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******** 053. Tag: Dienstag 95-10-10 ********
53.1 Die Schiffe des Unterforts
Schon vor dem Ende der normalen Schlafperiode um 8 Uhr sind einige der Schiffe herangeführt worden und ankern jetzt in einer der Buchten, die bis an die Mauern der Festung heranreichen. Osont sieht sie sich genau an und läßt sich von den Männern der ehemaligen Fortbesatzung alles mögliche erklären.
Was genau er sich erklären läßt, kann ich nicht hören, als ich verschlafen von meiner Felsenbucht zur Festung stolpere. Aber es sieht so aus, als ob der Heerzug schon sehr bald zu Wasser weitergehen wird. Die Vermutungen von gestern waren also richtig.
Ich treffe Träger, die Vorräte auf die Schiffe bringen. Darunter ist auch stinkendes Saurierfleisch - vielleicht sogar von meinem Saurierfänger vor einem Monat hierhergebrachtes! - aber die Delikatesse des Tages ist natürlich Menschenfleisch. Im Hofe des Forts sehe ich, wie meistenteils weibliche Leichen mit Salz präpariert werden - so, wie ich es auf dem Saurierfänger auch schon habe tun müssen. Irgendjemand muß die Haltbarmachung in die Wege geleitet haben, nachdem seinerzeit durch Nachlässigkeit in dieser Hinsicht der gesamte Speisekammerinhalt im Oberfort am Vergammeln war. Immerhin wird man mich jetzt nicht an diesen Arbeiten teilnehmen lassen.
Meine Stellung ist überhaupt merkwürdig: Ich habe viele Sympathien unter den Meuterern, aber Osont wollte mich ja eigentlich los werden und will es wahrscheinlich immer noch. Bin neugierig, wie sich das im Alltagsbetrieb des zu erwartenden Piratendaseins entwickelt.
Bald darauf begegne ich vor dem Fort einer Gruppe von Männern, die sich mit geborgenen Gleitschirmen in Richtung der Schiffe bewegen. Zunächst wundere ich mich, daß Osont denkt, daß wir die Gleitschirme noch brauchen. Aber dann fällt mir ein, daß die Schiffe Segel brauchen. Vielleicht sind die Vorräte an Segeltuch knapp.
Himmel, jetzt fällt es mir ein: Was habe ich damals den Mädchen auf dem Saurierfänger zu erklären versucht? Kiele, um Höhe am Wind zu gewinnen. Wenn wir schnell nach Grom wollen, dann wird es Zeit, sich einmal darum zu kümmern. Das könnte nicht nur die Zeit verkürzen, bis ich Irene wiedersehe, sondern auch meine Stellung und damit meine Überlebenschancen verbessern und wieder festigen.
Außerdem habe ich die Methode der Kiele und Schwerter irgendwann auf Casabones auch schon erwähnt. Es ist besser, jetzt das Thema auf den Tisch zu bringen, bevor jemand anderes sich erinnert und sich wundert, warum ich nichts mehr darüber sage.
Ich frage mich durch nach Okr oder Osont. Okr hat seit dem Absprung niemand gesehen. Also ist er mehr als einige Stunden aufgehalten worden. Osont finde ich an Bord eines der kleinen Schiffe.
Diese Schiffe sind wirklich klein. Kein Vergleich mit dem Saurierfänger. Das größte unter ihnen ist in seinen Abmessungen - Masthöhe und Länge - etwa halb so groß wie der Saurierfänger, grob geschätzt. Es liegen acht solcher Schiffe in der Bucht. Ich kann mich nicht erinnern, daß es so viele waren, als wir uns vor einem Monat nach Casabones aufmachten, aber vielleicht haben einige der Schiffe ja auch an einer nichteinsehbaren Stelle geankert. Der technische Zustand der Schiffe ist nicht so gut wie der des Saurierfängers. Vielleicht liegt das daran, daß sich niemand für ein bestimmtes Schiff verantwortlich fühlt. So etwas kommt bei gewissen Organisationen eben vor. Das war natürlich auf dem Saurierfänger anders. Cherkrochj hätte niemals unaufgeräumte und fehlerhaft gespannte Takelage geduldet, oder fehlende Reelingsbalken, oder gebrochene Bretter in den Aufbauten. Ob sich jemand finden wird, der die Besegelung genausogut in Schuß halten kann wie Charmion?
Ich sehe Männer, die mit Reparaturarbeiten beschäftigt sind, allerdings nicht sehr viele. Nur das allernotwendigste wird gemacht, und das auch nur auf Anordnung. Osont ist zwar ziemlich beschäftigt, aber wie ich höre, geht es mehr um die Ausrüstung, die zusätzlich mitgenommen werden soll - im wesentlichen Waffen und Vorräte aus dem Fort - und um die Aufteilung der Leute auf die Schiffe. Als ich über eine Planke das Schiff betrete, auf dem sich Osont aufhalten soll, stolpere ich fast überall über irgendwelche Leute, die irgend etwas zu tun haben, und über manche, die sich bemühen, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie nichts zu tun haben.
Während ich einen günstigen Augenblick abwarte, um mit Osont zu sprechen, mustere ich den Himmel, in der Erwartung, Okr irgendwo anschweben zu sehen. Ich finde ihn nicht. Aber das will natürlich nichts heißen. Er braucht sich ja durchaus nicht an den kürzesten Kurs, den die meisten und ich auch genommen haben, zu halten. Außerdem dürfte ein weit entfernter Gleitschirmflieger gegen diesen Himmelshintergrund aus Felsen und Wolken schwer erkennbar sein.
Endlich taucht Osont in einer der Türen des Deckshauses auf. Wie üblich ist er in Begleitung einiger seiner Leibwachen und anderer Männer, mit denen er wohl gerade über technische und organisatorische Einzelheiten gesprochen hat. Er sieht mich sofort und geht auf mich zu. Ob er wohl auf mein überraschendes Hiersein eingehen wird?
"Dich wollte ich sprechen! Was weißt du über Navigation? Du weißt doch so vieles!"
Also keine Nachfragen zu dem Thema.
"Navigation? Die Kunst, mit einem Schiff dahinzufahren, wo man hinmöchte? Die Kunst, zu wissen, wo man ist?"
"Ja. Natürlich!"
"Ich muß passen. Ich kenne einige Methoden, die wir in unserer Welt verwenden. Aber diese erfordern, daß man den freien Himmel sieht, den es in eurer Welt nicht gibt. Außerdem wäre ein Kompaß sinnvoll."
"Ein was?"
"Ein Kompaß!" Ich erkläre in kurzen Worten, was das ist. Ob Osont mir glaubt, kann ich nicht feststellen. Immerhin, warum sollte jemand, der gewußt hat, wie man fliegt, jetzt bei der Erwähnung eines anderen technischen Wunders lügen?
"Ich hatte einen auf dem Saurierfänger!" schließe ich, "und wenn man dieses magnetische Gestein in Eurer Welt fände, dann könnte ich einen herstellen! Dieses Gestein ist gar nicht so selten."
"Ich werde rumfragen, ob jemand so etwas kennt," beschließt Osont, "aber abgesehen davon, welche Ideen hast du noch?"
Ich denke nach. Einen groben Sextanten zu bauen wäre möglich, aber sinnlos, weil man keinen Himmel sehen kann. Genaue Uhren für die Navigation gibt es auch nicht, und meine Armbanduhr werde ich nicht herausrücken. Und eine weitere wesentliche Vorbedingung guter Navigation: Gibt es Karten von der Welthöhle? Ich erinnere mich, daß ich auf dem Saurierfänger welche gesehen habe. Ja, Chechmon hatte welche aus dem Gedächtnis gezeichnet. Jetzt erinnere ich mich. Das spricht dafür, daß es welche geben sollte, die professioneller hergestellt sind, denn sonst hätte sie das Konzept einer Landkarte nicht gekannt. Und wenn irgendwo Karten zu finden sein sollten, dann im Besitz militärischer Organisationen und auf Schiffen. Also genau hier. Osont oder seine Leute müßten längst welche gefunden haben. Ich frage nach.
"Wir haben welche gefunden," gibt Osont zu, "aber sie sind nicht gut für größere Entfernungen!"
"Und warum nicht?"
Osont läßt einen der anderen Männer erklären, weil er selbst sich nicht gut genug auskennt. Aus den ungenauen Erklärungen entnehme ich, daß es mit der strengen Maßstäblichkeit hapern könnte. Das heißt, mit den vorhandenen Karten kann man geographische Details durch ihre ungefähre Lage zueinander identifizieren. Das ist aber auch alles. Der Maßstab dieser Karten richtet sich nach der Menge der Einzelheiten, die man eintragen möchte. Als einzige Längenangabe findet man solche Bezeichnungen wie etwa die übliche Fahrtzeit eines Schiffes für ein bestimmten Abschnitt des Meeres, oder Marschierzeiten.
Ich frage nach, ob ich solche Karten sehen kann, aber Osont nimmt den Gesprächsfaden wieder auf und versucht, das Thema zu wechseln. Als ob seine Karten Geheimmaterial wären! Vielleicht hat er aber auch gemerkt, daß ich von der Art Karten, wie sie mir gerade beschrieben wurden, nicht sehr viel halte, und jetzt geniert er sich gewissermaßen, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein.
Er will noch wissen, ob ich etwas von Besegelung verstehe, und von der Organisation der Takelage. Wahrscheinlich denkt er, daß ich etwas davon wissen muß, weil ich mit Charmion zusammen war. Natürlich muß ich da passen, und wieder habe ich den Eindruck, daß Osont mir nicht ganz glaubt. Der Arme befindet sich in der Situation so machen Industriemanagers: Er weiß nicht genau, was seine Fachleute wissen, weil er selbst vom Fach nichts versteht, und wenn seine Leute auf einem bestimmten Gebiet Resultate erzielen können, dann hat er keine Vorstellung von den Schwierigkeiten und den Faktoren, die die Schnelligkeit der Arbeit und ihre Qualität beeinflußen. Immerhin gibt mir das Thema Gelegenheit, das Thema anzusteuern, auf das ich eigentlich hinauswollte.
Es dauert eine Weile, bis Osont bemerkt, welche Konsequenzen es haben könnte, wenn ein Schiff Höhe am Wind gewinnen könnte. Einer der Männer, der, wenn ich mich recht erinnere, viele Zuschneide- und Näharbeiten bei der Gleitschirmherstellung gemacht hat, zieht während unseres Gespräches mehrfach die Augenbrauen hoch. Er hat schneller als die anderen Umstehenden begriffen. Schon weiß ich, wen man da fachlich involvieren muß.
Bei Osont dauert es länger. Zwar hat er schnell die Möglichkeiten erkannt, die Schiffe, die Höhe am Wind gewinnen können, bieten, aber meine freihändigen Erklärungen der vektoriellen Zusammensetzung der Kräfte geht über sein Verständnis hinaus. Es interessiert ihn eigentlich auch nicht.
Da sieht man mal wieder, was man als Lehrer erreicht. Da habe ich im theoretische Unterricht jedem, der jetzt hier ist, etwas über die Funktionsweise von Gleitschirmen erzählt, wobei es unumgänglich ist, mit Begriffen wie Kraft, Kraftvektoren und Vektoraddition zu hantieren, auch wenn sich das auf eine zeichnerische Darstellung beschränken mußte. Ich habe jetzt den Eindruck, daß bei den wenigsten davon allzuviel hängen geblieben ist. Die meisten kennen sich nur prozedural im Gleitschirmfliegen aus: 'Was muß man machen, damit ...'. Nicht: 'Wie funktioniert ...' und 'Was ist ...'.
Aber was soll ich mich beschweren. Wenn man den durchschnittlichen Führerscheinbesitzer über Begriffe wie Kraft und Leistung und Energie und Kraft- und Geschwindigkeitsvektoren und die thermodynamischen Grundlagen einer Verbrennungsmaschine und die chemischen Gleichgewichte in einer Blei-Schwefelsäurebatterie befragt, dann wird man im Allgmeinen auch nur dumme Rückfragen ernten. Warum sollten gerade meine Granitbeißer da anders und aufgeweckter sein?
Eine meiner eigenen Absichten ist, den Saurierfänger mit Irene einzuholen. Ich versuche, im Gespräch nebenbei zu erfragen, wann der Saurierfänger eigentlich abgelegt hat. Aber entweder ist es den Meuterern nicht gelungen, das in Erfahrung zu bringen, oder sie haben einfach nicht genau genug nachgefragt, weil sie das nicht genug interessierte. Vielleicht ist es zwei Wochen her, vielleicht auch erst zwei Tage. Aber jedes Mal, wenn ich frage, bekomme ich eine andere Antwort.
Immerhin kriege ich Osont herum, mit einigen seiner Leuten das Thema Kiel oder Schwert genauer durchzusprechen. Olcar, der Mann, der mir verständig erschien, ist dabei.
Dann verläßt Osont das Schiff, um auf einem der anderen Schiffe nach dem Rechten zu sehen. Er hat viel zu tun. Das ist gut. Ein Osont, der sich langweilt, ist gefährlich.
Die drei Leute, mit denen ich mich jetzt unterhalte, sind, bis auf die Ausnahme Olcar, der vielleicht 29 Jahre alt ist, Nullen. Meine weiteren Erklärungen werden praktisch nur von Olcar verstanden, während die beiden anderen dabeistehen und sich bald langweilen, wie Studenten in einem Hörsaal, Studenten, derem intellektuellen Fassungsvermögen der vorgetragene Stoff inzwischen davongelaufen ist.
In Ermangelung von Papier muß ich teilweise wieder mit Händen und Füßen reden. Aber als ich zum Beispiel mit einem herumliegenden Brett, das ich über die Bordwand ins Wasser halte und dort bewege, demonstriere, daß man mit einer Art Tragflächenprofil im Wasser Kräfte in andere Richtungen umleiten kann, begreift Olcar das durchaus. Außerdem weiß er ja so einiges über Gleitschirme, an denen er gearbeitet hat. Wie genau er nun das Konzept des Kiels kapiert, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß er sich darum kümmern wird.
Danach vertrete ich mir noch auf einigen der anderen Schiffe die Füße. Es gelingt mir kaum, mit weiteren Leuten ein Gespräch anzufangen, bis auf Oios, den ich bei der Tätigkeit finde, Gleitschirme in Segel umzuschneidern. Von ihm erfahre ich, daß bei den Kämpfen im Fort sehr viel kaputtgegangen ist, und daß die Besatzung sich bis zum Schluß heldenhaft gewehrt hat, selbst, als sie lange schon wußten, daß sie einer massiven Übermacht gegenüberstehen. Die Verluste unter den Meuterern seien höher als erwartet, aber genaue Zahlen weiß er auch nicht. Er glaubt, daß etwa 125 übrig sind, aber diese Zahl nennt er natürlich nur, weil es in dem Fünfersystem der Granitbeißer eine runde Zahl ist.
Ich stelle auch fest, daß die Speisekammern aufgefüllt werden, aber das sehe ich mir nicht im Detail an. Immerhin werden auch irgendwelche Wurzeln eingelagert, die man in den kleinen Wäldern am Fort finden kann und die in der Küche des Forts vorrätig waren. Es handelt sich wahrscheinlich eher um die Absicht des Würzens als die Fürsorge für eventuelle Vegetarier an Bord.
Es ist merkwürdig - irgendwie komme ich mir in der ganzen Hektik überflüssig vor. Jeder hat eine Aufgabe. Ich nicht. Andererseits bin ich ab und zu der gefragte Fachmann, auf dessen Rat man aber auch nur hört, wenn es in den Kram paßt. So bin ich mir jede Sekunde bewußt, daß ich nicht dazu gehöre. Nicht, daß mir das unangenehm ist - zu den meisten identifizierbaren Kollektiven von Menschen gehöre ich nicht dazu, wie ich im Laufe meines Lebens immer wieder festgestellt habe. Immer bin ich in erster Linie ich selbst und nicht Mitglied von irgend etwas. Das habe ich als Mitglied einer Partei genauso feststellen müssen wie als Mitglied einer Verbindung, einer Gewerkschaft oder eines Berufsverbandes. Alle diese Mitgliedschaften habe ich über kurz oder lang wieder aufgehoben. Nur die Mitgliedschaft zur Arbeitnehmerschaft meines derzeitigen Arbeitgebers ist aus naheliegenden Gründen eine längerfristige Sache. Eine provisorisch längerfristige Sache.
Vielleicht auch schon nicht mehr, denke ich. Seit etlichen Wochen sind weder Irene noch ich wieder in unseren Firmen vorstellig geworden. Irgend etwas muß inzwischen längst passiert sein. Während ich hier dem Ladegeschäft zusehe, sind längst Einschreiben unserer Arbeitgeber ins Haus geflattert, die nicht entgegengenommen wurden, haben längst Polizisten unsere Wohnung durchsucht, um Hinweise über unseren Verbleib zu finden, rauft sich unserer Vermieter die Haare, weil er auch nicht weiß, was er mit unserem Inventar tun soll, wenn die Banken erst die Daueraufträge für die Mietzahlungen stornieren, weil bald ja kein Gehalt mehr einläuft und der vorhandene Geldbetrag immer mehr zusammenschmilzt.
Wenn man ihnen nur eine kurze Mitteilung zukommen lassen könnte! 'Halt, wir leben noch und kommen irgendwann wieder, und dann bringen wir schon alles in Ordnung, aber im Moment geht's noch nicht!' Aber so wird man inzwischen meinen, daß wir auf einer Alpenwanderung verschollen sind, irgendwo in so unübersichtlichem Gelände abgestürzt, daß man uns noch nicht gefunden hat. Das wäre jedenfalls die plausibelste Hypothese. Wer weiß überhaupt, wo wir hinwollten? Hatten wir irgendjemanden über die geplante Wanderung in das Zugspitzgebiet informiert? Ich glaube, nicht.
Vielleicht denkt man auch an Entführung. Aber dann wäre ja eine Lösegeldforderung eingelaufen, oder sonst ein Ultimatum. Auch die Möglichkeit, die noch vor zehn Jahren bestand, sich hinter den eisernen Vorhang abzusetzen, gibt es nicht mehr. Inzwischen ist der ganze Planet, jedenfalls die allermeisten Länder, meldewesensmäßig so durchorganisiert, daß es kaum möglich ist, sich irgendwohin zu verziehen, dort permanent zu wohnen und nicht mehr auffindbar zu sein. Eine Identitätsänderung ist sehr schwer. Und warum sollten wir so etwas gemacht haben? - Nein, das allerplausibelste ist, daß man annehmen wird, daß wir in den Alpen abgestürzt sind. Ich fürchte, man wird längst schon unseren Nachlaß regeln und unseren Haushalt auflösen. Wahrscheinlich. Ich weiß nicht, wie schnell die Behörden in solchen Fällen sind. Jedenfalls wird es schon nicht mehr ganz einfach, wenn es uns gelingen sollte, demnächst zurückzukehren. Wie das wohl sein wird, wenn man die Bühne des eigenen, früheren Lebens wieder betritt, man aber aus dem Stück inzwischen 'rausgeschrieben' worden ist?
Wir werden es schon schaffen, irgendwie. Solange wir noch arbeitsfähig sind, werden wir die Vermögenswerte, die uns zustehen, wieder zurückholen. Vielleicht sogar die Dinge, die einmalig und nicht ersetzbar sind, wenn sie verloren gehen sollten - persönliche Aufzeichnungen, Photos, Briefe aus alten Tagen. Das kann Geld nicht kaufen, wenn es verloren gehen sollte. - Vielleicht wird unser Vermieter diese Dinge in seiner Scheune für eine längere Zeit zwischenlagern. Er hat ja Platz. Und solange man unsere Leichen noch nicht gefunden hat, ist ja überhaupt nichts sicher. Vielleicht geht es doch nicht so schnell mit der Toterklärung.
Plötzlich muß ich an Oom denken, den Alten, der am Seeufer auf Casabones gewohnt hat, neben dem jetzigen Platz von Charmion's Grab. Auch er ist verschollen. Vielleicht ist er auch nicht tot. Verrückte Szenarien fallen mir ein: Er hat Casabones über den Schwebenden Berg verlassen - vielleicht kannte er sogar noch einen Weg in unsere Welt? Aber warum hat er ihn dann verschwiegen? Oder hat er ihn jetzt erst gefunden, auf seinem Weg von Casabones weg? Oder, noch phantastischer, vielleicht war er aus unserer Welt, und hat sich aus irgendwelchen Gründen in die Welt der Granitbeißer zurückgezogen? Oder er konnte nicht zurück, so wie wir?
Blödsinn, denke ich mir. Dieser Oom ist nicht geheimnisvoller als die anderen hier. Er wird sicher irgendwo im Urwald auf Casabones liegen, längst schon zerrissen von wilden Tieren, denen jeder Kadaver als Nahrung willkommen ist. Armer Oom. Für dich war die Begegnung mit uns auch nicht glückbringend.
Ich sitze auf einem Uferfelsen und sehe dem Treiben auf den Schiffen zu. Jeder sieht mich, aber niemand stört mich dabei. Schon wieder merke ich, daß das ein Spiel mit den Milligraden der sozialen Stellung bei den Meuterern ist: Jeder sieht, daß ich nicht arbeiten muß und daß Osont das akzeptiert, und daß Osont es auch akzeptiert, daß alle das sehen. Dann haben alle anderen es auch zu akzeptieren. Käme natürlich Osont jetzt auf die Idee, mich für irgend etwas einzuspannen, dann wäre ich derjenige, der versucht hätte, die Arbeit den anderen zu überlassen. Das wäre wieder unangenehm. - Aber Osont wird nicht wagen, mich so vor den Kopf zu stoßen. Dazu, denkt er, weiß ich noch zu viele Tricks, die ihm nützlich sein könnten.
Als sich Mitternacht nähert, kommt Osont dann aber doch auf mich zu:
"Olcar hat mit mir gesprochen!" sagt er.
"Und?"
"Diese Kiele, was meinst du, welchen Aufwand man braucht, um sie anzubringen?"
"Wenn man es anständig macht, und das auf allen Schiffen, einige Tage. Mindestens."
"Ich möchte aber, daß wir morgen lossegeln!"
"Hmh. Naja, vielleicht kann man es unterwegs machen," vermute ich, "man müßte nur Material mitnehmen - Holz, Leim, Seile. Es wird sich erst dann herausstellen, wie gut das geht, und ob überhaupt!"
Osont nickt und kratzt sein narbiges Gesicht.
"Äxte und andere Werkzeuge sind genügend im Fort. Holz müßten wir uns erst beschaffen."
"Und was spricht dagegen, das zu tun?" frage ich. Osont bemerkt die potentielle Kritik nicht. Er überlegt noch eine Weile und geht dann wieder wortlos auf eines der Schiffe zurück. Wortlos, weil er nicht geruht, zu sprechen, nicht etwa wortlos, weil ihm keine Entgegnung einfiele. Daß ich ja den Unterschied merke!
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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