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******** 054. Tag: Mittwoch 95-10-11 ********

54.1 Genie und Crash

Nachdem ich jetzt überzeugt bin, daß man auf meine Person als Berater noch genügend Wert legt, so daß man nicht ohne mich absegeln wird, ohne die ganze Insel zu durchsuchen, und daß auch noch Holzeinschlagarbeiten notwendig sind, verziehe ich mich für die Schlafperiode wieder in meine einsame Felsenbucht. An Bord der Schiffe dürfte es in den nächsten Tagen sehr gedrängt zugehen. 125 Personen auf 8 Schiffen, das sind immer noch 15 bis 16 Personen auf jedem Schiff. Wenn Osont alle Schiffe nimmt. Sonst werden es mehr.

Bin neugierig, wie er die Schiff-zu-Schiff Kommunikation bewerkstelligen wird. Das ist bei einer solchen Flotte ja unbedingt nötig. Er wird sieben weitere Kapitäne ernennen müssen, und es wird reiner Zufall sein, wenn einer davon eine Ahnung von der Seefahrt haben sollte.

Als ich um 11 Uhr am nächsten Morgen zur Ankerbucht zurückkehre, hallt der Wald von Axtschlägen wider. Ich erfahre, daß die meisten Holzvorräte schon geschlagen worden sind, was ich höre sind nur noch die Arbeiten, die notwendig sind, um die Stämme in handliche Stücke zu zerteilen, so daß man sie auf die Schiffe verladen kann. Die übrigen Vorräte, so erzählt man mir, seien im wesentlichen vollständig. Innerhalb der nächsten Stunden werden wir abfahren.

Das erscheint mir optimistisch. Ich prüfe den Wind. Da ist kein Wind. Völlige Flaute. Wie wollen wir so überhaupt aus der Bucht herauskommen? Rudern? Bin neugierig, was Osont vorhat.

Die restlichen Ladegeschäfte sind bis etwa 15 Uhr fertig. Osont hat mich für das Schiff eingeteilt, auf dem er sich selbst aufhalten wird. Es ist das größte, und es wird damit das Flaggschiff.

Während ich noch auf dem Ufer auf- und abgehe, um mir noch einmal auch die anderen Schiffe aus der Nähe anzusehen - vielleicht fällt mir noch etwas auf - verläßt Osont, offenbar ebenfalls auf einem Inspektionsgang, eines der kleineren Schiffe.

Er ist in Begleitung von Okr!

Also hat Okr es geschafft. Jetzt möchte ich wissen, was er Osont erzählt hat. Sie sehen mich, wechseln ein paar Worte miteinander, die ich nicht verstehen kann, und kümmern sich dann um andere Dinge. Okr geht mir aus dem Weg. Natürlich brenne ich vor Neugier, wie er den letzten Gleitschirm doch noch hingekriegt hat und wann er eigentlich gelandet ist - ich habe ja nichts gesehen - aber ich muß auch damit rechnen, daß er stinksauer auf mich ist. Vielleicht habe ich einen weiteren Todfeind.

Später erfahre ich, daß er eines der Schiffe führen wird. Wenigstens ein kompetenter Kapitän, denke ich. Olcar hätte ich auch für kompetent gehalten, aber der reist mit auf Osont's Schiff, denn seine Aufgabe wird die Kielherstellung sein.

Was aber Okr betrifft, so muß ich mir auch eingestehen, daß ich auch aus einem anderen Grunde erleichtert bin, daß er ein eigenes Kommando bekommt: Dann fährt er notwendigerweise auf einem anderen Schiff als ich. Ist vielleicht erst einmal besser.

Allmählich sammeln sich die Meuterer auf ihren Schiffen. Es sind sogar schon einige Segel gesetzt worden, aber offenbar nur, um zu sehen, wie sie schlaff herunterhängen. Im Gegensatz zu der Untätigkeit des Windes fliegen hektische Kommandos hin und her. Ich weiß nicht, was da noch alles zu organisieren ist, aber manche der frisch ernannten Schiffsführer scheinen noch die Ausrüstungsarbeiten des ganzen Schiffes vor sich zu haben, obwohl doch eigentlich schon alles an Bord sein sollte. Aber vielleicht liegt das auch nur an der Menge der mitgeführten Ausrüstungsgegenstände, die ständiges Umräumen notwendig macht, damit die Schiffe gerade im Wasser schwimmen und damit nichts im Wege liegt. Niemand hat ja auch nur die Spur einer Routine, und so wird über jeden notwendigen oder auch nicht notwendigen Handgriff immer wieder gestritten.

Dann sehe ich, daß einige der Rahen, die noch nicht mit Segeln bestückt sind, jetzt mit solchen versehen werden. Das ist aber ein großer Aufwand - die Meuterer stellen sich reichlich ungeschickt an, und mehr als einer sieht besorgt auf das Deck tief unter ihnen. Das sind keine Seeleute, das sieht man spätestens jetzt sofort! Allein der Routinevorgang, ein vorhandenes Segel zu setzen, benötigt viel Geschrei und dauert lange. Und natürlich entfaltet sich das Segel nicht überall gleichzeitig, wie man das eigentlich erwartet. Ein himmelweiter Unterschied zu dem seemännischen Betrieb auf dem Saurierfänger!

Ich möchte wissen, was wäre, wenn diese Tätigkeiten in der Takelage durch aufkommenden Wind verkompliziert würden! Dann wird es nämlich für eine Landratte erst recht unangenehm: Das Schiff stampft und rollt, es gibt nichts im Mastwerk, was sich nicht gegeneinander bewegt, und die Segel können durchaus große Kräfte entfalten, die geeignet sind, irgendjemanden herunterzuschleudern oder jemandem auch etwas einzuklemmen. Im Moment sollte es eigentlich überhaupt keine Probleme geben.

Und was es für Probleme gibt! Ich verstehe ja selber nicht sehr viel davon, aber trotzdem amüsieren mich die von Mast zu Mast geführten Diskussionen, etwa um den Zweck eines bestimmten Seiles oder einer anderen Einrichtung da oben zu erraten. Vielleicht wird es klar, wozu diese Dinge gut sind, wenn Wind aufkommt. Wenn diese Leute bis dahin nicht das ganze Schiff umbauen!

17 Uhr. Ich bin inzwischen auf Osont's Schiff und habe mich rasch zu meinem Lieblingsplatz begeben: dem höchsten Krähennest, das auf diesem Schiff etwa 50 Meter über dem Deck ist. Osont nimmt es mit einem kurzen, gleichgültigen Blick zur Kenntnis. Vielleicht ist es der sicherste Platz auf dem Schiff - unten an Deck kann es jederzeit passieren, daß eine versehentlich gelöste Rah herunterknallt und eine Handvoll Leute erschlägt. Hier oben passiert mir nur etwas, wenn sie es fertigbringen sollten, den Großmast zu fällen.

Charmion, wie hättest du diesen Laden geschmissen! Aber wie wären deine Vorurteile über die Männer gefestigt worden, wenn du diesem Sauhaufen bei dem Versuch, Schiffe seeklar zu machen, zugesehen hättest!

18 Uhr. Unten ist immer noch hektischer Trubel. Aber ein Hauch hat meine Stirn gestreift. Gerade eben sichtbar bewegen sich einige der Segel. Ich rufe zu Osont hinunter und bedeute ihm, daß Wind aufkommt. Dann sollten wir jederzeit losfahren können, da wir alles an Bord haben und Wind das einzige war, was noch fehlte. Als besondere Gabe des Schicksals weht der Wind in der richtigen Richtung und sollte diese Schiffe aus der Bucht hinausdrücken!

So ziemlich alle Schiffe beginnen, zu driften. Großer Gott: Die Gangway-Planken sind noch nicht eingeholt worden, und einige der Schiffe sind noch mit Seilen an Bäumen am Ufer befestigt, bei anderen hat man wegen der Windstille darauf verzichtet. Ich sehe es kommen, aber ich kann es nicht verhindern: Langsam, aber unerbittlich, werden die Schiffe aufeinander zu geschoben. Manche drehen sich an ihren Leinen, andere nehmen Fahrt auf uns schieben ihren Bugspriet in die Takelage eines anderen Schiffes, und nach kurzer Zeit schwimmen die meisten Gangway-Planken im Wasser, was die Aufgabe, die Haltetaue am Ufer loszubinden, nicht gerade erleichtert, da niemand ins Wasser will, um hinüberzuschwimmen, und wenn es dann schließlich doch jemand tut, dann ist es schon zu spät.

Acht Schiffskommandanten brüllen um die Wette. Es ist vergebens. Der geringen Windstärke gemäß geschieht alles wie im Zeitlupentempo, nichtdestoweniger, es geschieht, und langsam entsteht eine miteinander verzahnte Insel aus Schiffen, die sich in der Bucht zwischen den Ufern festsetzt. Man würde es nicht glauben. Aber ich sehe es mit eigenen Augen! Wenige Minuten, und die bloße Ahnung eines Windes haben ausgereicht, diese ganze Flotte bewegungsunfähig zu machen!

18 Uhr war es, als der Wind aufkam. 20 Uhr ist es, als endlich das erste Schiff wieder freikommt. Es verläßt, tatsächlich Bug voran, die Bucht. Um uns nicht davonzufahren, ist man dort bemüht, die Segel wieder zu bergen.

Eine Stunde später sind weitere drei Schiffe fahrtüchtig, darunter das, auf dem ich mich befinde, und von meinem erhöhten Standpunkt aus kann ich beobachten, wie in der Bucht noch bis 21 Uhr gearbeitet wird, um auch das letzte Schiff freizubekommen.

Wenn ich jetzt gefragt würde, wann wir diese Fahrt eigentlich angetreten haben, dann wäre ich um eine Antwort wirklich verlegen!

54.2 Osont's Flotte

Jetzt sind natürlich die Probleme noch nicht vorbei. Olcar wird sich noch etwas gedulden müssen, wenn er an die Herstellung von Kielen gehen möchte. Im Moment werden alle Hände für das Führen des Schiffes gebraucht.

Zunächst einmal tendieren alle Schiffe dazu, sich voneinander zu entfernen, schon weil jedes sich seinen eigenen Kurs aus den Untiefen der Schäreninseln heraus sucht. Es ist kein Kommunikationscode verabredet worden, so daß es Osont nicht möglich ist, seine Befehle den anderen Schiffen zu vermitteln. Und daß in dieser Phase kein Schiff auf Grund läuft, dürfte auch nur dem Zufall zu verdanken sein.

Ein Problem, das sie da unten gar nicht bemerken, sehe ich von meinem Krähennest: In einigen Kilometern Entfernung, in einem Gebiet, wo keines von unseren Schiffen ist, tauchen Saurier auf. Ich weiß nicht, ob sie von uns Notiz nehmen - meiner Ansicht nach sind es zwei oder drei Tiere, die dort schwimmen. Große Tiere. Ich fühle mich ungeschützt. Charmion hätte gewußt, was zu tun ist. Charmion wäre für diese Fischsaurier eine größere Bedrohung als diese ganze Flotte zusammen. Haben wir überhaut Harpuniergeräte an Bord? Ich habe mich nicht darum gekümmert, und sonst wohl auch niemand. Wenn welches da sein sollte, dann ist es wahrscheinlich zusammengelegt in den Deckshäusern untergebracht. Vielleicht ist es nicht einmal einsatzfähig, nach dem Zustand zu urteilen, in dem wir diese Schiffe vorgefunden haben, und niemand weiß, wo es ist. Ich fürchte, wir wären einem Angriff dieser Fischsaurier wehrlos ausgeliefert.

Die großen Tiere kommen nicht näher, und ich beruhige mich wieder. Es reicht wohl, wenn ich sie im Augenwinkel behalte. Andere Probleme sind dringender.

Gerade, als ich mich entschließe, herunterzusteigen, um Osont etwas über die Flaggensignalsprache zu erzählen - so etwas braucht er jetzt - sehe ich auf einem der anderen Schiffe eines der gesetzten Segel zerreißen. Einfach so. Es ist zwar Wind, aber doch so wenig, daß ein Segel nicht so einfach zerreißen kann.

Unten erfahre ich dann, was passiert ist. Einer der Männer, der zufällig genauer hingesehen hat als ich, hat gesehen, daß dort jemand aus dem Mast gefallen ist. Der hat im Fallen irgendwie das Segel zerteilt.

Mir kommt eine Fernsehsendung aus der Anfangszeit des Deutschen Fernsehens in den Sinn: Da war ein Artist, der ständig mit spektakulären und halsbrecherischen Kunststücken auftrat. Eines davon war der Sprung aus großer Höhe in ein senkrecht aufgespanntes, großes Tuch. Ich weiß nicht mehr, ob es sich um ein Segel gehandelt hat oder um etwas anderes. Dieser Artist stieß ein Messer in das Tuch und rutschte dann, am Tuch entlang und dieses dabei zerteilend, sicher in die Tiefe. Vielleicht hat der Mann auf dem Schiff da drüben in einer plötzlichen Eingebung es genauso gemacht.

Es würde mich allerdings interessieren, was er dann gemacht hat, als er das untere Ende des Segels passiert hat!

Osont hört mir bei meinen Erklärungen über die Flaggensignale nur mit halbem Ohr zu. So etwas ähnliches hat er sich auch schon ausgedacht. Aber es muß natürlich ein Code für die wichtigsten Nachrichten geschaffen werden, und dann müssen Leute darin unterrichtet werden, und zwar auf allen Schiffen mehrere. Um das aber in die Wege zu leiten, müssen die Schiffe wieder so nahe zusammenkommen, daß ein Personenaustausch möglich ist. Im Moment sind drei der Schiffe bereits soweit weg, daß man sie kaum noch sieht. Man weiß nicht, ob die Besatzung vergessen hat, was man tun muß, um ein Segel zu reffen, oder ob sie sich absichtlich vom Flaggschiff entfernen. Osont meint, letzteres wäre eigentlich nicht möglich, da auf jedem Schiff seine persönlichen Vertrauten seien.

Wieso er annimmt, daß seine persönlichen Vertrauten ihm gegenüber loyaler sein sollten als er ihnen, das verrät er nicht.

Die vier anderen Schiffe halten sich von sich aus nahe am Flaggschiff, wenn auch dort eine ganze Weile experimentiert werden muß, bis sie die Besegelung herausgefunden haben, mit der sie etwa die gleiche Geschwindigkeit halten können. Die generelle Fahrtrichtung scheint Norden zu sein - vermute ich. Ich habe ja keinen Kompaß, und so kann ich mich an den mir nur ungefähr bekannten geographischen Einzelheiten orientieren. Von denen ist Casabones zweifellos das markanteste. Vom Achterschiff kann ich die Gefängnisinsel am besten sehen. Jetzt, wo wir erst wenige Kilometer zurückgelegt haben, ist sie eine überragende und erdrückende Erscheinung hinter uns. Die uns zugewandte Kante ist immer noch schräg über uns. Immer noch droht sie gleichsam auf uns zuzukippen, und würde sie es tun, dann wären wir bei weitem noch nicht weit genug entfernt, um sicher zu sein.

Allmählich - mit steigender Beherrschung der Schiffe - traut man sich, mehr Segel zu setzen. Ich habe gehört, daß wir uns ungefähr in Richtung Grom bewegen - genau kann man das bei diesen Karten ja nicht sagen - und dann braucht man sich ja nicht zurückzuhalten, was die Fahrtgeschwindigkeit betrifft. Bald haben wir etwa die normale Marschgeschwindigkeit - 5 Kilometer pro Stunde, schätze ich. Wenn wir schon um 18 Uhr mit dieser Geschwindigkeit geordnet die Bucht verlassen hätten, dann wären wir schon 20 bis 30 Kilometer weiter!

Ein Segelfloß, das 5 Kilometer pro Stunde macht, schwankt ein bißchen. Mir wäre das nicht weiter aufgefallen, aber ich sehe, daß einige der Männer doch etwas still werden. Es dauert einen Moment, bis ich drauf komme: Seekrankheit! Es ist zwar nicht schlimm, und es kommt auch nicht vor, daß jemand aufs Deck kotzt, aber ich kann mich einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren. Ich bin mir sicher, daß ich eine wesentlich stärkere Schaukelei ohne weiteres aushalten könnte - jedenfalls alles, was diese Schiffe noch aushalten können.

23 Uhr. Casabones ist jetzt etwa 20 Kilometer entfernt. Demnächst werden sich andere Säulen davor schieben. Ich sitze in meinem Krähennest und sehe zurück. Immer mehr Abstand zwischen mir und dem Ort, wo ich mit Charmion zusammen war. Immer weiter rutscht unsere Zeit in die Vergangenheit zurück, und wieder drängt sich das Bild in mein Bewußtsein: Da hinten, da oben, auf dem Pilzberg, da ist ein Steinhaufen. Und rund um ihn herum schlagen traurige Wellen an das Ufer, und der Nebel hüllt ihn ein, für alle Zeit. Und immer wieder hallt ihr Name in meinem Gedächtnis wider, wie ein kaputtes Gramophon, das immer dieselbe Rille abspielt: Charmion ...


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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