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******** 052. Tag: Montag 95-10-09 ********
52.1 Gleitschirmraub
Die Männer haben wirklich gut geübt. Es gibt keinerlei Störungen durch irgendwelche technischen Probleme. Ich kann stolz sein. Wenigstens etwas. Die sechsten bis neunten Schirme schweben auf. Vielleicht sind einige der Riegen, die ich im Nebel nicht sehe, schon zur Hälfte fertig.
Die Männer, die jetzt noch dastehen, sind alle aufgeregt. Alle wissen, daß dieser Sprung lange dauern wird. Ein langes, vielleicht geruhsames Fliegen nach unten, dann vielleicht Hektik und Kampf. Sie haben fast alle am Gleitschirmfliegen Spaß gewonnen. Und auf die Freiheit warten sie auch alle, was immer jeder einzelne sich davon versprechen mag, und alle glauben, daß das große Unternehmen gelingen wird. Das ist jetzt das Erlebnis ihres Lebens, und das Erlebnis, das ihr weiteres Leben - so glauben sie - lebenswert machen wird.
In einer der Riegen stehen jetzt nur noch vier Männer, in der daneben neun. Weitere Schirme schweben auf. Bevor die nächste Minute um ist, ist eine Riege bereits ganz fertig. Es bildet sich ein leerer Platz zwischen der zweiten Riege von links und der vierten, die ich im Nebel nicht sehen kann. Da entscheiden sich einige der Männer, die in den Nachbarriegen ganz hinten stehen, diesen leeren Platz zu nutzen. Das verkürzt die Zeit, die ich noch habe. Ich fasse mein Schwert fester.
Jetzt sind noch sieben Menschen in drei Riegen in dem Bereich, den ich überblicken kann. Drei weitere Schirme schweben auf. Es sieht so aus, als ob es Jahrhunderte alte Fertigkeiten wären, die hier geübt werden. Niemand käme auf die Idee, daß es erst zwei Wochen her ist, daß in der Welt der Granitbeißer jemand das erste Mal fliegend den festen Boden unter den Füßen verloren hat. Noch vier Menschen. Zwei davon ganz links. Ich stehe auf und verlasse leise den Waldrand, als die drei nächsten ihren Schirm ausgelegt und sich zum Anlauf wieder umgewendet haben. Als sie losrennen, dreht sich der letzte noch einmal um. Er sieht mich sofort.
Jetzt geschieht alles sehr schnell. Ich lege die Finger auf die Lippen. Er sieht verwundert mein Schwert an, dann begreift er. Er zieht seins. Ich springe vorwärts. Derweil laufen die drei anderen an. Die können nicht mehr umkehren, selbst, wenn sie jetzt einen Blick zurückwerfen würden und mich sähen.
Ich bin schneller, und mein Schwert ist besser. Der Mann ist gar nicht auf Kampf eingestellt. War er doch eben noch voller Erwartung auf den langen Flug, dachte an seine Aufziehleinen, die günstigste Methode, den Schirm auf diesem Hang auszulegen, dachte an das, was er sehen würde, wenn er erst die Wolkendecke über sich gelassen haben würde. Und jetzt rennt jemand auf ihn zu und fuchtelt in bedrohlicher Weise mit einem Schwert rum.
Seine Reflexe sind da, wenn auch zu langsam und zu spät. Er holt noch aus, als er von meinem Schwert quer über die Brust getroffen wird. Mit einem fürchterlichen Schrei sinkt er zusammen. Die Verletzung tötet ihn schnell. Und mein Schwert hat seine Brustgurte zerschnitten. Sein Schirm ist unbrauchbar.
Ich gerate in Panik. Jetzt ist niemand mehr in meiner direkten Sichtweite. Die gerade Abgeflogenen hat der Nebel soeben verschluckt, aber die nützen mir jetzt sowieso nichts. Ob sie mich noch bemerkt haben? Egal. Ich renne in Richtung der anderen Riegen los. Es können doch noch nicht alle fertig sein!
Sind sie auch nicht. Es ist Riege fünf. Da steht noch einer, der sich gerade in aller Ruhe fertig macht. Entweder, er hat den Schrei eben nicht gehört, oder er hat ihn anders interpretiert. Ich rufe ihn an, und er dreht sich erstaunt um.
Es ist Okr.
"Schirm ablegen!" sage ich.
"Was? Warum denn?"
"Weil ich ihn haben will!" Und ich mache mit meinem Schwert eine unmißverständliche Bewegung. Er sieht das Blut von meinem Schwert tropfen.
"War das eben ..."
"Ja. Schirm her!"
Zögernd legt er seinen Schirm ab. Ich halte mein Schwert schlagbereit. Ich möchte Okr nicht umbringen, gerade ihn nicht, aber wenn es denn sein muß - ob er damit rechnet, daß ich bei ihm Hemmungen haben würde?
"Was hast du vor?" fragt er.
"Laß dein Schwert fallen! Laß alle deine Sachen fallen! Langsam!" befehle ich. Er tut wie ihm geheißen.
Ich lege die Gurte seines Schirmes an. Okr ist der Fachmann für Gleitschirme - ich nehme an, sein Gleitschirm dürfte einer der am besten gewarteten sein. Das kann ich wohl als Glücksfall betrachten.
Okr sieht mich bekümmert an. Ich bin versucht, ihn zu trösten:
"Diesmal wirst du nicht mitfliegen! Du wirst das tun, was Osont für mich vorgesehen hat, nämlich die Schirme weiter produzieren und irgendwann die nächste Absprungswelle zu führen. Du kannst es. Gerade du! Es sind deine Leute. Es ist deine Pflicht!"
Okr kommt näher. Ich warne ihn mit meinen Blicken. Merkt er das nicht?
"Es gibt keine Schirme mehr! Osont hat Feuer an die Papierherstellungsmaschinen legen lassen! Die restlichen Feinholz und Schneidgrasvorräte sind auch verbrannt, und auch die meisten Seile!"
"Warum das denn?" frage ich entgeistert.
"Ich weiß nicht. Er hat persönliche Feinde unter den Meuterern. Die sollten für alle Zeiten hier bleiben. Glaube ich. Er hat uns wenig erklärt."
"Das heißt ja, es dauert elendiglich lange, bis wieder eine Gleitschirmherstellung möglich ist! Heh! Bleib da stehen, wo du stehst, sonst ..."
Okr bleibt stehen. Er weiß es, und ich weiß es: Einer von uns bekommt diesen letzten Gleitschirm, und der andere bleibt hier. Für immer. Oder auch nicht:
"Okr, da hinten liegt einer eurer Männer, dem ich einen Gleitschirm wegnehmen wollte. Das ist der, der so geschriehen hat. Die Brustgurte sind zerschnitten, aber sonst ist der Schirm in Ordnung. Es kostet nur etwas Arbeit. Kein Problem für dich. Versuch nicht, mich anzugreifen! Ich würde dich töten! Den Schirm da hinten könntest du aber in einigen Stunden wieder einsatzbereit haben!"
Er sieht mich zweifelnd an. "Warum machst du es nicht?"
"Ich bin in Eile."
"So."
"Bitte, Okr. Nimm den Schirm dahinten. Das ist der allerletzte auf Casabones, wenn Osont tatsächlich die Papiermaschinen zerstört hat! Und jetzt stell dich da drüben auf, da, wo ich hinzeige."
"Da?"
"Ja. Komm mir nicht beim Start in die Quere. Du würdest es bitter bereuen. Sowie ich weg bin - da ist dein Gepäck, und da hinten ein Schirm. Geh zum Reparieren in den Wald, damit dich niemand findet. In ein paar Stunden bist du unterwegs!"
Okr stellt sich, wie ich es ihm angedeutet habe, schräg rechts vor mir auf, in etwa zwanzig Metern Entfernung.
"Doppelt soweit weg!" sage ich. Er tut es.
Der Schirm sitzt. Ich prüfe seine Lage am Boden. Dann stecke ich das Schwert in die Scheide, positioniere es sauber an meiner Seite, damit ich nicht gerade beim Anlauf darüber stolpere, und nehme die Aufziehleinen in die Hand. Schweres Gepäck wie die anderen habe ich nicht. Wird vielleicht einiges einfacher für mich machen. Okr steht so, daß ich ihn die ganze Zeit, solange ich noch Bodenkontakt habe, beobachten kann.
"Noch etwas weiter zurück!" rufe ich. Ich glaube es zwar nicht, aber wenn er auf die Idee kommt, zu seinem Gepäck zu rennen, sowie ich den Anlauf starte, dann könnte er mir noch gerade sein Schwert hinterherwerfen.
Apropos Schwert - trägt er ein Messer, das er von dort, wo er jetzt steht, werfen könnte? Ich kann keines sehen. Egal. Ich muß es riskieren.
"Dreh dich jetzt um und sieh in die andere Richtung!" rufe ich. Er tut es. Er geht kein Risiko ein - er liebt auch sein Leben, und eine mögliche Option für ihn habe ich ihm ja genannt - wenn er auch noch nicht weiß, ob ich die Wahrheit gesagt habe. Wer weiß, was für Gedanken ihm jetzt durch den Kopf gehen mögen. Ich an seiner Stelle wäre schon dabei, mir Optionen für den Fall zu überlegen, daß die Aussage, daß etwas weiter am Hang noch ein im Prinzip reparierbarer Gleitschirm liegen soll, auch nicht stimmt. Was bleibt denn dann? Vielleicht gibt es in den Zelten am Übungshang und bei den abgebrannten Papiermaschinen noch genügend Stoffreste, um sich einen Schirm zu schneidern. Dann sind da auch noch die beiden Schirme, die bei dem Überfall auf die Rebellen abhanden kommen sind. Vielleicht findet sich sogar im Dorfe noch brauchbares Material. Seine Chancen sind nicht schlecht, und er weiß das. Nur eine schnelle Flucht von Casabones wird es für ihn nicht mehr geben.
Ich ziehe die Aufziehleinen und laufe los. Der Schirm hinter mir schwebt auf. Nach ein paar Schritten ist er über mir. Der Hang geht abwärts, und ich spüre schon die Kraft des Schirmes, die mich gleichzeitig bremsen und heben möchte. Ich sehe nach rechts zur Seite: Okr hat sich wieder umgedreht. Er tut aber nichts, sondern sieht mir einfach zu. Sein Gesicht ist nicht zu interpretieren.
Der Hang wird steiler. Er ist sehr uneben, und ich muß aufpassen, wo ich meine Füße hinsetze. Ich ziehe die Bremsleinen weiter an, und schon hebt mich der Sitzgurt ab. Die Unebenheit des Hanges stört mich nicht mehr.
"Lebe wohl, Okr!" rufe ich über die Schulter zurück. Er steht immer noch reglos im Nebel, der uns in wenigen Sekunden völlig trennen wird. Das ist das letzte, was ich von ihm sehe. Jetzt muß ich mich auf das Geradeausfliegen konzentrieren - solange ich noch Boden sehe, muß ich herausfinden, ob dieser Schirm zu asymmetrischen Flugverhalten tendiert. Ich möchte nicht an einer tieferen Stelle wieder mit dem Hang kollidieren.
Die Flugeigenschaften dieses Schirmes sind gut. Wenn er Kurven fliegt, dann sind diese so weit, daß ich schon unter der Wolkendecke sein sollte, bevor sie mich zum Berg zurückführen. Wenn jetzt nichts Unerwartetes mehr passiert, etwa eine schlechte Wetterlage, die eine lange Flugstrecke völlig innerhalb der tieferliegenden Wolkenschichten erzwingt, ohne jede Möglichkeit, sich zu orientieren und die Kollision mit dem Pilzberg gezielt zu vermeiden und vielleicht die Schäreninseln zu erreichen, dann sollte der Flug sicher vonstatten gehen.
Jetzt sehe ich nichts mehr von Casabones. Die große Reise hat begonnen. Für einen Moment bin ich wieder optimistisch, trotz der nachtschlafenen Zeit, daß es gut ausgehen wird, daß ich eines Tages wieder in die Sonne treten werde. Diesen Ort habe ich für immer hinter mich gelassen.
"Charmion, siehst du mich?" frage ich, "Du hast gesagt, ich soll heimgehen. Jetzt gehe ich heim. Wie du gesagt hast, Siehst du mich? Sieh nur!"
Niemand antwortet mir. Über mir ist nur das Rauschen des Schirmes, und rundherum, in jeder denkbaren Richtung, der gleichmäßig graue Nebel. Ich bin sehr allein, in diesem Moment. Und doch bin ich stolz. Ich bin unterwegs nach Hause!
"Charmion." flüstere ich. Jetzt könnte ich nicht einmal mehr zu ihrem Grab zurück, wird mir plötzlich klar. Aber was heißt das überhaupt? Was von ihr übrig ist, das wesentliche, ist in meinem Gedächtnis. Vielleicht ist mein Gedächtnis das einzige, in dem noch so viel von Charmion übrig ist, denn wer war ihr denn sonst noch so nahe? Dann ist in meinem Kopf jetzt alles, was sie überhaupt hinterlassen hat. Die letzte Spur ihrer Existenz. Eine Überlieferung, die niemanden mehr außer mir interessieren wird.
Und was ist überhaupt der Ort, an dem ein Mensch gestorben ist? Die Erde dreht sich, sie kreist um die Sonne, das Sonnensystem kreist um das Zentrum der Galaxis, und unsere Galaxis fegt mit großer Geschwindigkeit dahin. Der Ort von Charmion's Tod ist doch längst in einer leeren Gegend des Weltraums, viele Lichtstunden entfernt. An dem Ort erinnert nichts mehr an Charmion, nichts an die Welthöhle, nicht einmal an die Erde.
Also, was soll ich bei ihrem Grab? Charmion ist jetzt ein Teil von mir, und ich muß am Leben bleiben. Das Leben aber liegt irgendwo da vorne, wo ich jetzt hinfliege.
52.2 Unter dem Dach der Welt
Ich weiß nicht, ob nur Dutzende von Sekunden oder sogar viele Minuten vergangen sind, als sich unter mir endlich die Nebel öffnen. Innerhalb weniger Augenblicke bin ich im Freien. Von einem Moment zum anderen ist die Aussicht atemberaubend, denn das Wetter ist so klar wie man es sich für diesen Flug nur wünschen kann.
Ich habe die gerade Flugrichtung leidlich gut gehalten. Eine leichte Linkskurve ist alles. Deshalb sehe ich jetzt zur Linken die mächtige Unterseite des Pilzes von Casabones, während der Stamm des Berges tief da unten ist und aus perspektivischen Gründen von hier aus viel zu schwach aussieht. Als ob der Pilzberg sich jeden Moment zu mir hinüber neigen und in meine Richtung kippen könnte. - Jedenfalls fliege ich so, wie wir das geplant haben.
Unter mir, senkrecht und schräg nach vorne, sehe ich die Inseln des Schärenringes und zahlreiche helle Tupfer - die anderen Gleitschirmflieger, die mir ja alle einige Flugzeit voraus haben und die alle etwas schneller fliegen, weil sie schwerer bepackt sind. Der Horizont ist mit den merkwürdigen kilometerdicken Säulen umstellt, die aus dem See herauswachsen und in der leuchtenden Wolkendecke, die noch dicht über mir ist, verschwinden. Hinter mir gibt es in großer Entfernung eine Gegend, in der die leuchtende Wolkenschicht schwächer ausgeprägt ist und teilweise fehlt, offenbar, weil die obere Höhlendecke stellenweise niedriger als das übliche Niveau der leuchtende Wolkendecke ist. Ich erinnere mich an diese Erscheinung - ich glaube, es war im Westen von Casabones. Diese Aussicht, so surrealistisch sie ist, erscheint mir jetzt altvertraut.
Zwischen der Wolkenunterseite, die etwa bei 4600 bis 4800 Meter über dem Meer sein muß, und dem Meer selbst gibt es zur Zeit keine weitere Wolken- oder Nebelschicht. Deshalb ist die Sicht in alle Richtungen ungehindert und weit. Wenn wir Pech gehabt hätten, dann hätten wir auch, bei ungünstiger Wetterlage, bis zum Meer im Nebel bleiben können.
Die Wolkendecke, in deren tiefere Ausläufer ich im Prinzip immer noch kurzzeitig eintauchen könnte, erinnert mich an ein Erlebnis, das ich vor 15 Jahren in Schottland hatte. Es war so beeindruckend, daß ich auch jetzt noch genau das Datum weiß: Es war der 24. August 1980. Ich hatte den Ben Loyal im Nordwesten Schottlands bestiegen. Keine große Sache, nichts alpines, es waren nur vier Stunden strammes Marschieren und Steigen durch moorige Hänge notwendig. Dann aber zeigte sich, daß ich in eine ungewöhnliche Wetterlage hineingeraten war.
Es war ein vollkommen windstiller Tag, und es gab eine nahezu geschlossene, aber dünne Wolkendecke, deren Untergrenze gerade eben den Gipfel des Ben Loyal berührte oder nur einige wenige Meter frei ließ. Das bewirkte den Eindruck, sich in einer riesigen Halle aufzuhalten, eine Halle, die so groß wie der ganze Norden des Hochlandes war, und ich hatte in dieser Halle einen besonderen Aussichtspunkt ganz dicht unter der gleißend hellen Hallendecke.
Die Luft war sehr klar und der Blick weit. Ich konnte große Teile von Sutherland sehen, Cape Wrath im Nordwesten, den Kyle of Tongue im Norden, große Teile von Caithness im Osten, wo die Sonne verstärkt durch die Wolkendecke durchbrach und dadurch den Eindruck eines helleren, verheißungsvolleren Landes schuf, und im Nordosten, am Horizont, die Orkney-Inseln. Die meisten Einzelheiten der Nordküste von Großbritannien lagen vor mir, identifizierbar wie auf einer Landkarte.
Vom Südosten bis zum Westen wurde die Sicht durch die kahlen Berge Sutherlands und die öden Täler dazwischen begrenzt, kaum daß diese dem Glauben Platz ließen, daß irgendwo dahinter fruchtbarere Täler zu finden seinen, und in größerer Entfernung die grüneren Ebenen der Lowlands mit ihren lebendigen Städten. Ich konnte dort das Loch Naver und ein paar andere Seen reglos liegen sehen, und außer einer Straße im Tal gab es nichts, was von Menschenhand gemacht war - naja, wenn man nicht weiß, daß die Kahlheit des schottischen Hochlandes durchaus auf historischen heftigen forstwirtschaftlichen Raubau zurückzuführen ist.
Genau im Westen verbarg der Ben Hope, der höchste Berg der Region, sein Haupt in drohenden Wolken. Wie oft im Hochland war das nur eine Impression der Drohung, von diesen Wolken ging an diesem Tage nicht einmal ein Unwetter aus. Sie blieben einfach dort.
Zusätzlich bewirkte die Windstille, daß ich auch noch die kleinsten Geräusche über gewaltige Entfernungen hören konnte. Da waren Bäche, die in weit entfernten Tälern über die Steine rieselten, und da war das klagende Blöken von wenigen, einsamen Schafen, irgendwo ganz weit weg. Sehen konnte ich sie jedenfalls nicht. Motorisierten Verkehr konnte ich nicht hören, obwohl eine Straße der Nordküste folgt - diese ist aber nicht sehr befahren. Die klagenden Dudelsack-Klänge, die laut Prospekten des Tourist-Office gelegentlich von ferne über die kahlen Hänge des Hochlandes wehen, konnte ich auch nicht hören, obwohl ich in Stimmung für dieses Klischee gewesen wäre - aber natürlich rennen die Schotten nicht den ganzen Tag mit ihren Dudelsäcken durch ihre Hochmoore, bloß um die Touristen zu unterhalten!
Ich konnte in dem ausgedehnten Gipfelgebiet des Ben Loyal hierhin und dorthin gehen und dabei Stellen finden, an denen nicht einmal eines von den fernen, schwachen Geräuschen zu hören war. Dort war die Stille dann so vollkommen, daß sie wie der sprichwörtliche Druck auf den Ohren lag - oft benutztes Klischee, um Stille zu beschreiben, aber hier traf es zu. Ich konnte mir einbilden, daß ich plötzlich ertaubt sei. Das machte das Erlebnis zusätzlich irreal. Stille ist in unserer Welt da oben etwas sehr seltenes.
Über zwei Stunden verbrachte ich auf dem Berg, zwei sehr wertvolle, einmalige und nicht wiederholbare Stunden, wie mir schon damals klar war. Diese zufällige Zusammensetzung, das stille Wetter, die Nebel- und Wolkenfahnen, die gelegentlich den Berggipfel passierten und sich dabei langsamer als mit Schrittgeschwindigkeit fortbewegten, nahezu majestätisch schreitend mir ab und zu den Blick entzogen und dann wieder wie durch Zauberspruch zurückgaben, meine Jugend, die mir zu der Zeit noch ein tadelloses Gehör erhalten hatte, das die feinsten Geräusche auffangen konnte und noch nicht durch eigene Störgeräusche irritiert wurde. Diese Einsamkeit und diese Größe, und ich mittendrin, Teil davon und doch nur Beobachter, denn kümmerte es die Berge, ob ich da war oder nicht? Wenn ich mich nur ruhig verhielte, so fühlte ich, dann störe ich nicht. Es war, als ob ich der einzige Mensch auf einem fremden Planeten war, der auf das wüste Land hinuntersah, auf die Dinge, die sich dort abgespielt hatten oder abspielen könnten oder auch vielleicht nie abspielen würden. Ein Privileg, so fern meiner eigenen Welt zu sein, die ich Wochen vorher verlassen hatte und einige Wochen später wieder betreten würde - freiwillig natürlich, im Gegensatz zu unserem jetzigen Aufenthalt in der Welt der Granitbeißer, den ich nicht unbedingt als Privileg empfinde.
Was die Geräusche betrifft, so bin ich jetzt in einer deutlich anderen Situation, da das Rauschen des Schirmes über mir und der Fahrtwind in meinem Gesicht ein Horchen in die Ferne unmöglich machen. Aber die Wolkendecke erinnert mich eben an damals. - An jenem Tag bin ich widerstrebend vom Ben Loyal herabgestiegen, immer überlegend, ob ich mir nicht doch noch eine weitere halbe Stunde gönnen sollte. Im Nachherein, also heute, macht es keinen Unterschied, aber wenn man sie gerade erlebt, dann ist eine halbe Stunde vielleicht eine ganze Menge - eine halbe Stunde, die ich damals, wie ich mich erinnere, ganz gerne mit jemandem geteilt hätte. Nur hat es damals niemanden zum Teilen gegeben. - Charmion muß damals etwa 7 Jahre alt gewesen sein, und Irene war 28. Beide wußten von mir noch nichts, und ich wußte noch nichts von ihnen. Die Handlungsfäden, die uns zusammenführen würden, wurden noch gestrickt. Sie hätten bei vielen Gelegenheiten noch ganz anders gestrickt werden können. Der Wunsch, dieses Erlebnis zu teilen, war noch namenlos und abstrakt, vielleicht kaum zu unterscheiden von der seltsamen Trauer, die einen befällt, wenn man in einer prachtvollen Landschaft ist, deren Schönheit aber nutzlos ist, weil niemand sie sieht, und deren Schönheit verlorengänge, wenn zuviele Menschen da wären, sie zu sehen. Nicht zum ersten Male in solchen Momenten fragte ich mich, warum dies alles so ist und einfach so existiert, und natürlich erhält man auf so alberne Fragen keine Antwort, denn das Geheimnis der Existenz der Welt ist niemanden Rechenschaft schuldig.
Ich dachte dann: Eines Tages komme ich zurück. Bestimmt. So etwas denke ich immer, wenn ich so viel Schönheit sehe, daß es für eine einzelne Person fast zuviel zu ertragen ist. Soviel Schönheit, die in ihrer Nutzlosigkeit fast weh tut. - Ich dachte wohl auch daran, eines Tages in Begleitung zurückzukommen. Aber wer würde das sein? Wäre derjenige oder diejenige überhaupt an diesen Aussichten interessiert, hätte ein Gespür für die Besonderheit der Situation? Und würde die Anwesenheit eines anderen Menschen die Atmosphäre nicht völlig verderben? Und überhaupt, wenn man eines Tages zurückkäme, und statt dieser besonderen Wetterlage wären nasser Nebel und Schneeschauer und Wasser in den Schuhen und im Nacken die Hauptdarsteller? Es benötigt wenig, Romantik wirkungsvoll zu vertreiben. Wahrscheinlich hatte ich auf diesem Berg zufällig die schönsten Stunden des ganzen Jahres erlebt.
Natürlich wollte ich nicht in die Dunkelheit hineingeraten - das wäre in den Mooren des Hochlandes gefährlich geworden. 'Scotish Mountains can be killers', heißt es. Es wurde ohnehin halb neun, bis ich das B&B in Tongue wieder erreichte, weil ich eine Abkürzung nahm, die mich viel mehr Zeit kostete als der Umweg, den ich vermeiden wollte. Die Anstrengung des Marsches vertrieb die andächtige Stimmung, in der ich mich befunden hatte, wirkungsvoll. Und wenn es mir auf dem Gipfel des Ben Loyal auch so vorgekommen war, als ob ich einen sehr wichtigen Ort vielleicht für immer verließe, ein fast persönlicher Abschied, den ich vor dem Aufstieg so nicht erwartet hatte, so blieb bis zum Abend nur die Erschöpfung, der Wunsch, sich ins Bett fallen zu lassen und eine schnell verblassende Erinnerung, wie an einen Traum, den man sich vergebens bemüht, im Gedächtnis zu behalten.
Trotzdem, Charmion, das wäre für dich auch ein Erlebnis gewesen! Wanderungen in den einsamen Mooren Schottlands, und dann die hereinbrechende Nacht, die du aus dieser Welt nicht kennst! Aber wer weiß, allein das kalte und feuchte Klima Schottlands hätte es für dich vielleicht zu einem Horrortrip gemacht. - Du und unsere Welt. Was wäre draus geworden?
Ich versuche, mich weiter zu orientieren und mich an das zu erinnern, was ich von der Gegend um Casabones herum gesehen habe, als wir mit dem Saurierfänger hier ankamen. Es ist wenig genug.
Ich kann den Hängenden Weg um Casabones herum sehen, als feine Linie im Fels unter mir. Jetzt, an einem Gleitschirm hängend, komme ich mir wesentlich sicherer vor als damals, als wir diesen Berg bestiegen haben. Außerdem weiß ich nicht, ob es der Teil des Weges ist, den wir verwendet haben, oder ob wir mehr an der anderen Seite des Pilzberges sind. Es hat geheißen, daß wir uns links halten müssen, um zum Unterfort zu gelangen. Ich mustere die Inseln des Schärenringes, von dem ich einen großen Teil sehen kann, um das Unterfort zu finden. Ich erkenne nichts, aber vielleicht ist das Fort aus der Luft ja auch sehr schwer zu erkennen.
Die meisten anderen Gleitschirmflieger halten sich in der Tat links, fliegen also auch gegen den Uhrzeigersinn um Casabones herum. Ich versuche, irgend jemanden zu erkennen, aber dazu sind sie fast alle zu weit weg.
"Das hätte dir gefallen, Charmion!" murmele ich. Es wäre das Erlebnis ihres Lebens gewesen. Wie oft habe ich dieses schon gedacht. Die Wiederholung macht es nicht wahr, im Nachhinein schon gar nicht. Jetzt haben sich die Dinge so entwickelt, daß Osont dieses Erlebnis hat. Dieses Unrecht ist bitter. Muß ich es nicht rächen? Charmion, deine Ethik? Warum neige ich immer dazu, den Zorn wieder zu vergessen? Was hättest du an meiner Stelle getan, wenn er mich ans Kreuz gebunden hätte? Was hättest du getan, wenn du dann Gelegenheit gehabt hättest, ihm den Hals umzudrehen? Du hättest es getan, nicht war?
Nur der Herwig ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Er ist 'zivilisiert'. Jähzorn, Rache und Gewalt überhaupt sind ihm und seinen Vorfahren zum Teil abhanden gekommen. Beherrschung und Unauffälligkeit und Bereitschaft, Unrecht eventuell zu erdulden waren für das Überleben besser, und dafür, diese Charakterzüge an die Nachkommen weiterzugeben. Das ist es, was er ist, der Herwig: Der fleischgewordene Weg des geringsten Widerstandes. Die Evolution hat es herausgefunden. Und die Evolution hat immer recht. So, Charmion, wie sie recht hatte, als sie dich in deiner Welt gemacht hat.
Einer der hellen Flecken, tief unter mir, bewegt sich unregelmäßig, wird kleiner und dann wieder größer. Ich brauche eine Weile, um mir klar zu werden, daß dort jemand dabei ist, abzustürzen. Das, was ich sehe, ist der zerrissene und hinter dem Unglücklichen herflatternde Gleitschirmrest. Ich sehe sogar die Punkte von abgerissenen Stoff- und Papierfetzen. Gibt es noch mehr Meuterer, die in Schwierigkeiten geraten sind? Im Moment kann ich keinen Hinweis darauf sehen. Die Flecken, die ich erkennen kann, sind zahlenmäßig etwa 220, ohne daß ich sie jetzt genau durchzähle. Den meisten muß der Flug also gut gelingen.
Wenig später fällt mir aber noch ein anderer, unscheinbarer Fleck am Hängenden Weg auf. Ist da jemand mit diesem kollidiert? Eigene Schuld, sich der überhängenden Wand von Casabones so weit zu nähern. Das hätte man eigentlich leicht vermeiden können. Auch die beiden, die kurz darauf vielleicht zwei Kilometer vor mir und nur dreihundert Meter tiefer miteinander kollidieren, dürften an ihrem Mißgeschick selbst schuld sein - wieso fliegen sie so nahe beieinander? Der eine fängt sich nicht mehr, und es sieht so aus, als ob sich sein Gleitschirm bei dem langen Sturz in die Tiefe, auf die grauen Inseln zu, immer mehr zerlegt. Der andere fliegt weiter, wenn auch mit größerer Sinkgeschwindigkeit. Sein Schirm ist offenbar nur beschädigt. Er könnte es überleben, wenn er Glück hat, aber es sieht so aus, als ob er das Unterfort so nicht mehr erreichen wird.
Für einen Lehrer wäre ein solches Unternehmen mit einer Schulklasse der reinste Alptraum. Wenn etwas passiert, dann bekommt er Ärger mit dem Staatsanwalt - und in gefährlichem Gelände passiert immer etwas. Erst recht beim Gleitschirmfliegen.
Ganz plötzlich fällt mir ein Erlebnis ein, das mein Vater auf einer der vielen Klassenfahrten, die er leiten mußte, gehabt hat und das ihn in ernste Schwierigkeiten gebracht hätte, wenn etwas passiert wäre, auch wenn damals keine Gleitschirme im Spiel waren. Solche Dinge wurden uns als Kinder ja immer aus erster Hand erzählt, wie jeder weiß, dessen Eltern Lehrer waren:
Klassenfahrt nach Mittenwald, Jugendherberge. Einer der größten Rabauken bekam einen Tag lang Hausarrest und mußte in der Jugendherberge bleiben, während die anderen ihren Unternehmungen in und um Mittenwald nachgingen. Am Abend war der betreffende Junge zu aller Überraschung noch da - diese Folgsamkeit hatte niemand so recht von ihm erwartet. Am wenigsten mein Vater.
Jahrzehnte später, ein Treffen der 'Ehemaligen'. Da nahm dieser Junge, der da wahrscheinlich schon im Berufsleben stand, meinen Vater beiseite und fragte ihn, ob er sich noch an diesen lange zurückliegenden Hausarrest in der Jugendherberge von Mittenwald erinnere. Nun, er war damals durchaus nicht so folgsam, wie es am Abend den Anschein hatte: Er hatte den Tag verwendet, um allein und ohne brauchbare alpine Ausrüstung die Karwendelspitze zu besteigen!
Der Staatsanwalt wartet hier jedenfalls nicht auf mich, wenn einige der Meuterer wegen eigener Dummheit zu Schaden kommen. Allerdings könnte mich jemand für seine eigene Ungeschicklichkeit verantwortlich machen und sich eventuell bei mir rächen wollen. Im Prinzip. Unwahrscheinlich zwar, aber nicht restlos ausgeschlossen.
Es knackt in den Ohren. Der Druckanstieg. Die Sinkgeschwindigkeit wird deshalb auch ständig geringer, eine Tatsache, von der ich weiß, die ich aber nicht direkt beobachten kann, weil ich mich in sicherem Abstand von der Felswand halte. Natürlich wäre es schon reizvoll, unseren Aufstiegsweg noch einmal aus der Nähe zu sehen. Aber der liegt wahrscheinlich auf der anderen Seite des Pilzberges. Wieviel leichter ist doch diese Methode, den Pilzberg wieder zu verlassen! Und selbst, wenn wir den Wendeltreppenschacht nicht abgebrannt hätten, so daß der Weg nach unten noch möglich gewesen wäre - dort hätte mich zuviel an Charmion erinnert.
Jetzt bin ich auf der Höhe des Hängenden Weges. Wie hoch war das noch? 3000 Meter über dem Meer? Dann habe ich noch nicht die Hälfte des Weges nach unten zurückgelegt. Ich habe auch schon einen Teil von Casabones umrundet, aber davon merkt man wegen der gleichmäßigen Beleuchtung kaum etwas. Immerhin scheinen all die anderen Gleitschirmflieger auf ähnlichem Kurs zu liegen, und allmählich kann ich auf einer der Schäreninseln voraus etwas erkennen, was das Unterfort sein könnte. Vielleicht ist es aber auch nur ein rechteckiger Felsen, der in einer Baumgruppe steht. Wir werden etwas zu hoch ankommen und können uns dort den Landeplatz also gut aussuchen. Wenn die Besatzung des Unterforts uns läßt. Vielleicht sollte ich etwas abseits landen und den anderen die Kampfhandlungen überlassen.
Es ist das Unterfort. Zwischen den Inseln sehe ich Schiffe vor Anker liegen. Ich kann mich irren, aber das sind alles kleinere Schiffe. Der Saurierfänger ist nicht mehr dabei. Was Wunder - unser Aufstieg nach Casabones ist jetzt über einen Monat her. Warum hätten sie solange auf uns warten sollen? Das heißt aber auch, daß ich Irene so schnell nicht wieder sehe.
In gewisser Hinsicht bin ich froh darüber. Dann wieder aber auch nicht. Wenn ich Irene wiedersehe, dann weiß ich auch sofort, daß die Erinnerung an unsere eigene Welt da oben nicht nur die Erinnerung an einen verrückten Traum ist. Und wenn ich Irene wiedersehe, wird neben ihr, unsichtbar, Charmion stehen. Für immer. Glaube kaum, daß Irene das nicht bemerken wird.
Jetzt mögen es noch drei Kilometer Flugstrecke sein, bei knapp zweitausend Meter Flughöhe. Da sich die meisten noch gerade auf das Unterfort zu bewegen, und da unser Gleitwinkel mit 1 zu 4 flacher ist, dürften wir, vom Unterfort aus gesehen, beim Näherkommen immer höher in den Himmel hinaufsteigen. Wir müßten bereits deutlich genug zu sehen sein. Trotzdem könnten wir genau über dem Unterfort immer noch über tausend Meter hoch sein, und vielleicht hat uns bis dahin immer noch niemand bemerkt. Es sei denn, jemand hat sich schon früher runterspiralt und auf diese Weise gezeigt, daß er Wert darauf legt, früher anzukommen.
Das Unterfort liegt auf einer der größten Schäreninsel, aber, wie ich jetzt, aus der Höhe, erkenne, liegt es nicht in der Inselmitte. Die betreffende Insel hat eine sehr unregelmäßige Form: Sie ist von einigen Buchten und natürlichen Häfen weit eingeschnitten, und wenigstens zwei dieser Buchten reichen bis an die Mauern des Fort heran. Dieses ist dem Oberfort ähnlich, jedoch kleiner. Eine nicht allzu regelmäßige Ringmauer, die einige noch weniger regelmäßige Gebäude umgeben, dazwischen sind Innenhöfe, und in die Mauern sind Türme integriert. Ob zuerst die Mauer oder zuerst die Türme gebaut wurden, das kann ich von hier aus nicht erkennen, und solche architektonische Studien dürften auch schwer sein, wenn wir erst einmal angekommen sind. Mir scheint der ganze Komplex im Laufe von Jahrhunderten organisch gewachsen.
Plötzlich, nur vierhundert Meter von mir entfernt, zu meiner Rechten, ein Schrei. Ich kann den Gleitschirmflieger, der ihn ausgestoßen hat, leicht identifizieren, aber ich sehe nicht, was mit ihm los ist. Er fliegt völlig ruhig dahin. Ich ändere meinen Kurs, um mich ihm zu nähern.
Er ändert seinen Kurs auch, geht in eine weite Kurve über, nimmt Fahrt auf, gefährlich viel Fahrt. Ein Gleitschirm ist keine Rennmaschine. Noch ein bißchen mehr, und er kommt in Schwierigkeiten. Sein Gleitwinkel wird steiler.
Ich höre nichts mehr. Der Gleitschirmflieger bewegt sich in weiten Kreisen auf die kahlen Inseln, die gerade jetzt unter uns sind, zu. Ist er tot? Herzinfarkt? Oder nur Ohnmacht? Der Gesundheitszustand der Meuterer war ja bei weitem nicht so, wie man es sich etwa für eine wehrhafte Truppe vorstellen würde. Genaugenommen war er ja im Durchschnitt miserabel. Kann gut sein, daß wir Verluste haben, weil jemand die Aufregung des Fliegens oder den Druckanstieg oder irgend etwas anderes nicht aushält. Genausogut könnte man mit der Belegschaft eines Altersheimes einen Massenabsprung von der Zugspitze versuchen, und das bei besten Wetterbedingungen. Das gäbe auch Verluste, unvermeidlich.
Solange ich auch dem Gleitschirm, der sich rasch der Meeresoberfläche nähert, nachsehe, ich erfahren nicht mehr, was dort los ist. Bevor er landet oder aufschlägt, muß ich meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne wenden.
Noch eineinhalb Kilometer bis zum Unterfort. Diese Strecke ist etwa auch noch unsere Flughöhe. Wenn es da unten einen Menschenauflauf gibt, dann könnte man ihn eigentlich schon erkennen. Aber ich sehe nur die Gebäude, und auch auf den Schiffen, die in den Buchten und vor den Inseln liegen, ist niemand zu sehen. Natürlich kann es auch sein, daß man dort in Deckung gegangen ist, wenn man uns bemerkt haben sollte. Wäre ja eigentlich vernünftig. Dann könnten wir uns allerdings auf einiges gefaßt machen.
Ich muß aber daran denken, daß wir mitten in der Schlafperiode sind. Wenn die da unten nächtliche Unterbrechungen nicht gewöhnt sind, dann kann es gut sein, daß die Wachen nicht sehr aufmerksam sind, oder daß sie schlafen, oder daß gar keine Wachen aufgestellt wurden. Das ist eigentlich gar nicht so unwahrscheinlich.
Ich bemühe mich, den Flugzustand des langsamsten Sinkens einzuhalten, um den anderen gegenüber weiter Höhe zu gewinnen. Außerdem mache ich einige Kehren, um meinen Abstand zur Insel des Unterforts nicht zu schnell zu klein werden zu lassen. Ich weiß nicht, ob die anderen das bemerken und mir eventuell eine Absicht unterstellen, wahrscheinlich die, mich aus dem kommenden Kampf heraus zu halten. Ist mir egal. Da mich seit dem Absprung noch niemand aus der Nähe gesehen hat, wissen sie ja gar nicht, daß ich es bin.
Ich sollte vielleicht versuchen, in den bewaldeten Halbinseln der Insel des Unterforts zu landen. Da könnte ich mich verbergen und die weitere Entwicklung der Dinge abwarten. Diese Waldstücke sind groß genug - teilweise sind sie nicht einmal in Pfeilreichweite vom Unterfort aus. Das ist ja immerhin ein Gesichtspunkt.
Schon wieder stürzt einer ab, etwa 800 Meter links von mir. Überzogen, Strömungsabriß, zu spät wieder gefangen, dabei Schirm beschädigt, jetzt unkontrollierter Sturzflug. Wenn er Glück hat, landet er im Wasser. An einem anderen Schirm, einige hundert Meter vor mir, sehe ich flatternde Stofffahnen. Da öffnen sich Nähte. Der Besitzer hat das vielleicht noch gar nicht gemerkt, weil sich die Flugeigenschaften seines Schirmes noch nicht geändert haben. Das kann ihm jetzt aber jeden Moment passieren. Leider dürfte ihm sein eigener Schirm zu sehr in den Ohren rauschen als daß er in der Lage wäre, einen Warnruf von mir zu hören. Und was könnte er schon machen?
52.3 Luftkampf
Die ersten sind jetzt genau über dem Fort. Und genau da passiert das nächste fliegerische Malheur: Einer der Männer zieht sein Schwert, um es zu prüfen und spielerisch durch die Luft zu schwingen, um zu sehen, ob er es, am Gleitschirm hängend, leidlich virtuous gebrauchen kann. Er kann es, und wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, dann würde ich es nicht glauben: Mit einem Hieb über seinen eigenen Kopf hinweg hat er sich selbst sämtliche Trageleinen durchgeschnitten. Ein selten dämlicher Geniestreich. Leider kann ich sein Gesicht nicht sehen, als er den Fall in die Tiefe beginnt. Über ihm flattert der haltlose Schirm wie ein weggeworfenes Papier.
Der Mann, der sich auf diese Weise selbst aller Chancen für eine sichere Landung beraubt hat, fällt geradewegs auf das Unterfort zu. Das müssen die da unten einfach merken, wenn ein menschlicher Körper irgendwo im Unterfort aufschlägt! Wir werden sehen.
Die meisten Gleitschirmflieger rundherum dürften diesen Vorfall jetzt verfolgen und sich der möglichen Konsequenzen bewußt sein. Es hilft ihnen nichts. Die Mehrzahl der Männer ist jetzt zwischen 500 und 900 Meter über Grund, und in wenigen Minuten dürften die ersten Landungen erfolgen. Oder auch die ersten Abschüsse.
Jetzt hat der fallende Mann das Fort erreicht. Gut, daß man keine Einzelheiten sieht. Er muß ein Holzdach durchschlagen haben. Mehr ist nicht zu erkennen.
Nach wenigen Sekunden tritt da unten endlich jemand in einen der Innehöfe hinaus und sieht sich um. Auch von hier oben sieht man, daß es lange dauert, bis derjenige, oder wahrscheinlich ist es ja eine diejenige, nach oben sieht. Dann ist sie augenblicklich wieder in den Gebäuden verschwunden.
Dann höre ich ein fernes, schrilles Pfeifen. Na endlich - da unten rast der Alarm durch die Festung. Ein bißchen spät. Der erste Angreifer ist nur noch wenige hundert Meter entfernt, kreist wie ein Bussard nieder. Wenn die jetzt etwas länger brauchen, um ihre Ärsche aus den Betten zu kriegen, dann haben sie den Feind bereits im eigenen Innenhof. Dann wird sich zeigen, ob zahlenmäßige Überlegenheit oder semimilitärischer Drill den Sieg davontragen.
Ich sehe kurz auf die Uhr. Bald 2 Uhr. Wir sind schon über eine Stunde in der Luft. Eine Folge der langsamen Sinkgeschwindigkeit. Um 5 Uhr ist die Schlafperiode zu Ende. Wir sind jetzt zwar auch alle müde, aber die Besatzung der Festung dürfte sich gerade in ihrer Tiefstschlafphase befunden haben. Jetzt zeigt sich, wozu Nachtalarme übungshalber für Rekruten nützlich sind. Ob sie bei den Granitbeißern in der militärischen Ausbildung auch so etwas machen?
Endlich laufen weitere Leute über die Höfe. Auf den Mauern ist Bewegung. Ich sehe mehrfach die typischen Handbewegungen des Anlegens eines Bogens und des Wieder-Sinkenlassens. Die Ziele sind noch zu hoch, und Luftziele hat man sowieso nicht geübt. Ich kann mir denken, daß sie ihre Schwierigkeiten haben.
Nur eines habe ich völlig falsch eingeschätzt: Nämlich die Möglichkeit, daß die Fortbesatzung zunächst gar nicht auf die Idee kommen könnte, daß man das, was da aus dem Himmel auf sie zukommt, mit Pfeil und Bogen bekämpfen könnte. Da habe ich mich wirklich geirrt: Das war die allererste Idee, die sie hatten, so verschlafen, wie sie waren. Dabei wissen sie noch gar nicht, mit wem oder was sie es zu tun haben. Schließlich haben sie in ihrem Leben ja noch nie einen Gleitschirm gesehen.
Nun sind die untersten Gleitschirmflieger weniger als hundert Meter hoch. Sie suchen sich sehr unterschiedliche Landeplätze aus. Jetzt, wo wir entdeckt worden sind, ist es wohl das beste, Landeplätze und Deckungen außerhalb des Forts anzusteuern. Einige scheinen es sich aber in den Kopf gesetzt zu haben, unbedingt in den Mauern des Forts landen zu wollen. Ich fürchte, diese haben jetzt sehr schlechte Karten.
Meine Befürchtung bestätigt sich rasch. Von hier oben aus gesehen - ich habe jetzt noch über siebenhundert Meter Höhe - sieht es so aus, als ob einige der Gleitschirmflieger da unten noch kurz vor der Landung abstürzen. Die Frauen, die das Fort verteidigen, merken rasch, daß ein direkt anfliegender Gleitschirmflieger eine leichte Beute ist, insbesondere, wenn man über genügend Bogenschützen verfügt.
Aber nun sehen die Mehrzahl der Meuterer, daß das Fort selbst im Moment noch ein zu heißes Pflaster ist. Alle steuern jetzt die entfernteren Teile dieser Insel an - also genau das, was ich auch zu tun beabsichtige. Ich höre Rufe und Kommandos, unsere und welche aus dem Fort. Verstehen tue ich nichts, aber die Zeit der Anfangserfolge für die Fortbesatzung ist schon vorbei. Ich versuche, die Schirme der Abgeschossenen zu zählen. Es mögen etwa dreißig sein. Also sind von 220 abgesprungenen Meuterern noch etwa 190 übrig. Sagen wir, 160 oder 170, weil einige während des Anfluges zuweit abgedriftet sind, um jetzt an dem Geschehen partizipieren zu können, und ein paar Abstürze hat es ja auch gegeben.
So harmlos sieht es von weitem aus, denke ich, wie große, landende Vögel. Und doch ist es blutiger Ernst, und für viele das letzte Ereignis ihres Lebens.
Die ersten sicheren Landungen sind erfolgt. Von hier oben kann ich sehen, daß sich in der Deckung des Waldes die ersten Gruppen bilden, die in Kürze auf die Festung marschieren werden. Wie wir da reinkommen ist mir noch unklar. Eine Mauer ist nun mal eine Mauer. Aber vielleicht wollen wir da gar nicht rein. Die Schiffe sind interessanter. - Trotzdem. Hätte dieser Idiot da sich nicht selbst von seinem Schirm getrennt, dann wäre es gelungen, viele Dutzend Männer unbemerkt in der Festung zu landen. Die hätten dann jede weitere Luftabwehr verhindern können. So dumme Zufälle lenken das Schlachtenglück!
Ich habe meinen Schirm jetzt über die See gelenkt, weil ich die Spitze der Halbinsel mit dem meisten Wald ansteuern möchte. Ich werde die ganze Zeit nicht in Pfeilreichweite zum Fort kommen. Trotzdem, die Unruhe sitzt in der Magengrube. Das hindert einen etwas, die letzten Minuten des Sinkfluges gebührend zu genießen - so etwas werde ich nie wieder machen! Schließlich habe ich da oben, in meiner Welt, wohlüberlegt das Gleitschirmfliegen nie angefangen, obwohl die Versuchung schon da war. Es erschien mir zu gefährlich. Jetzt ist das etwas anderes. Jetzt bin ich dabei, mein Leben zu retten. Da fliegt man schon mal von einem 5000 Meter hohen Berg herunter und läßt sich am Schluß mit Pfeilen beschießen.
Als ich so etwa eine Flughöhe von 200 Metern habe, kann ich sonst niemanden mehr sehen, der noch in der Luft ist. Die felsigen Strände unter mir sind mit hellen Flecken bedeckt - die meisten sind auf dem Strand oder in strandnahem Wasser gelandet. Eine Gefahr ist nicht dabei - erst jetzt, wo der Boden näher kommt, bemerke ich, wie sehr die Sinkgeschwindigkeit wegen des doppelt so großen Luftdruckes abgenommen hat. Ich könnte eigentlich überall landen, eine Wasserlandung, um sich mit Sicherheit vor Schaden zu bewahren, ist eigentlich unnötig.
Ich sehe eine Stelle, wo die Bäume so dicht ans Ufer treten, daß dort niemand gelandet ist. Für die Stelle entscheide ich mich. Da werde ich zwar naß, weil ich eben wegen dieser Bäume da doch im Wasser landen muß, aber ich kann mich dann von den anderen absetzen und den Ausgang der Kampfhandlungen abwarten. Das sollte gut möglich sein - jetzt, aus niedriger Höhe, sieht die Insel mit ihren kleinen Wäldchen doch etwas größer aus.
In einer mittelweiten Kurve lasse ich mich über den Wald treiben und gerate dann, nur zwei Meter über den Baumspitzen, wieder über das Wasser, genau über meinen geplanten Landeplatz. Da lasse ich die Kurve sehr eng werden, und die Bremsleinen ziehe ich erst, als mich noch fünfzig Zentimeter von der Wasseroberfläche trennen. Eintauchen, mich aus den Gurten herausschälen und zum Ufer schwimmen ist eins. Der Schirm bleibt auf dem Wasser treibend zurück - ich brauche ihn nicht mehr. Mit Bedauern denke ich daran, wieviel Aufwand wir für diese Schirme getrieben haben. Und jetzt werden sie auf dieser Insel vergammeln oder im Wasser davontreiben.
Als ich an Land trete und mich der Wald umgibt, stelle ich fest, daß niemand in meiner Sichtweite ist. Und weil das Rauschen des Fahrtwindes im Schirm nicht mehr stört, kann ich horchen und versuchen, die Lage zu interpretieren.
Sehr viele Geräusche entstehen durch die laufende Auseinandersetzung nicht. Unsere Leute verhalten sich beim Anschleichen auf die Festung natürlich leise. Und von dort dringen einige Kommandos rüber. Es sind, wie zu erwarten, weibliche Stimmen, Lieblichkeitsstufe 'K': von Kreissäge bis Krähe. Weit davon entfernt, ein Chauvinist zu sein, kann ich aber trotzdem die Stimmen von im Kommandoton keifenden Weibern schwer ertragen.
Jedenfalls höre ich an den Stimmen, daß die Verteidigerinnen sich ihrer Lage nicht allzu sicher sind. Da ist zuviel Hektik und grundloses Schreien in den Stimmen, mit Untertönen von Panik. Sie sehen die Angreifer nicht mehr, wissen aber ungefähr ihre zahlenmäßige Stärke. Sie wissen, daß es ernst wird, sehr ernst.
Bin neugierig, wie Osont die Festung stürmen lassen will, und ob er es überhaupt vorhat. Er muß es tun, wenn er alles in Erfahrung bringen will, was die Festungsbesatzung weiß. Zum Beispiel, wo der Saurierfänger hin ist. Jetzt denke ich daran, daß die Männer wenig Bögen bei sich führten. Vielleicht nicht schlimm - Bögen kann man sich aus dem Rohmaterial, das man im Wald findet, selbst herstellen. Ein paar von Osont's Leuten werden wohl die notwendige Expertise besitzen.
Ich gehe weiter in den Wald hinein. Da es sich eigentlich um Felsengrund handelt, ist der Boden nirgends sumpfig oder morastig. Es handelt sich um Baumarten, denen es schon genügt, sich mit ihren Wurzeln auf dem Felsen zu halten. Bei der hohen Luftfeuchtigkeit und den hier üblichen Niederschlägen reicht das aus, dem langsamen Stoffwechsel dieser Bäume genügend Mineralien zuzuführen.
Ich muß vorsichtig sein, damit ich nicht den Meuterern so ungünstig über den Weg laufe, daß sie mich angreifen. Aber ich habe den Eindruck, daß die meisten schon sehr weit auf die Festung vorgedrungen sind.
Plötzlich Schweigen. Eine einzige Stimme redet in der Ferne. Eine männliche Stimme. Aha. Ich kann zwar nichts verstehen, aber der Inhalt müßte, der Situation und dem Tonfall nach, etwa bedeutet: 'Ergebt euch, oder wir schlagen alles kurz und klein!'. Nach einer Pause antwortet eine weibliche Stimme, auch nicht verständlich. Dem Tonfall nach: 'Versucht's doch! Ihr werden schon sehen, was ihr davon habt!'.
Sie versuchen's. Wenig später gibt es wieder Geschrei, auch Schmerzensschreie. Ich überlege, ob es klug ist, sich noch näher an den Ort des Geschehens zu begeben. Eigentlich kann mir kaum etwas passieren, solange ich in Deckung bleibe. Nur rechne ich auch mit der prinzipiellen Möglichkeit, daß die Fortbesatzung siegreich aus dieser Auseinandersetzung hervorgehen könnte. Dann ist es, im Nachherein, nicht mehr möglich, ihr meine Dienste anzudienen.
Irgendwann rieche ich dann auch Rauch. Vielleicht experimentieren sie mit Brandpfeilen. Das hat ja schon beim Oberfort so spektakulär geklappt. Andererseits werden die hier leichter Zugang zu Löschwasser haben, vermute ich.
Je näher ich dem Fort komme, desto geringer werden die Geräusche des Kampfes. Ich versuche, zu erraten, was da geschieht. Es gäbe nämlich noch etwas, was den Verteidigern sehr zum Nachteil gereichen könnte: Das Fort könnte unterbesetzt sein. Dann ist es allerdings möglich, daß nicht alle Mauersegmente gleich gut verteidigt werden können, vielleicht gibt es in der Überwachung sogar echte Lücken. Sowie erst einmal ein Trupp der Meuterer im Inneren der Festung angekommen ist, wird die Lage für die Verteidiger sehr schnell schwer und unübersichtlich, dann wahrscheinlich verzweifelt. Und Osont wird nicht viel Rücksicht auf das Leben seiner eigenen Leute nehmen, wie ich weiß. Ich fürchte, wenn er rein will, dann kommt er rein.
Nun müßte bald die Mauer des Forts im Wald vor mir auftauchen. Merkwürdig. Es ist niemand in der Nähe. Spielen sich an diesem Teil der Mauer keine Kampfhandlungen ab, oder sind sie hier schon vorbei, oder bin ich doch noch weiter weg?
Der Bewuchs wird niedriger. Reste einer alten Kahlschlagzone rund ums Fort, die man nachlässigerweise nicht kahl gehalten hat. Aber nun sehe ich Teile der Mauerkrone und einen Turm. Kampfgeräusche und laute Befehle gibt es noch immer, aber sie kommen aus dem Inneren der Festung, und die Stimmen, die jetzt die Befehle geben, gehören Männern.
52.4 Das eroberte Unterfort
Sieht so aus, als ob wir gewonnen haben. Die Meuterer sind drin. Ich hätte ruhig etwas schneller durch den Wald gehen sollen, dann hätte ich vielleicht noch etwas von der eigentlichen Aktion gesehen.
Schließlich bin ich direkt an der Mauer. Grob gefügt und mörtelfrei und vielleicht sechs Meter hoch ist sie für einen guten Kletterer kein Hindernis. Eigentlich nicht einmal für einen schlechten Kletterer. Ich sehe kürzlich erzeugte Fußspuren, zerbrochene, bluige Pfeile und schwere Steine, die offenbar vor kurzem von der Mauer heruntergeworfen wurden. Das alles hat den Verteidigerinnen nichts genutzt.
Ich brauche nicht weit an der Mauer entlangzugehen, um ein Tor zu finden. Es steht natürlich offen und ist nicht bewacht. Warum auch. Ich gehe hinein und betrete einen vergleichsweise geräumigen Innenhof, auf dem jetzt viel Betrieb ist.
Die meisten Männer würdigen mich kaum eines Blickes. Vielleicht wissen die wenigsten, daß ich definitiv bei der ersten Absprungswelle nicht dabei sein sollte.
In der Mitte des Hofes stehen viele Männer im Kreis. Ich stelle mich dazu, um herauszufinden, was es da gibt.
Ich hätte es wissen müssen. Es ist widerlich. Die Männer bauen ihren lang aufgestauten sexuellen Druck an der vorwiegend weiblichen Besatzung ab. Es sind etwa zwanzig Frauen, die hier, vor den Augen aller, reihum vergewaltigt werden, immer wieder. Jetzt erst wird mir klar, daß Charmion wenigstens diesem Schicksal entgangen ist. Vielleicht hat es mit der Anzahl der verfügbaren Frauen, die sich in der Gewalt dieser Männer befinden, zu tun. Vielleicht ist es so, daß bei so vielen Frauen für jeden Geschmack eine dabei ist, so daß eine allgemeine Geilheit sich sofort in dieser Massenvergewaltigung entlädt.
Nicht alle der ehemaligen Besatzung des Forts werden auf diese Weise mißhandelt. Weiter hinten, an einer Mauer lehnend, werden Frauen befragt. Dort ist ein Verhör in Gang. Wahrscheinlich mit Folter. Auf dem Wege dahin stolpere ich über eine weibliche Leiche mit grauenhaften Verletzungen, um die sich niemand kümmert. Ich sehe nicht so genau hin.
Osont ist dabei. Er sieht mich, als er kurz zur Seite blickt, zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts. Dann fährt er wieder mit dem Verhör fort.
Und es wird in der Tat gefoltert. Selbst vom rohen Standpunkt der Meuterer ist das völlig unnötig, denn diese Frauen sind inzwischen so verängstigt, daß sie mit allem herausrücken, was man von ihnen wissen will. Diese Situation ist ja völlig neu für sie: Nicht nur die plötzliche Übermacht, die da vom Himmel gefallen ist, sondern dazu auch noch die entwürdigende Tatsache, daß es sich um Männer handelt.
Diejenigen, die in der Befragung etwas mehr Mut und Standhaftigkeit bewiesen haben, haben es teilweise schon hinter sich. Es liegen noch mehr Leichen herum. Auch die Meuterer haben Verluste hinnehmen müssen, aber nicht so viele.
Ich verlasse das Fort und setze mich vor einem Tor hin, so daß ich weder die Arena der Vergewaltigungen noch die peinlichen Verhöre sehen muß. Ich will den Gequälten nicht ins Gesicht sehen. Aber die Schreie der Mißhandelten höre ich gut. So habe ich Gelegenheit, darüber nachzudenken, was Recht und Unrecht ist. Natürlich ist es Unrecht, jemanden aus nichtigen oder keinen Gründen jahrzehntelang einzusperren. Aber dafür diese Rache? Dazu an der Fortbesatzung, die persönlich ja keine spezielle Schuld trifft?
Da drüben sind dieselben Leute, die meinen Erklärungen über Aerodynamik und Trimmung und Landetechniken und Materialkunde teilweise so interessiert und aufmerksam und auch begeistert gelauscht haben, jetzt dabei, Daumen abzuschneiden, Augen auszustechen, Zungen herauszureißen, Zähne einzuschlagen, Haut abzuziehen und ihren Penis in alle möglichen vorhandenen und neueingeschnittenen Körperöffnungen gewaltsam hineinzustecken. Ein gewisser Prozentsatz aller Menschen macht bei solchen Dingen ja immer mit, aber das hier? Hier sind es ja fast alle! Warum, wenn sie mit der unterdrückenden Klasse soviele Rechnungen zu begleichen haben, machen sie nicht ganz normale Massenhinrichtungen? Oder hat es solche Dinge zu allen Zeiten gegeben, und der Geschichtsunterricht hat uns diese Eigenschaften der menschlichen Natur wohlweislich verschwiegen? Haben etwa zum Beispiel die Wikinger, die ein Küstendorf überfielen, ebenso gehaust? Hätte ich es wissen müssen, daß aus der bloßen Erwähnung eines Massakers man folgern sollte, daß es in Wirklichkeit noch viel schlimmer war?
Oder ist es einfach die lange Unterdrückung, die auch alle Maßstäbe der Rache vergessen läßt? Wird man so, wenn man immer nur der Bodensatz der Gesellschaft ist? Ist das eine automatische Polarisierung? Oder ist das alles nur möglich in Kombination mit den Charaktereigenschaften der Granitbeißer? Hatte die Evolution da auch recht?
Ich stehe auf und verlasse die Festung wieder durch das Tor. Zensur für meinen eigenen Geist. Ich kann es nicht mit ansehen, und ich kann es nicht verhindern. Vielleicht, wenn die so weiter machen, sind alle weiblichen Besatzungsmitglieder des Forts in zwei Stunden tot und in der Speisekammer. Wahrscheinlich sogar. Heute wird es viel zu essen geben.
Wenn ich den Meuterern nicht den Gleitschirm gebracht hätte, denke ich, dann würde dieses jetzt nicht geschehen. Statt dessen würden die Meuterer im Laufe der nächsten Jahrzehnte auf Casabones aussterben und vergammeln. Und den Granitbeißerinnen würde es wohl nicht mehr gelingen, diese Gefangenenkolonie wieder in Betrieb zu nehmen. Wäre das besser gewesen?
Charmion, das sind deine Leute! Seid ihr so? Oder sind wir alle so, wenn die Umstände so sind? Ändert das etwas an unserem Verhältnis? Wird das die Erinnerung an dich vergiften?
5 Uhr. Die Schlafperiode ist zu Ende. Mir fehlt der Schlaf. Ich sollte in den Wald gehen und mir ein sicheres Plätzchen suchen. Der wunderbare Flug heute, und jetzt dieses Gemetzel. Ich will weg, weg aus dieser Welt. Ich bin des Abenteuers müde. Ich möchte zu Hause am Küchentisch sitzen, heißen Kaffee trinken und hören, was die Irene wieder so an Belanglosigkeiten aus ihrem Büro erzählt.
52.5 Gelage
Nach einigen Stunden unruhigem Schlaf, die ich in einer felsigen Bucht verbracht habe, wo kaum jemand per Zufall hinkommt, gehe ich um 16 Uhr wieder in das Fort. Schließlich ist es wichtig, zu erfahren, was weiter geschieht.
Der Jahrmarkt der Verhöre, Folterungen und sexuellen Mißhandlungen ist vorbei, die Atmosphäre der Aggression und der Rache ist abgeflaut. Bratengeruch liegt über der Festung, ich sehe die offenen Feuer im Hof. Es wird getafelt. Die Kalorien werden gegessen wie sie vom Schicksal dargeboten werden.
Von der weiblichen Besatzung des Forts sehe ich niemanden mehr, die noch am Leben ist. Es hat auch Männer im Fort gegeben, die sich jetzt, mehr oder weniger freiwillig, den Meuterern angeschlossen haben. Sie sind von nun an ohnehin die soziale Unterschicht, aber sie leben immerhin. Sie wissen gut, wie sie sich verhalten müssen, damit das so bleibt.
Wieder ein merkwürdiger Unterschied zu unserer Welt da oben: So widerlich, wie das Gemetzel vor einigen Stunden war, so zivil geht es jetzt, während der Fressorgie, zu. Es wird gegröhlt, palavert, erzählt und gelacht, es wird gerülpst und gefurzt, und wer zuviel heruntergeschlungen hat, der kotzt auch mal eben zur Seite, um dann weiterfressen zu können. Aber es ist kein Alkohol im Spiel. Das alleine reicht aus, daß dieses Volksfest jetzt einen nahezu disziplinierten Eindruck macht. Vollgefressene Bäuche neigen zur Trägheit. Es wird keine Wirtshausschlägereien um Nichtigkeiten geben - naja, vielleicht nicht nur wegen des fehlenden Alkohols und des übervollen Magens: Wo jeder seine Waffen zur Hand hat, überlegt man sich Aggressionen schon zweimal - oder die Konflikte sind rasch ausgetragen, und einer der Kombatanten bleibt auf der Strecke. Das wiederum streckt die eßbaren Vorräte.
Ein genaueres Hinschauen läßt natürlich sofort erkennen, daß manches, was sich da auf den Spießen über den Feuern dreht, ausgeweidete Menschen oder Teile von Menschen sind. Die Frauen, die noch vor sechzehn Stunden nichtsahnend geschlafen haben und wenig später die heldenhafte aber aussichtslose Verteidigung der Festung versuchten.
Aber ich schaue nicht genau hin. Jetzt bloß keine Kritik an den Gebräuchen dieser Menschen. Es wird sich sowieso über kurz oder lang jemand wundern, wo ich eigentlich herkomme.
Osont ist aber nirgends zu sehen, und jemand anderes kommt nicht auf die Idee, mich darüber zu befragen. Einige ignorieren mich, andere werfen mir aufmunternde Worte zu. Das freundlichste, was diese Menschen tun können. Sie haben in der Mehrzahl ja immerhin nicht vergessen, wo die Gleitschirme hergekommen sind. Einmal bietet mir jemand aus echter Sympathie ein großes, duftendes Stück Fleisch an. Die höfliche Ablehnung fällt mir schwer, aber ich darf mir nichts anmerken lassen.
Zwar kann ich mich nicht so richtig 'unters Volk' mischen, aber einiges schnappe ich schon noch auf. Danach hat sich herausgestellt, daß die Schiffe draußen alle unbemannt waren, so daß es tatsächlich gelungen ist, die gesamte Festungsbesatzung zu besiegen und, soweit weiblich, zu töten. Einmal frage ich, ob denn niemand die Befürchtung hat, daß man uns bis an das Ende der Welt jagen wird, wenn bekannt wird, daß wir diese Festung erobert haben. Schließlich ist sie ja nur Teil einer größeren, in etwa militärischen Organisation.
Aber solche Bedenken will jetzt niemand hören. Sie haben die Festung besiegt. Das reicht aus, daß sie sich unbesiegbar fühlen. In den Grenzen ihres naiven Horizontes kann man das fast nachempfinden.
Das Aufrüsten der Schiffe und das Abfahren nach Grom ist für morgen geplant. Jedenfalls meinen die meisten, daß Osont sich so entscheiden wird. Konkret hat er sich wohl noch nicht geäußert. Wo er ist weiß auch niemand, aber wem wäre Osont Rechenschaft schuldig? Sie haben ihn vorbehaltlos als Führer akzeptiert. Er hat sie von Casabones heruntergeführt - das scheint Garantie dafür, daß er sie alle in eine bessere Zukunft führen wird, in der Reichtum und Freiheit und Glück warten, was immer sich der einzelne darunter vorzustellen vermag.
In der Tat, was werden die Vorstellungen von Osont sein? Alle dahin bringen, wo sie einst aus einem sozialen Kontext herausgerissen wurden? In ihre Heimatdörfer, zu ihren Familien? Manche scheinen das tatsächlich zu glauben. Ich nicht. Osont will Macht. Wozu er die haben will hinterfragt er selber nicht, wie immer, wenn eines Menschen hauptsächlicher Antrieb der Gewinn oder der Erhalt von Macht ist, aber er will die Macht, und dafür braucht er Leute, die ihm gehorchen, je mehr, desto besser. Ich bin fast sicher, daß er sich keine große Heimführungsaktion einfallen lassen wird.
Andererseits muß er diese Leute ködern. Mit Reichtum, Bequemlichkeit und Luxus. Und er weiß auch, wo er den herkriegt: Was man nicht hat, das nimmt man sich.
Die Schiffe da draußen als erstes. Und dann werden wir weiter sehen. Ja, so wird es sein: Osont wird die wahrscheinlich erste Seeräuberflotte dieser Welt ausrüsten. Oder sagen wir, die erste Seeräuberflotte, von der ich erfahre. Und dann? Auf nach Grom? Oder ist da noch zu starke bewaffnete Abwehr zu erwarten? Weiß er überhaupt, was er von Grom erwarten kann? Wer war denn kürzlich überhaupt da und kennt sich aus? Von den Meuterern wohl keiner. Aber wer weiß, was er noch an Informationen aus der Besatzung des Forts herausgepresst hatte, bevor er sie alle den Bratspießen überantwortete.
Ich bin jetzt sicher, daß ich weiß, was geschehen wird. Und da ich nun einmal da bin, werde ich dabei sein. Herwig als Pirat. Als Freibeuter. Der wievielte Beruf ist das eigentlich, den ich in der Welt der Granitbeißer ergreife?
Ich verbringe einige Stunden unter den die meiste Zeit fressenden Meuterern. Aber noch mehr ist nicht herauszubringen. Auch die sonstigen Informationen sind spärlich, da die meisten lieber von den Heldentaten erzählen, die vor ihnen liegen, als von dem Leben, das jetzt hinter ihnen liegt.
Als die Schlafperiode um 23 Uhr näherrückt, verdrücke ich mich wieder aus der Festung, um mir draußen etwas zum Essen zu suchen und dann ungestört in meiner Felsenbucht zu schlafen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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