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******** 051. Tag: Sonntag 95-10-08 ********
51.1 Startverbot
Am nächsten Tag stehe ich um 2 Uhr auf, immer noch müde und zerschlagen, aber nicht mehr vom Alkohol, sondern vom schnellen Rückmarsch gestern. Nachdem die Rebellen vernichtend geschlagen worden waren, hatte Osont die feste Entschlossenheit bekräftigt, sich von nun an durch nichts mehr an den weiteren Fluchtvorbereitungen hindern zu lassen. Der Tag vergeht zunächst wie jeder andere - ich esse, bade in den Sumpfteichen, wo kaum noch Leute arbeiten, weil es kaum noch Schneidgras gibt, dann nehme ich meinen Unterricht am Übungshang wieder auf. Dort erfahre ich, daß wir bereits im Besitz von 210 Gleitschirmen sind - dabei sind die beiden, die bei dem Angriff gestern verloren gingen, nicht mehr mitgezählt.
210 Gleitschirme - das ist bereits etwas mehr als die Anzahl, die Osont für die erste Absprungswelle vorgesehen hat. Ich vermute, daß es jetzt nicht mehr länger als einige Tage dauern kann, bis das Unternehmen in die Wege geleitet wird.
Um 6 Uhr taucht Osont auf. Er möchte mich sprechen. Unverzüglich. Ich beauftrage meine Schüler, sich gegenseitig über das Gelernte zu befragen. Das machen Lehrer in solchen Fällen immer, obwohl kaum ein erfahrener Lehrer sich der Illusion hingeben sollte, daß die Schüler in seiner Abwesenheit wirklich besonders effektiv arbeiten. Dann trete ich mit Osont auf die Seite.
"Herwig, was ist das mit diesem Waffenlager, wo man dich gestern aufgegriffen hat?"
Scheiße. Hat man ihm doch davon erzählt.
"Man hat mich nicht 'aufgegriffen'! Ich habe ein Waffenlager gefunden, und wenig später kam eine andere Gruppe dazu. Das ist alles!"
"Aber du hast sie mit dem Schwert bedroht! Es waren doch unsere Leute!"
"Das konnte ich doch vorher nicht wissen! Ich hatte das Schwert vorsichtshalber in der Hand! Hätte doch jeder von euch auch gemacht."
"Ja, kennst du denn unsere Leute nicht!"
"So gut ist mein Personengedächtnis nicht! Hier sind hunderte von Menschen!"
"Und wie soll ich das den anderen glaubhaft machen?" Osont schüttelt den Kopf: "Ougom, zum Beispiel, hast du persönlich gekannt! Trotzdem hat dich das nicht gehindert, ihn zu erschlagen!"
Jetzt kommt er wieder mit der alten Geschichte. Wie die Irene bei einem Ehekrach: Wenn es einen irgendwie gearteten Dissens gibt, dann tauchen immer wieder Vorfälle aus der Vergangenheit auf und werden erneut durchgekaut und einem vorgeworfen, bis in alle Ewigkeit, Amen. Das Ärgerliche ist, daß im Laufe der Zeit sich immer mehr 'Belastungsmaterial' ansammelt, das in solchen Fällen verwendet werden kann, und gerade dafür hat die Irene ein selektiv gutes Gedächtnis. Ärgerlich ist es dann auch, wenn man selbst nicht Buch führt, um gegebenenfalls analog Argumentationsmaterial parat zu haben, weil man selbst eben nicht so auf das argumentative Erbsenzählen versessen ist. Osont wird allerdings wohl kaum Buch führen - sich an das zu erinnern, was ihm für die momentane Argumentation zweckmäßig erscheint, das ist auch bei ihm seine zweite Natur.
"Sieh es doch mal so:" fährt er fort, "Wir machen eine Strafaktion gegen die Rebellen. Dabei kommen Menschen ums Leben. Viele der Rebellen entkommen trotz unserer Bemühungen, weil wir nicht wissen, wo sie ihre Lager und ihre Vorräte haben. Nur ein einziges Gebäude finden wir. Eines, in dem offenbar Waffen aufbewahrt werden. Und wer ist drin? Du!"
"Zufall!"
"Und du bist derjenige, der mit diesem Mädchen zusammen war, das aus dem brennenden Fort geflohen ist! Du hattest sie zugegebenermaßen dort versteckt! War das auch Zufall? Was für Schlüsse, glaubst du, ziehen die Männer jetzt?"
"Ich weiß nicht, was für Schlüsse ihr ziehen wollt! Ich habe dieses Gebäude durch Zufall gefunden, genau wie diese Gruppe, die nach mir kam! Ich glaube nicht einmal, daß dieses Gebäude unbedingt etwas mit den Rebellen zu tun hat - es sah sehr viel älter aus."
"Schon möglich." sagt Osont, "Oder auch nicht. Auf jeden Fall gibt es viele, die dir nicht mehr trauen."
"Dafür kann ich nichts."
"Und daß wir zwei Gleitschirme verloren haben, das wird dir auch übelgenommen! Zwei Gleitschirme! Du weißt selbst, was da für Arbeit drinsteckt!"
"Die zwei, die ich zu den Rebellen bringen sollte? Aber das war doch abgemacht, daß das eine Kriegslist war! Man mußte damit rechnen, daß diese beiden Schirme bei der Aktion verloren gehen!"
"Ja, mir ist das klar. Mir schon. Aber es gibt Leute, die fragen anders. Die fragen: Der Herwig macht bei einer solchen Aktion mit, und dann geschieht das und das. Wie kommt das? Es wäre natürlich auch ohne dich etwas schief gelaufen. Aber erzähle das diesen Leuten mal! Sie erwarten von mir, daß ich etwas unternehme! Also muß ich etwas unternehmen!"
Was will er unternehmen? Das klingt wieder nach der hierorts üblichen schnellen Personalpolitik. Mir sträuben sich die Nackenhaare. Sollte ich jetzt wegen solch banalen Mißverständnissen ums Leben kommen? Natürlich will Osont seine Stellung halten. Dem alles zu opfern ist er sicher bereit.
"Jedenfalls," fährt Osont fort, "gibt es böses Blut, wenn du bei der ersten Absprungswelle dabei bist. Es muß sowieso jemand hier bleiben, um die weitere Gleitschirmproduktion zu leiten, und den weiteren Übungsbetrieb. Die meisten gehen ja mit der ersten Welle."
"Soll ich nicht mit abspringen? Aber meine Frau ist da unten!"
"Du wirst doch später abspringen! Du wirst die zweite Welle quasi führen! - Außerdem, deine Frau. Was soll das? Warst du nicht mit diesem Mädchen zusammen?"
"Wenn wir genügend neue Schirme zustande kriegen - das Schneidgras geht zu Ende. Wir bekommen Materialprobleme!"
"Damit wirst du schon fertig!" Selbst wenn nicht, Osont wäre es dann egal, denke ich.
"Außerdem wollte ich von Anfang an bei der ersten Absprungswelle sein - schon wegen meiner Ortskenntnis des Schärenringes! Das war so abgemacht!" Wieviel Einwände muß ich noch bringen?
"Nein. Das ist nicht nötig, und das war auch nicht so abgemacht. Wir haben einige andere, die sich da unten auskennen, weil sie sich noch gut genug erinnern. Außerdem: Sieh das doch einmal so: Die erste Welle wird in Kämpfe verwickelt. Wir machen für euch die Vorarbeit! Wir räumen den Weg für euch frei. Ihr braucht doch bei einem späteren Absprung nur noch zu landen."
Wir stehen weit im Übungshang drin. Alle Augenblicke taucht wieder ein Gleitschirmflieger aus dem Nebel auf. Immer wieder landet jemand in unserer Nähe, wir sehen Männer, die ihre Schirme zusammenlegen und andere, die mit ihren Gleitschirmpaketen wieder nach oben marschieren. Ein routinierter Betrieb, wahrlich - sie sind bereit. Ich habe es mit soweit gebracht. Ich habe ihnen geholfen. Und ich soll nicht dabei sein! Wahrscheinlich will Osont einfach nicht jemanden in seiner Nähe haben, dessen Potential für Popularität zu groß ist. Ich habe in der letzten Zeit jedenfalls keine kritische Haltung mir gegenüber bemerken können. Das mit dem angeblichen Waffenlager der Rebellen, das ich gefunden habe, ist nichts als eine Ausrede. Osont will mich zurücklassen. Das ist alles.
"Ich habe nicht viel Zeit. Ich muß meine Frau finden. Ich muß diese Welt wieder verlassen. Ich muß hinunter!"
"So," sagt Osont, "und wer sollte für dich zurücktreten? Vergiß nicht, daß ihr es wart, die den regulären Weg nach unten zerstört habt. Das ist auch nicht vergessen worden. Ohne euch hätten wir das Problem mit dem Gleitschirmabsprung gar nicht! Wir wären schon lange unten!"
Da kann man kaum etwas gegen sagen. Mir fallen jedenfalls keine Argumente mehr ein.
"Und wann springt ihr jetzt ab?" frage ich.
"Du wirst es als allererster erfahren. Schließlich wirst du dann den Laden schmeißen müssen."
"Ich kann es nicht allein. Ich brauche ein paar Fachleute!"
"Du hast es schon mal alleine gekonnt. Hast du nicht als einziger die Kunde über die Gleitschirmfliegerei hierhergebracht?"
"Die besten Leute sind dann schon weg!"
Osont tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er geht auf meine Einwände nicht mehr ein.
"Du weißt jetzt jedenfalls Bescheid. Es ist meine Entscheidung, es so und nicht anders zu machen. Du hast keine andere Möglichkeit, als diese Entscheidung zu akzeptieren."
Wir gehen zum Unterrichtsplatz zurück, und Osont entfernt sich danach. Es ist nicht zu erkennen, ob er seinen Triumph, mir Hoffnungen zerstört zu haben, irgendwie genießt, oder ob das für ihn ein routinemäßiger Vorgang war. Ich kann mich kaum noch auf den Lehrstoff konzentrieren. In meinem Kopf gibt es nur einen einzigen Gedanken: Ich muß bei der ersten Absprungswelle dabei sein!
Ich habe das Gefühl, daß ich sonst Casabones nie wieder verlassen werden.
51.2 Letzte Vorbereitungen
Im Laufe des weiteren Tages bemerke ich, daß Osont offenbar angeordnet hat, Gleitschirme persönlich zuzuordnen. Nur einige wenige, die für den Übungsbetrieb notwendig sind, sind davon ausgenommen. Die anderen erhalten gestickte Symbolmarkierungen, die eine Zuordnung zum Eigentümer herstellen, außerdem werden die Eigentümer gehalten, von nun an diese Schirme immer bei sich zu führen. Damit wird auch wieder Platz in den Zelten am Übungshang geschaffen.
Natürlich sucht Osont die Leute, die einen Gleitschirm erhalten, selbst aus oder er läßt sie durch seine engsten Vertrauten aussuchen. Natürlich erhalte ich keinen Gleitschirm. Wie er wohl sicherstellen will, daß ich nicht einen der allgemeinen Übungsgleitschirme nehme?
Die Wirkung dieser persönlichen Gleitschirmzuordnung kann ich schon innerhalb weniger Stunden vielfach beobachten: Plötzlich sitzen an vielen Stellen, wo sie niemandem im Wege sind, Männer und beschäftigen sich intensiv mit der Untersuchung oder Reparatur ihrer Gleitschirme. Da werden sogar Nähte doppelt gelegt, die es eigentlich gar nicht nötig hätten. Jeder kann nun seine eigensten Überlebenschancen so beeinflußen, wie er es wünscht oder für nötig hält. Der Nutzen und die Wirkung des Privateigentums wird so auf eine überraschende Weise demonstriert.
Wahrscheinlich ist auch jedem, der einen Gleitschirm erhalten hat, der Hinweis gegeben worden, daß man diesen schon demnächst im Ernstfall brauchen könnte. Das motiviert ja auch, das Ding in Ordnung zu halten. Würde ich auch tun.
Es gibt auch unzufriedene Gesichter, nämlich die Gesichter von den Leuten, die keinen Gleitschirm erhalten. Und das sind ja die meisten. Der Plan, vorzeitig mit einem Teil der Männer abzuspringen ist zwar nicht publik gemacht worden, aber ich habe den Eindruck, daß diese Idee sich in den Köpfen der meisten, die diese ungleichmäßige Gleitschirmzuteilung bemerken, als vager Verdacht zu formen beginnt. Dann bemerke ich aber auch, daß es zur Kenntnis genommen wird, daß ich auch keinen Gleitschirm habe. Das beruhigt wieder - genau das wird Osont beabsichtigt haben. Vielleicht der Hauptzweck meines Hierbleibens.
Ich denke daran, daß ich mit Osont noch eine Rechnung zu begleichen habe. Schon deshalb darf ich ihn nicht aus den Augen verlieren. Schon deshalb muß ich bei der ersten Welle mit dabei sein. Den ganzen Tag bin ich beim Unterricht unkonzentriert, weil ich ständig überlege, wie ich die Dinge zu meinen Gunsten beeinflußen kann.
Okr, der noch den Übungsbetrieb leitet - natürlich gehört er auch zu den Auserwählten, die einen eigenen Gleitschirm bekommen haben - beginnt, wahrscheinlich auf Osont's Anordnung, die Inventarisierung der Übungsgleitschirme. Das heißt aber auch, daß es schwierig wird, sich einen davon zu nehmen, ohne daß es auffällt. Trotzdem, das wird die Methode der Wahl sein. Frage ist nur, bringe ich schon vor dem allgemeinen Absprung einen Schirm beiseite, oder verlasse ich mich darauf, daß ich rechtzeitig von dem bevorstehenden Vorhaben Wind bekomme und mir erst dann einen nehme, auf die Gefahr hin, daß zu viele andere dieselbe Idee haben und kein Schirm mehr für mich übrig bleibt. Im ersten Falle könnte es schwierig werden, wenn ein Gleitschirm fehlt. Der Verdacht könnte leicht auf mich fallen, wenn nötig, mit Osont's Nachhilfe.
Dann denke ich auch noch an die beiden Gleitschirme, die wir gestern beim Angriff auf die Rebellen mitgeführt haben. Die müssen ja noch irgendwo sein. Selbst, wenn diese nicht mehr in Ordnung sind, könnte man sie in die Inventarisierung der Übungsgleitschirme übernehmen und dafür einen der besten wieder entfernen und verstecken. Würde vielleicht funktionieren und gar nicht auffallen.
Nur habe ich nicht die mindeste Ahnung, wo diese beiden Gleitschirme abgeblieben und in welchem Zustand sie sind. Wenn sie in kleine Stücke zerrissen worden sind oder wenn sie im nassen Dreck gelegen haben, dann sind sie für diesen Zweck auch unbrauchbar.
Die Schlafperiode rückt näher. Dann könnte ich relativ unbeobachtet etwas unternehmen. Die Zeit drängt.
Die Zeit drängt nicht nur mich. Okr hat, wohl auch auf Anweisung von Osont, eine Bewachung der Übungsfallschirme angeordnet. Da man ja nun wegen der weggefallenen Rebellengefahr nicht mehr so viele Leute mit Wachaufgaben beschäftigen muß, läßt sich das personalmäßig leicht einrichten, auch wenn man dabei aus naheliegenden Gründen nur auf die Gleitschirmbesitzer zurückgreifen kann. Was nun?
Herwig, denk nach. Es sind nur wenige Optionen übriggeblieben. Die lassen sich leicht aufzählen. Und dann muß eine Auswahl getroffen werden.
51.3 Wahlmöglichkeiten
Erstens. Es kann sein, daß nach der ersten Absprungswelle die weitere Gleitschirmproduktion aus den verschiedensten Gründen so desorganisiert wird, daß es keinen weiteren Absprung mehr gibt, oder erst nach unakzeptabel langer Zeit. Ich muß also bei der ersten Welle dabei sein. Ich muß einfach.
Zweitens. Es gibt keine freien Gleitschirme mehr. Die meisten sind einem der Meuterer persönlich zugeordnet, oder es handelt sich um Übungsfallschirme, die jetzt bewacht werden. Dasselbe gilt auch für alle Gleitschirme, die zur Zeit fertiggestellt werden - sie werden sofort in die Lagerzelte am Übungshang gebracht. Es ist mir also zur Zeit nicht möglich, einen Gleitschirm ohne irgendeine Form der Gewalt in meinen Besitz zu bringen.
Drittens. Ich könnte selbst darangehen, einen Gleitschirm herzustellen. Das dürfte aber zu lange dauern, da ich dabei noch nie konkret mitgearbeitet habe. Die Näher, die sowas schon dutzende Male gemacht haben, können das besser. Ich könnte nicht einmal sicherstellen, daß ich das auch alles richtig mache. All die kleinen technischen Einzelinformationen, die im Test- und Übungsbetrieb so nacheinander entstanden sind und die die Schirme sukzessive immer besser gemacht haben, die kenne ich ja nicht. Die Konsequenzen der industriellen Arbeitsteilung, die sich hier herausgebildet hat. - Die Option, selbst einen Gleitschirm herzustellen, entfällt also auch.
Viertens. Der Fluchtweg von Casabones über den schwebenden Berg. Eine rein theoretische Möglichkeit. Ich weiß viel zu wenig darüber, um da überhaupt vernünftig planen zu können. Außerdem möchte ich ja, wenn ich Casabones verlasse, wieder mit Irene zusammenkommen. Ich weiß nicht, in welche Gegenden mich eine Flucht über den schwebenden Berg führen würde.
Es sieht alles so aus, als ob ich mich mit Option 'zweitens' befassen muß. Wenn man mir keinen Gleitschirm gibt, muß ich jemandem einen wegnehmen. Die klassische, notgeborene Kriminalitätsform. Es wird mir nichts anderes übrig bleiben. Nach all dem, was ich bereits in der Welt der Granitbeißer angestellt habe, sollte mein Gewissen dafür eigentlich auch schon flexibel genug sein.
Bleibt nur die Frage zu klären: Wem nehme ich einen Gleitschirm weg, und wann sollte dies geschehen? Ist es sinnvoll, mit den anderen zusammen abzuspringen, oder sollte ich schon vorher aktiv werden? Was mache ich solange, nachdem ich allein den Schärenring erreicht habe? Sollte ich vielleicht den Spieß der Gemeinheit umdrehen und, wenn ich schon als erster das Schärenfort erreiche, die Besatzung warnen? Würde mir das eventuell nützen, rascher wieder zu Irene zu kommen? Wäre das nicht eigentlich die Idee? - Dann müßte ich so bald wie möglich abspringen. Am besten noch in dieser Nacht.
51.4 Osont's Gemetzel
Abends, nach dem Unterricht und dem Essen, so um 20 Uhr, gehe ich zu einem Platz jenseits der Sumpfteiche, wo der Nebel mich vor den Blicken der Leute, die sich gerade auf dem freien Platz bei den Sumpfteichen zum Schlafen begeben, verbirgt. Mit Steinen verschiedener Größe schleife ich mein Schwert unter Wasser. Ich will die größtmögliche Schärfe haben. Vielleicht wird es notwendig werden, sogar Knochen schnell und lautlos zu trennen. Schnell und lautlos - das wird überhaupt das Kriterium sein, das den Erfolg bestimmt. Wem immer ich einen Gleitschirm wegnehme, den muß ich wirkungsvoll an überflüssigen Zeter und Mordio hindern.
Merkwürdig. Wenn man sich erst einmal entschlossen hat, dann gibt es wenig Skrupel. Besonders, wenn es sowieso keine gewaltfreien Optionen gab. Und trotzdem muß ich mir immer wieder klarmachen, daß so ziemlich alle hier ausnahmslos an Charmion's Tod mitschuldig sind, und wenn sie nur neugierig das Kreuz angesehen haben. Wird es dann nicht egal, wen es erwischt?
Ich arbeite sehr konzentriert und genau an meinem Schwert und nehme mir viel Zeit dabei. Ich darf ja auch nicht zu laut werden, was die Sache zusätzlich verlangsamt. Ich fürchte, das Schleifen des Schwertes wird mich einige Stunden beschäftigen. Schlafverlust spielt jetzt keine Rolle. Das Schwert muß scharf werden. Eine klare, saubere, technische Aufgabe: Die Schneidenrundung der Schwertklinge muß gleichmäßig über deren ganze Länge in den Mikrometerbereich gebracht werden. Leider gibt es unter dem trüben Himmel dieser Welt keine punktförmigen Lichtquellen. Dann wäre es nämlich möglich, nachzusehen, wo die Schneidenvorderseite noch Licht reflektiert - dort ist die Rundung noch nicht fein genug und dort ist noch weitere Arbeit nötig. So, unter den gegebenen Umständen, muß ich Schneidexperimente mit Schilfhalmen machen, wobei jeder Zentimeter der Klinge geprüft wird.
Ich prüfe auch die Garotte, die ich immer noch unter dem Rock bei mir trage. Die ist in Ordnung, aber ich habe sie noch nie verwendet. Ich denke, mit dem Schwert habe ich bessere Aussichten.
Irgendwann, als mir das Schwert scharf genug erscheint, bemerke ich wieder eine Unruhe aus der Richtung des allgemeinen Schlafplatzes, obwohl die Schlafperiode schon einige Zeit andauert. Es vergeht ein Moment, bis ich die Bedeutung dieser Geräusche erfasse: Dort wird geweckt! Es geht los - der Marsch zum Absprungshang beginnt jetzt gerade! Es ist soweit! - Da kann ich mir aber gratulieren, daß ich noch wach bin und es gleich gemerkt habe.
Ich springe auf und wische das Schwert trocken. Die Geräusche des Abmarsches da drüben am See sind irgendwie merkwürdig. Das sind nicht nur die Geräusche von Leuten, die leise geweckt werden, um die anderen, die keine Gleitschirme haben, nicht mit zu wecken. Da ist irgendwie mehr los. Plötzlich habe ich die Vision, daß Osont's Auserwählte dabei sind, die Schlafenden, die nicht mitkommen sollen, zu töten, wer weiß, vielleicht um unnötige Fragen über diesen Absprung zu unterbinden oder anderen Hindernissen vorzubeugen. Müßte man vielleicht damit rechnen, daß die Nichtbesitzer von Gleitschirmen in ihrer Mehrheit den Absprung verhindern würden? Wäre es aus Osont's Sicht logisch, aus vielen, potentiell gefährlichen Nichtbesitzern präventiv wenige zu machen?
Kaum, daß ich die Idee habe, bin ich fast sicher, daß es so ist. Da drüben werden Menschen im Schlaf gemordet. Vielleicht nicht alle, nur so viele, daß Osont in dieser Nacht, der Nacht des Absprunges, keine Schwierigkeiten kriegt.
Vollständig sicher bin ich erst, als ich ferne Schreie höre. Die kommen vielleicht von Übungshang, aber genau kann ich das nicht sagen. Gelegentlich verschluckt der Nebel das Stimmengewirr vollständig, und dann werden es sowieso wieder weniger Stimmen.
Wie gut, daß der Nebel mich versteckt. Jedenfalls werde ich mich auf meinem Weg zum Übungshang im Wald halten. Das wird Streß - hoffentlich komme ich noch rechtzeitig an. Bis dahin darf mich niemand sehen.
Es ist tatsächlich Streß - auch wegen der Orientierung. Mein rasch geborener Plan ist, schneller als alle anderen zur Schlucht zu kommen, um dann den Schluchtweg als erster in Richtung Absprungshang nehmen zu können. Aber immer, wenn ich mich dem Weg zwischen Sumpfteichen und Absprungshang zuweit nähere, höre ich, daß dort Menschen laufen. Sie sind genauso schnell wie ich. Überholen ist kaum möglich.
Erst auf dem Weg zwischen der Stelle, wo man die Schlucht verläßt, und dem Absprungshang selbst wird es ruhiger. Tatsächlich komme ich als erster am Absprungshang an und habe so Gelegenheit, mich im Waldrand zu verbergen. Nun muß ich die weitere Entwicklung beobachten, um mich für mein Opfer zu entscheiden. Dabei bewege ich mich parallel zum Waldrand weiter, um erstens meine Deckung noch zu verbessern und zweitens zu einem entlegeneren Teil des Absprungshanges zu kommen. Es wird kaum möglich sein, aus der Mitte der Meuterer einen Gleitschirm in meinen Besitz zu bringen. Ich muß mich um einen kümmern, der abseits steht.
51.5 Aufstellung
Der Nebel ist heute erfreulich dicht. Nicht schön für das Gleitschirmfliegen, aber so ist es nicht möglich, den ganzen Absprungshang zu überblicken. Insbesondere ist das auch für Osont nicht möglich.
Es vergehen nur einige Minuten, bis ich am anderen Ende des Absprunghanges wieder Geräusche höre. Dann tauchen die ersten Gestalten aus dem Nebel auf.
Bald steht eine ordentliche Gruppe von vielleicht 220 Leuten beisammen. Eine dichte Menschentraube. Jeder trägt einen zusammengelegten Schirm und weiteres Ausrüstungsmaterial. Jeder hat ein Schwert. Bögen kann ich nur wenige sehen - die Versuche, während des Gleitschirmfliegens mit dem Bogen zu schießen, waren nicht erfolgreich genug.
Osont verschafft sich Gehör. Der Rand der Gruppe ist weniger als hundert Meter von mir entfernt, trotzdem kann ich nicht alles hören, was er sagt.
Ich verstehe, daß es offenbar gelungen ist, sich von der Menge der restlichen Meuterer so abzusetzen, daß die, die lebendig zurückgeblieben sind, nicht wissen, wo diese Menschen hingegangen sind. Es hat in der Tat Tötungen gegeben - wer von den Unbeteiligten an den Sumpfteichen beim Wecken der zum Absprung auserwählten zufällig erwachte, wurde rasch und lautlos umgebracht. Ich bin froh, daß ich das nicht gesehen habe. Was sind das für Menschen - das waren doch ihre Mitgefangenen, mit denen sie solange zusammengewesen sind und mit denen sie die Gleitschirmproduktion auf die Beine gestellt haben! Wie hat Osont sie zu diesen Kameradenmorden motivieren können?
Wieviele umgebracht wurden erfahre ich nicht. Was jetzt wichtiger ist, ist der Absprung. Osont möchte einerseits möglichst alle gleichzeitig in der Luft haben, um unten auch möglichst gleichzeitig anzukommen. Andererseits bietet der Hang nur eine Länge von einigen hundert Metern, von denen man abspringen kann. Wenn alle 220 gleichzeitig starten, dann würden sie reihenweise im Nebel kollidieren.
Es werden zwölf Riegen gebildet, wie beim Sportunterricht in der Schule. In jeder Riege stehen 18 bis 20 Mann. Die Riegen sollen sich auf den ganzen nutzbaren Hang verteilen, daraus folgt, daß sie eine Abstand von vielleicht 20 Metern voneinander haben werden. Auf Zuruf soll es dann losgehen, jede Riege für sich: Ein Absprung, der nächste legt seinen Schirm aus, dann startet der, dann legt der nächste seinen Schirm aus und so weiter. Auf diese Weise sollten alle 220 Mann innerhalb von drei bis fünf Minuten in der Luft sein. Wer Schwierigkeiten hat, soll seitlich raustreten, die anderen vorlassen und derweil Schirm richten. Ganz einfach. Osont betont mehrfach, daß das ganz einfach ist. Damit niemand auf die Idee kommt, es wäre nicht einfach.
Ich bewege mich weiter zum jenseitigen Rand des Absprunghanges. Ich weiß jetzt auch, was ich tun muß:
Ich werde mir die äußerste linke Riege vornehmen. Wenn dort alle abgesprungen sind bis auf den letzten, dann werde ich aus dem Wald herausstürzen und diesem den Schirm wegnehmen. Zu dem Zeitpunkt sollten nur noch wenige Männer in Sichtweite vorhanden sein, und alle sollten sich intensiv mit ihrem Schirm beschäftigen. Hoffe ich.
Ich nehme meinen Platz ein, bevor sich die Riegen aufstellen. Deshalb höre ich den Rest der Erklärungen von Osont nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich dabei etwas Wichtiges versäume.
Dann stehen die Männer auch schon bereit. Von meinem Standpunkt aus kann ich sehen, daß die jeweils ersten den Schirm auf dem Boden ausbreiten und sich startbereit aufstellen. Wegen des Nebels sehe ich nur die drei Riegen an der äußersten, linken Seite. Wenn ich vorstürze, werden es zwei oder drei mehr sein, das heißt also, daß ich damit rechnen muß, daß mich vier bis sieben Männer bei meinem Tun bemerken können. Wenn diese es nicht vorziehen, abzuspringen anstatt mich zu bekämpfen, dann bin ich in Schwierigkeiten. Vielleicht sollte ich mehrere Riegen im Auge behalten - da ja nicht alle gleichzeitig fertig werden, habe ich es dann nur noch mit dem allerletzten Nachzügler zu tun. Ich werde sehen, wie die Situation sich entwickelt.
Nun stehen alle bereit. Ich weiß nicht, worauf sie warten. Irgendwo redet noch jemand, Kommandos werden weitergegeben. Höre ich Osont's Stimme?
Die Zeit steht noch etwas still. Immer noch und schon wieder das ungute Gefühl in der Magengegend, es könnte im letzten Moment noch etwas dazwischen kommen und der Absprung verzögert sich. Oder es wird aus irgendeinem Grunde ganz unmöglich - und wenn es nur aus einer Laune des allmächtigen Osont resultiert. So, ungefähr so war mir bei meinem allerersten Flug in einem gewöhnlichen Verkehrsflugzeug zumute: Ich dachte, gerade jetzt könnte etwas passieren, was diesen Flug verzögert oder unmöglich macht, und dann war es nichts mit meinem ersten Flug. Das war natürlich Unsinn - für die Besatzung und die mitreisenden Vielflieger war dieser Flug nicht anders als viele andere. Jetzt allerdings, bei dem kommenden Flug, steht doch etwas mehr auf dem Spiel.
Zeit zum Nachdenken, unbeabsichtigter Zeitverschnitt des Schicksals. Herwig, das war Casabones. Du wirst nie wieder hierherkommen. Hier bist du mit Charmion so nahe zusammengewesen wie überhaupt Menschen nur zusammenkommen können, und hier hast du tatenlos zugesehen, wie sie auf scheußliche Weise umgebracht wurde. Sie hat dich gesehen, wie du nur rumgestanden bist und nichts unternommen hast. Hier hast du eine beispiellose Fluchtaktion in die Wege geleitet, aber auch viele Menschenleben geopfert, nicht nur das von Charmion, und manche davon nur durch pure Tapsigkeit. Hier ist soviel geschehen, daß noch nicht genug Zeit war, das alles einzuordnen. Hast du hier versagt, oder hast du hier geglänzt? Was hättest du besser machen können? Wo ist Schuld bei dir, und wo bei den anderen?
Verfluchter Boden dieses Landes. Ich will hier weg. Kein Bilanzieren, gerade jetzt. Ich bin kein Tarzan, der edle Held des Urwaldes. Ich bin auch kein Philosoph. Habe ich nie von mir behauptet. Ich bin ein Tourist. Ich will weg hier, wollte niemals hierherkommen. Charmion, warum hast du dich mit mir eingelassen?
Jedenfalls wird deine Grabstätte ruhig werden, Charmion, ob jetzt dieser Absprung gelingt oder nicht. Es gibt keinen Weg mehr auf Casabones hinauf, und eine reine Männergruppe - alle zusammen oder nur die, die jetzt zurückbleiben - kann sich wohl kaum vermehren. In fünfzig Jahren spätestens lebt keiner mehr. Das ist wenigstens sicher. Ich muß nur noch sicherstellen, daß nicht auch meine Knochen dann irgendwo hier im Urwald liegen. Vielleicht am Ufer des Sees, neben Charmion's Grab, stelle ich mir vor. Es wäre sowieso das logischste, den Rest meines Lebens an Oom's Platz zu verbringen, wenn mich etwas für immer hier festhalten sollte.
Da vorne steigen plötzlich, vor den Riegen, die ersten Schirme auf. Ich war schon wieder in Gedanken und habe die eigentlichen Kommandos überhört. Herwig, paß auf! Jetzt kommt es auf Sekunden an! Du sollst nicht hierbleiben, und es hängt nur von dir ab!
Das Getrappel der anlaufenden Gleitschirmflieger kommt hier nur sehr gedämpft an. Die Riegen springen natürlich nicht synchronisiert, sondern jede für sich, so schnell sie eben können. Bei einer sehe ich bereits den zweiten Schirm aufschweben. Von hier aus kann ich aber nicht mehr sehen, wie sie in den Nebel hinein abfliegen, da das bereits hinter der Rundung des Hanges geschieht und der Nebel sowieso zu dicht ist.
Jetzt sind schon etwa drei von jeder Riege unterwegs. Es geht tatsächlich schnell und routiniert. Schließlich ist der Start genauso einfach wie am Übungshang dutzendfach geübt, nur danach wird es eine viel längere Flugdauer geben, und niemand weiß, was uns bei der Landung erwartet. Da sich jeder beim Auslegen seines Schirmes umdreht, kann ich den Waldrand nicht zu früh verlassen. Die Spannung ist unerträglich.
Zufällig werfe ich einen Blick auf die Uhr. Oben, bei uns, nähert sich Mitternacht und der 9. Oktober. Und da vorne schweben die vierten und fünften Schirme auf. Es geht alles reibungslos.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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