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******** 056. Tag: Freitag 95-10-13 ********
56.1 Das Geisterschiff
Es dauert noch fast eine Stunde, bis wir uns dem anderen Schiff weit genug nähern, um Einzelheiten zu sehen. Natürlich läßt Osont so genau wie möglich darauf zuhalten. Selbst, wenn es ein fremdes Schiff ist, so kann es für uns keine Gefahr sein - denkt er. Ich hätte da so meine Zweifel. Aber mit größerer Wahrscheinlichkeit handelt es sich ja um eines der beiden noch vermißten Schiffe. Und das interessiert Osont natürlich erst recht.
Auch dieses Schiff ist nahezu bewegungslos. Ein einziges Segel oben im Großmast ist gesetzt, so daß es mit einer geringen Geschwindigkeit vor dem Wind fährt. Als wir noch näher kommen, kann ich erkennen, daß niemand in den Masten ist, auch nicht im Krähennest. Zeitweise sind andere Mitglieder der Besatzung bei mir im Krähennest, um sich mit eigenen Augen zu informieren - der dünne Nebel über dem Wasser macht die weite Sicht vom Deck und vom Ruderhaus aus schwierig.
Auch Osont kommt einmal rauf.
"Wenn der weiter diesen Kurs beibehält, dann läuft er auf jener Insel dort auf, in einigen Stunden." knurrt er.
"Wieso? Er hat doch noch jede Menge Zeit, um seinen Kurs zu ändern!" sage ich, um überhaupt etwas zu sagen. Osont antwortet nicht, sondern steigt wieder hinunter. Danach kommt niemand mehr zu mir herauf, weil unsere geringer werdende Entfernung auch von unten genauere Beobachtungen zuläßt.
Bei uns werden die ersten Segel wieder gerefft, weil das andere Schiff keine Anstalten macht, seine Fahrt der unseren anzugleichen. Also muß Osont seine Flottille abbremsen.
Allmählich kommt es mir merkwürdig vor, daß sich da drüben überhaupt niemand für uns interessiert. Verstecken die sich alle in dem Deckshaus? - Es ist eines von unseren Schiffen, da bin ich inzwischen sicher, und dort, auf dem nur noch 700 Meter entfernten Schiff muß man sich über unsere Identität noch mehr im Klaren sein.
Merkwürdig. Sogar das Ruderhaus scheint unbesetzt zu sein. Sehr nachlässig. Ist jenes Schiff etwa in noch höherem Maße von Unglück heimgesucht worden als das andere, das wir vor 7 Stunden aufgebracht hatten? Es weist, zumindestens äußerlich, im Gegensatz zu dem anderen Schiff, keine Beschädigungen auf. Was ist da los?
400 Meter. Osont hat soviele Segel reffen lassen, daß sich unsere Flottille dem anderen Schiff nur noch mit sehr gemessener Schrittgeschwindigkeit nähert. Außerdem rücken unsere Schiffe näher zusammen, weil man auch auf den anderen Schiffen etwas sehen möchte.
200 Meter. Allmählich glaube ich fast, daß dort an Bord niemand mehr lebt. Was kann das sein? Haben sie sich gegenseitig umgebracht? Oder hat bei ihnen eine Lebensmittelvergiftung viel gründlicher gewütet als das auf dem anderen Schiff der Fall war? Was war das überhaupt für eine Lebensmittelvergiftung gewesen? Ich habe ganz vergessen, mich danach zu erkundigen. Wäre vielleicht klug gewesen, um die betreffende Spezialität der Küche zu vermeiden.
100 Meter. Unten stehen Männer mit Wurfschlingen bereit. Das Flaggschiff wird also längsseits gehen. Inzwischen bin ich sicher, daß ich da auch nicht die Spur einer lebenden Seele sehe. Wieder schwant mir Ungutes.
Da fliegen die ersten Seile, verfangen sich, werden gespannt. Auf ein Kommando wird bei uns das letzte Segel gerefft, und in derselben Sekunde auch auf den anderen vier Schiffen. Dann bringt nur noch Muskelkraft und umsichtige Ruderbetätigung die beiden Schiffe einander näher.
Nach einigen Minuten ist es soweit. Nur noch ein Kanal von ein paar Metern Breite, der ständig schmaler wird, trennt die Schiffe. Ich kann aus nächster Nähe in das Mastwerk des anderen Schiffes sehen, insbesondere auch, weil die Rahen so weit ausladen, daß sich die Mastaufbauten der beiden Schiffe teilweise durchdringen. Die Männer da unten haben inzwischen gelernt, das bei dem Längsseits-Manöver zu berücksichtigen - sonst ist man danach zu sehr mit Reparaturen beschäftigt.
Auf dem oberen Krähennest des anderen Schiffes, das jetzt weniger als 12 Meter von mir entfernt und einige Meter unter mir ist, könnte ich eine Maus sehen, und auf und über die Aufbauten des anderen Schiffes konnte ich während des ganzen Anlege-Manövers meine Blicke in immer wieder neuen Blickwinkeln über das andere Schiff gleiten lassen. Das Schiff ist vollkommen in Ordnung. Nur ist niemand zu sehen.
Unten springen einige Männer rüber. Ist es begründete Vorsicht oder irrationale Angst, daß sie ihre Schwerter gezogen haben? Oder hat Osont es befohlen? Das würde dieselbe Frage für Osont aufwerfen. Unheimlich ist ein leeres Schiff schon, aber ich weiß nicht, ob diese Leute das genauso empfinden wie ich.
Ein Schiff dieser Größe ist schnell durchsucht. Es gibt nicht viel Räumlichkeiten, wo sich jemand verbergen könnte. Schon weniger als eine Minute, nachdem der erste rübergesprungen ist, höre ich es: "Niemand an Bord!"
Das muß ich sehen. Ich klettere runter.
Osont ist schon drüben, auf dem anderen Schiff. Er inspiziert alles. Und ich tue das auch.
Natürlich kann ich mich nicht an alle Einzelheiten des Schiffes erinnern, so wie sie waren, als wir Casabones verließen, und bei acht Schiffen geht das schon gleich gar nicht. Aber soweit ich mich an den Zustand der Schiffe erinnern kann, läßt sich klar feststellen: Dieses Schiff ist in genau dem technischen Zustand, in dem es von Casabones abgefahren ist. Auch Ladung und Vorräte sind so wie auf den anderen Schiffen auch. Nicht ungeräumt, nicht in Unordnung, es fehlt nichts, aber auch die Spuren normalen Schiffsbetriebes sind zu sehen, soweit man nach der kurzen Zeit dieser Seefahrt schon von 'normal' sprechen kann. Auch in der Speisekammer sieht alles normal aus, aber das lasse ich mir nur erzählen, weil ich absolut keinen Nerv habe, da hineinzublicken. Gerade jetzt, wo aus diesem Schiff ein Geisterschiff geworden ist, will ich diese ausgeweideten Leichen nicht sehen.
Die Takelage ist, wie ich schon von meinem Krähennest aus gesehen habe, in Ordnung, und das eine Segel läßt sich problemlos bergen. Auch das Ruder funktioniert. Osont geht alles ab, und es gibt nichts auf diesem Schiff, was nicht von allen an Bord mehrfach in Augenschein genommen wird.
Das Feuer im Herd in der Küche ist sehr zusammengesunken, würde sich aber sofort wieder entfachen lassen, wenn man etwas Holz nachlegte. Da wir nicht genau wissen, mit wieviel Brennstoff der Herd zuletzt beschickt wurde, kann man über den Zeitraum, während dessen sich niemand um den Herd gekümmert hat, auch keine Aussage treffen.
"Herwig, verstehst du das? Wo sind die hin?" Osont ist das erste mal ratlos.
"Ein neuer MARY-CELESTE-Fall!" sage ich.
"Ein was?"
Ich erzähle ihm von der MARY CELESTE, jenem Segelschiff, das auf dem Atlantik, vor Gibraltar, in vollkommen funktionstüchtigem Zustand und unter vollen Segeln aufgefunden wurde, auf dem jedoch jede Spur der Mannschaft fehlte. Bis auf wenige Tage vor dem Zeitpunkt des Auffindens war sogar dem Logbuch keine Unregelmäßigkeit zu entnehmen, dann aber brachen die Aufzeichnungen ab. Bis zum heutigen Tage hat man, meines Wissens, keine Erklärung für das spurlose Verschwinden der Mannschaft der MARY CELESTE gefunden.
Osont interessieren sollche Parallelen nur am Rande, insbesondere auch, weil da von Orten die Rede ist, die er nicht kennt und an deren Existenz er nicht glaubt. Aber für mich sind die Parallelen da. Bis auf das Logbuch - diese Formalität haben wir hier noch nicht eingeführt.
"Was machen wir jetzt?" fragt er ausgerechnet mich.
"Wir haben jetzt ein zusätzliches Schiff! Warum behalten wir es nicht und verteilen die Leute?"
Osont ist sich noch nicht schlüssig. Er stöbert noch weiter auf dem Schiff herum. Außerdem veranlaßt er, daß den anderen Schiffen signalisiert werden soll, ebenfalls längsseits zu gehen. Das geschieht innerhalb der nächsten Stunde, und danach ist eine Weile auf dem verlassenen Schiff Betrieb wie noch nie. Wer immer die Möglichkeit hat, versucht, unter irgendeinem Vorwand das verlassene Schiff zu betreten. Und so ein Vorwand ist ja auch ganz leicht zu finden, da das Flaggschiff und das verlassene Schiff, das ich inzwischen insgeheim 'MARY CELESTE' getauft habe, in der Reihe der längsseits liegenden Schiffe in der Mitte liegen. Es ist erstaunlich, welche belanglosen Gegenstände plötzlich mehrfach aus wichtigem Grunde von dem Schiff an einem Ende der Reihe bis zum Schiff am anderen Ende transportiert werden müssen!
"Okay." Ich fahre zusammen, so plötzlich steht Osont neben mir. "Du hast recht, Herwig. Wir nehmen dieses Schiff und verteilen die Leute neu. Da sind die acht von Ogambe's Schiff, und noch ein Mann von jedem anderen Schiff, das sind dreizehn. Das sollte doch reichen, oder?"
"Sicher," sage ich, "aber vielleicht sollte man Freiwillige nehmen. Wer wird der neue Schiffsführer?"
"Du." sagt Osont, "Freiwillig natürlich." Und stiefelt davon.
56.2 Kapitän zur See
An diesem Tage fahren wir nicht mehr weiter, da sich das Auseinandermanövrieren und das spätere Wiedereinschlichten für wenige Stunden nicht mehr lohnt. Ich bin dankbar für diese Pause, da ich mich doch jetzt mit allerhand Dingen vertraut machen muß, wo Osont mich so schnell befördert hat. Aus vollster Überzeugung hat er das wahrscheinlich nicht getan, aber wahrscheinlich hat er keinen einzigen Mann mehr gewußt, der sonst noch zur Schiffsführung geeignet wäre.
Daß er mich dazu für befähigt hält, richtet mich irgendwie innerlich auf. Und gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gefühl, weil ein emotioneller Automatismus dafür sorgt, daß ich so etwas wie Sympathie zu Osont empfinde, bloß wegen dieses Vertrauensbeweises. Ich darf es nicht vergessen: Osont ist und bleibt der Mörder von Charmion!
Ich rede mit einigen der anderen Kapitäne. Dabei stelle ich fest, daß sie eigentlich in ihrer kurzen Dienstzeit nicht so besonders viel gelernt haben. Das sollte ich also schnell nachholen können. Auch komme ich jetzt schneller, als ich es vermutet habe, dazu, mir den Flaggencode anzueignen. Und an Einiges über den normalen Schiffsbetrieb erinnere ich mich ja noch aus meiner Zeit an Bord des Saurierfängers.
Okr läßt sich immer noch nichts davon anmerken, daß ich ihn fast auf Casabones zurückgelassen hätte. Persönlich wechseln wir keine Worte. Er macht auch nicht den Eindruck, daß er mir aus dem Weg geht. Genaugenommen macht er den Eindruck, daß er dabei ist, diesen Vorfall zu vergessen. Das kann ich aber nicht so recht glauben.
Dann beschleicht mich das Gefühl, daß Osont mit meiner Beförderung andere Absichten verfolgen könnte. Will er mich von seinem Schiff herunterhaben? Hat es ihm nicht gepaßt, daß ich vom Krähennest tatenlos die Landschaft angesehen habe? Ist ihm das Verschwinden der Mannschaft dieser neuen MARY CELESTE so unheimlich, daß er nur entbehrliche Leute auf sie abkommandiert? Die Restmannschaft von Ogambe's Schiff, zum Beispiel, und von jedem anderen Schiff die größte Niete und dazu mich?
Er wird es mir nicht sagen. Und vielleicht gibt er sich selbst auch nicht vollständig Rechenschaft. Mag sein. Aber einen Vorteil hat meine neue Stellung: Als Kapitän kann ich mir wirklich alles und jeden Winkel der MARY CELESTE ansehen. Vielleicht finde ich doch noch einen Hinweis.
Und Ordnung schaffen. Wo immer ich etwas zu reparieren finde, weise ich sofort jemanden an, sich darum zu kümmern. An schadhaften Stellen gibt es auf diesen Schiffen ja keinen Mangel. Aber als ich schon ein paar meiner Leute auf diese Weise mit Arbeit versorgt habe, stelle ich fest, daß ich offenbar der einzige Schiffsführer bin, der sich so auf die Instandsetzung seines Schiffes stürzt. Meine Leute, besonders die Betroffenen, sehen auch nicht besonders glücklich drein, aber sie fügen sich. Der verbrannte Ogambe ist ihnen noch gut in Erinnerung.
Es gelingt mir nicht, während meiner Anweisungen und Arbeitseinteilungen auch nur mit einem in ein persönliches Gespräch zu kommen.
Es geht bald auf 8 Uhr zu. Nach den Mahlzeiten kehrt allmählich Ruhe auf den Schiffen ein. Osont hat sich ein einfaches Wachsystem ausgedacht: Die Schlafperiode wird in sechs gleich lange Teile geteilt. Das sind nach meiner Rechnung also jeweils 90 Minuten. In jedem dieser Teile ist einer der Schiffsführer und zwei Mannschaften wach. In einer kurzen Überschlagsrechnung stelle ich fest, daß die Mannschaften auf diese Weise mehr Schlaf kriegen als die Kapitäne: Letztere haben jede Nacht eine Nachtwache, die Mannschaften etwa nur alle acht Tage. Das erscheint mir ungerecht, aber ich kann nichts dran ändern. Da Osont auf dem Flaggschiff inzwischen auch einen Kapitän ernannt hat, um sich selbst von solchen Routinearbeiten zu entlasten, kommt er als einziger sogar ganz ohne Wachdienst davon. Jedenfalls ist die Wache besser organisiert als in der Nacht zuvor. Das beruhigt mich etwas.
Seit ich in der Welt der Granitbeißer bin, habe ich schon mehrfach gemerkt, daß die Granitbeißer einen ungeheuer genauen Zeitsinn haben. Ich weiß nicht, durch welches äußere Merkmal dieses Zeitempfinden synchronisiert wird, und ich habe ja auch noch niemanden gefunden, der mir das sagen konnte. Sie wissen's einfach, wann die Schlafperiode anfängt und wann sie aufhört, obwohl sich die Helligkeit nicht ändert. Trotzdem muß es irgend etwas geben, was ihnen diesen Rhythmus aufzwingt, und, seltsam genug, diesen 27-Stunden-Rhythmus, den es sonst auf dem ganzen Planeten Erde überhaupt nicht gibt. Ich hätte Charmion darüber noch genauer befragen müssen - vielleicht hätte ich noch einen Hinweis erfahren. Schon wieder Charmion - in jedem Zusammenhang muß ich an sie denken. Worüber wir noch hätten reden können ...
Jedenfalls habe ich diesmal eine Wache in der Mitte der Schlafperiode. Es soll rotiert werden - hoffe ich. Viel zu tun hat die Wache ja nicht. Da wir keine Segel mehr gesetzt haben, wird sich unsere schwimmende Insel aus den sechs Schiffen dem nächsten Küstenstreifen nur so langsam nähern, daß wir im Verlaufe der Schlafperiode noch lange nicht dort ankommen werden. Und sonst muß man nur aufpassen, ob auf den Schiffen etwas passiert, was sofortiges Handeln erzwingt, und die Umgebung beobachten, ob von dort etwa eine Gefahr droht. Natürlich muß der Wachhabende auch aufpassen, daß die beiden wachenden Mannschaften sich nicht ein Plätzchen suchen, um dort heimlich zu schlafen.
Immerhin, das Unerklärliche, das der MARY CELESTE passiert ist, hat Osont auch vorsichtig werden lassen. Er macht uns bei der letzten Besprechung vor der Schlafperiode, an der alle Kapitäne teilnehmen, unmißverständlich klar, daß er keine Wachvergehen wünscht. Wir wissen schließlich nicht, was dazu geführt hat, daß die Mannschaft der MARY CELESTE verschwunden ist. Wenn wir es für nötig halten, können wir jederzeit weitere Männer der Mannschaft aufwecken, um die Wache zu verstärken. Da gibt es keine Entschuldigung - jeder der Kapitäne hat das seinen Leuten klarzumachen.
Wenn irgend etwas Ungewöhnliches passiert, dann will Osont auch unverzüglich selbst geweckt werden. Besser einige Male zuviel als einmal zuwenig.
Die Besprechung ist schnell zu Ende, da es ja sonst nichts Konkretes mitzuteilen gibt. Ich suche schnell meinen Schlafplatz auf, weil diese Nacht um 90 Minuten kürzer sein wird.
56.3 Nachtwache auf der MARY CELESTE
Ich habe die dritte Wache, die um 11 Uhr anfängt. Das ist tatsächlich genau der Zeitpunkt, an dem mich mein Vorgänger weckt. Als ob er meine Digitaluhr hätte, und nicht ich!
Ich begebe mich sofort auf meinen Lieblingsplatz: Das Krähennest auf dem Flaggschiff. Von dort aus sehe ich nicht nur, wo die beiden meiner Wache zugeteilten Leute sind, dieselben sehen auch, daß ich sie praktisch überall sehen kann. Das erspart mir manchen Kontrollgang. Außerdem sehe ich die Umgebung hier noch am allerbesten.
Die miteinander vertäuten Schiffe unter mir liegen wie in einem ruhigen Hafen. Nur die - auch von diesem Krähennest besonders gut hörbaren - Schnarchgeräusche, die von dort heraufkommen, aus den verschiedensten Winkeln, stören den Ästheten.
Das Meer liegt rundherum wie Blei, da der Wind wieder schwächer geworden ist, die leuchtende Wolkendecke scheint heute reglos und ohne innere Struktur, selbst dort, wo sie von den nächsten Säulen durchstoßen wird. Die Insel, auf die wir bei Beibehaltung des gegenwärtigen Kurses zutreiben, ist immer noch weit entfernt. Die Säule, die in ihrer gebirgigen Mitte zur leuchtenden Wolkendecke aufsteigt, spiegelt sich wie auch all die anderen, von hier aus sichtbaren Säulen, mit nur geringen Verzerrungen im Wasser. Ob diese Insel bewohnt ist, läßt sich aus dieser Entfernung nicht ausmachen.
Ganz besonders würden mich Fischsaurier interessieren, da es ja gar nicht solange her ist, daß ich welche gesehen habe. Aber im Moment scheint das Meer leblos, soweit ich sehen kann. Wenn die Schnarcherei da unten nicht wäre, dann würde sich der lyrische Ausdruck 'zeitlos' aufdrängen. Was immer man konkret darunter verstehen möchte.
Was wohl die MARY CELESTE von ihrer Besatzung getrennt hat? Wenn man sich wenigstens einen natürlichen Hergang der Ereignisse ausdenken kann, und sei er noch so unwahrscheinlich, dann droht wenigstens der Erklärungsnotstand nicht mehr so, so daß man übernatürliche Kräfte ernsthaft in Betracht ziehen müßte.
Dabei ist die Versuchung, an Übernatürliches zu denken, in der Welt der Granitbeißer wesentlich geringer als bei uns, einfach, weil es hier nicht dunkel wird. Das Problem der optischen Hilflosigkeit, das jedem Menschen auf der Erdoberfläche im Prinzip vertraut ist, kennen die Granitbeißer nicht. Sie kennen nicht den Baum, der im Dunklen zu einer drohenden Gestalt wird, sie kennen nicht das Geräusch im Wald, das die Vorstellung, einem Ungeheuer schon direkt gegenüber zu stehen und es doch noch nicht sehen zu können, lebendig macht, sie kennen nicht das Grauen, das Gefahren nur dadurch auslösen können, daß man sich über sie nicht mit eigenen Augen informieren kann. Sie kennen nicht den Begriff des Gespenstes - in der Xonchen-Sprache kenne ich kein Wort mit genau dieser Bedeutung. Ihre Welt ist immer hell. Dunkelheit ist für sie eine Extremsituation. Sogar Charmion war in der Dunkelheit der Höhlen von Casabones unsicher und depressiv.
Dabei ist klar, woher unsere Dunkelfurcht kommt. Es ist ein Aussiebungsergebnis der Evolution, wie alle unsere körperlichen und seelischen Eigenschaften. Die Menschen, denen die Dunkelheit keine Furcht einflößte, erlagen einfach mit größerer Wahrscheinlichkeit den Raubtieren, die in der Nacht besser sehen können. Von Generation zu Generation veränderte sich so das zahlenmäßige Verhältnis derjenigen mit Dunkelangst zu denjenigen ohne Dunkelangst zwar nur wenig, aber das multiplizierte sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Menschen so, daß die Angst vor der Dunkelheit fast normal ist und auch bei selbstbeherrschten Menschen wenigstens als Unsicherheit oder kluge Vorsicht in Erscheinung tritt. Unsere Dunkelangst ist das Ergebnis der jahrmillionenlangen Konfrontation mit dem nächtlichen Raubtier, völlig egal, ob man dieser Dunkelangst nun Namen gibt oder nicht, ob es Einbrecher oder Gespenster oder Schlangen sind, die man in der Schwärze vermutet. Die Angst ist, für das Individuum, zuerst da, Teil des durch Auslese entstandenen Gedächtnises der menschlichen Rasse.
Ja, denke ich dann, dann ist es aber falsch, daß die Granitbeißer die Dunkelangst nicht kennen. Sie kennen sie nicht als gegenwärtiges Erlebnis. Nicht in der Welthöhle. Aber Charmion war im Dunkeln unruhig und depressiv! Ohne den Evolutionsdruck einer tatsächlich über tausende von Generationen erfahrbaren Dunkelheit und realer Gefahren in ihr kann sich keine Dunkelangst entwickeln. Die Evolution treibt keinen überflüssigen Aufwand. Also, wenn Charmion, und auch andere Granitbeißer, unter geeigneten Umständen Dunkelangst empfinden, dann sollte das doch ein Hinweis darauf sein, daß die Granitbeißer auf keinen Fall Ergebnis einer unabhängigen Evolution in dieser Welt sind. Sie MÜSSEN im Laufe ihrer prähistorischen Entwicklungsgeschichte Dunkelheit erfahren haben. Also: ihre fernen Vorfahren waren Bewohner der Erdoberfläche!
Naja, eigentlich habe ich das ja sowieso schon immer vermutet. Es ist lediglich ein weiterer Hinweis darauf, daß diese Welt vor langer Zeit mit der Erdoberfläche Verbindung hatte. Vor so langer Zeit, daß in unserer Geschichtsschreibung davon nichts mehr übrig ist. Denn es geht hier um Zeiträume, mit denen verglichen der sagenhafte Untergang von Atlantis erst gestern war.
Ich will die Bausteine in meinem Kopf zusammenfügen und kann es nicht. Warum hat die geologische Forschung diese Höhlen noch nicht gefunden? Das ist bis jetzt ja eigentlich noch die Frage, die ich am allerwenigsten verstehe. Denkmodell: Die Welt der Granitbeißer liegt noch tiefer als ich das bisher angenommen hatte. Dann müßte aber der Luftdruck noch größer sein, und die Temperatur höher. Naja, und eine Höhle dieser Größe wäre immer noch durch seismische Experimente zu entdecken. Das ist es nicht. Aber was ist es dann?
Damit verbunden: Wie sind diese Höhlen geologisch zu erklären? Ich kenne mich doch in der Physik aus, wenn es einen plausiblen Mechanismus gibt, dann sollte der mir schon eingefallen sein. Zeit genug hatte ich inzwischen ja. Aber mir ist nichts eingefallen.
Und dann das neue Rätsel mit dem Verschwinden der Mannschaft der MARY CELESTE. Ja gut, ein natürlicher Hergang der Ereignisse wäre zum Beispiel so: Man legt, aus irgend einem Grunde, an einem Ufer an. Weil im Moment kein Wind ist, wird das Schiff nicht festgemacht. Alle gehen von Bord. Dann kommt doch Wind auf. Zu spät merken sie's, und dann stellt sich auch noch heraus, daß keiner schwimmen kann. Wäre das möglich? Ist es so gewesen? Oder ist solch ein Hergang der Ereignisse nicht zu naiv? - Andererseits, ich habe hier ja schon unglaubliche Dummheiten gesehen: Der Mann, der sich selbst, noch hoch über dem Boden, die Trageleinen des Gleitschirmes mit dem Schwert durchhieb, zum Beispiel, oder der Verhau aus manövrierunfähigen Schiffen in der Bucht bei Casabones. Wie wäre zum Beispiel folgende Idee, eine Variation der ersten: Angenommen, sämtliche Mitglieder der Besatzung können doch schwimmen. In einer Flaute kommen sie auf keine bessere Idee als alle zusammen ins Wasser zu gehen und sich dort zu vergnügen. Dann kommt ganz plötzlich Wind auf, und das Schiff treibt schneller weg als sie alle schwimmen können. Das alles ist bei diesen Leuten doch möglich, diese Leichtsinnigkeit ist ihnen doch locker zuzutrauen!
Ich kann die MARY CELESTE von diesem Krähennest gut betrachten, weil sie neben dem Flaggschiff liegt. Sie unterscheidet sich in nichts von den anderen Schiffen. Sie sieht nicht aus wie ein verfluchtes Schiff.
Nebenbei, die originale MARY CELESTE könnte auf ganz genau dieselbe Weise ihre gesamte Besatzung verloren haben. Ein Bad in einer Flaute im Atlantik. Als alle über Bord waren - Wind. Schon ist's passiert. Hat schon mal jemand dieses Szenario untersucht?
Oder, noch banaler: Als alle im Wasser sind, stellen sie fest, daß niemand über die hohe Bordwand zurück auf's Schiff kann. Das ist bei einer hochbordigen Jacht leicht möglich. Natürlich nicht bei diesen Segelflößen. - Auch nur eine Idee.
Langweilig ist's hier. Ich sehne das Ende meiner Wache herbei. Nicht, daß ich etwas dagegen habe, die Schiffe und diese Welt für mich alleine zu haben. Aber schlafen mag ich auch. Und morgen muß ich ein eigenes Schiff führen. Herwig, der Kapitän! Auch wenn es nur ein Segelfloß ist. Ich habe immerhin 12 Leute. Mehr als mein Chef in meiner Firma. Der hat nur neun.
Die restliche Zeit meiner Wache passiert überhaupt nichts. Hinter einer der Deckshütten tauchen zwei Männer auf, die gleichzeitig dem nächtlichen Urindrang gehorchen. Nachdem sie sich nebeneinander am Heck des Schiffes erleichtert haben, sieht es so aus, als wolle der eine den anderen anmachen. Der weist das aber zunächst zurück, und dann kann ich sie nicht mehr sehen, weil sie wieder hinter der Deckshütte verschwinden.
Das drängt mir dann sofort eine neue Frage auf: Soll ich als Kapitän etwas dagegen unternehmen, wenn sich homosexuelle Handlungsmuster auf meinem Schiff verbreiten? Ich komme erst jetzt auf die Idee, da die allgemeine sexuelle Tätigkeit auf diesen Schiffen wie auch schon auf Casabones geringer war als das, was ich auf dem Saurierfänger gesehen habe. Nichtdestoweniger kann sich das ja ändern, wenn sich zum Beispiel Langeweile breit machen sollte, sexueller Druck zu lange aufstaut und der momentane Grad der Erschöpfung abflaut.
Mir ist es eigentlich gleich, solange die Leute ihre Arbeit tun. Auch wenn man als Gast in dieser Welt bei solchen Szenen immer unangenehm berührt ist, das habe ich nicht zu kritisieren. Wenn ich die Granitbeißer kritisieren wollte, dann böten sich da ja ganz andere Ansatzpunkte. Das beste wird sein, ich bringe in Erfahrung, wie die anderen Kapitäne sich verhalten.
Als die letzten Minuten meiner Wache verstreichen, klettere ich vom Großmast herunter. Mein Nachfolger ist zufällig Okr. Er gehört auch zu der Minderheit, die lieber im Freien schlafen, und er hat sich das Dach des Deckshauses auf einem der äußeren Schiffe dafür ausgesucht. Die ganze Zeit, während meiner Wache, habe ich von Weitem sehen können, daß er einen gesunden Schlaf hat. Ich will ihn zwei Minuten länger schlafen lassen. Mal sehen, ob er es bemerkt.
Während der zweiten Minute, die ich vor dem betreffenden Deckshaus abwarte, höre ich plötzlich vom Dach herunter ein Rascheln. Dann tut es einen gedämpften Aufschlag, und Okr ist vor mir vom Deckshaus heruntergesprungen. Er ist also von selbst aufgewacht.
Er redet kein Wort mit mir, sondern sucht sofort seine zwei Leute auf. Da kann ich ja beruhigt meinen eigenen Schlafplatz aufsuchen.
56.4 Amateurschauspiel
Schon vor 17 Uhr werde ich geweckt. Die Schiffe sollen möglichst schnell auseinandergenommen und auf Kurs gebracht werden, bevor man an die eigentlichen morgendlichen Routine-Tätigkeiten gehen kann. Natürlich müssen die Kapitäne dabei sein.
Eine kurze Lagebesprechung mit Osont, während draußen die Mannschaften anfangen, die Seile loszuschmeißen. Er schlägt wieder eine horizontale Formation vor und erläutert in kurzen Worten, wie er sich das Formationsaufbaumanöver vorstellt. Sein Flaggschiff und meine MARY CELESTE werden die beiden mittleren Schiffe sein. Sonst einfach auf die Signale vom Flaggschiff achten, sagt er, und auf dem Laufenden bleiben, was die Orientierung vermittels der Karten angeht. Ob er die nächste Schlafperiode durchsegeln wird, weiß er noch nicht. Wir sollen herausfinden, mit wie wenig Leuten man den Segelbetrieb aufrecht erhalten kann. Dann scheucht er uns auf unsere Schiffe, weil diese jetzt auseinanderdriften sollen.
Mal sehen, ob es jetzt ohne Schiffsverhau abgeht! In meinem Ruderhaus lerne ich Ondar kennen. Er muß etwa 25 Jahre alt sein und stellt sich nicht allzu dumm an. Im Moment ist das Ruder aber noch kraftlos und er hat eigentlich nichts zu tun, bis unser Schiff dran ist.
Osont's Idee ist diese: Es ist das Beste, hat er gesagt, wenn zuerst die drei Schiffe, die schon in der gewünschten Fahrtrichtung positioniert sind, Segel setzen. Sowie diese aus der Park-Formation herausdriften und anfangen, ihre Fahrtformation einzunehmen, haben die anderen drei Schiffe mehr Platz, um nacheinander Segel zu setzen, zu wenden und dann sich wieder in die Formation einzureihen. Die MARY CELESTE als das mittlere dieser drei Schiffe wird dann also die letzte sein. Dann werden sich die Schiffe während des Segelns in die Fahrt-Formation bringen.
Ich denke, das ist plausibel. So müßte es gehen. Deshalb beobachte ich zunächst die anderen Schiffe.
Es dauert alles seine Zeit, weil die Schiffe sich voneinander wenigstens soweit entfernen müssen, daß die Rahen nicht mehr ineinander ragen. Bei den äußeren Schiffen ist es nun soweit. Das, das schon in der gewünschten Fahrtrichtung positioniert ist, - es liegt auf der linken Seite - setzt Segel, - das an der anderen Seite aber auch, wie ich durch das Gewirr der Takelagen und Mastaufbauten erkennen kann. Vermutlich denkt der Kapitän, daß er sowieso Platz und Zeit zum Wenden hat und sich der Formation so frühzeitig anschließen kann.
"Ondar, siehst du das?" frage ich meinen Rudergänger, um das Eis zu brechen, "ob das funktioniert?"
Ondar sagt nichts. Er weiß noch nicht so richtig, ob er sich eine eigene Meinung leisten kann. Man kann auch zuwenig erkennen. Offenbar hat der Kapitän des rückwärts ausgerichteten Schiffes sein Bug heftiger von den übrigen Schiffen abstoßen lassen als das Heck. Deshalb ist sein Winkel zur gewünschten Fahrtrichtung, also auch zur augenblicklichen Windrichtung, jetzt kleiner als 180 Grad. Er nimmt deshalb an, daß Segel in den Rahen des Bugsprietes und des Vordermastes das Schiff wenden werden. Damit das schnell geht, hat er schon eine ganze Reihe von Segeln gesetzt.
Das Schiff wendet sich in der Tat, aber es fängt auch an, rückwärts zu driften. Dabei nähert es sich wieder dem Schiff, von dem es sich abgestoßen hat.
Es wird knapp, aber es gelingt. Das Schiff schiebt sich langsam in die Lee-Region der noch still liegenden vier Schiffe. So können wir es deutlicher sehen. Es liegt nun quer zum Wind, und seine Fahrt rückwärts verlangsamt sich wieder.
Insofern ist das Manöver geglückt, wenn es auch befehlswidrig war. Denn das dritte Schiff von links ist Osont's Flaggschiff. Es kann zwar sowieso noch nicht Segel setzen, weil es seine eigenen Rahen noch nicht frei hat, solange das zweite Schiff von links noch mit dem Ablegemanöver beschäftigt ist, aber wäre es bereits fahrtbereit, dann wäre es jetzt behindert. Wie ich Osont kenne, paßt ihm das nicht.
Ich brauche noch überhaupt nichts zu tun, weil die MARY CELESTE auch falsch herum positioniert ist, aber das Schiff zu meiner Rechten - momentan die Backbordseite der MARY CELESTE, weil wir noch falsch rum liegen - wird jetzt auch durch die Mannschaft von uns weggedrückt. Da es in Fahrtrichtung liegt, ist man dort auch schon dabei, die Segel zu setzen.
Inzwischen kommt der Ausreißer vor uns allmählich zur Ruhe. Allerdings hat er eine deutliche Abdrift zu seiner Backbordseite, die ihn weiter von uns entfernt. Sein Ausrichtungsfehler ist bereits kleiner als 90 Grad, und damit wird er Fahrt vorwärts aufnehmen. Das Schiff rechts von uns macht jetzt das gleiche.
Ondar sieht mich besorgt an. Er hat es auch gemerkt: Beide Schiffe sind auf Kollisionskurs, wenn sie so weiter machen. Mit einem Seitenblick sehe ich, daß Osont von seinem Ruderhaus die Manöver auf das alleraufmerksamste beobachtet.
Nun ist das Schiff rechts von uns frei, und ich bedeute Ondar, daß er Befehl geben kann, uns von dem Flaggschiff abzudrücken. Dort macht die Besatzung das gleiche. Währenddessen wird das Schiff, das zu unserer Rechten war, schneller.
Auf dem Ausreißer hat man die Situation erkannt. Sie sind inzwischen dabei, alle Segel zu setzen und das Ruder hart nach Backbord herumzureißen. Das Schiff zu unserer Rechten hat dafür den Vorteil, daß es vor dem Wind fährt. Der Kapitän hat auch schon gemerkt, daß die Lage vielleicht nicht ganz glücklich ist, und hat seinerseits sein Ruder hart nach Steuerbord genommen. Beide Schiffe treiben immer rascher auf einander zu, und beide Schiffe gleichen ihre Richtung immer mehr aneinander an. Ob sie es schaffen, einander auszuweichen? - Jetzt zeigt sich, daß ein kielloses Segelschiff nicht sehr leicht zu steuern ist.
Links von mir flattert und rauscht ein Segel, das sich auf dem Flaggschiff entfaltet. Es ist freigekommen und setzt sich nun träge in Bewegung. Aber ich bin sicher, daß man auf allen Schiffen aufmerksam die beiden Schiffe beobachtet, die aufeinander zutreiben und nur noch ein paar Dutzend Meter voneinander entfernt sind. Ich höre über das Wasser Flüche und laute Rufe. Und immer kleiner wird der Abstand.
Sie schaffen es nicht. Mit etwa gleicher Geschwindigkeit und einer um vielleicht noch 20 Grad unterschiedlichen Fahrtrichtung drängen sie sich seitlich ineinander. Aus ihren Masten höre ich Schmerzensschreie, dann ist da das dumpfe Knirschen der Floßkörper, die sich berühren. Kurz darauf driften die beiden Schiffe wieder auseinander.
Diese Kollision war nicht geeignet, die beiden Schiffe seeuntüchtig zu machen. Aber die Schäden in den Mastwerken beider Schiffe kann ich von hier aus sehen, außerdem wird es dort Verletzte gegeben haben. Unten, an Bord der Schiffe, wahrscheinlich nicht. Dazu war die Differenzgeschwindigkeit zu gering.
"Siehst du, Ondar," sage ich, "bei solchen Manövern brauchen wir noch viel Erfahrung. Nun bring das Schiff herum - für uns ist es einfach, wir sind die letzten!"
Ondar läßt im Vorschiff alle Segel setzen, die wir haben. Da auch die MARY CELESTE dadurch zeitweise rückwärts driftet, bin ich schon recht froh, daß die anderen Schiffe uns schon um einiges voraus sind. Ondar wirbelt gekonnt mit dem Ruder herum, und ich sehe, daß er das Schiff schnellstmöglich in die normale Fahrtposition bringen wird. Ich denke, bei ihm ist das Schiff in guten Händen. Ich nehme mir vor, mit jedem der Mannschaft zu sprechen, um einen weiteren Steuermann zu rekrutieren, falls Osont wirklich die nächste Schlafperiode durchsegeln möchte.
Außerdem habe ich noch kein Frühstück gehabt. Das werde ich jetzt nachholen.
56.5 Musterung und Deckschrubben
Bald nach dem Aufbruch haben wir die beabsichtigte Fahrtformation eingenommen. Osont's Flaggschiff ist das dritte von links, die MARY CELESTE das vierte. Abstand der Schiffe untereinander etwas weniger als 200 Meter. Die ganze Formation der sechs Schiffe ist also einen Kilometer breit.
Es gelingt, einen Kurs von etwa 24 Grad von der Windrichtung nach rechts zu halten. So fahren wir also nicht auf die Insel zu, an der wir gestrandet wären, wenn wir nur lange genug tatenlos gewartet hätten, oder wenn wir genau vor dem Wind fahren würden. Mit unserem gegenwärtigen Kurs werden wir diese Insel im Osten weiträumig umfahren.
Und dahinter erstreckt sich das Säulenwaldmeer immer weiter, in unergründliche Entfernungen.
Eigentlich, denke ich, wäre es jetzt ja das Abenteuer. Welche Berufswünsche hat man als kleiner Junge nicht alle gehabt, und Kapitän war sicherlich darunter. Jetzt bist du Kapitän. Dazu in der abenteuerlichsten Welt, die man sich vorstellen kann. Sollte ich das nicht etwas mehr genießen? Schauen, die Augen offen halten, wie ein Kind die Welt und ihre neuen Möglichkeiten einströmen lassen, aufsaugen und als Erinnerungen speichern, soweit meine alten Synapsen das noch zulassen. Das gibt es nie wieder.
Mit jeder neuen Tätigkeit und jeder neuen Fertigkeit erschließt man sich neue Horizonte. Das ist mit fortgeschrittenem Lebensalter immer seltener möglich, weil berufliche und familiäre Einbindung die wirklich wählbaren Optionen immer mehr einschränken. Wer kann denn noch mit 45 einen neuen Beruf ergreifen, wer traut sich das denn noch? Und wäre es nicht eine Dummheit, noch einmal von vorne anzufangen und alle erreichten Erfolge über Bord zu werfen, alle aufgebaute Fachkompetenz in dem bisherigen Beruf Makulatur werden zu lassen? Dazu kommt, daß man auch weiß, daß die eigenen Kräfte nicht mehr unbegrenzt sind, und daß auch nicht mehr beliebig viel Zeit zur Verfügung steht. Neue Horizonte wären schön und gut, aber fallen nicht bereits die ersten, die dasselbe Alter erreicht haben, den ersten ernsthaften Krankheiten zum Opfer?
Natürlich gibt es ab und zu neue Horizonte, in jedem Alter. Das war so, als ich mit 23 Jahren begriff, wie ein Computer funktioniert. Das erste Programm, das lief - es war, als ob man gelernt hätte, auf dem Wasser zu schreiten. Eine Zeitlang schien alles möglich - das stimmte natürlich nicht, man hatte bloß die Anfangsbegriffe des Programmierens gelernt - das war alles.
Oder als ich mit 32 Jahren den Laufsport anfing - plötzlich war da die Vision langer und längster Strecken, die man sich laufend statt wandernd erschließen konnte, und das Versprechen einer vergleichsweise guten Gesundheit. Naja, das Versprechen ist auch weitgehend gehalten worden. Aber als neuer Horizont der eigenen 'Selbstverwirklichung', um dieses Modewort einmal zu gebrauchen, taugt das auf die Dauer nicht. Aus dem Abenteuer wurde Routine. Die in früheren Jahren absolut für utopisch gehaltene Vorstellung, einmal mehr als 42 Kilometer am Stück laufen zu können, wurde alltäglicher Bestandteil der eigenen Fähigkeiten, wie das Lesen und Schreiben. Das ist es nämlich, was ich gelernt habe: Es wird aus jedem Abenteuer Routine.
Mit neuen Kenntnisgebieten, die man sich im Prinzip ja in jedem Alter erschließen kann, ist es genau so. Aber in dem Meer der Dinge, die man wissen und verstehen kann, sind die wesentlichen Dinge auch nicht zu häufig gesät. Einzelwissen bringt nicht weiter, ist nur gelegentlich nützlich. Aber zum Beispiel vor sieben Jahren, als ein Kollege mich versehentlich zu der Beschäftigung mit den Neuronalen Netzen brachte, trat dieser Fall ein, ganz unerwartet und ohne jene Vorwarnung. Bis dahin war ich nur Physiker und Informatiker. Bis dahin war ich mit der wirklichen physikalischen Welt vertraut. Bis dahin habe ich mich damit abgefunden, daß ich über die Gedankenwelt und die Bewußtseinsarchitekturen nichts wußte, obwohl doch genau diese auch für den Physiker und den Informatiker primäre Werkzeuge und Träger seiner Arbeit, seines Denkens und seines Erkenntnisvermögens sind. Alles, was wir tun, alles, was ist und von dem wir erfahren, es wird erst in der Subjektivität erfahrbar, wenn es eine Darstellung im Cortex gefunden hat. Und da gelten völlig andere Gesetze. Und einen großen Teil meines Lebens wußte ich überhaupt nichts davon.
Dann kam dieser neue Horizont, wurde plötzlich sichtbar. Das Verständnis des Denkens und das Funktionieren des Gehirns. Von einem Moment zum anderen wurde die gesamte psychiatrische Literatur verständlich, vielleicht verständlicher als für den Studenten der Psychiatrie, der von der Neuroinformatik nichts weiß. In solchen Zeiten, wo man noch nicht überblicken kann, was das neue Wissen bringt, da könnten neue Horizonte auftauchen. Das sind abenteuerliche Zeiten. Wieder einmal ist eine Zeitlang alles möglich.
Und jetzt bin ich Kapitän eines Schiffes. Zwar sind meine Mitstreiter unangenehme Gesellen, und in dieser Welt werden wir noch Schwierigkeiten bekommen, und wir haben uns auch keine großartigen Ziele gesteckt - wenn überhaupt welche - aber es ist trotzdem neu und aufregend. Genieße es, Herwig, solange es dauert. Als Kind war alles neu und aufregend und vielversprechend: Bahnfahren und neue Bilder in neuen Büchern anschauen und Flugzeuge am Himmel beobachten. Da gab es jeden Tag neue Horizonte. Jetzt - einmal in einem Jahrzehnt. Wirklich Grund genug, es zu genießen und die Augen aufzusperren.
Dabei ist dieser Kapitänsposten im Moment wirklich nicht eine Entscheidungsträgerposition. Entscheiden tut Osont. Er kann sich auch jeden Moment entscheiden, einen anderen als Kapitän einzusetzen, oder sogar deine Existenz zu beenden. Es mußt halt auf jedem Schiff einer sein, der die Aktivitäten an Bord koordiniert und den Willen Osont's ausführt. Das bin im Moment eben ich. Und was mache ich? Aufmerksam zum Flaggschiff hinüberschauen oder hinüberschauen lassen, ob es neue Anweisungen gibt.
Ab und zu gibt es welche. Die groben Kursvorgaben werden vom Flaggschiff herübersignalisiert, und ganz so viele Freiheiten haben wir da sowieso nicht, so beschränkt, wie unsere Manövrierfähigkeit bei vorgegebener Windrichtung ist. Da es auch weiterhin keine Anzeichen gibt, daß systematische Arbeiten zur Kielerprobung in die Wege geleitet werden sollen - wozu erzähle ich eigentlich den ganzen Krempel, wenn diese Leute das nicht interessiert? - bleibt außer dem Routinebetrieb gar nichts anderes zu tun übrig.
Das einzige, was man herauskriegen muß, ist, mit wie wenig Mann ein Schiff einsatzbereit bleibt. Eigentlich ist es eine ganz einfache Rechnung: Ein Rudergänger und genug Leute, um wenigstens ein Segel zu bergen oder zu setzen. Mehrere Segel können ja nacheinander behandelt werden, es sei denn, man ist in Zeitnot. Aber dann können ja alle geweckt werden.
Für ein Segel sind vier Mann genug. Mit zweien ginge es auch, aber das ist schon schwieriger. Dann braucht man noch einen für diverse Arbeiten. Kaffee auf die Brücke bringen, wenn es bei den Granitbeißern so etwas wie Kaffee gäbe und wenn man das Ruderhaus Brücke nennen wollte. Also jedenfalls Verpflegungszubereitung zu jeder Zeit. Das sind also sechs Mann. Und die sind nicht einmal alle ausgelastet, solange die Besegelung nicht geändert werden muß.
Während ich nacheinander mit den Leuten spreche, verbreite ich den Hinweis, daß sie sich ruhig jederzeit eine Mütze Schlaf suchen sollten, wenn ihnen danach ist. Wenn rund um die Uhr Leute gebraucht werden, ist es sowieso unvermeidlich, daß dauernd irgendwo jemand schläft.
Sonst sind meine Gespräche nicht sehr ergiebig. Von vielleicht zweien nehme ich an, daß sie als Rudergänger einsetzbar sind. Ich sage Ondar Bescheid, damit er sich darüber eine Meinung bildet. Dazu soll er die beiden in das Ruderhaus holen lassen. Sie heißen Ochaum und Olch.
Dann begebe ich mich in das Krähennest der MARY CELESTE. Eigentlich wollte ich mich dort etwas einer contemplativen Stimmung hingeben, aber kaum, daß ich es mir dort bequem gemacht habe, kommt von unten Geschrei. Irgendwo im Deckshaus sind zwei Männer aneinandergeraten. Also muß ich wieder runter, um nachzusehen, was los ist.
Keiner will es gewesen sein, und keiner hat etwas gesehen. Und ich habe die Stimmen nicht erkannt. Während ich mich durchfrage, bemerke ich, daß ich, wegen dieser Kleinigkeit, in eine unangenehme Situation gerate: Der Kapitän des Schiffes demonstriert, daß er nicht in der Lage ist, alle Dinge an Bord unter Kontrolle zu haben. Ich fühle, daß mir das meine Aufgabe über kurz oder lang erschweren könnte. Die Mannschaft wird hinter meinem Rücken feixen. Was soll ich tun? Es ist ja nichts kaputtgegangen oder sonst etwas ernsthaftes passiert. Es haben sich nur zwei gestritten, und der Kapitän ist nicht in der Lage, herauszufinden, wer es war. Zu spät merke ich, daß ich den Streit hätte ignorieren sollen.
Weil es nicht schaden kann, ordne ich deshalb allgemeines Deckschrubben und Revierreinigen an - soweit diese Begriffe bei der Bauweise des Schiffes anwendbar sind. Ich teile jedem etwas zu - ein Viertel des Deckes, die Werkzeugkisten, das Deckshaus und so weiter. Dann besteige ich wieder den Mast.
Von oben habe ich dann sehr rasch den Eindruck, daß die gesamte arbeitende Mannschaft aus nur wenigen Leuten besteht, obwohl ich doch eigentlich alle mit Arbeit versorgt habe. Dann denke ich daran, daß ich mir durchaus nicht in allen Fällen merken kann, wen ich für was eingeteilt habe. Wie soll ich dann die Durchführung dieser Arbeiten kontrollieren?
Allmählich - wir sind erst ein paar Stunden unterwegs - habe ich das Gefühl, daß auch einfache Dinge an Bord versprechen, kompliziert zu werden.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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