Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** 060. Tag: Dienstag 95-10-17 ********

60.1 Vor Anker vor der Sumpfküste

Eine halbe Stunde nach 0 Uhr trete ich meine Wache an. Immer noch sind wir in einem trüben Gemisch von Nebel und Regen, aber die Sicht ist um die zweihundert Meter, und es geht ein unmerkbar schwacher Wind, vermutlich sogar in die richtige Richtung. Ohne Sichtkontakt zu den nächsten Säulen und Inseln können wir das aber nicht mit Sicherheit sagen.

Ich verbringe meine Wache nicht nur im Krähennest. Unruhig gehe ich auf den Decks umher, von einem Schiff zum anderen, immer wieder von bestimmten Stellen die Aussicht vergleichend, um herauszukriegen, ob die Sicht besser wird oder nicht. Auch die Mastaufbauten auf den Schiffen am jeweils anderen Ende der zusammengebundenen Schiffs-Insel eignen sich dazu: Sind sie, in der geringen Entfernung, noch genauso durch den Nebel angegraut, oder hat ihre Farbsättigung zugenommen? Und auf welche Entfernung sieht man einem Gegenstand gerade an, daß er durch Nebel betrachtet wird? Welche von diesen Methoden ist die empfindlichste, um Änderungen in der Nebelstärke wahrzunehmen?

Ich bin nicht der einzige, der unruhig ist. Den mit mir zusammen zur Wache eingeteilten Mannschaften ist zwar anzusehen, daß sie sich am liebsten gleich irgendwo zum Schlafen hinlegen würden. Aber Osont taucht zu dieser frühen Stunde auf den Decks auf und schreitet sie genauso unruhig ab wie ich, ständig den Nebel und den Regen begutachtend. Er beredet sich nicht mit mir, weil er seine Entscheidungen vermutlich alleine treffen möchte.

Um 2 Uhr, dem normalen Ende der Schlafperiode, ist die Sicht auf 300 bis 400 Meter angewachsen. Dieser Wert schwankt zeitlich aber sehr stark - manchmal verhindern treibende Nebelbänke, daß man sich von den Krähennestern, die am weitesten voneinander entfernt sind, nicht sehen kann, dann wieder scheinen die nächsten Küstenstriche so gerade eben schemenhaft in Sicht zu kommen. Darüber liegen die Wolken jedoch schwer und undurchdringlich. Visuell könnte man im Moment auf keinen Fall feststellen, daß wir uns nicht auf der Erdoberfläche befinden.

"Der Wind geht immer noch in die richtige Richtung!" stellt Osont irgendwann fest. Er und ein paar andere, scharfäugige Männer glauben das aus den Andeutungen der nahen Küsten in den Nebellücken feststellen zu können. "Wir fahren ab!"

Die Vertäuung der Schiffe wird gelöst, dann werden die Schiffe voneinander weggedrückt, während die Segel gesetzt werden. Naß und schlaff hängt das Tuch in den Masten, ab und zu schaukelnd, wie versehentlich vom Winde berührt. Die Schiffe formieren sich träge, alle Manöver sind quälend langsam. Der geringen Windstärke wegen werden zunächst auch alle Segel gesetzt, auch die an den untersten Rahen.

Erst um 4 Uhr ist es uns gelungen, die beabsichtigte Formation anzunehmen. Als Führer des ersten Schiffes habe ich ständig einen Mann im Krähennest. Nach Möglichkeit möchte ich frühzeitig wissen, wo an der kommenden Küste ein Wasserweg ins Innere führt. Immer noch nimmt uns zeitweise der Nebel die Sicht. Über Minuten hinweg kann man glauben, daß wir ins völlig Ungewisse fahren. - Das tun wir natürlich auch, aber eine konkrete Küste vor dem Bug gibt immer ein bißchen die Illusion einer navigatorischen und situativen Sicherheit, obwohl es in diesem Fall genau umgekehrt ist: Die Nähe ganz besonders dieser Küste ist eher bedrohlich.

Weitere beunruhigende akustische Erlebnisse haben wir nicht. So dicht ist dieses Meer nun auch wieder nicht von Fischsauriern und anderen gefährlichen Großtieren bewohnt. Trotzdem bleiben wir auf der Hut, und es wird an Bord nur gedämpft gesprochen.

Besonders, als die Küste so um 5 Uhr allmählich deutlicher in Sicht kommt, legt sich eine bedrückte Stimmung auf die Besatzung. Natürlich hat sich herumgesprochen, auf was für eine Gegend wir zufahren und welche bekannten und unbekannten Gefahren dort wahrscheinlich zu erwarten sind. Das offene Meer war für die Moral besser, da man dort Gefahren schon von weitem sehen kann, jedenfalls, solange sich diese über Wasser befinden. In den beengten Wasserstraßen werden wir überhaupt nicht wissen, was uns in den nächsten Sekunden erwartet.

Ich bin jetzt selbst wieder häufiger im Krähennest. Es ist, wie ich erwartet habe: Wir fahren direkt auf eine flache Küste zu. Es gibt keine Strand, sondern die Trennungslinie zwischen Wasser und Land ist durch Schilf- und Busch-artige Gewächse gekennzeichnet. Dahinter sehe ich Inseln von baumhohen, dichtem Bewuchs, getrennt durch Flächen von Mooren und Sümpfen. Absolut weglos. Kein Durchkommen, weder zu Fuß noch mit kleinen oder großen Wasserfahrzeugen. So sieht es jedenfalls von hier aus. Und eine Einfahrt ist hier auch nicht, jedenfalls, soweit man das unter diesen Sichtverhältnissen überhaupt beurteilen kann.

Jedenfalls ist es nicht angezeigt, die Schiffe dort an der Sumpfküste auflaufen zu lassen. Ich lasse die Segel bergen. Kurz darauf geschieht auf den anderen Schiffen das gleiche. Die Anker werden gelegt und einige finden glücklicherweise auch Grund in einer Tiefe von bloß 200 Metern. Wir sind noch etwa einen halben Kilometer von der Küste entfernt, und weniger sollten es unter diesen Bedingungen nicht werden, auch, wenn wie normalerweise eigentlich üblich, nicht die dreifache Wassertiefe an Ankerkettenlänge ausgelegt werden kann.

Antriebslos kommen die Schiffe zu vollständigem Stillstand. Sie treiben zu einem unordentlich ausgerichteten Haufen zusammen, der auch nicht das schnelle Vertäuen zu einer Insel erlaubt. Das ist aber auch egal - die geringen Driftgeschwindigkeiten können keine Beschädigungen der Schiffe bewirken, wenn sie in Berührung kommen sollten, was jetzt auch ab und zu passiert.

Dann aber fliegen doch Seile. Osont scheint wieder mit einem längeren Aufenthalt zu rechnen. Zunächst werden sein Schiff und meines zusammengelegt, dann das Schiff hinter ihm und so weiter. Diesmal hat er allerdings eine neue Methode im Sinn: Die Schiffe sollen jeweils mit ihrer linken Heckseite an der rechten Bugseite des Nachfolgers liegen. Weil das neu ist, geht es nicht ohne viel Geschrei ab, was uns in der Nähe dieser fremden Küste eigentlich gar nicht recht sein kann. Das Ergebnis ist aber auch eine Konfiguration, in der man von Deck zu Deck schreitend jedes Schiff gut erreichen kann. Und diese langgestreckte Insel aus Schiffen kann man rascher aufbauen und wieder lösen, verglichen mit der parallelen Anordnung - jedenfalls, wenn man vor dem Zusammenbauen daran denkt, daß man die Rahen am Bugspriet längsdrehen muß.

Um 7 Uhr findet auf Osont's Schiff wieder eine Besprechung aller Schiffsführer statt. Osont ist sichtbar mißmutig. Schließlich ist es sein voreiliger Entschluß gewesen, trotz schlechter Sichtverhältnisse weiterzufahren. Als Resultat liegen wir vor einer Küste in auflandigem Wind und sind mit unseren Schiffen praktisch manövrierunfähig. Ob jetzt die Stunde meiner Kiele schlägt?

"Meine Herren, die Sicht wird allmählich besser. Aber das hilft uns nicht. Wir sind bereits da, wo wir nicht hinwollten. Wir haben die Einfahrt der Wasserstraße verfehlt, und unsere Karten sind so ungenau, daß wir noch nicht einmal sagen können, ob wir zuweit rechts oder zuweit links gefahren sind. Vielleicht können wir das feststellen, wenn wir gutes Wetter abwarten. Das ist jedenfalls ein machbarer Vorschlag. Gibt es weitere Vorschläge?"

Osont blickt in die Runde. Seltsam, aber warum kommt mir gerade jetzt, in diesem Moment, die Idee, daß er eigentlich nicht weiß, was er im Großen und Ganzen vorhat? Wie er wohl handeln wird, wenn wir mit unserer Flotte vor Grom auftauchen, und er ist sich immer noch nicht darüber klar geworden, was er eigentlich dort will? Meine Vermutung bezüglich eines künftigen Daseins als Seepiraten muß ja nicht richtig sein.

Andererseits sind wir jetzt auf ein Hindernis aufgelaufen, das wir überwinden müssen, um überhaupt weiterzukommen. Damit ist die Aufgabe konkret. Jetzt im Moment wenigstens. Vor Grom wird sie es vielleicht nicht mehr sein. Also eigentlich ist die Situation für Osont jetzt, im Angesicht von solchen Problemen, angenehmer. Wenn da nicht die traurige Tatsache wäre, daß es seine Anweisung war, die uns hierhergebracht hat, und wenn er nicht genau wüßte, daß uns jetzt die Kiele fehlen, und daß man ihm im Prinzip vorwerfen könnte, deren Bau nicht rechtzeitig in die Wege geleitet zu haben. Bin neugierig, ob und wie er versucht, dieses Thema zu vermeiden.

Okr meldet sich zu Wort: "Ist es gefahrlos möglich, längere Zeit hierzubleiben? Schließlich sind wir schon sehr nahe an der Küste, und jederzeit könnte sich ein Fischsaurier in unseren Ankerseilen verwickeln."

"So etwas können wir nirgends völlig ausschließen," meint Osont, "und andere Gefahren sehe ich hier nicht. Der Abstand zur Küste ist groß genug."

Das wäre zu diskutieren, aber wenn Osont es sagt, dann wird über diesen Punkt natürlich nicht diskutiert.

"Gut," fährt Okr fort, "Angenommen, wir kriegen bei besserer Sicht zweifelsfrei heraus, in welche Richtung wir uns an der Küste entlang bewegen müssen, um zu der Einfahrt zu kommen. Wie machen wir denn das?"

"Rudern." sagt Osont. Also keine Kiele.

"Und wenn es eine sehr lange Strecke ist, die wir rudern müssen?"

"Dann rudern wir eben entsprechend lange. Wir müssen das koordinierte Rudern sowieso üben, weil es in den Wasserstraßen wiederholt nötig werden könnte. - Außerdem glaube ich nicht, daß wir sehr weit vom Kurs abgekommen sind."

Osont lehnt sich zurück. Ist er froh, das Argument mit dem Ruder-Training gefunden zu haben?

"Aber wir müssen daran denken, daß die Sicht noch länger so schlecht bleiben könnte. Dann müssen wir auf andere Weise herausfinden, in welche Richtung wir uns bewegen müssen. Vorschläge?"

"Mit einem Boot nachforschen!" schlage ich vor.

"Haben wir nicht."

Das Naheliegende wäre jetzt die Verwendung von Beibooten gewesen. Aber diese Schiffe haben so etwas tatsächlich nicht. Es sind keine Saurierfänger, sondern sie gehörten zum Unterfort von Casabones, vorgesehen für verschiedenartigste Verwendung. Es handelte sich ja gewissermaßen um Schubkarren zu Wasser, für alle möglichen Zwecke. Vielleicht hat es ja Beiboote gegeben, aber die waren zufällig nicht an Bord, als wir Casabones verließen, und niemand hat daran gedacht, daß so etwas nützlich werden könnte.

"Bauen?" frage ich vorsichtig. Wenn sie schon keine Kiele bauen wollen, dann habe ich vielleicht mit Beibooten Glück.

"Dauert zu lange." entscheidet Osont. Woher will er das wissen? Er hat doch noch kein Boot mit eigenen Händen gebaut, vermute ich. Abgesehen davon, ich denke, daß er recht hat. Ich glaube das, obwohl ich selbst auch noch nie ein Boot gebaut habe. Aber wenn ich so recht überlege - ein wohlgeformtes Boot hat eine gewisse Rumpfform, die man aus dem Holz ja irgendwie herausarbeiten muß. Das stellt mehr Anforderungen als ein gewöhnliches Brett zurechtzuschneiden.

"Aber anders kriegen wir vielleicht nicht raus, was wir wissen wollen!" hilft Okr mir.

"Deshalb werden wir nicht in ausgedehnte Tischlereiarbeiten einsteigen! Ich bin froh, daß wir wenigstens mit allen anderen Holzarbeiten fertig sind!"

"Dann kriegen wir eben keine Boote!" mault Okr. Einen Moment sehen Osont und Okr sich giftig an. Die anderen schweigen betreten.

Jetzt wird es Zeit, daß ich einmal etwas für Okr tue, wo ich doch fast verhindert hätte, daß er Casabones jemals verläßt.

"Es müssen keine Boote sein. Ein kleines Floß reicht. Und lange Stakstangen. Damit kann man sich sehr gut an der Küste entlang bewegen. Und sehr leise, wenn man es übt."

Osont guckt von Okr zu mir und zurück. 'Floß' und 'staken' klingt unprofessionell, auch wenn es sich bei den Schiffen in der Welt der Granitbeißer im wesentlichen um besegelte Flöße handelt.

Eigentlich weiß ich in diesem Punkte auch genau, wovon ich spreche. Portionsweise fällt es mir wieder ein. Erinnerungen aus alter Zeit - Clausthal, der Jägersbleeker Teich, ein lautloses Floß im Mondlicht, mit mir drauf und sonst gab es nichts in der Welt. Das muß in der Mitte der siebziger Jahre gewesen sein.

Wie zufällig hatte ich es gefunden. Tagsüber waren wir zum Baden an diesem Teich, mitten im Hochsommer, in dem sogar in Clausthal mit unvermutetem Sonnenschein gerechnet werden kann, und da wurde das Floß von anderen als Badeinsel verwendet. Drei mächtige Balken, mit Querbrettern, die mit großen, rostigen Winkeleisen befestigt waren, zusammengehalten. Waren es Reste von Telegraphenmasten? Aber nein, diese Balken waren von quadratischem Querschnitt. Keine Ahnung, wo das Holz hergekommen sein mag, und wie es in den Teich gelangte. Es war schon ziemlich mit Wasser vollgesogen, so daß das Ganze eine tiefliegende, vielleicht sechs oder sieben Meter lange und einen Meter breite schwimmende Insel mit noch überraschender Tragfähigkeit bildete. Zwei oder drei Leute konnten ohne weiteres drauf stehen, ohne daß das Floß zu sinken drohte oder auch nur instabil wurde.

Später, bei schlechterem Wetter, kam ich wieder an den Teich. Bedeckter Himmel reicht ja, um den Leuten die Badelust auszutreiben. Ich hatte den Teich für mich allein - und das Floß.

Damit begann eine Beschäftigung, die den ganzen Sommer lang andauern sollte. Immer dann, wenn ich allein sein oder mich vor der Arbeit im Institut drücken wollte, suchte ich diesen See auf, suchte die Stelle, wo das Floß an Land getrieben war, bestieg es und verbrachte lange Stunden auf dem See. Vom Wasser aus konnte ich das Wild beobachten, das aus dem Wald am Ufer austrat, ohne es zu verscheuchen, da ich mich ja mit dem Floß so völlig lautlos bewegen konnte. Selbst eine größere Ortsveränderung war einfach. Ich lernte, die lange Stange, die ich zum Staken mitgenommen hatte, lautlos einzutauchen und herauszunehmen. Einzelne Tropfen, die in das Wasser fielen, waren das Einzige, was zu hören war. Dann wieder setzte ich mich auf den Holzblock, den ich auf das Floß verfrachtet hatte, und ließ mich stundenlang treiben. Auf diese Weise lernte ich die schwächsten Strömungen auf dem Jägersbleeker Teich kennen.

Gelegentlich nahm ich sogar mein Fahrrad an Bord, weil mir das sicherer erschien, als es irgendwo am Ufer zu verstecken. Da war keine Gefahr dabei, denn das Floß lag so ruhig, so daß es wie auf festem Boden geparkt stand. Zu anderen Zeiten verfrachtete ich einen Kasten Bier an Bord, den ich in stundenlanger Sitzung allein austrank. Zu jener Zeit schien mir diese Art der Freizeitbeschäftigung ja noch sinnvoll - wenn man jung ist, hat man ja noch soviel Zeit vor sich.

Die schönsten Fahrten waren jedoch die, die ich in Vollmondnächten durchführte. Als Student hat man ja Zeit für sowas, weil man gelegentlich auch tagsüber schlafen kann, wenn es notwendig ist. Die Sichtverhältnisse im Mondlicht, die völlige Unbestimmtheit der Dinge, die im Schatten des Waldes lagen, die silberne Straße, die das Mondlicht auf das Wasser zeichnete, und die völlige Abwesenheit von menschengemachten Dingen im Bereiche meiner Wahrnehmung und die Stille machten diese Erlebnise märchenhaft. Ein wirklichkeitgewordenes Klischee. Ein Gastaufenthalt von einigen Stunden in einer anderen Welt.

Eines Nachts, ich trieb vielleicht fünfzig oder siebzig Meter vom Damm entfernt auf dem Wasser - diese Harzteiche sind alle künstlich, durch Dämme aufgestaut, weil sie in früheren Zeiten für den Bergbau gebaut und verwendet wurden - hörte ich Schritte vom Damm. Jemand auf einer nächtlichen Wanderung kam dort vorbei. Ich hörte, wie die Schritte anhielten. Sehen konnte ich kaum etwas.

Dieser Jemand - ich weiß nicht, ob es mehr als eine Person war - mußte mich von der Stelle aus als bewegungslose, treibende Silhouette vor dem gespiegelten Mondlicht auf dem Wasser deutlich sehen. Was ich da wohl für Assoziationen erweckt haben mag? Der Kobold auf dem Wasser? Oder nur eine Haluzination? Oder war meine Silhouette eventuell einer schwimmenden Insel auf Baumstümpfen ähnlich genug? Schließlich haben wir beide uns viele Minuten lang nicht bewegt und haben keinen Laut von uns gegeben. Vielleicht hat dieser Jemand angenommen, daß da niemand auf dem Wasser ist, sondern daß nur die Umrisse zufällig an ein menschliches Wesen erinnerten, denn wer sollte da in tiefer Nacht mitten auf einem See im Oberharz sitzen? Irgendwann hörte ich dann, wie die Schritte sich wieder entfernten, leise und vorsichtig, als sei sich der Verursacher immer noch nicht über die Bedeutung des Gesehenen im Klaren.

Ich wußte, daß das alles irgendwann einmal enden würde, denn nichts auf dieser Welt dauert an. Jedesmal, wenn ich den Teich verließ, entschloß ich mich jedoch, wenigstens einmal noch wiederzukommen.

Natürlich endete es. Ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen ich den Besuch an diesem Teich immer wieder aufschob. Oder war das Floß irgendwann nicht mehr da oder nicht mehr brauchbar? - Das schönste Studium endet mit einer Prüfung, und so kam der Zeitdruck der Diplomarbeit, und irgendwann war diese wider Erwarten auch fertig, und es galt, sich irgendwo da draußen in der Welt eine Arbeit zu suchen. Ich zog von Clausthal weg. Ich habe das Floß nie wieder gesehen, und auch nicht den Jägersbleeker Teich, den es ja, auch in diesem Moment, immer noch gibt.

Ungefähr zwanzig Jahre ist das jetzt her. Habe ich damals irgendwann einmal, in einer hellen Sekunde, geahnt, daß ich einmal auf diese Floßerfahrung zurückgreifen würde? Und daß das in einer Welt geschehen würde, die damals ja schon, von allen Menschen unbemerkt, existierte, aber die ich mir gar nicht als wirklich existierend hätte vorstellen können? So etwas wie dieses hier liest man ja höchstens in Fanatsy-Romanen. In einem ausgewogenen naturwissenschaftlichen Weltbild ist doch kein Platz für sowas.

"Wie schnell ist denn so etwas?" unterbricht Osont meine Erinnerungen.

"Oh, nicht schnell. Schrittgeschwindigkeit. Langsamer, wenn man wirklich leise sein muß. Aber für die Strecken, die wir an dieser Küste untersuchen müssen, reicht es leicht. Und da wir inzwischen genug vernünftige Ruder haben, kann man auf die Stakstangen eigentlich verzichten. Ist vielleicht sogar sinnvoll - ich weiß nicht, was für Viecher am Grunde man eventuell aufscheuchen könnte."

Osont nickt. Wir reden noch etwas über die Bauform dieser Flöße. Im Gegensatz zu meinem Konglomerat aus Holz, das ich auf dem Jägersbleeker Teich als Floß verwendet habe, kann man ein speziell gefertigtes Floß ohne allzugroßen Aufwand ja noch etwas besser machen, was etwa den Strömungswiderstand im Wasser angeht. Jedenfalls ist das wesentlich einfacher, als ein Boot zu bauen.

"Gut." Osont entscheidet. "Ein Floß. So machen wir's. Zwei Stück, mit je zwei Mann, um beide Richtungen der Küste zu untersuchen."

"Nicht mehr?" frage ich, "Vielleicht ist es für die Beteiligten sicherer, wenn mehrere Flöße unterwegs sind."

"Dann ziehen sie aber auch leichter die Aufmerksamkeit von Raubtieren an sich."

"So kann es aber passieren, daß ein Floß mit den beiden Flößern unbemerkt verloren geht!"

"Was ist denn nun das Schlimme," fragt Osont bohrend zurück, "daß eine Floßbesatzung verloren geht, oder daß dieses unbemerkt geschieht?"

Also bleibt es bei zwei Flößen. Der Rest der Besprechung geht für Routineangelegenheiten drauf. Man denkt bereits darüber nach, wie die Vorräte zu ergänzen sind, wenn sie zur Neige gehen sollten. Das ist im Moment aber noch nicht der Fall, und deshalb möchte man jegliche Jagdaktivität noch vermeiden. Dabei wird immer Blut vergossen, und wenn hier Blut ins Wasser gelangt, dann weiß man nie, welche Tiere dadurch angelockt werden.

Nach der Besprechung werden die Flöße sofort gebaut. Olcar ist bei dem Bauteam, und so komme ich dazu, ihn darüber zu befragen, ob er irgendwann einmal auf die Kiele angesprochen worden ist. Ich erfahre, daß das nicht der Fall war.

"Osont interessiert das einfach nicht!" sagt Olcar und fährt fort, aus den Vorräten geeignete Balken für die Flöße auszusuchen.

"Wenn er sich für die Gleitschirme genausowenig interessiert hätte, dann wären wir jetzt nicht hier!" bemerke ich. Olcar kommentiert das nicht. Wahrscheinlich will er sich nicht den Mund verbrennen.

Der Floßbau ist bei Olcar in den besten Händen. Da habe ich Zeit, in Erfahrung zu bringen, wer denn nun auf den Flößen Scout spielen soll. Währenddessen nehmen Regen und Nebel wieder zu, und häufig sehen wir vom Ufer gar nichts mehr. Deshalb spreche ich Olcar darauf an, daß wir wenigstens eine Boje brauchen, die wir an der Küstenstelle festmachen, die den Schiffen am nächsten ist. Dadurch haben wir auch bei Nebel eine Chance, die Schiffe wiederzufinden.

Olcar zeigt, daß er mitdenken kann, und schlägt mindestens zwei solche Bojen vor, von denen eine genau auf halbem Wege zwischen Küste und Schiffen gelegt werden soll. Damit kann man auch bei einer Sichtweite von 250 Meter noch sicher zu den Schiffen zurückfinden. Ich sage ihm, daß er sich darum kümmern soll.

Die Flöße werden bis zu Beginn der Schlafperiode um 20 Uhr fertig. Es sind stabile Dinger, sechs Meter lang und 120 Zentimeter breit. Sie sind schwerer als mein Floß vom Jägersbleeker Teich. Auf jedem gibt es zwei Blöcke, um drauf zu sitzen, und es gibt genug Ritzen am Boden, um die Ruder dort sicher festzulegen, solange sie nicht gebraucht werden. Widerlager für das Rudern gibt es nicht, aber wir wollen ja auch kein Wettrudern machen.

Was die Bojen betrifft, ist Olcar auf eine bessere Idee gekommen. Er hat ein langes Seil vorbereitet, vielleicht 600 Meter lang, er meint, auf jeden Fall ausreichend lang, um das eine Ende hier auf den Schiffen und das andere Ende irgendwo dort hinten am Ufer zu befestigen. Alle vierzig Meter ist ein Holzstück mit dem Seil verbunden. Damit kann man bei dichtestem Nebel zu den Schiffen zurückfinden, sagt er. Die Idee scheint mir gut, da die Sicht inzwischen wieder auf weniger als 100 Meter gefallen ist.

Nach dem Essen zieht auf den Schiffen wieder Ruhe ein. Ich habe die erste Nachtwache, so daß ich noch bis 23:30 Uhr aufbleiben muß.

Nachdem es, bis auf die Schnarchgeräusche, ganz ruhig auf den Schiffen geworden ist, wird mir bewußt, wie zerbrechlich unsere kleine Welt auf diesen sechs Schiffen ist. Da könnten jetzt die übelsten Ungeheuer rundherum auf 100 Meter herangekommen sein - ich würde sie noch nicht sehen. Und wenn ich sie sähe, dann könnte ich außer Alarmgeschrei wenig machen. - Hoffentlich ist die Irene auf ihrem Saurierfänger heil durch diese Wasserstraßenwelt hindurchgekommen.

Ich hätte jetzt überhaupt keine Bedenken, wenn wir drei zusammengeblieben wären - Irene, Charmion und ich. Charmion, was sind das hier für Dilettanten in Geschäft des Überlebens, verglichen mit dir! Ob Osont sich wenigstens in einer Schicht des Unterbewußtseins darüber klar ist, daß Charmion die Überlebenschancen dieser Flottille ungeheuer vergrößert hätte? - Charmion ist nicht wie die Dame bei einem Schachspiel: Sie ist die Dame für hundert Schachspiele gleichzeitig. Schachspiele, bei denen sonst nur Bauern im Spiel sind.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite