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******** 055. Tag: Donnerstag 95-10-12 ********
55.1 Manöver und Flaggencode
Ich sehe Casabones nicht mehr. Eine schwache Kursänderung hat eine der näheren Säulen vor Casabones geschoben, außerdem kommen Nebelbänke auf dem Wasser auf. Es ist ein feiner Nebel - dicker Nebel ist bei der gleichmäßigen Temperatur thermodynamisch gar nicht möglich - aber bei dem Abstand reicht er doch aus, weit entfernte Dinge zu verwischen, sogar von meinem erhöhten Standpunkt aus. Ich bemerke, daß unsere fünf Schiffe näher zusammenrücken. Allmählich kriegen sie die Steuerung in den Griff. Die drei anderen Schiffe, die soviel Fahrt aufgenommen haben, sind längst verschwunden.
Es wird auch ruhiger auf den Schiffen. Die endlosen Diskussionen im Ruderhaus, die immer ausbrechen, wenn die Karten konsultiert werden müssen, hören auf. Allmählich scheinen sie zu lernen, wie man Karten liest. Ich sehe noch nicht, daß irgendjemand daran geht, das mitgenommene Holz in Bretter weiterzuverarbeiten. Solange der Wind in die richtige Richtung weht, scheint Olcar das nicht für nötig zu halten, und Osont auch nicht. Vielleicht haben sie aber auch einfach keinen Platz zum Arbeiten, oder sie wissen nicht, wie sie die Leute einteilen sollen. Bin neugierig, ob die Schlafperiode durchgesegelt wird. Wäre eigentlich sinnvoll. Das hieße aber, daß Leute auf dem Schiff gleichzeitig arbeiten und schlafen müssen.
Osont hat darüber offenbar auch nachgedacht. So um 3 Uhr läßt er die meisten Segel reffen. Den anderen vier Schiffen bleibt nichts anderes übrig, als dasselbe zu tun, wenn sie nicht davontreiben wollen. Inzwischen ist der Nebel dichter geworden, und wir befinden uns kilometerweit von der nächsten Felssäule entfernt. Ankern dürfte unmöglich sein. Nachdem Osont es durch die Geschwindigkeitsverminderung ermöglicht hat, daß die Schiffe nahe zusammenkommen, errate ich, was er vorhat: Die Schiffe werden während der Schlafperiode mit Tauen zusammengehalten, so daß eine Wache ausreicht.
Genauso geschieht es. Allerdings ist es eine langwierige Zirkelei, bis endlich alle Schiffe so nahe zusammen sind, daß man Taue hinüberwerfen kann, um so die Schiffe endgültig einander längsseits zu legen. Das muß noch geübt werden, denke ich mir.
Inzwischen hat Osont einen Flaggencode ausarbeiten lassen. Das heißt, Olcar hat es machen müssen - jetzt weiß ich, womit er ihn beschäftigt hat! Es werden Abschriften der Ausarbeitung in alle Ruderhäuser verteilt. Irgendwann muß ich das mir auch aneignen - ich wüßte schon ganz gerne, was Osont seinen Schiffsführern hinübersignalisiert!
Währenddessen suchen sich die meisten Männer einen Platz zum Schlafen. Aus welchen Gründen auch immer bevorzugen viele das Innere der Deckshäuser - ist mir nur recht. Ich lege mich auf das Achterschiff, zwischen aufgestapelten Seilrollen und Baumstämmen. Da bin ich völlig allein. Es ist zwar alles feucht, aber das macht bei dieser Hitze nichts. Hauptsache, es stört mich niemand. Ich glaube, Osont hat nicht einmal eine durchgehende Wache organisiert, und wenn doch, dann ist es nur ein Mann. Der wird sicher ein Nickerchen halten, sobald er merkt, daß außer ihm niemand mehr wach ist. Ich kenne doch die Leute hier. Bloß einen Mann als Wache einzuteilen würde ich für leichtsinnig halten, aber naja. Was soll schon passieren. Wenn Sturm aufkäme, dann wird es uns schon wachschaukeln.
Es ist hingegen ein bißchen beunruhigend, weil es während der Schlafperiode nicht weitergeht, oder doch nur sehr langsam, weil sich der Wind auch in den Aufbauten fängt und so die Insel aus den miteinander vertäuten Schiffen leicht treibt. Jeder Meter, den wir zurücklegen, bringt mich näher zu Irene und uns beide eventuell wieder nach Hause. Aber ich muß froh sein, daß das Schicksal uns im Moment überhaupt in ihre Richtung führt. Es hätte ja ganz anders kommen können.
Beim Einschlafen denke ich an Irene und an Grom, das ich noch nie gesehen habe. Und an Charmion.
55.2 Schlamperei
Das Trennen der Schiffe zur Weiterfahrt geht schneller und einfacher. Trotzdem wird bei den Vorbereitungen soviel Lärm gemacht, daß es kurz nach 14 Uhr nicht mehr möglich ist, weiterzuschlafen.
Ich nehme mir mein Frühstück mit in das Krähennest, weil ich dort den größten Abstand zu den Männern habe. Außerdem sieht man dort am meisten.
Deshalb bin ich auch der erste, der um 18 Uhr eines der drei vermißten Schiffe erblickt. Es liegt weit voraus, fast in unserer Fahrtrichtung, und es scheint sich nicht zu bewegen, weil es mit der Breitseite zu uns liegt. Die Segel scheinen vollständig gerefft zu sein, aber irgendwie sieht das Mastwerk merkwürdig aus.
Es dauert fast eine Stunde, bis wir heran sind. Osont läßt die ganze Flotte stoppen. Er versucht, unser Schiff an das andere längsseits zu legen, was auch nach einigen Versuchen gelingt. Derweil habe ich Gelegenheit, das andere Schiff genauer zu begutachten.
Dieses Schiff, so sehe ich gleich, ist durch unsachgemäße Behandlung ruiniert worden. Es muß wohl die schlechteste Mannschaft gehabt haben, die Osont zusammengestellt hat. Wie kann man es schaffen, an beiden Masten die Rahen zu brechen? Wieso sind die Segel weder gerefft noch gesetzt, sondern hängen wie unordentliche Betten im Mastwerk herum? Wieso sind soviele der Seile in der Takelage gerissen? Wieso ist das Dach des Deckshauses aufgebrochen? Wieso ist die Ladung so verteilt, daß das Schiff Schlagseite hat? - Ich nehme an, daß Osont da unten jetzt genau diese Fragen stellen wird.
Später erfahre ich, daß dieses Schiff ganz besonders von selbstgemachtem Unglück heimgesucht wurde. Nicht nur, daß sie in der Tat recht wenig Einfluß auf Geschwindigkeit und Kurs hatten - In der kurzen Zeit, die seit dem Ablegen von Casabones vergangen ist, ist die halbe Mannschaft umgekommen! Zwei sind aus der Takelage abgestürzt, ebenfalls zwei wurden von Gegenständen erschlagen, die jemand aus den Masten fallengelassen hatte, dann war da ein tödlich endender Streit, dann eine tödliche Wunde, die sich ein Mitglied der Mannschaft selbst mit der Axt beigebracht hat, und das bei der routinemäßigen Zerkleinerung von Brennholz für die Küche, dann eine disziplinarische Hinrichtung, dann eine tödliche Lebensmittelvergiftung, und schließlich ein Ertrunkener, der, nachdem er aus irgendeinem Grunde über Bord gefallen war, so rasch versank, daß man ihm gar nicht helfen konnte.
Osont ist auf der Palme. Ich sollte mich hüten, ihm jetzt unter die Augen zu treten. Er entschließt sich, die noch brauchbaren Vorräte und den Rest der Mannschaft des Schiffes zu übernehmen und auf unsere fünf Schiffe zu verteilen. Der Schiffsführer hat jedoch drüben an Bord zu bleiben. Ogambe heißt er, glaube ich. Osont schreit ihn so gründlich und so ausführlich und so laut an, daß wir diesen Anschiß von überall verfolgen können. Dann wird der Schiffsführer an den Großmast gefesselt, in etwa zehn Metern Höhe über dem Deck. Mir schwant für ihn Schlimmes - in einem Roman würde ein Schriftsteller sich jetzt nicht mehr die Mühe machen, sich für ihn noch einen Namen auszudenken, wenn ein solcher bis jetzt noch nicht eingeführt worden wäre. Bis auf Tolkien vielleicht, der sich massenhaft Namen für Personen ausgedacht hat, die dann im Buch gar nicht auftreten.
Osont läßt das Deckshaus zertrümmern, um um den Großmast herum einen ordentlichen Scheiterhaufen zu errichten. Ich denke daran, daß wir die Bretter für die Kiele besser brauchen könnten, aber vorsichtshalber sage ich nichts. Osont treibt die Leute zu großer Schnelligkeit an. Alles auf dem Unglücksschiff, was brennbar ist, wird um den Großmast herum aufgeschichtet. Dann werden die Leinen von unserem Schiff losgeworfen, während drüben noch einige Männer mit dem Feuerlegen beschäftigt sind. Sie müssen durch das Wasser zu uns zurückschwimmen.
Osont läßt noch keine Segel setzen. Dann tun es die Schiffsführer auf den anderen Schiffen auch nicht. Osont möchte, daß alle wissen, was mit einem Schiffsführer passiert, der soviel Mist zuläßt, wie das hier offenbar geschehen ist. So haben wir alle Gelegenheit, aus einigen hundert Metern Entfernung zuzusehen, wie das Schiff in Flammen aufgeht. Lange gellen uns die Schreie des Kapitäns da drüben in den Ohren. Seine Höhe über dem Scheiterhaufen hat Osont gerade so gewählt, daß die Zeitdauer des Sterbens möglichst lang wird. Osont's Laune wird bei diesem Vorgang wieder sichtbar besser. Ich kann nicht verstehen, was der Kapitän schreit - er verwendet, wenn er etwas artikuliert, entweder einen sehr entlegenen Dialekt der Xonchen-Sprache, oder eine ganz andere Sprache. Vielleicht ist es wirklich so, wie Jules Verne erwähnte, daß jeder, der in Todesangst und unter Schmerzen schreit, seine ureigenste Muttersprache verwendet. Und das ist in diesem Falle sicher nicht die Xonchen-Sprache gewesen.
Erst, als alle Aufbauten auf dem brennenden Schiff zusammengebrochen und die Schreie schon längst erstickt sind, läßt Osont Segel setzen. Schnell entfernen wir uns von diesem Ort.
Ich aber kann von meinem Platz im Krähennest noch lange die Rauchfahne des Schiffes hinter uns sehen. Da es sich nach unserer Sprechweise mehr um ein Floß handelt, sinkt es nicht, und das Feuer wird noch lange vor sich hin brennen oder schwelen.
Im Laufe der nächsten Stunden habe ich Gelegenheit, die Wirkung der langsamen Zunahme der Fertigkeiten der Mannschaften und der Steuerleute auf den fünf Schiffen zu sehen. Rechts und links von uns fahren jeweils zwei Schiffe, und die relative Position unserer fünf Schiffe zueinander wird immer stabiler. Ich weiß nicht, ob die anderen Kapitäne das von selbst so einzurichten versuchen, oder ob eine entsprechende Anweisung von Osont vorliegt. Jedenfalls nähert sich die Formation der fünf Schiffe im Laufe der Zeit immer mehr einer Linie an - alle auf gleicher Höhe, Abstand zum jeweils nächsten Schiff vielleicht 200 Meter.
Auch der Lärm an Bord hat deutlich abgenommen. Die Mannschaften üben sich bereits erfolgreich darin, sich die Arbeit so leicht wie möglich zu machen - was manchmal ja durchaus den Weg zu größerer Effizienz weisen kann - oder sich vor der Arbeit ganz zu drücken. Da mich niemand vom Mast herunterholt, nehme ich an, daß auch Olcar die Aufgabe der Kielherstellung immer noch erfolgreich vor sich herschiebt. Das hat aber vielleicht auch praktische Gründe: Solange wir reibungslos vorwärtskommen, würden Holzarbeiten auf Deck nur stören, und Experimente mit Schwertkonstruktionen würden Steuerung, Navigation und Koordination der Schiffe untereinander beeinflußen. Mal sehen, vielleicht erübrigt es sich, bei fortdauernden günstigen Winden - Aufgeschoben ist vielleicht aufgehoben.
Der Wind wechselt seine Richtung, aber nie so stark, daß sich die Entfernung zu unserem Ziel dadurch wieder vergrößerte. Der Kurs ist eben nicht sehr gerade, das ist alles.
Es geht auf 24 Uhr zu, als ich, weit voraus, auf dem immer noch breiten Säulenwaldsee, wieder etwas erspähe, was ein Schiff sein könnte.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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