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******** 057. Tag: Samstag 95-10-14 ********

57.1 Ondar

Der 14. Oktober bricht an. Ich rechne kurz nach und erinnere mich: Vor genau acht Wochen schliefen wir die letzte Nacht in unseren eigenen Betten. Der Tag drauf, das war der Tag der Zugspitzwanderung, von der wir nicht mehr zurückkehren würden. Kann ich mich noch an Einzelheiten erinnern? Der Bundesfahrplan erzwang, die allererste S-Bahn in der Frühe zu nehmen. Jetzt vor acht Wochen, in fünf Stunden würde der Wecker klingeln. Die Rucksäcke waren schon gepackt. Wie immer sind wir am Freitag etwas später ins Bett gegangen. War ich um Mitternacht noch wach? Ich weiß es nicht mehr.

Wie immer gab es da den Gegensatz zwischen dem, was man zu Hause gerne tun wollte, und der Möglichkeit, auch einmal wieder etwas im Freien zu unternehmen. Für beides reicht die Zeit nicht. Obwohl wir die Alpen in Wochenendreichweite hatten, so haben wir doch viel zu wenig die sich bietenden Ausflugsmöglichkeiten genutzt. Ja, und einmal zuviel - vor acht Wochen.

Mein Ratschlag, reichlich zu schlafen, wird genutzt. Es ist jetzt ruhig, da unten auf meinem Schiff. Nur aus dem Ruderhaus kommt Gemurmel - Ondar und seine zwei Rudergänger-Lehrlinge.

Direkt voraus, in jetzt etwa noch zwölf Kilometern Entfernung, sehe ich einmal wieder eine neue, interessante Formation, die im Laufe der letzten Stunden immer besser in unser Blickfeld gerückt ist: Einen neuen Hängenden Berg, der die leuchtenden Wolkendecke durchbricht. Es ist ein gewaltiges Massiv, das da kopfüber am Himmel schwebt: Ein Berg von zweitausend Metern Höhe, der aus der Wolkenuntergrenze, die im Moment etwa viertausend Meter hoch ist, herunterhängt. Er bedeckt eine Fläche von vielleicht ein Dutzend Quadratkilometern, und sein Gipfel ist etwa 2000 Meter über der Meeresoberfläche. Dort, wo wir hinfahren, ist es durch diesen Berg und die Lücke in der Leuchtenden Wolkendecke, die er verursacht, etwas düsterer als anderswo.

Es würde mich interessieren, ob hier die Höhe der Welthöhle generell geringer ist. Ansonsten wäre der größte Teil der Masse dieses Berges nicht zu sehen, weil er noch über den Wolken wäre. Es gibt keine Möglichkeit, das herauszufinden. Vielleicht gibt es meteorologische Hinweise, die ich aber nicht kenne - beobachtbare Unterschiede in der Leuchtenden Wolkendecke, in Anhängigkeit davon, ob es über ihr noch einmal 5000 Meter nach oben geht, oder nur 1000 Meter.

Jedenfalls erscheint mir dieser Berg irrsinnig instabil. Einmal mehr wird die Frage nach der Stabilität der Welthöhle aufgeworfen. Alle meine Instinkte sagen mir, daß wir vielleicht nicht gerade unter dem Berg hindurch fahren sollten - andererseits, warum sollte er gerade heute einbrechen? Außerdem treibt der Wind uns genau darauf zu. Eine Kursabdrift würde die Geschwindigkeit beeinträchtigen. Glaube kaum, daß Osont sich darauf einließe.

Dieser Hängende Berg ist genauso abenteuerlich und geologisch schwer erklärbar wie der Pilzberg Casabones. Ob die Granitbeißer eventuell auch auf diesen Hängenden Berg ihren Weg gefunden haben? Oder ob die alten Erbauer der Toten Städte das geschafft haben? Es wäre ja nur auf dem Umweg über die höchsten Lagen der Höhle möglich. Andererseits, ich habe auf Casabones ja von dem Schwebenden Berg erfahren, der abenteuerliche Wanderungen über den Wolken bis in die höchsten Hochlagen möglich machen soll. Es kann gut sein, daß dieser Hängende Berg vom Schwebenden Berg erreichbar ist oder sogar ein Teil von ihm ist, oder daß es andere, ähnliche Wege gibt. Ich weiß es nicht. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es auf den Karten unten im Ruderhaus dazu auch keine näheren Informationen, aber ich werde noch einmal nachsehen.

Trotzdem erwische ich mich dabei, wie ich den Berg immer wieder nach Spuren menschlicher Bearbeitung oder Bebauung absuche. Am Berg Casabones haben wir ja gesehen, welche Arten von Wegen es gibt. Vielleicht hat irgendjemand es für erstrebenswert gehalten, auch diesen Berg durch solche Wege erreichbar zu machen. Vor meinem inneren Auge tauchen Visionen von hängenden Burgen auf, absolut uneinnehmbar, eigentlich sogar absolut unerreichbar, direkt aus dem Fels herausgeschlagen, denn hängende Mauern kann man wohl nicht gut bauen.

Aber das muß nicht sein. Die Welthöhle ist dünn besiedelt. Und seit wir von Casabones aus unterwegs sind, haben wir an allen Gestaden, denen wir uns vorbeifahrend einigermaßen genähert haben, nicht die mindeste Spur menschlicher Aktivität oder Ansiedlung gesehen. Wenn wir es nicht wüßten, würde man es kaum erraten, daß wir auf einen Ort zufahren, den man hier als 'Stadt' bezeichnet. Die Welt der Granitbeißer ist beneidenswert dünn besiedelt. Wer weiß, vielleicht würde eine Besiedlung von nur wenigen Menschen pro Quadratkilometer, also nach hiesigen Maßstäben eine dichte Besiedlung, im Laufe der Zeit die Welthöhle unbewohnbar machen. Wenige Herdfeuerstellen auf jedem Quadratkilometer, vielleicht gäbe das dieser Biosphäre schon den Rest. Ich weiß es nicht, aber der geringere Energiehaushalt dieser Biosphäre läßt eigentlich die Vermutung zu, daß sie empfindlicher ist als unsere Biosphäre auf der Erdoberfläche.

Je näher wir kommen, desto abweisender sieht der Hängende Berg aus. Keine Spur menschlicher Aktivität. Auch keine Spur von Bewuchs, obwohl der sichtbare Teil des Hängenden Berges in die Vegetationszone hineinragt. Aber auch Pflanzen können sich nicht überall festhalten. Vielleicht wird man dort Moose und Flechten finden, mehr nicht. Es sei denn, daß dieser Berg irgendwo noch Einbuchtungen hat, die Flächen erzeugen, deren Neigung gegen die normale Waagerechte weniger als 90 Grad ist. Das müßte ein seltenes Fleckchen Erde sein!

An der rechten Seite des Berges, wo seine Flanke in den Leuchtenden Wolken versinkt - oder in sie hineinsteigt, das wäre vielleicht besser ausgedrückt - sehe ich einen feinen Faden, der dort herunterhängt und sich nach etwa einem Drittel des Weges bis zur Wasseroberfläche auflöst. Es muß sich um einen Wasserfall handeln, der das Meer nicht erreicht, sondern schon vorher zerstäubt. Wieder fallen mir die sagenhaften braunen und salzigen Quellen ein. Aber dieses Wasser muß durchaus nicht von der Erdoberfläche kommen: An diesem Hängenden Berg, der die Leuchtende Wolkendecke durchstößt, gibt es genügend Gelegenheit für Wasser, sich niederzuschlagen.

Der Mast knarrt, jemand kommt herauf. Es ist Ondar.

"Wer ist ..." frage ich, als er sich neben mich auf den beschränkten Platz des Krähennestes hochzieht und ich etwas zur Seite rücken muß, um ihm Platz zu machen. Ich bin gezwungen, meine Unterschenkel über den Rand des Krähennestes baumeln zu lassen.

"Ochaum." sagt Ondar. Er sieht über die Kante des Krähennestes nach unten: "Ganz schön hoch."

"Man gewöhnt sich dran." sage ich, "Ochaum also?"

"Ja. Der lernt schnell. Aber Olch nicht."

"Bei dem dauert es länger?"

"Der lernt es nie." Ondar sieht mich an, abwartend, ob ich diese Kritik an meinen Personalentscheidungen übel nehme. Das tue ich natürlich nicht.

"Tatsächlich? Er schien mir aufnahmebereit und lernbegierig."

"Nein. Ist er nicht. Alles Fassade. Er ist aalglatt, wenn Leute in der Nähe sind, von denen er sich abhängig glaubt. Jetzt aber glaubt er, bloß, weil du ihn auserlesen hast, schon Kommandos geben zu können!"

"Wem? Euch?"

"Ja, und anderen."

"Kann er denn wenigstens das Ruder halten?"

"Im Prinzip schon." Ondar fühlt sich unbehaglich. "Aber ich denke, wenn er das stundenlang tun soll, dann wird es ihm langweilig, und er wird nachlässig. Ich denke, er ist der Typ, der sich dann im Ruderhaus ein Nickerchen gönnen würde. - Tut mir leid, das ist mein Eindruck. Aber ich muß es sagen - wenn er das Schiff steuert, dann sind wir in Gefahr."

Wir schweigen eine Weile. Hat Olch mich also bezüglich seiner Charaktereigenschaften so täuschen können? Das ist natürlich schon möglich, in den kurzen Gesprächen, die ich bis jetzt mit den einzelnen Mannschaftsmitgliedern geführt habe. Andererseits könnte Ondar jetzt auch etwas mit falschen Anschuldigungen erreichen wollen. Auch das kann ich mit letzter Sicherheit nicht ausschließen.

"Es ist gut, daß du das sagst. Aber solange sich jemand nichts zuschulden kommen läßt, kann man wenig unternehmen. Wir können uns alle irren - ich, du ..."

Ondar sagt nichts.

"Und Ochaum traust du?"

"Ja."

"Hast du sonst Meinungsverschiedenheiten mit Olch?"

"Von Casabones her kenne ich ihn nur vom Sehen. Hier, auf dem Schiff, habe ich nur ein paarmal mit ihm gesprochen. Da ist mir nichts aufgefallen. Nur jetzt auf der Brücke führt er sich auf. Läßt sich vom Küchendienst dauernd etwas zu essen bringen, schnauzt ihn an, wenn es nicht schnell genug geht."

"So." Ich überlege. "Dann sollte er zunächst nicht während der Schlafperiode das Ruder übernehmen, jedenfalls nicht alleine. Wenn er dann Mist macht, sind tagsüber genügend Augen offen, um das rechtzeitig zu bemerken. Zufrieden?"

Ondar nickt. "Ich wollte es nicht für mich behalten. Aber er ist mir unangenehm."

"So etwas kommt vor. Besagt natürlich noch nichts."

"Ja, sicher ..."

"Denkst du, daß es ausreichend ist, wenn er zunächst nicht in der Schlafperiode eingeteilt wird?"

"Ja," sagt Ondar, "aber was soll ich sagen, wenn er fragt, warum?"

"Daß es tagsüber eine verantwortungsvollere Aufgabe ist, das Schiff zu steuern. Natürlich ist es umgekehrt. Aber vielleicht kauft er dir das ab. Oder, sag einfach, ich hätte es befohlen."

Ondar scheint zufrieden. Er macht keine Anstalten, hinunterzusteigen, sondern er sieht sich um.

"Wie lange warst du auf Casabones, Ondar?" frage ich, um das Thema zu wechseln.

"Seit ich denken kann. Ich war ein kleiner Junge. Ich weiß kaum etwas von der Zeit davor. - Ich weiß nicht einmal, wie ich hinaufgebracht wurde."

"Ich habe aber wenig kleine Jungen auf Casabones gesehen - eigentlich überhaupt keine!"

"Kinder auf die Gefängnisinsel zu bringen war eine Ausnahme. Und in den letzten Jahren gab es ohnehin kaum Neuzugänge."

"Aha."

"Und vorher ..." Ondar denkt nach, "vorher war - ich erinnere mich an Gebäude und steile Gassen. Gebäude aus Holz. Durch den Boden konnte man Wasser sehen, auch an manchen Stellen in den Gassen. Meine Mutter war selten daheim. Irgendwann blieb sie ganz weg. Danach waren wir immer hungrig. Wir Kinder nahmen uns zu essen, wo wir etwas fanden, meistens in den Auslagen der Straßenhändlerinnen, und irgendwann wurde ich geschnappt und auf ein Schiff gebracht. Dort wurde ich viel geschlagen. Und dann kam ich nach Casabones."

"Deine Beschreibung, die Gebäude mit den Gassen, das hört sich nach einer Ortschaft an. War das Grom?"

"Ich weiß nicht."

"Du weißt also nicht, wo du aufgewachsen bist?"

"Nein." sagt Ondar. Seine Stimme klingt bedrückt, aber vielleicht bilde ich mir das nur ein, weil ich meine, in einer solchen Situation müßte eine Stimme eben bedrückt klingen.

"Willst du dahin zurück?"

"Ich weiß nicht."

"Was erwartest du denn?"

"Was Osont vorhat - ich weiß es nicht."

"Aber Osont kann nicht darüber bestimmen, was du von deiner Zukunft erwarten sollst!"

"Nein?" fragt Ondar verwundert.

"Natürlich nicht! Welches Recht hätte er denn dazu?"

Darauf antwortet Ondar nicht. Habe ich ihm jetzt in wenigen Sätzen die Idee der Selbstbestimmung eingeimpft? So schnell geht das wohl nicht. Aber vielleicht ist dieses Gespräch für mich ganz lehrreich: Ich muß etwas mehr darüber wissen, was diese Menschen wollen. Und ob sie etwas wollen.

"Manchmal will ich etwas, aber ich weiß nicht, was eigentlich!" fängt Ondar wieder an.

"Weißt du es auch nicht so ungefähr?"

"Es ist schwer. Manchmal hatte ich ein seltsames Gefühl, wenn unsere Bewacherinnen in das Dorf kamen und neue Leute brachten."

Oha, denke ich mir. Sexuelle Wünsche, die er nicht als solche erkennen kann, weil er nichts darüber weiß. Ganz natürlich, in dem Alter.

"Immer nur, wenn diese Bewacherinnen da waren?"

"Ja." Ondar überlegt. "Als wir das Unterfort angriffen, da war dieses seltsame Gefühl wieder da. Ganz besonders, als wir diese Frauen nach der Eroberung einzeln getötet haben."

"Das hat dir Spaß gemacht?"

"Ja, sehr!" strahlt Ondar.

"Kannst du dir nicht vorstellen, daß es noch andere Möglichkeiten gibt, mit Frauen umzugehen als sie zu bekämpfen und zu töten?"

"Ne, wieso denn? Sie sind unsere Feinde!"

Ich halte den Mund. Ein netter Junge, dieser Ondar. Aber sein Verhältnis zu Frauen und seine Sexualität ist ruiniert, wahrscheinlich für sein ganzes Leben. Und mit den anderen ist es nicht anders. Jahrelang reine Männergesellschaft, Frauen sind immer nur als Bewacher und Folterer aufgetreten. Da ist ein normales Verhältnis nicht mehr herstellbar. In einem Menschenleben nicht, und auch nicht in einer ganzen Generation. Was kann ich da noch missionieren? Es wäre ein Verschleiß meiner Kräfte.

Der Weg, den die Granitbeißer noch zurücklegen müssen, ist lang. Oder? Ist es meine Arroganz, jetzt wieder einmal meine moralischen Maßstäbe zugrunde zu legen?

"Jedenfalls werde ich nie wieder Frauen gehorchen!" stellt Ondar plötzlich fest, "Wir werden sie bekämpfen, wo wir sie finden!"

"Wollen das die anderen auch?"

"Ja, die meisten. Es kommt natürlich darauf an, was Osont ..."

"Ja, vielleicht. Ich kenne Osont's Pläne nicht."

Ondar ist still. Bedauert er es, sich mir mehr anvertraut zu haben als andere das bis jetzt gewagt haben? Er besieht sich den Hängenden Berg schräg über uns, aber ich habe nicht den Eindruck, daß diese Szenerie ihn besonders beeindruckt. Er macht sich bereit, das Krähennest wieder zu verlassen.

"Es ist immer gut, darüber nachzudenken, was man im Leben eigentlich tun will," sage ich ihm, als sein Gesicht gerade noch über die Holzkante guckt, "aber es ist nicht sicher, ob einem je eine Antwort darauf einfällt. Und ob es die richtige Antwort sein wird. Niemand garantiert einem das. Niemand."

Ondar zögert einen Moment, sagt aber nichts. Dann steigt er weiter nach unten. Vielleicht hat er mich nicht verstanden.

Ich kann jetzt meine Unterschenkel wieder in eine bequemere Position bringen. Da ist so eine Holzkante am Rand des Krähennestes, die die Blutzirkulation abklemmt, wenn man die Beine über den Rand baumeln läßt.

57.2 Nachtarbeit

In der Tat machen wir für die nächste Schlafperiode keinen Halt. Durch ordentliches Hin- und Hersignalisieren verschafft sich Osont einen Überblick darüber, auf welchen Schiffen man das Weiterfahren während der Schlafperiode für möglich hält. Und siehe da, es sind alle.

Ich rechne kurz nach. Wir sind immer noch nicht wesentlich schneller als 5 Kilometer pro Stunde. Dann schaffen wir in 27 Stunden 135 Kilometer. Mehr als einen Breitengrad, solange wir halbwegs genau nach Norden fahren. Ich rufe mir aber auch in Erinnerung, daß der Saurierfänger manchmal schneller war. Etwas wenigstens.

Ich habe sowohl Ochaum als auch Olch empfohlen, sich vor der Schlafperiode einige Stunden Schlaf zu gönnen, so gut sie das können. Das haben sie wohl auch getan. Die Nachtwache im Ruderhaus sollen sie gemeinsam machen. Das ist ein etwas anderes Vorgehen, als Ondar es vorgeschlagen hat. Als ich beiden meine Vorstellungen erläutere, kann ich keinen wesentlichen Unterschied in ihrer Reaktion feststellen. Ondar scheint meine Entscheidung zu akzeptieren.

Ich selber suche mir einen Platz auf dem Achterdeck, zwischen den bevorrateten Baumstämmen, nachdem ich die Idee, mich im Krähennest anzubinden und dort zu schlafen als zu unbequem verworfen habe.

Das Verfahren, während der Schlafperiode weiterzufahren und nicht die sechs Schiffe zu einer schwimmenden Insel zusammenzubinden hat natürlich auch den Vorteil, daß Osont's Wacheinteilungsschema von letzter Nacht nicht mehr anwendbar ist. Jeder der Kapitäne kann es auf seinem Schiff so machen, wie er es für richtig hält. Ein Mann am Ruder ist mindestens wach, also wird die gesamte Flottille ständig von mindestens sechs Leuten überwacht. Das sollte genug sein.

57.3 Borddisziplin und Mastakrobatik

Am anderen Morgen um 20 Uhr werde ich von einer gewissen Unruhe geweckt. In meiner Nähe redet jemand laut und eindringlich. Ich mache die Augen auf und sehe niemanden. Allerdings liege ich so zwischen den Baumstämmen, daß ich aus kaum einem Blickwinkel vom Deck aus zu sehen bin und auch selbst kaum etwas sehe. Deshalb haben die beiden Männer, die da streiten, mich nicht bemerkt.

Ich höre eine Weile zu. Es geht um Belanglosigkeiten. Sie streiten sich über Dinge, die sie bei der Eroberung des Unterforts getan haben oder angeblich getan haben. Keiner von beiden will dem anderen seine Heldentaten und seine Expertise bei der Eroberung von befestigten und entschlossen verteidigten Gebäuden glauben. Und das führt zu immer lauterem Diskurs.

Noch während ich horche, kommt noch ein dritter hinzu und schließt sich dem Streitgespräch an. Schon bald geht es hoch her. Die Beschreibungen der Heldentaten, die die drei getan haben wollen, ändern sich dauernd. Je mehr sie von den jeweils anderen bezweifelt werden, desto plumper werden die Übertreibungen. Allen Behauptungen zusammengenommen nach haben die drei das Unterfort alleine erobert.

Ich stehe auf. Einer der drei, der so steht, daß er mich sieht, kriegt große Augen und sagt nichts mehr. Die anderen beiden drehen sich um. Endlich ist Stille.

Ich erinnere mich an Einzelheiten der Arbeiten, die ich verteilt habe:

"Da waren doch Nähte in den Reservesegelballen, die ich nachgearbeitet haben wollte, nicht wahr?" frage ich den einen, dem ich diese Arbeit zugeschanzt hatte.

"Ja."

"Und, was ist? Ist das fertig?"

"Ja." sagt er. Ich glaube, er heißt Owioch, und lügen kann er nicht überzeugend genug.

"Herbringen und zeigen. Ihr anderen bleibt hier."

Owioch geht nach mittschiffs ins Deckshaus und kommt nach kurzer Zeit mit einem Ballen Segeltuch wieder.

"Welche Nähte waren das noch?" frage ich.

Er legt den Ballen hin und rollt ihn aus. Die Nähte, die die verschieden großen Stücke Tuch, aus denen das Segel zusammengeschneidert ist, zusammenhalten, sind an etlichen Stellen abgewetzt und zerfasert.

"Wo genau hast du etwas repariert?" frage ich.

Owioch überlegt, fährt mit dem Finger über die Nähte, und findet absolut keine Stelle, von der er guten Gewissens behaupten kann, daß sie vor kurzem repariert wurde. Inzwischen stehen zwei weitere Männer der Mannschaft bei uns und sehen der Szene zu.

"Heißt du Owioch?" vergewissere ich mich. Owioch nickt. "Sieh mal nach oben, Owioch. Da oben auf dem Mast. Das runde Ding da. Was ist das?"

Er blickt auf. "Das Krähennest?"

"Genau. Würdest du mir vielleicht einmal zeigen, wie schnell du da hinauf klettern kannst, dich dann da oben einmal aufrecht hinstellen kannst, um dann gleich wieder herunterzukommen? Würdest du das für mich tun?"

Er sieht mich verständnislos an.

"Würdest du das vielleicht für mich tun?" frage ich noch einmal und lege meine Rechte an den Schwertgriff. "Ganz schnell, ja?! - Bitte!"

Er ist ganz schnell. Wie ein Wiesel ist er oben, stellt sich auf dem Krähennest hin - die Unsicherheit ist ihm deutlich anzusehen - und schon ist er wieder dabei, herunterzuklettern. Nach wenigen Sekunden steht er wieder vor mir, heftiger atmend.

"Nochmal." sage ich. Er wiederholt seine Kletterei.

"Nochmal. Und nicht so entsetzlich langsam."

Schon nach kurzer Zeit, als er das siebente Mal hinaufklettert, sieht ihm praktisch jeder zu. Im Moment schläft keiner. Mit langsamen Schritten gehe ich über das Deck. Der Vorteil eines kleinen Schiffes ist, daß man überall gehört werden kann.

"Herhören, Leute." Alle hören her. Mit einer Handbewegung bedeute ich Owioch, daß er wohl auch herhören darf, aber in erster Linie fortfahren soll, wie ein Wiesel den Mast hinauf und hinunter zu klettern. In meinen Redepausen ist sein schwerer Atem zu hören und sonst nichts.

"Herhören. Es gibt viele Dinge, die ich nicht vertragen kann. Ganz besonders kann ich nicht vertragen, wenn man mich anlügt. Dieser Mann hat behauptet, eine Arbeit, die ich ihm aufgetragen habe, ausgeführt zu haben, obwohl er es nicht einmal versucht hat. Er wird jetzt insgesamt fünfzig Mal diesen Mast besteigen und wieder herunterklettern. Fünfzig Mal! - Wenn ich merke, daß er sich dabei keine Mühe mehr gibt, dann werden es hundert Mal. Wenn er sich verzählt, dann werden es auch hundert Mal. Ist das verstanden?"

Das letzte habe ich Owioch gefragt, der gerade sich vor mir wieder aufbaut und dann sofort kehrtmacht, um den Mast wieder zu besteigen. Er ist so außer Atem, daß er kaum nicken kann.

"Es wird jetzt folgendes passieren. Jeder, aber auch jeder kommt zu mir, berichtet mir, was ich ihm aufgetragen habe zu tun, und ob er es getan hat oder nicht. Der Nächste, der mich anlügt, macht gleich weiter, wenn Owioch fertig ist. Verstanden? Der Mast gehört euch, den ganzen Tag lang - und dieser Tag ist lang!"

Eigentlich wären mir Entleerung der Blase und Frühstück jetzt wichtiger. Aber ich denke, ich muß einmal Zeichen setzen. Jeder kommt nacheinander zu mir und beichtet, was er nicht getan hat, und mit jedem vereinbare ich einen Zeitpunkt, bis zu dem die Arbeit fertig sein soll. Nur die drei Rudergänger sind entschuldigt, da sie anderes zu tun haben, von den anderen haben gerade vier das getan, was ich ihnen aufgetragen habe.

Immerhin ein Erfolg: Niemand versucht mehr, mich an diesem Morgen anzulügen. Owioch bleibt der Einzige, der ausgedehnte Mastgymnastik macht. Als er mit seinen fünfzig Mastbesteigungen fertig ist, läßt er sich einfach auf das Deck fallen, liegt auf dem Rücken und keucht. Sehr schlechter Trainigszustand, denke ich mir.

Immerhin ist diese Bestrafungsmethode humaner als die Liegestütze über einem Messer im Boden, und für den Kreislauf gesunder, dabei aber genauso abschreckend. Hätte ich schon früher drauf kommen sollen.

Nach Frühstück und Morgentoilette studiere ich wieder mit Ondar zusammen die Karten. Dabei erfahre ich, daß Ochaum und Olch sich nachts das Ruder geteilt haben. Wer sich von den beiden dabei wie angestellt hat, weiß Ondar nicht. Er hat ja geschlafen.

Für die Beschäftigung mit den Karten haben wir viel Zeit, weil Osont uns vom Flaggschiff aus nicht mit neuen Anweisungen nervt. Die Fahrt geht also gleichmäßig und unverändert weiter. Zwischendurch lasse ich mir die fertigen Wartungsarbeiten auf dem Schiff vorführen. Es zeigt sich, daß niemand gerne Mastakrobatik machen möchte. Aber ich kann auch nicht umhin, so manchen bösen Blick zu bemerken. Darüber wird es 24 Uhr.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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