun machen soll.
"Ja, du bist natürlich dabei, Herwig, weil du Erfahrung mit diesen Flößen hast, und mit dir zusammen geht dein Steuermann." stellt Osont fest.
"Ondar?"
"Ja. Okr wird das andere Floß führen. Er soll sich mitnehmen, wen immer er für geeignet hält."
Ich kann Okr nicht ansehen, ob er über diese Entscheidung überrascht ist. Außerdem habe ich genug damit zu tun, mir darüber klar zu werden, ob mir diese Entwicklung der Dinge recht ist.
Die Floßexkursionen werden nach dem Frühstück sofort in die Wege geleitet. Ich bestelle Ochaum zu meinem formalen Stellvertreter, solange ich nicht an Bord der MARY CELESTE bin. Dabei sehe ich einen Moment aus den Augenwinkeln, daß Olch ein mißmutiges Gesicht zieht. Aber das sagt noch lange nichts darüber aus, inwieweit Ondar bezüglich der Charaktereigenschaften von Olch recht hat. Mißmut darüber zu empfinden, übergangen zu werden, ist für jedermann legitim.
Ondar und ich werden die Küste nach links erforschen, Okr mit Oios nach rechts. Unter der Annahme, daß wir uns auf diese Küste in Richtung Nord zubewegt haben, wird unser Floß sich also nach Westen, das andere nach Osten bewegen.
Einen Moment lang wundere ich mich über Osont's Personalentscheidungen. Nun, wo Okr von Oios begleitet wird, stellt sich ja eigentlich die Situation so dar, daß vier der wichtigsten Leute der ganzen Flottille sich auf diese vielleicht nicht ganz ungefährliche Excursion begeben. Ich darf das wohl sagen, ohne mich dem Vorwurf der Überheblichkeit auszusetzen. Ich an Osont's Stelle würde es für unklug halten, diese vier auf ein potentiell gefährliches Unternehmen zu schicken. Andererseits habe ich bei Osont ja immer die Vermutung, daß er Konkurrenz in Sachen Popularität und besonderen Fähigkeiten immer ganz gerne los werden möchte, damit sein eigenes Licht nicht zu sehr im Schatten steht. So mancher Industriemanager bei uns oben hat eine ähnliche persönliche Personalpolitik: Ja niemanden hochkommen lassen, dessen Fähigkeiten den eigenen ebenbürtig oder gar überlegen sein könnten. Daß man damit dem Ganzen durchaus keinen Dienst erweist, und damit sich selbst auf lange Sicht auch nicht, das sehen solche Leute nicht ein. Karriere ist für diesen Typ die Pflege des eigenen Glanzes.
Als wir uns auf unseren Flößen von den Schiffen wegdrücken, Ondar und ich auf der linken und Okr und Oios auf der rechten Seite der Bojenleine, die wir dabei gleichzeitig legen, steht Osont im Ruderhaus des Flaggschiffes und sieht uns mit unbewegter Miene zu.
Unsere Ausrüstung ist nicht umfangreich, da wir eigentlich nur mit wenigen Stunden rechnen, die wir abwesend sein müssen. Außer Ruder und Stakstangen sind wir natürlich vollständig bewaffnet - das würde zwar gegen die größeren Saurier nichts helfen, aber es gibt ja auch Tiere von handlicherem Format, gegen die man sich noch mit guter Aussicht auf Erfolg verteidigen kann.
Okr und ich rudern unsere jeweiligen Flöße - Ruder auf dieser Seite, dann auf der anderen, dann wieder auf dieser, und so weiter - und Ondar und Oios sind mit der Bojenleine beschäftigt. Da das Seil nicht 600 Meter im Stück lang ist, muß ab und zu ein neues Segment angeknotet werden, und mal wird das Seil von dem einen, mal von dem anderen Floß zu Wasser gelassen.
Zeitweise sehen wir weder die Schiffe noch die Küste. Aber das Risiko ist ja nicht groß: Wenn wir tatsächlich die richtige Richtung verfehlen sollten, dann brauchen wir ja bloß der Bojenleine zurückfolgen, diese dabei wieder aufnehmen und das Ganze noch einmal in einer anderen Richtung erneut versuchen. Es wäre bloß ein Zeitverlust.
Doch unsere Richtung war gut geschätzt. Als ungefähr etwas mehr als 400 Meter draußen sind, taucht voraus etwas auf, das wie auf dem Wasser treibende Büsche aussieht. Ich versuche, durch das Wasser etwas vom Grund zu sehen, aber dazu ist das Wasser noch zu tief oder der Grund zu dunkel. Als ich einen der treibenden Büsche mit dem Ruder anstoße, bewegt er sich, als ob er tatsächlich schwimmt. Aber dann bemerke ich unter Wasser eine sich bewegende Form, die auf eine Art Wurzeln hindeutet, die den Busch wie eine Ankerkette ortsfest halten.
Kurz danach, als wir schon einige dieser Büsche hinter uns haben, glaube ich, einen großen Schatten unter unserem Floß vorbeigleiten zu sehen. Ganz sicher bin ich mir aber nicht, weil das Wasser durch unser Ruder zu bewegt ist, und weder Ondar noch die beiden auf dem anderen Floß haben etwas bemerkt, und es gab auch keine merkbare Bewegung der Wasseroberfläche, wie man sie eigentlich beobachten müßte, wenn eine große Masse durch das Wasser gleitet.
Jetzt wird das Wasser flacher, und es gibt Büsche mit festen Ästen. An einem davon sollten wir die Bojenleine befestigen. Ich einige mich mit Okr auf einen der Büsche, der am stabilsten aussieht, und wir steuern ihn beide an. Es handelt sich um eine hochgewachsene Pflanze, die in zwei Metern über dem Wasserspiegel in lange, dünne, hängende Blätter übergeht. Die senkrechten Stämme sind stabil, aber mit einer schleimigen Schicht bedeckt.
"Hoffentlich ätzt das nicht das Seil auf!" sage ich, als Ondar den Knoten festgezogen hat.
"Ich glaube nicht." sagt er.
"Kennst du die Pflanze?"
"Nein."
Dann wäre die nächste logische Frage, wieso er sich denn so sicher ist, daß diese Pflanze nicht von sich aus unsere Seile beschädigt. Aber das wäre wieder eine implizite Kritik an der Urteilfähigkeit meiner Mitarbeiter. Ich möchte nicht, daß sie zum Lügen oder wenigstens zum Fabulieren gezwungen werden. Also sage ich nichts.
Dann trennen sich unsere Flöße. Schon nach einer Minute ist sowohl die Bojenleine als auch das andere Floß hinter uns verschwunden.
Ich stehe vorne im Floß, Ondar hinten. Ruhig tauchen wir auf alternierenden Seiten unsere Ruder ein und suchen uns einen Weg durch den ufernahen Bewuchs. Eine ganze Zeit redet keiner von uns ein Wort. Ich denke wieder an den Jägersbleeker Teich. Dort habe ich an solche Situationen wie diese hier gedacht: eine fremde, abenteuerliche und vielleicht gefährliche Küste. Es gehörte aber schon viel Phantasie dazu, in den harmlosen Harzwald Gefahren hineinzugeheimnissen. Hier braucht es nicht ganz so viel Phantasie. Die Gefahren hätten wir, und der Harzwald wäre mir jetzt lieber.
Unter der Wasseroberfläche ist definitiv Leben und Bewegung. Manche der schemenhaft sichtbaren schlangenartigen Fische könnten ihrer Größe nach einem Menschen durchaus gefährlich werden. Und es muß ja auch nicht nur die Größe sein - weiß ich denn, ob die Evolution hier nicht auch etwas dem Pirhanja Ähnliches erfunden hat?
Die schwimmenden Büsche in Ufernähe sind öfter mehr als mannshoch. Das heißt, daß wir nicht auf große Entfernungen gesehen werden können, weil wir manchmal ganz von Pflanzen umgeben sind, aber das heißt auch, daß wir nicht unbedingt alles sehen, was in unserer Nähe passiert. Ich steuere lieber weiter auf das offene Wasser raus, und Ondar ist es recht.
"Sieh mal da!" flüstert Ondar und zeigt an mir vorbei nach vorne. Ich sehe, was er meint: Da treibt ein Stück Holz, das regelmäßig aussieht: brettartig. Allerdings nicht sehr, die Kanten sind schon abgerundet und das Holz ist mit Wasser vollgesogen und angefressen. Man muß zweimal hinsehen, um zu bemerken, daß dieses Holzstück vor langer Zeit einmal bearbeitet worden ist.
"Das liegt schon zu lange im Wasser. Das hat mit dem Saurierfänger nichts zu tun!" sage ich.
Ondar nickt: "Könnte aber ein Hinweis darauf sein, daß hier öfter Schiffe vorbeikommen!"
"... und dabei Holz verlieren!" vollende ich den Gedankengang. Das muß aber nicht sein. Ein Romanautor würde an dieser Stelle seine Figuren ein Holzstück finden lassen, das Spuren von gewaltigen Zähnen zeigte. So beeindruckend ist die Wirklichkeit jetzt nicht, jedenfalls, was dieses eine Holzstück betrifft. Aber die ständige akustische Kulisse der Geräusche, die aus dem wassernahen Urwald dringen, das häufige Platschen immer knapp außerhalb des Gesichtskreises, und die großen Schatten unter dem Floß, die ich inzwischen schon mehrmals beobachtet zu haben glaube, das hält die Wachsamkeit gespannt. Es passiert ja einfach nichts, aber es könnte in jedem Moment etwas passieren. Vergeblich sage ich mir, daß wir für die meisten Tiere völlig außerhalb des Wahrnehmungs- und Interessenbereiches sind, da wir weder der üblichen Nahrung noch der üblichen Feinde entsprechen. Und etwas anderes interessiert ein Tier nicht.
Langsam kommen wir weiter, hundert um hundert Meter. Was wir nicht finden ist die Einmündung einer befahrbaren Wasserstraße. Wenigstens, sage ich mir, können wir uns an einem Ufer dieser Art nicht verirren, weil es sich ja im wesentlichen um eine eindimensionale Sache handelt.
"Da," sagt Ondar und deutet auf eine Lücke zwischen den landwärtigen Büschen, "das könnte eine Abkürzung sein."
Ungern steuere ich das Floß wieder mehr landwärts, aber wenn es hilft, unseren Auftrag abzukürzen, warum nicht?
Bald sind wir wieder völlig von schwimmenden Büschen umgeben. Sogar Bäume stehen hier im Wasser, und ich überlege mir, daß Tiere, die sich von Baum zu Baum schwingen, durchaus bis hierher gelangen könnten. Ich rechne eigentlich damit, bald auf Land zu stoßen, aber immer wieder öffnet sich in überraschender Richtung eine neue Lücke zwischen den Büschen. Diese Küste ist sehr flach.
Einmal, als wir gerade auf eine Lichtung zutreiben, wird dort das Wasser aufgewühlt, und zappelnd peitscht ein langer, muränenartiger Arm auf und ab. Das Wasser spritzt bis in die Baumkronen. Als wir wenig später diese Lichtung erreichen, ist es dort wieder völlig still, gerade noch, daß sich die letzten Wellen zwischen den Büschen verlaufen. Wir können unsere theatralisch gezogenen Schwerter wieder einstecken.
"Was war denn das?" frage ich Ondar, aber er zuckt nur die Achseln.
Wir finden Blütenstauden, was mir merkwürdig vorkommt, weil es in dieser Welt kaum Insekten gibt. Welche Funktion haben Blüten denn sonst noch? Ich weiß es nicht. Vielleicht auch Rudimente früherer evolutionärer Entwicklungen, als die Welt der Granitbeißer noch Verbindung mit unserer Welt hatte.
"Fahren wir überhaupt noch in der richtigen Richtung?" fragt Ondar.
"Ich denke schon. Wenn wir versehentlich umkehrten, dann würden wir automatisch irgendwann auf die Bojenleine treffen."
"Ich weiß aber nicht nur nicht mehr, wo hinten und vorne ist, sondern mir ist eigentlich überhaupt keine Richtung klar. Wo geht es zum Beispiel zur offenen See hinaus?"
"Da links rüber, denke ich. Ungefähr!" Jetzt, wo er mich drauf hingewiesen hat, bin ich auch nicht mehr ganz sicher.
"Dann sollten wir vielleicht einmal dorthin!" schlägt Ondar vor.
Eine bestimmte Richtung in diesem Wasserurwald einzuhalten erweist sich als schwierig, denn wenn die eigenen Vorstellungen bezüglich der Richtung zu konkret sind, dann ist einem immer wieder etwas im Wege. Und es gibt keine Möglichkeit, wie wir uns über absolute Richtungen im klaren werden können. Der Nebel sieht in alle Richtungen gleich dick aus, und die Tiefe des Wassers scheint auch nur statistisch zu schwanken. So, als sei dieses kein Ufer, sondern ein endlos in alle Richtungen weit ausgedehnter Wasserdschungel. Ein unangenehmer Wasserdschungel: Genauso, wie es Stellen gibt, wo der Grund nur in einem Meter Tiefe sichtbar wird, so gibt es Stellen, wo es mehrere Meter sein müssen, weil man auch mit den Stakstangen keinen Grund findet und auch nichts sieht. - Immer dann, wenn wir solche Lotungen machen, ist es am beunruhigensten, wenn die für einen Moment völlig ruhig gehaltenen Stangen in der Hand plötzlich zittern, so, als ob sie unter Wasser angestoßen werden. Das geschieht gar nicht so selten.
Wir finden keinen Weg zur offenen See. Sehr schnell müssen wir uns eingestehen, daß wir uns verirrt haben.
"Es ist kein Problem," sage ich und versuche, einen festen Klang in meine Stimme zu legen, "dieses ist eine Küste, und in irgendeiner Richtung muß offenes Wasser sein. Das haben Küsten so an sich. Schlimmstenfalls fahren wir genau den gleichen Weg zurück, den wir gekommen sind."
Ondar sagt nichts. Er weiß, daß das eine starke Vereinfachung ist. Unseren verwinkelten Kurs kann keiner von uns memorieren, ich nicht, und ich wäre überrascht, wenn Ondar es könnte. - Charmion hätte ich es zugetraut. Charmion konnte alles, was man in dieser Welt zum Überleben so können muß.
Wir rudern weiter, in eine Richtung, die sich von allen anderen eigentlich in nichts unterscheidet. Dabei wäre es jetzt an der Zeit, sich eine Strategie zuzulegen, um aus diesem Labyrinth wieder herauszukommen.
61.2 Festgefahren!
Voraus liegt ein gewaltiger gestürzter Baum im Wasser. Der Stamm ist größtenteils unter der Wasserlinie, aber das Wurzelrad erhebt sich in eine beeindruckende Höhe von vier Metern. Der muß prächtig ausgesehen haben, als er noch gestanden hat, weithin sichtbar, ein guter Navigationspunkt. Wir müssen zwischen den Wurzeln dieses gefallenen Baumes und einem dichten Busch mit glitzernden Blättern hindurch.
"Wird knapp!" sage ich, aber Ondar meint: "Wird schon gehen."
Es geht auch. Das Glitzern dieser Blätter wird durch einen Flüssigkeitsfilm verursacht, und aus einer Mischung zwischen gesunder Vorsicht und Ekel steuere ich das Floß näher an das Wurzelrad heran. Als wir dann genau zwischen Busch und Wurzelrad sind, treibt unser Floß an eine der Wurzeln dieses riesigen Baumes und wird dadurch abgebremst. Die betreffende Wurzel wird dadurch unter Wasser gedrückt. Der große Baum wird infinitesimal gedreht. Man sieht es an der sachten Bewegung des Wurzelrades.
"Geht schon!" meint Ondar noch einmal und schiebt uns erneut nach vorne. Ich rudere mit. Dabei bemerke ich, daß das Wurzelrad sich immer noch dreht.
"Mensch, der war im labilen Gleichgewicht!" rufe ich Ondar zu.
"Im was?" fragt Ondar verwundert. Ich kann es ihm nicht so schnell erklären, wie es passiert. Der Baum und damit das Wurzelrad drehen sich schneller. Ich sehe, wie sich eine der starken Wurzeln des Baumes auf die Spitze unseres Floßes senkt, wie ein vorsichtig aufgesetzter Finger. Noch bevor ich die Bedeutung dieser Beobachtung begreife, taucht unser Floß ab: Dieser Finger ist enorm stark.
"Was ist das denn?" ruft Ondar, fast wütend.
"Das Floß hat sich im Baum verfangen!" rufe ich. So richtig wie diese Aussage sein mag, sowenig hilft sie mir. Das Heck, auf dem Ondar steht, hebt sich zunächst aus dem Wasser, während ich schon bis zu den Hüften drin bin. Aber das Floß hat sich in dem Wurzelrad des Baumes gründlich verkeilt. Der dreht sich zwar immer noch, kommt aber langsam zur Ruhe. Mit dem Rest seiner Bewegung drückt er unser Floß dann ganz unter Wasser.
"Herwig, geh da rauf! Schnell!" ruft Ondar plötzlich, und geschwind folge ich diesem Rat. Die Dringlichkeit in seiner Stimme habe ich wohl wahrgenommen. Schon sitze ich hoch oben zwischen den triefenden und glitschigen Wurzeln - die waren ja eben noch unter Wasser - und bemerke jetzt erst die langen, beweglichen, schlangenartigen Erscheinungen, die unser gesunkenes Floß geradezu umfließen, in widerlich obszöner gleitender Umarmung. Ondar sitzt schon neben mir.
"Bist du verletzt?" fragt er.
"Nein. Du?"
"Nein. Was ist passiert? Warum hat sich der Baum bewegt?"
Ich erkläre es ihm, so gut es geht, immer darauf achtend, ob der Baum nicht erneut anfängt, sich zu drehen. Aber wahrscheinlich hat er jetzt seine stabilste Lage erreicht. Wäre besser gewesen, wenn er die schon vor einer Minute gehabt hätte.
"So ist das," ende ich meine Erklärungen, "Dieser Baum lag gerade auf der Kippe. Früher oder später hätte er sich sowieso gedreht. Es war unser Pech, daß wir gerade vorbeifuhren und ihn anstießen."
"Demnach schwimmt er also. Dann ist das hier eine tiefere Wasserstelle." denkt Ondar nach. Er sieht nach unten: "Wie kommen wir jetzt wieder an unser Floß?"
Das frisch bearbeitete, helle Holz des Floßes ist unter Wasser gut zu erkennen. Wir können genau sehen, wie es liegt. Nur von den niederhaltenden Wurzeln sehen wir nicht allzuviel Einzelheiten.
"Ich weiß nicht," sage ich, "das Floß klemmt sich durch den eigenen Auftrieb fest, und so ein bißchen durch Hebelwirkung. Wenn man den hinteren Teil nach unten drückte, dann käme es wahrscheinlich frei. Igit, siehst du die Viecher da? Was ist das?"
Ondar kennt diese Tiere, die wie eine Mischung zwischen Qualle und Seeschlange aussehen, auch nicht. "Auf jeden Fall mag ich da jetzt nicht in das Wasser hinein!" sagte er.
"Verlangt ja auch niemand." Ich denke nach. Wie bekommen wir unser Floß zurück? Und könnten wir eventuell ohne Floß auskommen? Sicher nicht. Wir müssen das Floß haben. Diese Viecher sind groß und schnell. Das spricht für Kraft. Ich kann zwar keine Gebisse, Stacheln, Krallen oder sonst etwas Gefährliches entdecken, das sagt aber bei einer mir völlig unbekannten Tierwelt überhaupt nichts.
"Vielleicht verlieren diese Viecher das Interesse. Das Floß ist ja nicht eßbar." sage ich. Ondar schweigt. Mein Vorschlag läuft auf eine längere Zeit des Wartens hinaus. Außerdem drückt er auch nicht mehr als eine vage Hoffnung aus: genausogut könnten diese Tiere sich auf unserem Floß häuslich niederlassen.
61.3 Ondar's Verschwinden
Die Zeit vergeht. Da wir uns völlig ruhig verhalten, bewegt sich der Baum unter uns auch nicht, und wir könnten nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob er nun wirklich vollständig schwimmt, oder ob er noch irgendwo auf dem Grund aufliegt.
Wieder platscht in der Nähe etwas durch das Wasser. In der Richtung des Geräusches ist nichts zu sehen, aber wir sind von der Quelle dieses Geräusches nur durch wenige Büsche getrennt. Jederzeit kann sich ein übles Monster in unser Gesichtsfeld schieben. Ein unangenehmer Gedanke, jetzt, wo wir auf diesem Wurzelkranz zur Bewegungslosigkeit verurteilt sind. Die seltsamen Schlangen, die immer noch unser Floß unter Wasser umschwimmen, denken gar nicht daran, sich fortzumachen.
"Solche Gefahren hat es auf Casabones nicht gegeben." murmelt Ondar.
"Wärst du jetzt lieber dort?" frage ich. Er denkt nach.
"Ich glaube nicht. Es war ja eigentlich zu erwarten, daß wir unbekannten Gefahren begegnen, wenn wir von dort fliehen. Und bis jetzt hat es ja gut geklappt."
"Es wird auch weiterhin klappen," versuche ich, Optimismus zu verbreiten, "wir sind nur im Moment etwas bewegungsunfähig."
"Ob wir mit unserem Körpergewicht den Baum dazu bringen können, sich wieder zurückzudrehen?"
"Ich glaube nicht. Dazu ist er zu schwer. Du hast ja gesehen, mit welcher Kraft er das Floß unter Wasser gedrückt hat, sowie er einmal angefangen hat, sich zu bewegen. - Aber du hast recht, man sollte es wenigstens versuchen, bevor man diese Möglichkeit ganz ausschließt."
Wir klettern ein wenig auf dem Wurzelrad herum, erst zu einer Seite, dann zu der anderen. Der Baum nimmt unsere Turnübungen nicht merklich zur Kenntnis. Wir geben wieder auf und setzen uns wieder auf unseren Platz an der höchsten Stelle des Wurzelrades.
"Hätte ja sein können." sage ich.
Nach einer Weile, in der wir wieder schweigend den Urwaldgeräuschen lauschen, nimmt Ondar den Gesprächsfaden wieder auf:
"Was wir wohl noch alles erleben werden! Es ist doch irgendwie aufregend!"
"Reicht dir diese Aufregung hier noch nicht?" frage ich.
"Es ist nur ein kurzer Aufenthalt. Ich meine, wenn wir wieder an Bord der Schiffe sind, dann fahren wir immer weiter ..."
"Immer weiter? Wohin?" Kaum ist er es, der Optimismus verbreitet, versuche ich, gegenzusteuern. Diesen Reflex habe ich eben manchmal.
"Ja, ich denke ..." Onder überlegt, was er eigentlich denkt: "es muß doch irgendwie immer weitergehen."
"Warum?"
"Weil - die Zeit hört nicht auf. Und irgend etwas muß passieren!"
"Schon richtig," sage ich, "aber nicht unbedingt mit unserer Teilnahme. Wenn jetzt zum Beispiel ein großer Raubsaurier kommt und uns frißt, ganz einfach so: Schnapp, schnapp. Dann geht die Zeit immer noch weiter. Aber ohne uns."
"Ja, natürlich, aber ..." Ondar überlegt wieder, "es ist schon so, aber ich habe so noch nicht darüber nachgedacht. Über die Zeit nach meinem Tode, meine ich."
"Ich denke häufig darüber nach," antworte ich, "einfach schon deshalb, weil es nach meinem Tode viel mehr Zeit geben wird als davor. Und wenn ich daran denke, was für interessante Dinge dann noch passieren werden, von denen ich nichts mehr erfahre, dann finde ich das schon irgendwie schade, nicht mehr dabei zu sein. Aber es ist der natürliche Weg!"
"So habe ich das noch nicht gesehen." wundert sich Ondar, "Die Zeit nach dem Tode ... ist die Zeit denn dann noch so lang?"
"Warum sollte sie aufhören?"
"Geht sie immer weiter?"
"Nach allem, was wir wissen, ja."
"Wer ist 'wir'?"
"Die Menschen dort, wo ich herkomme. Manche beschäftigen sich dort nur mit solchen Fragen. Man nennt sie 'Wissenschaftler'."
Das führt zu einer Themaabweichung, weil ich nun lang und breit Ondar erklären muß, wie jemand lebt, der sich nur damit beschäftigt, über 'Zeit' nachzudenken. Über kurz oder lang kommt er aber zum eigentlichen Thema zurück. Fast vergessen wir dabei unser gesunkenes Floß und den bedrohlichen Urwald rundherum.
"Und wenn die Zeit immer weitergeht, was war früher?"
Bei dem Versuch, ihm zu erläutern, daß auch vor seiner Geburt schon viel Zeit war, kommt es bei ihm zu einem interessanten Mißverständnis: Er hält die Zeit vor seiner Geburt für eine Eigenschaft des Geburtsvorganges. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen, aber so sind wir erst einmal von der Eschatologie zur Gynäkologie gekommen. Na gut, es gibt eine ganze Reihe Dinge, die diesen Menschen noch neu sind, und gerade für die Meuterer, die teilweise ihr ganzes bewußtes Leben auf Casabones in dieser reinen Männergesellschaft gelebt haben, ist Fortpflanzungsmedizin und Sexualkunde ja ein noch viel faszinierendes Thema. Kann man ja verstehen. Es vergeht viel Zeit, in der wir darüber reden. Dabei stelle ich wieder fest, daß man die reinen körperlichen Vorgänge schon deutlich machen kann. Aber die Vorstellung, einer Frau von Mensch zu Mensch auf gleicher Ebene zu begegnen, die geht in Ondar's Kopf einfach nicht rein. Das habe ich ja schon neulich festgestellt.
"Es sind ganz normale Menschen, glaube mir! In einer normalen Welt unterscheiden sie sich fast gar nicht. Nur weil die eine Art Menschen einen komischen Schlauch zum Pinkeln und zum Zeugen zwischen den Beinen trägt, und die andere Art Menschen eine Art Muskelballon im Bauch hat, in dem Babies wachsen können, und weiche Ballons vor der Brust, die Milch produzieren können, müssen die doch nicht unterschiedlich viel wert sein!"
Ondar sieht mich an, als ob er an meinem Verstand zweifelt: "Aber wenn man sich nicht mit Gewalt vor ihnen schützt, dann würden sie uns wieder versklaven! - Wie sie es immer getan haben."
"Nein! Hier vielleicht, in eurer Welt, weil alle das schon immer so gewohnt sind, da versklaven sie euch, aber im Prinzip tun sie so etwas nicht!"
"Aber wir sind in unserer Welt!"
Zwecklos. Ich versuche, das Thema zu beenden. Erstmal. Dabei sehe ich auf die Uhr: 12 Uhr. Ich glaube, wir sind etwa um 7 Uhr losgefahren, und eineinhalb Stunden später ist uns dieses Malheur passiert. Dann sitzen wir schon dreieinhalb Stunden in diesen Baumwurzeln.
Nach einer langen Pause, die wir damit verbringen, die Viecher, die immer noch unser Floß belagern, zu begutachten, und die Geräusche rundherum zu interpretieren, um herauszukriegen, ob sich das Näherkommen von etwas Großem, Gefährlichem ankündigt, fragt Ondar plötzlich:
"Also in eurere Welt lebt immer ein Mann mit einer Frau zusammen? Habe ich das richtig verstanden?"
Ich antworte nicht gleich, weil ich glaube, daß der Nebel wieder dichter wird. Das bedeutet zwar keine unmittelbare Gefahr, aber ich fühle mich dadurch unbehaglicher. Ondar sieht mich erwartungsvoll an.
"Was? Ach so. Ja. Ungefähr. Ein großer Teil der Menschen lebt so - nicht alle. Manche ziehen es vor, allein zu bleiben. Andere finden niemanden, mit dem sie zusammenleben wollen. Oder können. Aber du hast recht: Diese Art der Zweierbeziehung ist bei uns häufig."
"Mmh. Und die streiten sich nie?"
"Doch, natürlich tun sie das! Aber sie gehen nie mit Waffen aufeinander los!"
"Wie streitet man dann?"
"Mit Worten! Je nach Temperament mit wohlüberlegten Worten, oder man schreit sich an, wenn man es nicht gelernt hat, sich korrekt zu streiten!"
Als ob ich darüber urteilen dürfte - mit Irene habe ich auch schon auf 'angehobenem akustischen Niveau' diskutiert. Aber ich will die Beschreibung unserer Welt für Ondar jetzt nicht zu kompliziert machen.
"Und wer bekommt recht?"
"Der, der recht hat. - Nein. Das ist nicht richtig. Häufig ist es der mit der lauteren Stimme. Auch bei uns ist nicht alles ideal, Ondar!"
"Aber wenn ein Streit so ausgeht, daß der verliert, der eigentlich recht hat, was passiert dann?"
"Das ist so wie du auch empfinden würdest: der oder die Unterlegene wird immer wieder versuchen, doch noch recht zu bekommen. Bei jeder Gelegenheit wird das Thema, über das gestritten wurde, hochkommen. Oder man resigniert."
"Man tut was?"
Ich versuche, Ondar so gut es geht das Konzept 'Resignation' zu erklären. Diese Haltung scheint er nicht zu verstehen, obwohl die Meuterer sich auf Casabones ja über lange Zeit in einem solchen Zustand befanden.
"Warum leben denn immer zwei Menschen so zusammen, wenn sie sich streiten?"
"Sich streiten sich ja nicht nur."
"Was tun sie denn noch?"
"Sie - ergänzen sich."
Aus wieviel Beweggründen man eine Ehe schließen kann ist Ondar, der kaum einen einzigen davon nachvollziehen kann, nicht zu erklären.
"Hast du auch einmal mit einer Frau zusammengelebt?" fragt er, "Ach, ich vergaß - da war ja dieses Mädchen, mit dem du zusammen warst."
"Das ist keine Ehe gewesen."
"Nein?"
"Nein."
"Warum nicht?"
"Schwer zu erklären."
"Du kannst doch so viel erklären!"
"Ja, schon ..."
Wieder bin ich im Erklärungsnotstand. Ondar weiß kaum, was eine Ehe ist, und jetzt müßte ich ihn mit Konzepten wie 'Seitensprung', 'Leidenschaft' und 'Gelegenheit' überfallen, wenn ich es ganz kompliziert machen wollte, dann sogar mit 'Liebe'.
"Ich bin eigentlich mit einer anderen Frau zusammen." sage ich schließlich.
"Wann?"
"Jetzt. Immer."
"Wo? Hier?"
"Ja, hier. In diesem Moment. Sie ist nur woanders."
"Wie kannst du dann sagen, daß ihr zusammen seid? Gerade eben hast du mir erklärt, daß bei euch da oben immer ein Mann und eine Frau zusammen ist. Jetzt behauptest du, daß du das auch in diesem Moment bist. Und dann sagst du, daß diese Frau woanders ist. Was denn nun? Zusammen oder nicht?"
Ich hole tief Luft: "Wollen wir nicht über etwas Einfacheres sprechen?"
"Nein, nein, mich interessiert das!"
Ich versuche, Analogien zum Begriff 'Freundschaft' zu ziehen. Diesen Begriff kennt Ondar, aber dieser Begriff ist auch anders gewichtet als bei uns. Er klingt - wie soll man sagen - weniger gewichtig. Das kann daran liegen, daß die sozialen Strukturen in der Welt der Granitbeißer von Frauen als der herrschenden Klasse geprägt werden, wodurch man automatisch unter 'Freundschaft' das verstehen würde, was Frauen darunter verstehen - und das ist nun einmal in Nuancen etwas anderes als das, was Männer darunter verstehen - das kann aber auch daran liegen, daß die sozialen Strukturen der männlichen Granitbeißer in der Gefängniskolonie auf Casabones völlig verbogen sind: Für Freundschaft gab es keinen Platz in einer Gesellschaft, in der von oben alle unterschiedslos gleich schlecht behandelt wurden und in der in solchen sozialen Strukturen wie etwa Freundschaft selten Vorteil lag.
Ondar muß also bei dem Vergleich von Freundschaft und Ehe sich jetzt unter Ehe etwas sehr Unverbindliches vorstellen. Jedenfalls hat er verstanden, daß Eheleute sich nicht ständig am gleichen Ort aufhalten müssen, aber daß eine Art Freundschaft vorliegt, die, in vielen Ehen zumindestens und mehr am Anfang einer Ehe auch durch Sexualität geprägt ist und die in vielen Fällen auch die Gründung einer Familie mit Kindern nach sich zieht. Allerdings dürfte er mit seinem rudimentären Verständnis der Sexualität und seinen vermutlichen Schwierigkeiten, sich etwa in einer Vaterrolle zu sehen, unter der Ehe immer noch etwas sehr Seltsames und Abwegiges vorstellen.
"Es ist aber nicht ganz so unverbindlich," erkläre ich dann, "wenn eine Ehe geschlossen wird, dann ist im allgemeinen klar, daß dieses eine Verbindung auf Dauer ist. Eheleute erwarten von sich im Allgemeinen auch, daß keiner sich mit dritten einläßt, also der Ehemann mit einer anderen Frau, oder die Ehefrau mit einem anderen Mann. Das gilt als selbstverständlich."
"Hast du nicht ..."
"Ja doch! Habe ich."
Ich habe diese Frage ja erwartet. Nun muß ich mich rausreden.
"Ja. Ich war mit diesem Mädchen, mit Charmion zusammen. So zusammen, wie ich eigentlich nur mit meiner Frau zusammen sein sollte. Ich bin kein vorbildlicher Ehemann. Ich habe die Ehe gebrochen. So sagt man bei uns dazu."
"Und was wird deine Frau dazu sagen, wenn du es ihr erzählst?" fragt Ondar höchst interessiert, "Oder erzählst du es ihr nicht?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht." Ich lasse offen, auf welche der beiden Fragen das die Antwort ist.
"Würde sie zornig sein?"
"Ich glaube ja."
"Schlägt sie dich dann?"
"Wohl nicht. Es ist nicht ihre Art - glaube ich. Aber ich habe die Ehe noch nie vorher gebrochen. Es ist neu, für uns wenigstens. - Willst du sonst noch etwas wissen?"
"Ja natürlich!" Ich sehe nach unten, ob nicht endlich unser Floß von diesen gefräßig aussehenden Wesen freigegeben worden ist. Dann könnte man das Thema wechseln. Aber leider ist das nicht der Fall. Eine andere Gefahr wäre mir jetzt auch recht.
"Machst du es wieder?"
"Nein."
"Hast du also fest vor, es nicht wieder zu tun?"
"Ja."
"Hattest du vor der Sache mit diesem Mädchen die Absicht, so etwas zu tun?"
"Nein."
"Du hast es dann aber doch getan. Wie kannst du sicher sein, daß du es nicht wieder tust, auch, wenn du im Moment nicht die Absicht hattest?"
"Ondar, du wärst ein guter Untersuchungsrichter!"
"Ich möchte nur verstehen!"
"Hast du noch nie etwas getan, was du eigentlich nicht für richtig hältst?"
Ondar denkt nach. Vielleicht ist jetzt eine Gelegenheit zum Themawechsel.
"Beispiel," probiere ich, "du begegnest einem gefährlichen Tier. Was tust du?"
"Totmachen," sagt Ondar, "oder, wenn das nicht geht, weglaufen!"
"Würdest du dir beim Weglaufen nicht feige vorkommen?"
"Nein."
"Dann war das ein schlechtes Beispiel." Ich überlege weiter. "Es muß doch irgendwelche Situationen geben, in denen du nicht so handelst wie du, nach deiner eigenen Vorstellung, eigentlich handeln solltest! Denk nach!"
Ondar denkt nach. Irgendwie denke ich immer noch, daß ich mich rechtfertigen oder wenigstens etwas erklären müßte. Das ist völliger Unsinn. Ich könnte Ondar sonst etwas über unser Zusammenleben und über meine persönlichen Belange erzählen - er würde es nie nachprüfen können. Andererseits lüge ich ungern, wegen der sich dann ergebenden Notwendigkeit, über die schon erzählten Lügen die Übersicht zu behalten.
"Du bist Frauen noch nicht häufig begegnet, Ondar. Deshalb weißt du nicht, wie verschieden sie auf einen Mann wirken können. Manchmal nehmen sie einen gefühlsmäßig ganz gefangen, auch, wenn die betreffende Frau einen eigentlich gar nichts angeht. Es wird durch irgend etwas ausgelöst - hübsches Aussehen, die Art sich zu bewegen, irgend etwas. Und dann singt dir das Blut in den Adern, wenn sie nur in der Nähe ist. Wenn man jung ist, dann überfällt einen dieses Gefühl wie ein privates Weltereignis. Aber auch, wenn man älter ist, kann einem das immer wieder passieren. Und plötzlich will man bei, an, um und in dieser einen Frau sein. Und die, mit der man eigentlich eine Ehe führt, ist zurückgedrängt."
Ondar hört intensivst zu.
"Man weiß, daß es nicht richtig ist, sich mit diesem Mädchen oder dieser Frau einzulassen. Man gehört ja zu einer anderen. Wenn dann aber noch günstige Umstände zusammenkommen - etwa der, daß die betreffende Frau ebenfalls die Annäherung sucht - dann fallen oft alle anderen Vorsätze flach. Und eine Weile geht man mit dieser Frau, mit der man nicht verheiratet ist, als ob man mit ihr verheiratet wäre. Und manchmal bricht dann die alte Ehe auseinander. Man weiß, daß es nicht richtig ist. Aber man tut es. Man muß es erlebt haben, um zu wissen, wie groß diese Versuchung werden kann. Es ist nicht deine Schuld, daß du davon auf Casabones kaum etwas erfahren hast."
"Könnte mir das noch passieren?"
"Im Prinzip ja. Eigentlich sogar besonders leicht, weil du in dem Alter bist, wo einem das besonders leicht passiert. Aber so, wie in dieser Welt Männer und Frauen miteinander umgehen, glaube ich fast, daß es dir so schnell nicht passieren wird. - Weißt du, Ondar, das Verrückte ist, daß diese starke Anziehung, die man manchmal bei einigen Frauen spürt und die einen wie aus heiterem Himmel überfällt, nie sehr lange dauert, wenn sie nur durch Äußerlichkeiten ausgelöst wird. Eigentlich könnte man sich in jeder Sekunde klarmachen, daß diese Musik in den Adern wieder aufhören wird, so sicher, wie der Hunger durch Essen beendet wird. Aber die meisten Menschen machen sich diese Grundtatsachen eben nicht klar. Und so passiert es."
Ich erhebe mich etwas, um meine steifwerdenden Gliedmaßen umzupositionieren. Ondar stellt keine weiteren Fragen, weil er offenbar noch über das Gehörte nachdenkt. Jetzt wird es wirklich Zeit, eine Themaänderung in die Wege zu leiten. Vielleicht wird Ondar noch etwas darüber in seiner eigenen, zukünftigen Biographie erfahren. Vielleicht wird es ihm irgendwo gelingen, ein Mädchen zu treffen, mit dem er von gleich zu gleich Kontakt haben kann. Vielleicht kann ich ihn da ein bißchen auf ein vernünftiges, zwischenmenschliches Verhältnis vorbereiten. Das Säen eines Gedankens oder einer Idee in der Welt der Granitbeißer. Ich sollte mir aber nicht allzuviel Hoffnungen machen, daß so etwas mir gelingen könnte. Abgesehen davon ist der Seitensprung in einer Ehe noch lange nicht das schlimmste Problem. Was ist, wenn man sich von einer Ehe Dinge verspricht, die schon logisch miteinander nicht vereinbar sind, wie etwa der Wunsch nach der Anwesenheit des Partners und der gleichzeitige Wunsch, ungestört anderen, eigenen Interessen nachzugehen. Ich will gar nicht versuchen, Ondar davon etwas zu erzählen. Er würde nicht einmal begreifen, wovon ich rede. - Jetzt will ich lieber etwas Konkretes tun, bei dem man gleich ein Resultat sieht, denn es ist schon bald 15 Uhr, und die lange Untätigkeit verursacht mir ein bohrendes Ärgergefühl im Bauch:
"Ich will die Viecher da unten einmal etwas ärgern."
Ondar sieht mir nach, als ich an den Wurzeln soweit herunterklettere, bis ich dicht über der Wasserlinie bin. Dann ziehe ich mein Schwert und ziehe es mit schnellem Schwung durch das Wasser über dem Floß. Dabei schneidet die Klinge durch die Körper dieser zahllosen, herumwuselnden Wesen.
Ich spüre überhaupt keinen Widerstand. Als ob man das Schwert durch klares Wasser zieht. Allerdings zerschneide ich offenbar viele dieser Tiere, denn das Wasser färbt sich schnell grünlich und trübe. Schon nach kurzer Zeit können wir unser Floß nicht mehr erkennen, und von diesen Tieren auch kaum noch etwas.
"Ich denke, die sind doch harmloser als wir dachten!" rufe ich zu Ondar herauf. Dabei wische ich mein Schwert über Wurzelkanten wieder leidlich trocken und steige zu meinem Platz hinauf. "Jetzt will ich erst einmal abwarten, bis das Wasser wieder klar wird. Mal sehen, was ich geschafft habe."
Ondar nickt: "Ich denke auch, daß diese Tiere nicht gefährlich sind. Hätte man früher ausprobieren sollen."
"Es gibt kühne Seefahrer und es gibt alte Seefahrer, aber es gibt sehr wenig kühne alte Seefahrer." bemerke ich. Schließlich können auch Lebewesen mit einem wenig massiven Körperbau unangenehm sein - ich brauche nur an gewisse Quallenarten zu denken, die wir sogar in den gemäßigten Gewässern von Nord- und Ostsee kennen. Wir beobachten aufmerksam das Wasser.
Die Strömungen in diesem flachen Ufergelände sind sehr gering. Es dauert lange, bis das Wasser wieder einigermaßen klar wird.
"Ein paar sind immer noch da!" sagt Ondar.
"Dann sind sie dumm. Ein durchschnittliches Raubtier hätte längst gemerkt, daß von uns eine Gefahr ausgeht, wenn wir so viele von ihnen umbringen."
"Jedenfalls," sagt Ondar, "könnte ich mal auf das Ende des Floßes da steigen. Vielleicht fehlt wirklich nicht viel - vielleicht lockert es sich dann. Dann haben wir umsonst so lange hier gesessen!"
"Tu das." sage ich, "Ich mag mich nicht naß machen. Aber sei vorsichtig!"
Ondar klettert hinunter, steigt ins Wasser, tritt auf das Floß. Das Wasser geht ihm dabei bis zur Brust. Vorsichtig steigt er zum Heck des Floßes, wobei er wieder weiter aus dem Wasser herauskommt. Die Wesen, die das Floß umwirbeln, schwimmen jetzt auch um seine Beine herum, ohne ihn besonders zu stören.
Er muß die Wurzeln loslassen, um auf das Heck des Floßes zu gelangen. Als er dort angekommen ist, geht ihm das Wasser nur noch bis zur Hüfte.
"Es bewegt sich!" sagt er, "Wenn ich etwas wippe, dann könnte es freikommen!"
"Das ist das beste, was ich seit langem höre!" erwidere ich und sehe ihm weiter von meinem erhöhten Sitzplatz aus zu.
Ondar fängt an zu wippen. Es ist eine ineffektive Methode, das Floß loszuhebeln, weil durch das Wasser jede Bewegung gedämpft wird. Aber wenn die Einklammerung des Floßes nicht allzu fest ist, dann könnte es so gehen.
Ondar wippt minutenlang. Er behauptet mehrfach, daß er spüre, daß das Floß sich bewegt. Trotzdem ziehen seine Bemühungen sich hin. Derweil wird der Nebel noch dichter, und Buschgruppen, die wir vor einer Stunde von diesem Platz aus noch gesehen haben, entschwinden unseren Blicken.
Die Quallen-Schlangen-artigen Wesen sind immer noch im Wasser, aber sie werden von Ondar's Bewegungen weder sichtbar angezogen noch abgestoßen. Man könnte dahin kommen, sie ganz zu ignorieren.
"Jetzt rutscht es!" ruft Ondar. Gleichzeitig sehe ich, daß das Floß sich unter Wasser deutlich zur Seite bewegt. Ondar verliert das Gleichgewicht.
Gleichzeitig mit Ondar's Sturz ins Wasser taucht das Floß wie ein U-Boot auf. Beide Vorgänge führen zu einem rauschenden Wasserschwall. Das Platschen muß weithin zu hören sein. Das Floß stabilisiert sich schaukelnd auf der Wasseroberfläche und beginnt, vom Wurzelrad wegzutreiben. Ondar ist zeitweise unter der Wasseroberfläche verschwunden.
Träge laufen die aufgewühlten Wasserwellen davon, und Wolken von kleinen Blasen steigen an die Oberfläche. Ondar bleibt verschwunden. Ich warte einen Moment ab. Kann Ondar nicht schwimmen? Ich kann mich nicht erinnern, daß er etwas derartiges gesagt hat. Es ist schon möglich, daß man, wenn man im wesentlichen auf Casabones aufgewachsen ist, so etwas nicht lernt. Ich müßte mich jetzt aber schnell entscheiden, wenn ich ihm zu Hilfe kommen will.
Alles in mir spannt sich. Dort, unter der Wasseroberfläche, wo er verschwunden ist, ist nicht einmal schemenhaft etwas zu sehen. Da wir das Floß aber die ganze Zeit deutlich beobachten konnten, obwohl es ein bis eineinhalb Meter unter der Wasseroberfläche war, sollte man einen sich bewegenden menschlichen Körper hier noch in bis zu drei oder vier Metern Tiefe sehen können. Ich sehe aber nichts. Ondar ist spurlos verschwunden.
Panische Gedanken schießen mir durch den Kopf. Hat das auftauchende Floß ihm bei diesem Vorgang den Schädel eingeschlagen? Oder ist er unter das Floß geraten? Oder sollten da doch noch gefährlichere Tiere unter Wasser gelauert haben, die ihn jetzt schnell und effektiv erwischt haben? Das Floß ist jetzt sechs oder sieben Meter von dem Wurzelkranz, auf dem ich noch sitze, entfernt. Aber wegen der spiegelnden Wasseroberfläche und der Dunkelheit unter dem Floßrumpf kann ich nicht erkennen, ob dort ein menschlicher Körper ist. - Oder macht Ondar sich einen Spaß? Solche Ambitionen habe ich bei ihm bisher nicht bemerkt.
Er bleibt spurlos verschwunden. Das wird mir jetzt klar. Genauso klar wird mir aber auch, daß es höchst gefährlich für mich wäre, hinter ihm herzutauchen, solange ich nicht definitiv weiß, was ihn daran hindert, wieder aufzutauchen.
Die Sekunden verrinnen. Immer noch könnte er am Leben sein. Noch ist nicht mehr als die Zeitspanne vergangen, die ein Mensch die Luft anhalten kann. Ist er in einem tödlichen Kampf mit einem Ungeheuer der Tiefe verwickelt? Aber dann müßte man doch irgend etwas sehen! Er müßte sich wehren und zappeln, und irgendwelche Wirbel würden die Wasseroberfläche erreichen! Aber abgesehen von den davoneilenden Wellen flacht sich die Wasseroberfläche überall wieder ab. Darin liegt eine entschiedene Endgültigkeit, deren Überzeugungskraft ich mich kaum entziehen kann.
Ich muß mir eingestehen, daß das davontreibende Floß mir mehr Sorge macht. Denn wenn Ondar jetzt nicht wieder auftaucht, dann muß ich irgendwie durch das Wasser, um wieder zu unserem Floß zu gelangen. Und dann kann mir ja dasselbe passieren, was Ondar jetzt widerfahren ist.
Jetzt beginnt es auch noch zu regnen, und die zahllosen Kreise, die die auf das Wasser aufschlagenden Regentropfen verursachen, machen eine Beobachtung von Dingen unter der Wasseroberfläche noch schwerer. Das Floß ist in etwa acht Metern Entfernung gegen einen Busch getrieben und bleibt dort bewegungslos liegen. Hätte es eine nur geringfügig andere Richtung eingeschlagen, dann wäre es gegen das nahestehende Gebüsch getrieben, zwischen dem und dem Wurzelkranz wir durchwollten. Dann wäre es jetzt nur einen Schritt weit entfernt.
Bis auf den Regen gibt es keine andere Quelle einer Bewegung mehr. Bald rauscht der Regen so massiv herunter, daß sogar die ferneren Stimmen des Urwaldes davon überdeckt werden. Der Eindruck einer zeitlosen Ereignislosigkeit macht sich breit. Die Welt hat es nicht zur Kenntnis genommen, daß hier wahrscheinlich gerade ein Mensch umgekommen ist.
Ich stehe auf der höchsten Stelle des Wurzelkranzes, sehe mich um, horche, immer noch in der Hoffnung, daß Ondar sich eine Art Scherz geleistet haben könnte und jetzt plötzlich aus einer ganz unerwarteten Richtung wieder auftaucht. Ich schwanke zwischen dem Vorsatz, ihn in dem Falle dafür zu rügen, oder das Ganze mit einem erleichterten Lachen zu übergehen. Völlig irrationaler Gedanke: Mit welchem Vorsatz könnte man die himmlischen Mächte wohl am besten bestechen, um Ondar lebend wiederzusehen? Inzwischen sind viele Minuten vergangen - zu viele, als daß er die ganze Zeit unter Wasser und noch am Leben sein könnte.
Vielleicht war es etwas ganz Harmloses? Er ist, nachdem er in das Wasser gestürzt ist, zu tief getaucht und hat sich am Grunde irgendwie verklemmt. Dann hätte ich ihn notfalls befreien können. Oder er ist einem plötzlichen Kreislaufversagen erlegen - auch nicht zu unwahrscheinlich, bei dem durchschnittlichen Gesundheitszustand der Meuterer. So viele Möglichkeiten. Kaum eine davon für ihn günstig.
Oder ist er irgendwo, weit entfernt, aufgetaucht? Kann er so gut unter Wasser schwimmen? Dann muß ich ihm wenigstens ein akustisches Signal zukommen lassen.
"Ondar!" rufe ich, so laut ich kann. Dabei habe ich den Eindruck, daß der Regen diesen Ruf nicht weiter als ein paar Dutzend Meter durchläßt. "Ondar! Antworte!"
Und immer wieder, in minutenlangen Abständen, rufe ich.
Um 15:15 Uhr ist es passiert. Es wird 15:30 Uhr, 15:45 Uhr, und dann 16 Uhr. Eine dreiviertel Stunde ist vergangen. Ondar ist nicht wieder aufgetaucht, weder tot noch lebendig. Und zahllos sind die Rechtfertigungen, die ich mir ausdenke, weil ich nicht sofort heldenhaft hinterhergehechtet bin, um ihm in einer mißlichen Lage zu helfen.
Und da drüben das Floß. Lächerliche acht Meter entfernt. Eine harmlose, regengekräuselte Wasserfläche, unter der irgend etwas lauern kann, was Ondar den Tod gebracht hat. Wie soll ich da hinüber kommen? Und wenn ich es einfach täte, und mir passierte nichts, wie soll ich dann vor mir rechtfertigen, ihm nicht zur Hilfe gekommen zu sein?
Unsere Stakstangen stecken noch in den Ritzen des Floßes, weil wir, als der Baum sich drehte, gerade die Ruder verwendet hatten. Beide Ruder und beide Sitzblöcke haben wir verloren, aber sie schwimmen in Sichtweite. Mit den Händen könnte man hinpaddeln und sich wenigstens die Ruder holen. Kein Problem, sowie man erst einmal das Floß erreicht hat. Acht Meter. Soll ich dahin schwimmen?
Ich muß am Leben bleiben, denke ich. Ich muß Irene finden und uns den Weg aus dieser Welt hinaus ermöglichen. Gewissensbisse wegen irgendwelcher Dinge, die ich, um das tun zu können, in dieser Welt angerichtet habe, sind eigentlich meine Privatangelegenheit. Ich wollte Ondar nicht umbringen. Aber wenn meine Untätigkeit ein Faktor zu seinem Tod war, dann entbindet mich das nicht von meiner Verpflichtung Irene gegenüber. Ich muß am Leben bleiben.
Wie hättest du gehandelt, Charmion? Ja, wahrscheinlich, mit deinen Fähigkeiten - du wärst hinterhergesprungen, und jenem Wesen, daß Ondar da unten in Schwierigkeiten gebracht haben könnte, wäre das schlecht bekommen. Ihr hättet in Blut gebadet, aber es wäre nicht euer Blut gewesen. Ich erinnere mich noch, wie du diesen Fischsaurier in dieser Schlucht erledigt hast, ganz alleine! Was sind wir für dumme, hilflose Buben gegen dich, Charmion. Und doch, ich lebe. Und nicht du.
61.4 Das Bergen des Floßes
Ob man das Floß irgendwie zu sich heranziehen kann? Ich sehe mich um. Was könnte man dazu verwenden? - Ich finde nichts geeignetes. Einen Moment lang denke ich an ein langes Rindenstück aus dem Baum, auf dessen Wurzelkranz ich sitze. Aber die Oberfläche dieses Holzes sieht nicht geeignet aus. Und das Stück müßte ja wenigstens acht Meter lang sein.
Ich steige von Wurzel zu Wurzel hinunter zur Wasserfläche. Von den glibberigen, flinken Lebewesen ist jetzt nichts zu sehen - für die war wohl unser unter Wasser festgehaltenes Floß am interessantesten.
Ich tauche ein Bein ein, langsam und behutsam. Nichts. Warmes Wasser, warm wie Urin, bloß sauberer - abgesehen davon, daß sich in Urin nicht so viele Lebewesen herumtreiben wie in diesem Gewässer.
Ich ziehe mein Schwert, tauche Arm und Schwert ebenfalls ein. Der Plan, der mir vorschwebt, ist, mit sparsamsten Bewegungen schwimmend den Abstand bis zum Floß zu überwinden, dabei immer das Schwert unter mir führend. Vielleicht kann ich so dem entgehen, was Ondar widerfahren ist, wenn es sich überhaupt um den Angriff eines Tieres handelte, und wenn es doch angreifen sollte, dann bin ich nicht ganz wehrlos und etwas vorbereitet.
Ich lasse immer einige Minuten vergehen, bevor ich meinen Körper weiter eintauche. Manchmal fühle ich leichte Berührungen - Kleinlebewesen, die mich an den unerwartesten Stellen berühren, am Bauch, oder, noch unangenehmer, unter dem Lederstreifenrock am Hoden oder an der Innenseite der Schenkel. Wahrscheinlich nicht gefährlich. Trotzdem habe ich viel Überwindung gebraucht, bis ich bis zum Hals im Wasser drin bin.
Ohne loszulassen probiere ich einige stärkere Bewegungen, so, wie ich sie schwimmend auch machen muß. Wenn etwas angreifen sollte, dann wäre es besonders angenehm, wenn das schon geschähe, solange ich noch die Möglichkeit habe, mich rasch wieder in die Wurzeln über mir zu retten.
Als auch nach wenigen Minuten nichts geschieht, entscheide ich mich, loszulassen. Mit ungelenken, gedämpften Bewegungen treibe ich auf das Floß zu. Niemand schwimmt elegant, wenn man ein Schwert unter sich halten muß. Ich umklammere es fast schmerzhaft, ich bilde mir ein, den Wunsch zu haben, zu töten, in der plötzlichen, albernen Vision, in dieser Welt könnte ein anderes Wesen diesen Vorsatz telepathisch wahrnehmen und sich deshalb zurückhalten. Aber würde das nicht auch bedeuten, daß meine Angst genausogut wahrgenommen würde?
Die Wasserlinie ist um mein Kinn herum, zwei Zentimeter unter meinem Mund. Ich mache weniger hohe Wellen. Das ist schon ganz gut. Aber ohne das Schwert könnte ich das lautlose 'Geheimdienstschwimmen' wohl noch besser vorführen. Viele Lebewesen, auch in unserer Welt da oben, sind darauf spezialisiert, noch wesentlich schwächere Wasserbewegungen, Druckschwankungen und Geräusche wahrzunehmen.
Die Hälfte geschafft. Auch der Abbruch des Vorhabens würde jetzt nur nach vorne führen. Da berührt etwas meinen linken Fuß. Es wiederholt sich nicht, aber in mir verkrampft sich alles: Treibendes Holz unter Wasser? Ein Tier? Harmlos, oder nicht harmlos? Oder war es der Grund? Oder Ondar's Leiche? Noch drei Meter bis zum Floß.
Eine lächerlich geringe Entfernung. Ich bin schneller da als es mir noch Sekunden zuvor scheinen will. Trotzdem muß ich den Impuls unterdrücken, mich hastig auf das glitschige Floß hinaufzuziehen und durch heftige Bewegungen noch in letzter Sekunde das Unheil auf mich zu ziehen. Träge und zäh stemme ich mich auch den Floßrand. Wenig später: Aufatmen, nachdem ich vollständig aus dem Wasser raus bin. Fast ist es wie eine Ankunft in der sicheren Heimat, die Besteigung dieses kleinen Floßes!
Ich wische das Schwert trocken und stecke es wieder in die Scheide. Schon kurze Zeit später habe ich die beiden Ruder geborgen. Dann manövriere ich das Floß noch einmal über die Stelle, wo ich die Berührung am Fuße gespürt habe. Der Regen läßt immer noch keine klare und ruhige Wasseroberfläche zu, aber wenn ich mein Gesicht ganz dicht über die Wasserfläche halte, dann kann ich etwas besser in die Tiefe sehen, weil der graue Himmel nicht im Wasser gespiegelt wird.
Es ist sehr unklar, ob und was ich da sehe. Mehr vor meinem geistigen Auge erwarte ich die schemenhafte Vision einer am Grunde festgehaltenen Leiche, die zu mir heraufwinkt, bewegt durch schwache Wasserströmungen. Aber so eine in einem Abenteuerfilm sicher sehr wirksame Beobachtung mache ich nicht, ich sehe genaugenommen überhaupt nichts Definitives.
Ondar bleibt verschwunden.
"Okay, Ondar. Ich muß jetzt weiter. - Es tut mir so leid." sage ich, obwohl niemand es hören kann. Dann paddele ich langsam in die Richtung weiter, in die wir uns vor wohl über acht Stunden bewegt haben, als uns dieses Mißgeschick passierte. Es ist 17 Uhr. Sinnlos, länger hierzubleiben. Ich kann nichts mehr tun. Das ist jetzt Ausrede und Tatsache zugleich.
61.5 Zurück an Bord
Es dauert eine ganze Weile, bis ich wieder die offene See zu sehen bekomme - soweit man bei dem Nebel von 'offen' sprechen kann. Dann lenke ich das Floß wieder nach rechts, um die ursprüngliche Richtung einzuschlagen, nämlich an der Küste entlang. Wir wollten ja die Einfahrt zu einer Wasserstraße finden. Und immer wieder denke ich mir Szenarien aus, nach denen Ondar, unbemerkt von mir, doch irgendwie überlebt haben könnte. Das aber würde neue Probleme aufwerfen, denn dann wäre ich doch zu einer massiven Suchaktion verpflichtet, und zwar jetzt gleich. Und dafür erscheint mir diese Möglichkeit doch wieder zu unwahrscheinlich.
Warum trauert man denn um einen Menschen? Ist es mehr das Selbstmitleid, weil man die Gegenwart des betreffenden Menschen nicht mehr erfährt? Zweifellos ist das ein wesentlicher Faktor in meiner Trauer über Charmion's Tod. Bei Ondar ist es jetzt etwas anderes: Wir haben in den letzten Stunden soviel miteinander gesprochen, und ich bilde mir ein, daß ich, mühsam, einige Ideen in sein Bewußtsein gepflanzt habe. Ideen, die er hätte weitertragen können, Ideen, von denen ich glaube, daß sie in etwa in Richtung auf eine humanere Welt zielen. Ideen, die, weil ich sie vermittelt habe, irgendwie ein Stück von mir sind. Es ist ja so selten, daß ich mit einem Bewohner dieser Welt eingehend über viele Dinge rede. Ondar versprach, ein guter Gesprächspartner zu werden - nach der üblichen, zivilisatorischen Definition von 'Gesprächspartner': Einer, der mehr zuhört als etwas sagt.
Aber diese Ideen und Visionen, die ich - vielleicht - in ihm erweckt habe, sind mit ihm gestorben. Der mikroskopische Missionsversuch in der Welt der Granitbeißer ist folgenlos erloschen. Einfach so. Ein Funke in einem regennassen Wald - der Funke hatte keine Chance. Naja, es war nicht nur bei Ondar so, auch mit Charmion habe ich über viele Dinge geredet, die nun mit ihr auch für immer verschwunden sind.
Und ich, der ich noch lebe, habe ich etwas übernommen, was erhalten werden muß? Habe ich doch schon mehrfach behauptet, daß die Lebensweise der Granitbeißer vielleicht die beste Lebensform für eine Gesellschaft in der Welthöhle ist, die passende Antwort der Evolution auf die hiesigen Umstände, die Antwort auf die Frage, welche Formen der Existenz hier möglich sind. Vielleicht. Glauben tu ich es bis jetzt nicht. Menschenfresserei geht mir immer noch gegen den Strich, und viele andere Gepflogenheiten der Granitbeißer auch. Bei aller Liebe zu Charmion. Ich habe von den Granitbeißern noch nichts gelernt. Da ist keine Gerechtigkeit im wechselseitigen Transfer von Ideen gewesen. Die Arroganz des Missionars, ist das nicht meine Haltung?
Und aus welchen anderen Gründen trauert man um einen Menschen? Wenn man zuwenig dazu getan hat, ihn zu retten, oder wenn man sogar noch bei seinem Ende mitgewirkt hat, und sei es nur aus purer Tollpatschigkeit. Das hinterläßt einen bitteren Geschmack. Zum wievielten Male ist mir das jetzt passiert? Und dennoch, auch der bittere Geschmack ist nur ein kleiner Preis für das Privileg, noch am Leben zu sein.
Die Ufergewässer sind so flach, daß ich noch häufiger wieder unsicher werde, was die richtige Richtung betrifft. Es ist einfach so, daß man von einem bestimmten Punkt aus nicht weit genug sehen kann, um zu bestimmen, wo und in welcher Richtung der Bewuchs auf dem Wasser in Dichte und Höhe abnimmt, und wo man also mit gutem Grund die Richtung auf die offene See hinaus vermuten kann. Wenn man sich mit dem Floß bewegt, dann allerdings kann man schon im Laufe der Zeit eine Änderung der Dichte des Bewuchses bemerken, der Schluß, den man daraus ziehen kann, ist aber nur der, daß man sich entweder weiter auf die See hinaus bewegt, oder daß man sich dem Ufer nähert. Genauere Kursangaben kann man damit gar nicht machen. Erst, wenn man einen gewundenen Kurs verfolgt und sich diesen vermöge eines guten, räumlichen Vorstellungsvermögens, wie ich es habe, und trotz des Nebels gut bildlich vorstellen kann, dann kann man aus der sich ändernden Dichte des Bewuchses die Richtung der Küstenlinie einigermaßen plausibel erraten. Das alles ist aber Makulatur, wenn die Küstenlinie nicht gerade ist, und wenn die Tiefenzunahme in Richtung auf das offene Meer hinaus nicht regelmäßig genug ist.
Beides dürfte hier der Fall sein. Das alles macht die Navigation zunehmend so außerordentlich schwierig, daß ich mit dem Gedanken spiele, zu den Schiffen zurückzukehren. Das tue ich auch insbesondere deshalb, weil es jetzt nicht einmal mehr sicher ist, ob mir selbst das Zurückkehren gelänge.
Da höre ich Stimmen. Die Richtung ist noch unbestimmt, so daß ich nicht darauf zu halten kann. Die Schiffe können es nicht sein, denn daß ich dahin unbemerkt zurückgekehrt bin, ist unwahrscheinlich, weil in der Nähe der Schiffe die Küstenlinie definierter auszumachen war als hier.
Außerdem kann ich nicht völlig die Möglichkeit ausschließen, daß es sich um ganz andere Menschen handelt, etwa um Bewohner dieser Sumpfgebiete. Ich sollte vorsichtig sein, denn ich habe nicht die Absicht, meinen sozialen Kontext durch eine erneute Gefangennahme meiner Person schon wieder zu ändern, gerade jetzt, wo ich Kapitän geworden bin und wir auf einem Wege sind, der mich wieder zu Irene bringen wird.
Gespannt lausche ich in den Regen hinaus. Kenne ich die Stimmen? Vielleicht sucht man uns - wir haben uns ja lange genug aufgehalten.
Es sind keine Fremden. Noch verstehe ich die Worte nicht, aber ich glaube, Okr und Oios an ihren Stimmen zu erkennen. Sowie ich eine ungefähre Vorstellung von der Richtung habe, schiebe ich mein Floß auf die Stimmen zu. Dann bin ich aber auch wieder beunruhigt: Wenn sie uns tatsächlich suchen, warum rufen sie dann nicht nach uns?
Es sind Okr und Oios. Zuerst sehe ich die beiden Schatten im Nebel, bevor ich das Floß erkennen kann, auf dem sie stehen. Wir treffen uns etwa im rechtem Winkel, so daß sie mich und ich sie jeweils schräg voraus sehen. Sekunden später liegen unsere Flöße aneinander.
"Wo ist Ondar?" fragen sie als allererstes, und ich erkläre die Geschichte. Aufmerksames Zuhören, aber kein Vorwurf. Sie wollen aber zum Ort des Geschehens, um sich das selbst anzusehen, und ich soll sie hinführen. Noch bevor wir uns auf den Weg machen, erzählen sie mir, daß sie auf ihrer Seite des Ankerplatzes der Schiffe keine Einmündung einer Wasserstraße gefunden haben. Deshalb haben sie, als sie zu den Schiffen zurückkehrten, mit Selbstverständlichkeit angenommen, daß wir, also Ondar und ich, die Wasserstraße noch finden würden. Umso beunruhigter war man, als wir nicht wieder auftauchten. Deshalb haben sich Okr und Oios nach Stunden ein zweites Mal auf den Weg gemacht, um uns zu suchen.
Ich versuche, sie zu dem Ort unseres Unfalls zu führen. Das ist sehr schwer. Ich erkenne nichts wieder. Vielleicht sind wir einen halben Kilometer von der Stelle entfernt, und dann wird uns zufälliges Suchen nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit zu dem Platz hinführen.
Wir geben bald auf. Okr hat noch einige Vermutungen, denen nachzugehen für mich wahrscheinlich sehr peinlich wäre. Zum Beispiel: Kann es sein, daß Ondar sich in dem unter Wasser liegenden Teil des Wurzelkranzes verfangen hat, in einem dunkleren Winkel desselben? Das würde erklären, warum ich ihn nicht gefunden habe, nämlich, weil ich ihn dort nicht gesucht habe, andererseits hieße das auch, daß ich ihm doch mit geringem Aufwand hätte helfen können, wenn ich diese Idee rechtzeitig gehabt hätte.
Wir entschließen uns, daß ich zum Schiff zurückrudere, während Okr und Oios weiter den Eingang der Wasserstraße suchen. Sie sagen beide, daß das das beste ist, weil sie jetzt sehr gut miteinander eingespielt sind. Dem kann ich nicht widersprechen.
Und so rudere ich mein Floß zurück, bemüht, nicht noch einmal die Orientierung zu verlieren. Allein, einen verlorenen Mitstreiter und Freund zurücklassend, und mit nicht erfülltem Auftrag.
Ein Verlierer.
61.6 Prügelstrafe
Natürlich muß ich auch Osont die ganze Geschichte erzählen. Er hört es sich von Anfang bis Ende an, aber es ist nicht zu erkennen, welche Schlüsse er daraus zieht. Danach verbringen wir die Zeit im wesentlichen damit, auf die Rückkehr von Okr und Oios zu warten. Ich hoffe nur, daß sie auch tatsächlich zurückkommen. Denn sonst müßte ich wieder hinaus. Im Moment fühle ich mich aber gar nicht dazu in der Lage, irgendwelche halben Heldentaten zu vollbringen. Ich gehe auf meinem Schiff ruhelos auf und ab und starre auf das Wasser hinaus. Niemand von der Mannschaft spricht mich an. Ob sie es schon wissen? Und wie sie es wohl bewerten? Ich glaube, ihre Blicke im Rücken zu spüren.
Als ich wieder einmal zum Heck der MARY CELESTE gehe, sehe ich in der schmalen Lücke, die zwischen Deckshaus und aufgestapeltem Bauholz freigelassen wurde, eine kurze, heftige Bewegung, als ob sich jemand vor mir verbirgt. Mehr aus diffusem Pflichtgefühl denn aus alarmierter Neugier trete ich näher. In einer weiteren Lücke zwischen den Holzstapeln sehen ich Olch und Odzden, einen jungen Mann, der mir bisher noch überhaupt nicht aufgefallen ist, weder positiv noch negativ, in eindeutig homosexuell kopulierender Stellung. Olch hat Odzden von hinten bestiegen, und während er ihn mit kaninchenartig flinken Stößen penetriert oder das noch vor wenigen Sekunden getan hat, hält er ihm ein Messer unter die Kehle, um seine schweigende Kooperation sicherzustellen.
Das geht mir zu weit. Es ist nicht genau der Charakterzug Olch's, vor dem Ondar mich gewarnt hat, aber dieses ist mir genauso zuwider. Augenblicklich spüre ich meine eigenen Aggressionen aufwallen.
"Was geht hier vor?" brülle ich, so daß man es über alle Schiffe hinweg hören muß. Beide halten still, sehen mich entsetzt an.
"Ochaum! Zu mir! Ihr bleibt so, wie ihr jetzt seid! Keine Bewegung!"
In wenigen Sekunden steht Ochaum neben mir, sieht die beiden an und zeigt dabei deutlich weniger Bestürzung als vielleicht ich. Nicht einmal das Messer unter Odzden's Kehle, das das Überschreiten zur rohen Vergewaltigung definitiv markiert, scheint ihn aufzuregen. Eine Privatangelegenheit zwischen Olch und Odzden, na und?
"Habe ich dich zum stellvertretenden Kommandanten dieses Schiffes ernannt oder nicht?" frage ich Ochaum.
"Ja." sagt dieser kurz und unsicher.
"Vielleicht ist es meine Schuld, daß ich nicht genügend klargemacht habe, daß ich solche Szenen nicht wünsche! Niemand auf diesem Schiff wird einen anderen mit vorgehaltener Waffe zu irgend etwas zwingen! Ist das klar?"
"Ja."
"Gut. Damit sich dieses auch allen einprägt, wird von jetzt an, beginnend mit diesem Fall, ein derartiges Verhalten mit Auspeitschen geahndet. Im ersten Wiederholungsfall wird der Täter dann an den Mast geschlagen, bis er stirbt. Ist diese Regel leicht genug merkbar, oder soll ich es noch einmal wiederholen?"
Ochaum nickt nur kurz. Auf Olch's Gesicht malt sich Angst. Mit so einem Ausgang einer für ihn vielleicht routinemäßigen Kameradenvergewaltigung hat er nicht gerechnet.
"Sorge dafür," schärfe ich Ochaum ein, "daß die Mannschaft sofort zu einer Bestrafung antritt. Vollzählig. Dann gibst du den Grund und die zukünftige Regelung bekannt. Ist das verstanden?"
Ochaum nickt wieder. Er sieht drein, als wäre er der ertappte Täter.
"Das Strafmaß sind hundert Schläge, mit einem Tauende auf den nackten Rücken. Wenn der Delinquent sich der Strafe zu entziehen sucht, wird er gleich an den Mast geschlagen. Und nun geh und tu, was ich gesagt habe."
Ich bin mir wohl bewußt, daß ich so einige rechtsstaatliche Gepflogenheiten umgehe. Zum Beispiel die Strafbarkeit einer Handlung nur, wenn zum Zeitpunkt ihrer Ausführung die Handlung bereits unter Strafe stand, und dieses 'Gesetz' im Prinzip von jedem gewußt werden kann. Dann wäre ja auch die Einführung einer Art Gerichtsverfahren angebracht. Das, was ich hier mache, ist eher als eine Art Standgericht zu bezeichnen, bloße Willkür gewissermaßen. Andererseits habe ich den Eindruck, daß eine Verhandlung bei dieser klaren Sachlage den Männern nur wie ein überflüssiger Zirkus vorkäme. Um solche Dinge zu verhindern, scheint mir die sofortige, drakonische Strafe angemessen.
Und vielleicht, wenn ich ehrlich bin, ist das eine Ablenkung für mich. Der alte Reflex: Ich mag zwar durch Unfähigkeit und falsche oder zu späte Reaktionen zu Ondar's Tod beigetragen haben. Aber hier wurde ein Besatzungsmitglied durch ein anderes tätlich bedroht und zum homosexuellen Coitus gezwungen. Vielleicht, auch das ist möglich, war Odzden so unwillig nicht, und das Messer spielte in seiner Überredung zu diesem Akt keine wesentliche Rolle mehr. Aber das untersuche ich jetzt nicht. Das Messer ist das Kriterium.
Auf meinem Schiff wird keine Vergewaltigung mehr stattfinden. Jedenfalls nicht so.
Ochaum läuft schuldbewußt herum und trommelt alle Mannschaftsmitglieder zusammen. Dabei kann er am allerwenigsten dafür, denn auch er kannte bis vor kurzem noch nicht diesen Aspekt meiner Vorstellungen von Recht und Ordnung. Olch und Odzden, inzwischen längst getrennt, stehen auch schon wie belämmert auf dem freien Platz zwischen Deckshaus und vorderem Mast. Ich bemerke, daß uns die Leute von den anderen Schiffen aus zusehen. Auch Osont sieht aus seinem Ruderhaus interessiert herüber.
Ochaum macht seine Sache gut, dafür, daß es das erste Mal ist, daß er eine solche Bestrafungsaktion leitet. Zwar hat er selber noch Unterscheidungsschwierigkeiten, und entsprechend holprig klingt seine Erläuterung den eng zusammenstehenden Männern gegenüber, was denn nun eigentlich das Verwerfliche an dieser Tat gewesen ist. Deshalb befrage ich, vor den Ohren aller, Odzden noch einmal, ob Olch ihm wirklich ein Messer unter den Hals gehalten hat. Als er das bejaht, nicke ich Ochaum zu. Dieser läßt Olch an den Mast binden, Rücken nach außen. Dann befrage ich Olch, welche Rechtfertigung er für sein Verhalten hat. Er schweigt, und ich fürchte, daß er ebenfalls noch nicht genau genug weiß, was denn nun eigentlich das Verwerfliche an seinem Vergehen war.
"Mannschaft bleibt angetreten bis zum Ende der Bestrafungsaktion!" sage ich laut, als ich sehe, daß einer wieder gehen will, "Wer ist der kräftigste?"
Niemand will der kräftigste sein. Ich bestimme einen. Ochaum gibt ihm das ausgesuchte Tauende in die Hand. Alle treten soweit zurück, daß der Mann mit seinem Tauende weit genug ausholen kann.
Ob die Strafe zu hart ist? Hundert Schläge, gut und fest plaziert, können einen Mann umbringen. Aber der Beauftragte hat noch nie jemanden auspeitschen müssen, und entsprechend ineffektiv sind seine Schläge. Ochaum muß ihm mehrfach ermahnen, fester zuzuschlagen, während er laut mitzählt. Beide kommen außer Atem.
Olch verbeißt sich das Schreien eine ganze Zeit lang. Aber bald fließt aus vielen Abschürfungen in seinem Rücken Blut, und er stöhnt so laut, daß es auch auf den anderen Schiffen hörbar ist.
Die letzten zwanzig bis dreißig Schläge sind, der Erschöpfung wegen, sehr schwach. Trotzdem, die Lektion werden sich alle merken. Olch wird losgebunden.
"Herhören," sage ich, "vielleicht haben es noch nicht alle gemerkt. Wir haben noch viele Gefahren vor uns. Gerade demnächst, wenn dieses Schiff die Vorhut in der Wasserstraße, die wir befahren müssen, übernehmen wird. Diese Gefahren werden wir nur bewältigen, wenn wir alle zusammenstehen. Besonders an uns wird es liegen, ob wir viel oder wenig oder gar keine Verluste haben werden. Alle für einen, einer für alle. Niemand, ich wiederhole, niemand darf einen anderen angreifen oder mit einer Waffe bedrohen. Das ist Kameradenschändung. - Wenn einer der Herren meint, die Gepflogenheiten, die von jetzt an auf diesem Schiff üblich sein werden, seien für ihn zu hart und nicht auszuhalten, dann kann er jetzt gehen. Jetzt gleich. Bitte. Ich halte niemanden auf. Er kann auf ein anderes Schiff gehen, und jemand anderes wird von dort zu uns kommen. Will jemand gehen?"
Ich sehe mich um, von einem zum anderen. Keiner rührt sich.
"Gut. Bestrafung ist zu Ende. Ochaum - laß die Leute wegtreten. Außerdem möchte ich, daß das Deck sauber gemacht wird!" Ich deute auf die Blutspuren auf den Decksbalken und das blutige Stück Tau. "Wie sieht denn das aus?"
Olch, der sich in merkwürdig verkrümmter Haltung an den Mast stützt, sieht mich mit einer Mischung von Haß, Unsicherheit und Angst an. Alle anderen sind schweigsam, und die, die Ochaum zum Deckschrubben einteilt, gehen ihrer Arbeit geschwind und unverzüglich nach.
War es richtig, wie ich es gemacht habe? So eine Pseudomischung von militärischer Disziplin und echtem Teamgeist einzuführen, daran könnten auch andere, Berufenere scheitern, Leute, die zur Führung besser geeignet sind als ich. Ich habe nie behauptet, daß das mein Kompetenzgebiet ist. Ich hätte es mir eigentlich auch nicht ausgesucht. Aber jetzt habe ich dieses Schiff. Ich muß das beste draus machen. Die einzige Möglichkeit, die ich habe, denke ich, ist, ein extrem strenges aber gerechtes Regiment zu führen. Wer seine Arbeit macht und über wen niemand Klage führt, der soll von mir nichts zu befürchten haben. Ich muß sicherstellen, daß allen das ungefähr klar ist.
Wie es allerdings in dieses schöne Bild paßt, daß ich Ondar auf einer gemeinsamen Mission verloren habe, das kann ich den Leuten auch nicht sagen. Welche Gerüchts-Variationen darüber bereits umlaufen, davon weiß ich nichts. Und als Vorgesetzter erfährt man solche Dinge auch nicht. Mit der Aufgabe der Schiffsführung bin ich ziemlich allein.
Ich denke darüber nach, daß man in der Gesellschaft der Granitbeißer im wesentlichen nur zwei gesellschaftliche Positionen haben kann: Die des Führenden und die des Geführten. Das Verhältnis von Mitbürgern untereinander, die einander nichts vorzuschreiben haben, wie es bei uns oben das normale ist, das gibt es hier nicht oder fast nicht. Vielleicht ist das zu vereinfacht gesehen. Aber wenn diese Einschätzung richtig ist, dann hat man, wenn man sein eigenes Leben weitgehend ohne Fremdeinmischung gestalten will, hier keine andere Möglichkeit als zu den Führenden zu gehören. Das heißt aber auch, daß das Bestreben, genau dieses zu erreichen, das Hauptkriterium für das Verhalten der meisten Menschen hier sein muß. Der Wille zur Führung, den man vielleicht auch als den Willen zur Macht bezeichnen kann, den ich in vielen Fällen bei uns oben als einen Charakterfehler einstufe, da Machtwille oft ohne die Vision einhergeht, was man denn nun eigentlich mit der Macht anfangen kann, sowie man sie hat, dieser Wille zur Führung ist hier die einzige Möglichkeit, sich die anderen Zeitgenossen vom Leibe zu halten. Wenn man nicht als Einsiedel leben will.
Es ist bald 23 Uhr. Schlafperiode. Als ob sie sich danach gerichtet hätten, tauchen Okr und Oios mit ihrem Floß an der Bojenleine auf.
Wenigstens eine gute Nachricht heute: Sie haben die Mündung einer Wasserstraße gefunden. Nach ihren Beschreibungen vielleicht zwei Kilometer weiter hinter dem Punkt, wo ich sie getroffen habe, aber diese Einschätzung ist natürlich ungenau.
Damit wissen wir natürlich noch nicht, wie wir die Schiffe dahinbringen, aber der weitere Kurs ist wenigstens klar. Wenigstens ein Grund, in der nächsten Nacht ruhig zu schlafen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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