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******** 049. Tag: Freitag 95-10-06 ********
49.1 Zum letzten Mal
Kurz nach 0 Uhr erwähnt Okr voll Stolz, daß wir jetzt schon über einen Vorrat von 156 funktionsfähigen Gleitschirmen verfügen. In der Xonchensprache läßt diese Zahl sofort erkennen, warum sie erwähnenswert ist: Es ist im Fünfer-System eine Schnapszahl: 5*5*5 + 5*5 + 5 + 1 = 156. Ganz einfach. Wenn ich eines Tages tatsächlich dieses Buch über unsere Abenteuer schreiben sollte, muß ich das explizit erwähnen, weil es im Deutschen und bei Verwendung des Dezimalsystems nicht sofort offensichtlich ist.
Jedenfalls nähert sich jetzt doch der Tag der ersten Absprungswelle. Wenn ich noch einmal zu Charmion's Grab will, dann muß ich das bald tun. Am besten heute noch. Ich verschiebe deshalb die nächsten Unterrichtsstunden auf morgen und schicke meine nächste Gruppe, die schon wartet, wieder an die Arbeit. Keiner bezweifelt, daß ich dazu befugt bin, und Osont habe ich vorsichtshalber gar nicht erst befragt.
Den Weg über die Berge nehme ich nicht. Zuviele Leute, die sich an der Hochrampe aufhalten, würden mich sehen. Osont bekäme sicher Wind von meiner Eigenmächtigkeit, und es könnten ja immer noch Rebellensympathisanten da sein. Also nehme ich den Weg über das Dorf.
Also wenn man hier die Parole ausgibt, die Wachbemühungen zurückzunehmen, dann machen sie es gleich richtig. Auf dem Weg zwischen Sumpfteichen und Dorf hält mich kein Mensch auf, und ich sehe auch niemanden, der so aussieht, als solle er auf den Weg aufpassen. Wenn tatsächlich für diese Stelle Wachen eingeteilt sind, dann liegen sie wahrscheinlich im Gebüsch und schlafen.
Wie schon so lange ist das Dorf völlig menschenleer. Trotzdem schaue ich mich diesmal genauer um. Mit gezogenem Schwert trete ich auf diese und jene Hütte zu und sehe rein.
Die Spur des Geheimnisvollen, die ein geschlossenes Gebäude umgibt, solange man noch nicht weiß, was drin ist, verfliegt rasch. Der Boden der meisten Hütten ist mit Dreck bedeckt, der manchmal kontinuierlich in das Gras- oder Schilflager seiner ehemaligen Bewohner übergeht. Sonst ist kaum etwas von Bedeutung zu finden. Hier und dort irdene Gefäße, kaum je unbeschädigt, und Scherben. Stoffsachen und Lederteile. Waffen und andere Metallgegenstände scheinen alle mitgenommen worden zu sein.
Ich überlege mir, ob ich irgendwo Spuren von Töpferei gesehen habe. Jedenfalls nicht hier auf Casabones. Die Gefäße müssen irgendwann vor langer Zeit ihren Weg auf Casabones hinauf gefunden haben.
Ich gehe auch die Seitenstraße des Dorfes ab, ohne dort etwas anderes zu finden. Es ist überall das gleiche: Dieses Dorf ist jetzt verlassen, weil jeder an den Arbeitsstätten etwas zum Gelingen des Gleitschirmfluchtprojektes beizutragen hat. Und danach wird sowieso niemand mehr auf Casabones sein, so, wie es geplant ist. Also ist das Dorf jetzt schon eine archäologische Stätte. Vermutlich wird man schon in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr auf den ersten Blick feststellen können, daß hier mal ein Fahrweg war und rechts und links von diesem hunderte von elenden, provisiorischen Hütten.
Obwohl man dieses Dorf schon als etwas Vergangenes ansehen kann, befällt mich nicht das seltsame, andächtige Gefühl, das ich manchmal beim Besuch bestimmter archäologischer oder geschichtlicher Stätten oder Plätze habe. Dazu ist das Dorf noch zu kürzlich bewohnt gewesen, dazu hängt noch zu authentisch der Original-Körpergeruch seiner früheren Bewohner in den Innenräumen der Hütten. Essensreste lassen sich immer noch hier und dort finden, Knochen mit Fleisch dran, Exkremente neben den Hütten, nur notdürftig und zum Schluß gar nicht mehr verbuddelt. Das ist noch nicht geschichtlich.
Ich habe soviele verlassene und unterschiedlich weit verfallene Häuser in Schottland und Irland gesehen, Zeugen gescheiterter Träume einer gesicherten wirtschaftlichen Existenz zahlloser jetzt vergessener Menschen. Die ganz typische Ruine im schottischen Hochland besteht aus den beiden Stirnwänden, üblicherweise eine davon mit Kamin, und den verbindenden Seitenwänden. Innen und außen wächst das Gebüsch gleichermaßen, und Zurückbleibsel der Bewohner, Gegenstände des persönlichen Gebrauches, sind völlig verschwunden. Die Mauern stehen Jahr für Jahr und Jahrzehnt für Jahrzehnt schutzlos in Wind und Regen und verändern sich sowenig, daß man sogar solche Ruinen auf genauen Landkarten einzeichnet. In dichter besiedelten Regionen würde man solche Bauwerk-Reste natürlich nicht stehen lassen, weil der Platz da zu teuer ist. Aber in der Einöde des Berglandes, in den endlosen Mooren zwischen den Lochs und den grauen Bergen ist Platz genug. Da lohnt es nicht, eine Ruine abzureißen, wenn man in der Nähe etwas Neues bauen will. Da bleibt so eine Ruine stehen und läßt den zeitlosen Wind durch die leeren Fenster und über die grauen Steinflächen wehen, so wie es jedem anderen natürlichen Fels auch geschieht.
Solche Ruinen stehen für mich an einem ernsthaften Ort, der von verhaltener Trauer umweht ist. Diese Hütten jedoch erinnern eher an einen wenn auch jetzt menschenleeren Slum. Ein großer Gegensatz. Und doch handelt es sich in beiden Fällen um dieselbe Erscheinung: Aufgegebene Wohnunterkünfte. Jedwede Wohnung auf der Welt wird einmal so sein.
Das Dorf enthält nichts mehr von Interesse. Ich kann auch keine Spuren von Durchsuchungen anderer finden, aber das kann natürlich auch daran liegen, daß erstens ich nicht der große Spurenleser bin und daß zweitens sich auch sonst niemand genau das verlassene Dorf angesehen hat.
Die übriggebliebenen Vollstreckungskreuze in der Dorfmitte erinnern mich deutlich, wo ich eigentlich hingehen will.
Langsam bewege ich mich auf dem Fahrweg weiter zum Mauerdurchbruch. Ich habe zwar nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, verhalte mich aber trotzdem extrem leise und aufmerksam. Auch das Schwert behalte ich in der Hand.
Der Seitenpfad zum Mauerdurchbruch, die kleine Lichtung, der Pfad zurück zum Fahrweg, der Fahrweg vom Tor zur ehemaligen Festung, das alles liegt verlassen in dem bleiernen Nebel. Vielleicht ist alles überwachsener als zu dem Zeitpunkt, als ich das letzte Mal hier war, aber das genau festzustellen ist noch nicht genug Zeit vergangen.
Am ehemaligen Fort trete ich an den Ansatz der Zugbrücke heran, um in die Tiefe zu sehen. Etwa fünfzig Meter unter mir sind die Reste der Zugbrücke und des Rammbockes deutlich zu erkennen. Dazwischen liegt Geröll, das mal Bestandteil des Forts gewesen sein muß, und verkohltes Gebälk.
Menschenleichen oder Leichenteile kann ich, auch bei genauerer Betrachtung, nicht sehen. Ich erinnere mich an die Geräusche, die ich neulich hier gehört habe - wahrscheinlich hat da schon jemand aufgeräumt. Die Rebellen waren also schon hier. Inzwischen dürfte dieser Ort für sie aber nicht mehr von Interesse sein.
Ich gehe am Steilufer des Sees entlang in Richtung Oom's Platz. Dabei versuche ich, mir alles so anzusehen, als sehe ich es das letzte Mal. 156 Gleitschirme sind schon fertig - da ist der Absprung in wenigen Tagen fällig. Ich glaube kaum, daß ich noch einmal hierherkomme.
Der Klippenpfad. Oom's Platz. Lautlos bin ich abgestiegen. Es ist jetzt genau 2 Uhr. Als erstes überzeuge ich mich, daß nicht zufällig jemand hier anwesend ist, etwa in Oom's Hütte. Das ist nicht der Fall. Auch Oom's Hütte sieht so aus, als sei sie seit seinem Verschwinden nicht mehr benutzt worden. Nach langem Horchen in den Nebel hinaus gehe ich zu Charmion's Steinhaufen hinüber, immer bemüht, kein Geröll durch meine Tritte hörbar zu bewegen.
Der Steinhaufen war gute Arbeit. Nichts ist verändert. Charmion ist auf dem sicheren Wege zum exclusiven Besitz einer archäologischen Grabstätte.
"Hi, Charmion! Ich bin's." sage ich, wie es sich gehört. Ein feuchter Luftzug streift meine Stirn. Ein zufälliger Wind, natürlich, aber ich denke mir, daß Charmion mir von irgendwoher über die Stirn streichelt. Ich habe doch auch ein Recht für ein paar dumme, metaphysische Ansichten, verdammt noch mal. Die lasse ich mir jetzt nicht wegnehmen. Sie war es. Basta.
Ich schildere ihr den Fortschritt in der Gleitschirmfliegerei in leuchtenden Farben, meine ersten eigenen Flugerfahrungen in allen Einzelheiten. Wie viele Generationen von Granitbeißern haben hier gelebt ohne das Fliegen zu kennen, und jetzt hat sie um so kurze Zeit verpaßt, es selbst zu erleben!
49.2 Der Gesang der Neuronen
Mittendrin halte ich plötzlich ein und bin augenblicklich still, weil ich glaube, etwas gehört zu haben, mehr eine Ahnung denn eine Sinneswahrnehmung. Ich blicke auf und horche.
Die Felswand wölbt sich über mir überhangartig und bauchig vor. Von keiner Stelle da oben an der Kante des Steilufers kann man mich hier unten neben dem Steinhaufen sehen. Gerade das Geröllufer am Fuße des Klippenweges könnte man von oben sehen, wie ich weiß. Aber schon der Klippenweg selbst ist schwer und nur durch Zufall zu finden, wenn man ihn nicht kennt.
Trotzdem, da ist etwas. Steinchen rollen, Stimmen reden. Zu schwach, zu fern. Aber der Schall muß ja um die Felswand herumgebeugt werden, denke ich - wenn da oben jemand redet, dann kann man den von hier aus einfach nicht lauter hören.
Hier unten gibt es keine Deckung - bis auf Charmion's Steinhaufen. Lautlos und gewandt stehe ich auf und hocke mich auf seiner anderen Seite nieder, der Seite, die dem Klippenpfad abgewandt ist. Über den Haufen hinweg kann ich den unteren Teil des Klippenpfades beobachten.
Eigentlich kann niemand mein einseitiges Gespräch mit Charmion gehört haben, so leise, wie ich gemurmelt habe. Auch die Schallwellen, die von mir ausgehen, müssen um das Steilufer herum gebeugt werden, um jemanden da oben zu erreichen. Die da oben reden offensichtlich etwas lauter als ich es getan habe. Und das würden sie nicht tun, wenn sie auch etwas gehört hätten.
Kommen sie runter? Wenn ja, werden sie Oom's Hütte bemerken und sich dafür ausreichend interessieren, so daß sie sich nicht um den Steinhaufen am anderen Ende des Geröllufers kümmern? Und wenn sie doch ein paar Schritte auf mich zugehen, werden sie rechtzeitig umkehren oder werden sie mich bemerken?
Viele Alternativen, Aufspaltung möglicher Handlungsstränge. In einem Roman würde man die Handlung jetzt auf spannend optimieren: Wenn ich also nicht entdeckt werden soll, dann müssen sie trotzdem runterkommen und sich so ausgiebig am Geröllstrand hin- und her bewegen, daß ich der Entdeckung nur so gerade eben entgehe.
Ich überlege mir Fluchtwege. Das Wasser, natürlich. Ein bißchen auf den See hinausschwimmen, und der Nebel verbirgt mich. Aber die erste Strecke bin ich immer noch sichtbar. Das jetzt zu tun wäre also ein großes Risiko. Ich weiß nicht, wo die da oben genau stehen und in welche Richtung sie sehen. Der Nebel läßt gerade noch zu, daß man von oben die Wasserfläche nahe am Ufer sehen kann. Es gibt Zeiten, da ist der Nebel auf Casabones so dicht, daß ich mich problemlos schwimmend absetzen könnte. Leider ist das jetzt nicht der Fall. Außerdem weiß ich nicht, ob ich es jetzt wirklich fertigbringen würde, die ersten hundert Meter absolut lautlos zu schwimmen.
Die Stimmen werden lauter, nicht wegen Ortsveränderung, sondern weil die betreffenden Personen lauter reden. Sie fühlen sich offenbar völlig allein und unbeobachtet. Das ist gut. Dann brauche ich nur abzuwarten, bis sie gehen. Und natürlich muß ich den Klippenpfad im Auge behalten.
Das dauert aber. Als ich auf die Uhr sehe, stelle ich fest, daß es schon 4 Uhr ist. Dann bin ich schon zwei Stunden hier. Und immer noch reden sie da oben. Manchmal sinkt ihre Stimmlage soweit, daß ich über Minuten hinweg gar nichts höre. Ich kann aber nicht sicher sein, daß sie schon weg sind, und irgendwann höre ich sie dann auch wieder.
Ich überlege mir weitere Fluchtstrategien. Sind sie zum Beispiel so weit von dem oberen Ende des Klippenpfades entfernt, daß man diesen unbeobachtet verlassen und sich in den Wald schlagen könnte? Könnte man überhaupt hinreichend lautlos den Klippenpfad besteigen, um das herauszukriegen? Oder sitzen die gerade so da, daß sie den Klippenpfad teilweise im Auge haben, ohne das bis jetzt zu bemerken, weil sie den Pfad ja nicht kennen und weil er sich so wenig vom Felsen abhebt? Ich stelle mir ein für mich wenig lustiges Bild vor, nämlich, wie ich nach allen Regeln der Kunst lautlos bergauf steige und diese Leute mich bereits gesehen haben und mir die letzten Meter interessiert und mit gezogenen Waffen zusehen, während ich mich noch unbeobachtet glaube.
Aber irgendwann muß ich so etwas wagen, wenn die sich noch weiter hier aufhalten sollten und wenn es dann zunehmend schwierig wird, zwischen Gesprächspausen und Abrücken zu unterscheiden.
Irgendwann nicke ich ein, fahre hoch, als ich es bemerke. Habe ich geschlafen? Wie lange? Habe ich geschnarcht? Hastig sehe ich mich um. Der Geröllstrand ist leer, niemand ist den Klippenpfad heruntergekommen. Aber ich höre auch nichts mehr. Minutenlang lausche ich. Denk dran, Herwig, das ist kein Spiel. Wenn du nur einen Moment geschnarcht hast, und wenn die das gehört haben, dann lauschen die jetzt genauso wie du. Und das werden sie eine Stunde lang tun, wenn notwendig.
Oder sie kommen runter.
Das erste Mal habe ich die unangenehme Vision, daß dieser Vorfall mich hier solange festhalten könnte, daß inzwischen die erste Absprungswelle ohne mich in die Wege geleitet wird. Warum sollte Osont auch auf mich warten? - Die Zeit drängt.
"Charmion, was soll ich tun?" flüstere ich lautlos. Sie würde mir helfen, wenn sie könnte. Vielleicht gibt sie mir ein Zeichen, von dort, wo sie jetzt ist. Von dem Platz, an den ich nicht glaube. Ein Zeichen, Charmion!
Aber warum sollte gerade sie mir ein Zeichen geben? Alle Götter sind zu allen Zeiten aufgefordert worden, sich zu offenbaren. Nie sind sie dem Wunsch in definitiver Weise nachgekommen. Was sollte meine Charmion über die anderen Instanzen des Universums auszeichnen?
5 Uhr vorbei. Aus welchem Grunde können sich da oben, an der Kante des Steilufers, überhaupt so lange Menschen aufgehalten haben? Lager? Besprechung? Hat sich jemand vor einem anderen Auftrag hierher verdrückt? Im Prinzip könnten es ja auch unsere eigenen Leute sein. Zum Beispiel: Osont hat Leute ausgeschickt, um rauszukriegen, wo ich mich aufhalte, wenn ich länger nicht anwesend bin. Vielleicht. Wahrscheinlich aber nicht. Was hat er davon, wenn er das weiß? Ich weiß also nicht, wer es sein könnte. Jetzt eine ferngesteuerte Videokamera, die man lautlos über die Steilküste schweben lassen könnte - das wäre eine feine Sache!
Und weiter schweigt die Welt. Da ist das ferne, wesenlose Raunen der allgegenwärtigen Gespräche, die immer da sind und immer von allen Seiten einfallen, die man nur in der Stille hören kann, erzeugt durch Millionen unterbeschäftigter Neuronen, die vermöge der Anspannung in höchster Erregungsbereitschaft sind. Da hört man auch schon mal Dinge, die nicht da sind, an der Grenze der Wahrnehmungsfähigkeit. Das Ohr ist gerade so empfindlich, daß es das thermische Rauschen, den permanenten Hagel der Luftmoleküle auf das Trommelfell, nicht mehr wahrnimmt. Aber schon das Rauschen des Blutes in den Gefäßen des Kopfes erzeugt einen ständigen Störpegel. Das brummt, pulsiert und zischt. Oft habe ich dem in stillen Nächten schlaflos gelauscht, versuchte, herauszukriegen, ob da nun wirklich irgendwo ständig ein LKW durch die Nacht fährt, oder ob es ein Wirbel in irgend einer Arterie in meinem eigenen Kopf ist.
Das ist schon eine merkwürdige Sache mit der Wahrnehmung. Als Kind hatte ich über viele Jahre hinweg eine Armbanduhr. Eine mechanische, die man aufziehen mußte und die tickte, wenn man sie an das Ohr hielt. Das tat ich oft, um mich zu vergewissern, daß sie noch ging.
In meiner Studentenzeit hatte ich diese Uhr vernichtet. Es war ein dummes Experiment: Ich entdeckte, daß man eine mechanische Armbanduhr wie die meine tatsächlich in flüssigen Stickstoff eintauchen konnte. Natürlich brachten die -196 Grad die Uhr zum Stehen. Aber nach dem Auftauen lief sie wieder. Das war das überraschende. Und das war es, was ich anderen Kommilitonen immer mal wieder vorführte, wenn die Gelegenheit sich bot.
Bis die Uhr eines Tages nach dem Auftauen nicht wieder anlief. Sie blieb kaputt. Gute Ausrede, um mir endlich eine der genauen, quarzgesteuerten Digitaluhren zuzulegen.
Doch das Ticken dieser alten Armbanduhr, die längst auf irgendeiner Mülldeponie verrottet, höre ich noch immer, bis zum heutigen Tage. So ab und zu. Wenn es still genug ist. Das wird mir wahrscheinlich bis zu meinem Tode bleiben. Da sind ein paar bestimmte Neuronen, die akustische Reize entschlüsseln. Und diese Neuronen haben nichts anderes gelernt als das Ticken dieser Uhr aus dem Strom der akustischen Wahrnehmungen zu entschlüsseln. Das machen sie nun eben ab und zu. Auch ohne Uhr.
6 Uhr vorbei. Sagt meine Digitaluhr. Ich brauche sie nur ans Ohr zu halten - die alte Bewegung, in der Kindheit hundertfach gemacht. Es tickt. Ich weiß ganz genau, wie eine quarzgesteuerte Uhr mit LCD-Display funktioniert. Da entsteht kein hörbarer Schall. Und doch tickt sie. Wenn ich will, dann tickt sie. Und manchmal auch, wenn ich nicht will.
Wäre das schön, wenn ich Charmion wegen solcher Vorgänge noch einmal hören und sehen könnte! Ich weiß, das wird vielleicht sogar eines Tages der Fall sein. Nämlich dann, wenn ich sterbe. Wenn Zerfallsprodukte des Stoffwechsels die Neuronen zu spontanen Aktionen anregen, und lange nicht benutzte Synapsen zum letzten Male befragt werden. Dann können sogar Erinnerungen als Wahrnehmungen auftauchen, dann sieht man ein ungeahntes Licht und hört eine dröhnende Musik, dann singen die Himmel, und man ist wieder mit allen Lieben zusammen. Auch Charmion wird wieder da sein, und ich werde mich nicht damit aufhalten, daran zu denken, daß dieses alles nur ein Produkt des Funktionsverfalls des Großhirns ist. In dieser letzten Stunde bin ich nicht allein. Vielleicht. Die Illusion ist perfekt. Vielleicht. Vielleicht machen mir dieselben Vorgänge auch nur eine große, schwarze Leere vor. Kann auch passieren. Und Charmion wird dann weiter weg sein als je zuvor.
Was für ein hartes Los, eine sterbliche Seele zu haben und darum zu wissen.
6 Uhr 30. Allmählich werde ich unruhig. Ich höre immer noch nichts. Es drängt mich, nachzusehen. Welchen vernünftigen Grund könnte es geben, sich so lange da oben an der Steiluferkante aufzuhalten? Schlafen sie vielleicht? Ich muß mit allem rechnen.
Leise stehe ich auf, kaum, daß ich Charmion einen Abschiedsgruß hinhauchen kann. Tote schlafen fest, und ich muß jetzt das Geschäft des Am-Leben-Bleibens weiter führen. Charmion wird das verstehen - es war ja auch ihr Geschäft.
So oft, wie ich den Klippenpfad schon auf- und abgestiegen bin, gelingt es mir tatsächlich, relativ lautlos Höhe zu gewinnen. Jeden Schritt halte ich an, versichere mich eines festen Standes und sehe mich um, mustere die obere Kante des Steilufers, die immer besser in Sicht kommt.
Und aus immer höherer Perspektive sehe ich Charmion's immer unscheinbarer werdenden Steinhaufen.
Drei Meter unter der Kante. Zentimeterweise geht es jetzt vorwärts. Jeder Schritt muß einzeln überlegt und geplant werden, und eigentlich muß man die Augen überall haben: Vor den eigenen Füßen, auf den Felsgriffen, auf den Stellen, wo ich mich mit der Hand festhalte, die obere Steiluferkante, die Kronen einiger Bäume, die ich immer mehr sehen kann. Gerade immer dann, wenn ich den Kopf weiter nach oben schiebe, muß ich nach oben sehen. Was wäre das für eine unangenehme Situation, wenn dicht hinter der Kante jemand liegt und tagträumend auf den See hinaussieht und plötzlich ich in sein Gesichtsfeld hineindrifte! Mit wieviel Schrecksekunde auf dessen Seite könnte ich dann wohl rechnen?
Nach wenigen weiteren Schritten ist es soweit: Ich kann den Boden hinter der Kante einsehen. Da ist nichts Beunruhigendes. Trotzdem - weiter leise und vorsichtig! Nicht im letzten Moment alles durch Hast verpatzen.
Dann knie ich auf dem flachen Boden, sorgfältig nach allen Seiten spähend. Charmion's Grab einen Blick zuzuwerfen, dazu bin ich in den letzten Sekunden und Minuten nicht mehr gekommen. Es war also nicht so, daß ich mir bei dem Blick, der der letzte war, bewußt war, daß dieses tatsächlich der letzte war. Ich habe ja auch im Moment anderes zu tun als darauf zu achten.
Auf Händen und Knien bewege ich mich einige Meter an der Uferkante auf und ab, dann gehe ich in die Hocke. Es ist nicht nur niemand zu sehen, ich finde auch keinerlei Spuren, daß jemand hier war.
Es wäre mir aber lieb, wenn ich solche fände, damit ich ihren Aufenthaltsplatz identifizieren kann und so mit eigenen Augen sehe, daß sie nicht mehr da sind. Ich entschließe mich also, doch etwas mehr zeitlichen Aufwand in die Suche dieses Platzes zu stecken. Wenn jemand sich stundenlang an einem Platz aufhält, dann muß doch etwas liegen bleiben, irgendwelche Abfälle oder so etwas, vielleicht auch niedergedrücktes Gras oder geknickte Büsche.
7 Uhr vorbei. Fünf Stunden, seit ich das erste Mal diese Stimmen gehört habe. Warum sollte sich jemand hier fünf Stunden lang am demselben Platz aufhalten? Ich weite meine Suche aus, trete weiter in den Wald hinein, einen Meter daneben wieder hinaus, dann wieder hinein und wieder hinaus.
Nichts. Als ob nie jemand hier gewesen wäre. Habe ich vielleicht doch Halluzinationen gehabt? Oder habe ich in Wirklichkeit überhaupt nichts gehört und bin, kurz nachdem ich Charmion's Grab erreicht habe, in Schlaf gefallen und habe das alles nur geträumt?
Jedenfalls werde ich sicherer und trete fester auf, gehe wieder aufrecht. Auch Rebellen verhalten sich logisch. Warum sollte jemand hier viele Stunden Zeit verschwendet haben? Es gibt keinen vernünftigen, nachvollziehbaren Grund dazu. Ich habe nicht einmal das Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl das natürlich gar nichts sagt.
Ich entschließe mich, am Steilufer entlang wieder zum Dorfe zu gehen, natürlich weiterhin leise, aber trotzdem geschwind. Dort werde ich dann sowieso alle Befürchtungen, daß mir eventuell jemand folgen könnte, verlieren.
Nach nur fünfzig Metern springe ich über einen Busch, wieder in alter Elastizität. Dahinter muß ich mich durch zwei dichte Büsche durchdrücken. Ich wende mein Gesicht ab, damit mir die Zweige nicht ins Gesicht schlagen. Deshalb sehe ich auch nichts von dem weichen, zylindrischen Gegenstand, über den ich dann stolpere.
49.3 In der Hand der Rebellen
"Scheiße!" rufe ich unterdrückt, als ich stürze. Im Fallen und während ich mich abfange, sehe ich den schlafenden Mann, über dessen ausgestrecktes Bein ich gestolpert bin, auffahren.
Dann liege ich auf dem Boden. Der Mann ist noch völlig schlaftrunken, aber die notwendigsten Reflexe hat er drauf. Er zielt mit seinem Schwert auf meine Kehle. Allmählich bin ich diese Geste leid!
"Ot, komm mal her, schnell!" ruft er, und dann zu mir: "Bist du allein?"
Sekunden später taucht der Zweite auf, ebenso verwundert wie der erste, wahrscheinlich auch aus dem Schlaf geweckt. Beide bärtig, verfilzt und verdreckt und auch für die Welt der Granitbeißer mit einem ungewöhnlich starken Körpergeruch ausgestattet, der mich vielleicht bei langsamerem Gehen auch rechtzeitig gewarnt hätte. Sie sind mir beide nicht sympathisch, nicht nur wegen des nervös zitternden Schwertes vor meiner Kehle.
"Ovch, weißt du, wer das ist?" fragt der Herbeigerufene den ersten, "Weißt du das?"
Ovch schüttelt langsam den Kopf. Jetzt müßte es schon die genuine Langsamkeit sein und nicht mehr die durch den Schlaf verursachte.
"Das ist der Fremde! Der Flieger! Der mit der scharfen Puppe!"
Nun erinnert sich auch Ovch langsam, bei welchem der Stichworte dieser Vorgang auch eingetreten sein mag.
"Was tust du hier?" fragt mich Ot.
"Ich, ähem, ..."
"Na, was?"
"Ich habe mir die Füße vertreten."
"Was hast du?"
Es gibt in der Xonchen-Sprache keine genaue Entsprechung des Begriffes 'Spazierengehen', und die Idee des ziellosen Umherwanderns dürfte diesen beiden auch sehr weit hergeholt vorkommen.
"Naja, ich wollte eine Zeitlang von den anderen weg!" versuche ich zu umschreiben.
"Weglaufen?" fragt Ovch.
"Ja. So ungefähr."
"Und warum?"
"Zuviel Arbeit." Dieses Argument müßte ziehen. Tut es auch. Ovch läßt das Schwert sinken.
"Aber du hast es doch angefangen?"
"Weil es keinen anderen Weg von Casabones herunter gibt."
Die beiden sehen ich einen Moment gegenseitig an, dann mustern sie wieder mich.
"Soll Orregg entscheiden, was wir mit ihm machen." sagt Ot. "Vielleicht ist er nützlich."
Sie weisen mich an, aufzustehen und vor ihnen herzugehen. Wir gehen am Steilufer entlang, weg vom ehemaligen Fort. Dabei wird kaum noch geredet.
Mir fällt auf, daß sie mir mein Schwert nicht abgenommen haben. Das wäre doch eigentlich die elementarste Vorsichtsmaßnahme, wenn man einen potentiell feindlichen Menschen gefangennimmt. Sind die beiden so trottelig, oder steckt da eine andere Absicht dahinter? Oder betrachten sie mich nicht unbedingt als feindlich?
Kurz nachdem wir die Stelle passiert haben, an der ich mit Charmion zusammen das kurzfristige Wegziehen der Nebelschleier erlebt und von der wir dann die Höhlendecke selbst gesehen haben, beginnen wir, uns vom Steilufer zu entfernen.
Die Gegend, die wir ansteuern, liegt etwa, wenn mein Ortssinn mich nicht trügt, auf der anderen Seite der Berggruppe, an derem Fuß das Dorf und der Übungshang liegen. Das sind zwar nur ein paar Kilometer Abstand, aber das ist in dem unwegsamen Urwald genug, um auch größeren Gruppen zu erlauben, sich voreinander zu verstecken. In diesen Teil von Casabones führen vom ehemaligen Fort aus keine Wege hinein, außerdem scheint er höher zu liegen, denn es ist überall dunkler. Das kann man eigentlich nur mit einer geringeren Mächtigkeit der Nebelschicht, die die leuchtenden Bakterien tragen, erklären, außerdem streut in diesen Teil von Casabones weniger Licht von der Seite hinein.
Die Pfade, die wir gehen, sind kaum als solche zu erkennen. Das Vorwärtskommen ist sehr anstrengend, und man kann darüber nachdenken, ob es wirklich das allergeschickteste ist, sich bloß wegen der Vermeidung von Arbeit so in diesen Teil von Casabones abzusondern und sich damit ein viel schwereres tägliches Leben einzuhandeln. Aber vielleicht bin ich über die wahren Gründe der Rebellen ja auch nicht gut genug informiert.
Wir kommen zu einer Lichtung, die von einer schweren, elf Meter durchmessenden, schrägen Felsplatte gebildet wird. Auf ihr haben sich kaum Pflanzen halten können. Wahrscheinlich wird sie als Schlafplatz benutzt, da sie nicht so feucht wie der normale Waldboden ist. Es sind vier Leute im wesentlichen mit Nichtstun beschäftigt. Als wir kommen, springen sie auf, und als sie mich sehen, haben sie alle ihre Hand in der Nähe ihrer Schwertgriffe.
"Orregg?" fragt Ot. Es wird ihm geantwortet, daß Orregg gleich wiederkommt. Ich muß mich auf die Kante der Felsplatte setzen und diesen Leuten den Rücken zudrehen.
Orregg ist schnell wieder da, ein kleiner Mann, vielleicht Anfang vierzig, der lebendig und beweglich aussieht und ständig zittert, als ob er am ganzen Körper fröre. Ich komme allerdings schnell zu der Ansicht, daß dieses Zittern medizinische Gründe haben muß. Seine Gedankenführung sind ähnlich sprunghaft und spontan wie seine Körperbewegungen.
"Weggelaufen, wie?" stellt er nach kurzer Befragung fest. Er schafft es, sich mit einer Hand während nur einer Sekunde am Kopf, am Hoden und dann am Rücken zu kratzen. Man kann kaum zusehen, so schnell ist er dabei.
"Dieses Mädchen, warum haben sie das umgebracht?" will er wissen. Nach den ersten Sätzen meiner Erklärung interessiert es ihn nicht mehr. Schon redet er wieder über die Gleitschirme.
Sie wissen viel. Sogar die Idee, mit einem Teil der Meuterer schon zu einem früheren Zeitpunkt abzuspringen, hat sich bis hierher schon rumgesprochen. Also hat Osont doch Verräter in seiner nächsten Umgebung, denke ich. Ich würde Schadenfreude empfinden, wenn das nicht potentiell auch für mich nachteilig wäre.
Aus ein paar Bemerkungen entnehme ich, daß die Rebellen in der Tat nicht mehr so zahlreich sind wie früher vermutet. Vielleicht sind es sogar deutlich weniger als hundert. Orregg ist zur Zeit ihr Anführer, aber auch das ist wohl nicht immer so gewesen.
"Üben muß man das? Es sieht aus, als ob es Spaß macht! Wie lange muß man das üben?"
Es hat keinen Zweck, etwas Falsches zu antworten. Ich erläutere, daß man ohne ein paar Übungsflüge sich einem Gleitschirm nicht ernsthaft anvertrauen sollte.
Orregg ist sogar über den möglichen Qualitätsverlust der Gleitschirme, die in Zukunft hergestellt werden können, informiert, allerdings nimmt er als einzigen Grund die zur Neige gehenden Schneidgrasvorräte an. Daß das auch etwas mit dem Verlust an fachlicher Kompetenz zu tun haben könnte, wenn die für die Gleitschirmproduktion wesentlichen Köpfe bei der ersten Fluchtwelle sind, diese Idee ist ihm noch nicht gekommen.
Nicht nur Orregg ist unruhig, auch den anderen sehe ich es an. Das Bewußtsein, daß sie, um selbst irgendwie auch von Casabones wegzukommen, schon sehr bald etwas unternehmen müssen, ist ihnen allen gemeinsam. - Das hätten sie einfacher haben können, denke ich, wenn sie sich nicht so einfach abgesetzt hätten.
"Und wann ist das? Wann?" Natürlich ist der Zeitpunkt des vorgezogenen Absprunges von besonderem Interesse. Ich halte es für das beste, wahrheitsgemäß zu erzählen, daß es bei der Anzahl der vorhandenen Gleitschirme schon sehr bald soweit sein kann. Genaueres weiß ich ja auch nicht.
Während des Verhörs kriege ich heraus, daß sie noch nicht wissen, daß der Absprungshang schon ausgesucht und festgelegt worden ist. Das ist gut. Dann werde ich auch nichts darüber erzählen. Schon habe ich wieder Rudimente eines Fluchtplanes im Kopf, verwerfe ihn wieder, denke mir was neues aus. Ich habe noch zuwenig handfeste Informationen.
Immerhin könnte Osont aus den Informationen, die die Rebellen haben, und aus denen, die sie nicht wissen, die Personen einkreisen, unter denen die Rebellensympathisanten zu suchen sind. Wenn ich dazu komme, es ihm zu erzählen.
"Wo liegen die Gleitschirme? Wo werden sie aufbewahrt, wo?"
Ich muß wohl oder übel erzählen, daß sie in Zelten am Übungshang liegen. Die Wahrscheinlichkeit ist zu groß, daß Orregg das auch schon aus anderer Quelle weiß. Wenn Osont tatsächlich seine Idee, jedem der Männer einen persönlichen Gleitschirm zuzuordnen, wahrmacht, wird Orregg die alte Information nichts mehr nutzen. Aber noch ist nicht sicher, ob Osont sich tatsächlich dazu entscheidet.
"Kannst du es uns beibringen? Wenn wir ein paar Gleitschirme in unseren Besitz bringen, kannst du es uns beibringen?"
Ich versuche, zu erklären, daß man einen Übungshang braucht. Immerhin, die Idee, das ganze Gebiet um den Übungshang in ihre Gewalt zu bringen haben die Rebellen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Offenbar sind sie zahlenmäßig dazu schon zu schwach und rechnen sich deshalb dabei keine Erfolgsausicht aus.
"Ihr müßt einen Hang eines Berges freimachen. Anders geht es nicht." beende ich meine Erläuterungen.
Orregg und die anderen haben aufmerksam zugehört. Zustimmen tun sie mir nicht. Wahrscheinlich sind sie weder zahlenmäßig noch von der Arbeitsmoral her in der Lage, einen Übungshang herzurichten. Darauf deuten auch die folgenden Fragen hin, die sich damit befassen, wie groß denn nun ein Übungshang mindestens sein sollte. Orregg stellt sich da eine abgemagerte Version vor, die nicht mehr als eine Schneise ist. Ich versuche, ihm das auszureden - das ist schließlich fast so albern wie das Gleitschirmfliegen in geschlossenen Räumen. Vielleicht sollte ich das aber nicht tun, denn was spricht dagegen, diese Leute ein wenig mit Holzfällen zu beschäftigen? Vielleicht finde ich dann irgendwann Gelegenheit, zu fliehen.
Aber den eigenen Übungshang verwirft Orregg auch aus anderen Gründen. Zu wenig Zeit. Er ist mit seinen Ideen aber noch nicht am Ende:
"Was ist, wenn du jetzt nicht zurückgehst zu ihnen? Behindert das die Fluchtvorbereitungen?"
"In keinster Weise," muß ich ihn enttäuschen, "ich habe den Männern alles beigebracht, was ich weiß. Wenn ich nicht wieder auftauche, brauchen sie einen Gleitschirm weniger. Das ist alles!"
"Oh." Orregg ist enttäuscht. Ich bin als Handelsobjekt offenbar wertlos. Geistesabwesend macht er wieder seine Kratzübungen. Diesmal unter Einbeziehung seines Afters. Wie gut, daß das Händeschütteln hier unüblich ist, denke ich mir. Danach kratzt er mit den Fingernägeln derselben Hand in seinen Zähnen herum.
"Also, wir holen uns einige Gleitschirme. Oben, in den Bergen, da können wir sie ausprobieren."
Er weiß nicht, wovon er spricht. Wo die Vegetation an der Wolkengrenze aufhört, fangen sofort die Felsenregionen an. Wenn er nicht zufällig einen geeignet geformten Startplatz kennt, dann kann man da nirgends starten. Als Ungeübter schon gar nicht. Und so eine Hochstartrampe wie drüben bringen die hier nicht zustande. Ganz abgesehen davon, daß sie auf dieser Seite der Berge keinen Landeplatz haben, den See vielleicht ausgenommen. Er stellt sich das alles viel zu einfach vor.
"Du bist also von ihnen weggegangen. Würde sie es wundern, wenn du wieder auftauchst?"
"Nein. Glaube nicht." sage ich wahrheitsgemäß.
"Dann wirst du uns einige Schirme beschaffen."
"Und wie?"
"Du gehst hin, nimmst welche, so viele, wie du tragen kannst, und kommst wieder zu dem Platz, wo Ot und Ovch dich gefunden haben."
"Das werden sie mich wohl kaum tun lassen!"
"Aber du hast ihnen die Gleitschirme gezeigt! Du wirst dir doch einen Grund ausdenken können!"
"Naja, vielleicht ..." überlege ich. Wenn sie mich so einfach wieder in das Dorf laufen lassen, dann wäre das ja nicht das schlechteste. Wie wollten sie mich zwingen, ihren Auftrag auszuführen und wieder zurückzukommen?
"Ich denke, du wirst dir einen Grund ausdenken können. Wer Gleitschirme bauen kann, der kann denken, nicht? Kannst du doch?" Wieder die Kratzakrobatik. "Du gehst hin und bringst uns ein paar Schirme. Ganz einfach."
"Gut." sage ich. Wenn diese Leute mich so einfach wieder ins Dorf laufen lassen wollen. Bin neugierig, wie sie meine Kooperation erzwingen wollen - sie können mir ja kaum einen bewaffneten Aufpasser mitgeben.
49.4 Vergiftet
"Und wenn du wieder hier bist, kriegst du das Gegengift." sagt Orregg.
"Was?"
"Ja, das Gegengift. Damit du auch wirklich zurückkommst. Wir werden dir etwas zu trinken geben, was dich innerhalb eines Tages umbringen wird. Ganz einfach!"
Wirklich ganz einfach. Sie scheinen einen Kräuterhexer in ihrer Mitte zu haben, jemand, der die in dieser Welt verfügbaren Gifte kennt. Die Natur bietet da genug Möglichkeiten. Ich denke an Mutterkorngifte, an Pilz-Toxine, was weiß ich noch. Ich bin kein Fachmann. Wenn die mich hier vergiften wollen, dann weiß ich nicht einmal, wie ich mir selbst helfen kann.
"Holt Oom her!"
Ich zucke zusammen. Ist das der Oom vom See, von dem ich angenommen habe, er ist schon tot? Haben sie ihn in ihre Dienste gezwungen?
Er ist es nicht. Zufällige Namensgleichheit. Dieser Oom ist etwa genauso alt wie der Oom am See, aber er ist ein ganz anderer. Das ist der Mann, der die Gifte kennt. Orregg spricht nur wenige Worte mit ihm, und dieser Oom verschwindet wieder.
"Er hohlt jetzt das Gift. Es ist ein Pflanzensaft, den man verfaulen läßt. Man wird schwindelig dadurch, manchmal wird einem übel. Man kann aber noch gehen und reden. Nach einem Tag versagt das Augenlicht, wenig später bleibt das Herz stehen. Wie gefällt dir das?"
Es gefällt mir überhaupt nicht. Aber was soll ich tun? Es stehen zu viele Menschen herum. Sie werden mich zwingen, das Zeug zu trinken, ob ich will oder nicht. Und danach muß ich mich in Richtung Dorf davonmachen.
Oom taucht wieder auf. Er führt einen Krug, dessen Rand gesplittert ist, mit sich. Darinnen sind etwa zwei Liter einer uringelben Flüssigkeit.
"Es schmeckt nicht besonders. Lass dir trotzdem nicht einfallen, etwas auszuspucken!" warnt Orregg mich, "Und wir haben noch mehr. Falls du diesen Krug fallen läßt. Dann allerdings schütten wir es mit Gewalt in dich hinein!"
Ich nehme Oom den Krug ab. Angewidert sehe ich die trübe Flüssigkeit an. Verfaulter Pflanzensaft, hat er gesagt. Das könnten die schlimmsten Gifte sein, die man kennt. Der Geruch steigt mir in die Nase. Er kommt mir bekannt vor. Es ist ...
Es ist der Geruch von Bier!
Blitzartig schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Die Granitbeißer kennen keine alkoholischen Getränke! Vielleicht ist der Alkohol ein starkes Gift für sie, ein so starkes Gift, daß nicht mal sporadisches Probieren langsam die evolutionäre Gewöhnung der Granitbeißer an dieses Gift im Laufe der Zeitalter bewirken konnte. Das wäre also noch ein Unterschied zwischen dem Stoffwechsel der Granitbeißer und dem unseren. So wie die erhöhte Körpertemperatur der Granitbeißer.
Der 'Verfaulte Pflanzensaft' könnte in Wirklichkeit nichts weiter als ein vergorener Pflanzensaft sein!
"Wie stellt man das her?" frage ich mißtrauisch. Oom will zu Erkärungen ansetzen, aber Orregg winkt ab:
"Ist doch unwichtig. Trink jetzt!"
Ich nehme einen Schluck in den Mund.
49.5 Besoffen
Warmes, abgestandenes Bier ist eine Köstlichkeit dagegen. Es erinnert mich an Gärungsversuche, die ich in meiner Jugend, in der 'Chemiebaukastenzeit', mit Zuckerwasser und Traubensaft selbst gemacht habe. Da ist auch nie etwas Vernünftiges, auf keinen Fall etwas Trinkbares herausgekommen. Um ein geistiges Getränk zu keltern muß man schon etwas mehr tun als Hefe in süßen Saft zu schmeißen und abzuwarten.
Der Getrank ist ekelerregend, aber ich schmecke es deutlich: er hat einen ordentlichen Alkoholgehalt, soviel, wie man es etwa von Bier oder von schweren Weinen erwarten würde.
Wenn jetzt kein Methanol dabei ist, dann sollte mich das nicht umbringen. Ich werde ganz fürchterlich einen in der Krone haben. Aber meine reichliche Erfahrung mit dem Trinken, die ich in der Bundeswehrzeit und während des Studiums gesammelt habe, wird mir darüber hinweghelfen. Mein Kreislauf sollte stabil genug sein, jetzt mit einer Alkoholvergiftung fertig zu werden. Ich überlege: Zwei bis zweieinhalb Liter eines Getränkes, das einem starken Bier entspricht - das sollte noch gehen.
Ich trinke mehr. Dabei stelle ich fest, daß alle mich aufmerksam beobachten.
"Bäh." sage ich, angewidert. Alle Umstehenden scheint das zu freuen.
"Nun mach schon!" ermuntert Orregg mich. Ich trinke weiter, innerlich hoffend, daß das Gift wirklich Alkohol ist. Es könnte ja immer noch sein, daß bei der Vergärung dieses Saftes noch alle möglichen Nebenreaktionen abgelaufen sind. Es könnte sogar sein, daß es sich dabei um Gifte handelt, gegen die ich noch empfindlicher bin als die Granitbeißer. Vielleicht bin ich schon über den point-of-no-return hinaus. Es schmeckt zum Kotzen.
"Merkst du schon was?" fragt Orregg gespannt. Wenn diese Leute gegen Alkohol so empfindlich sind, dann muß ich ihnen diese hohe Empfindlichkeit wohl vorspielen.
"Es ist - komisch." sage ich, mit stockender Stimme.
"Was ist komisch?"
"Es riecht so komisch - und alles dreht sich."
Orregg nickt Oom zu. "Dann ist der Saft gut gelungen. Man verwendet das normalerweise, um Saurier in Fallen zu vergiften. Aber auf Casabones gibt es keine Saurier."
"Nein? Dann bin ich ein - hicks - Saurier." Mir kommt mein gekünstelter Schluckauf und der dünne Scherz reichlich aufgesetzt vor. Aber die Ansprüche der Umstehenden an Schauspielkunst scheinen nicht groß zu sein. Einige bersten vor Lachen.
"Muß ich das alles - öööööh - austrinken?" Mit schwankendem Schritt gehe ich auf die Mitte der Felsplatte zu. Alle treten mir aus dem Weg, mir interessiert zusehend. Es wird aber nicht mehr lange dauern, bis mein Schwanken echt ist.
Ich habe den Eindruck, daß auch mal Kohlensäure in dem Saft gewesen ist. So warm, wie er ist, hat die sich natürlich nicht in Lösung halten können, jedenfalls nicht vollständig. Trotzdem, zusammen mit geschluckter Luft bringe ich mehr als einen Rülpser zustande.
"Oh, vielleicht nicht," meint Orreg, "bei dir wirkt es schnell. Wenn du zuviel trinkst, dann schläfst du gleich ein."
"Wso. Mmpf." sage ich, "Ich weiß nich. Ich muß - hicks - Mmpf - kotzen. Glaube ich. Mmpf. Doch nicht."
Es ist so lange her, daß ich das letzte Mal betrunken war. Vor geschultem Publikum könnte ich diese Rolle wahrscheinlich nicht mehr überzeugend spielen. Hier aber geht es. Ich merke schon eine gewisse Müdigkeit, die meine Gedanken umnebeln. Erst der halbe Krug ist leer getrungen, aber Orregg tritt auf mich zu und nimmt ihn mir weg.
"Isches schon fertisch?" frage ich.
"Jaja. Du hast genug. Kannst du mich gut verstehen?"
"Jap."
"Wieviel ist fünf und fünf zusammengezählt?"
Ich denke eine Weile nach, die Stirn in Falten legend. So betrunken kann ich gar nicht sein, daß ich das nicht mehr wüßte.
"Vvvviel." entscheide ich mich schließlich.
"Wieviel?"
"Soviel." Überzegend halte ich acht Finger hoch. Nach einer Zeit überlege ich es mir besser und füge die beiden Daumen noch hinzu. Dann setze ich mich.
"Isch bin müde. Ich möchte - ääääh"
"Nein, du wirst jetzt nicht schlafen," Orregg zieht mich wieder in die Höhe. "du gehst jetzt in das Dorf. Das willst du doch, oder? Denk dir was aus, um Schirme mitnehmen zu können. Und die bringst du dann zur Küste des Sees. Niemand darf dich dabei begleiten. Klar? Und du erzählst niemanden von uns! Auch klar?"
"Ja."
"Was sollst du tun?"
"Dorf. Schirme zum See. Unauffällig. Nix erzählen. Urghmpf."
"Ja. Unauffällig. Denke daran: Es kann sein, daß du kotzen mußt. Sag den anderen einfach, du wärst krank. Du wirst auch Kopfschmerzen kriegen - später. Das erinnert dich daran, daß du zurückkommen mußt. Sonst kriegst du das Gegengift nicht! Klar?"
"Gegengiffft nich. Klar."
"Also los, bevor er einschläft. Ot, bringe ihn bis zum See, damit er den Weg findet! - Wenn du wieder hier bist, kannst du ausschlafen!"
Die Unterredung ist vorbei. Je länger ich mit Ot durch den Urwald gehe, desto weniger muß ich mich anstrengen, um Trunkenheit vorzutäuschen. Mir ist klar, daß Ot mich genau beobachtet. Ich darf es nicht soweit treiben, daß ich mich gleich schlafen lege. Ich weiß ja nicht, auf welche Ideen sie dann kommen.
Allmählich verfliegt der widerliche Geschmack im Mund. Es stellt sich die bekannte Trockenheit ein, an die ich mich auch noch erinnere, auch, wenn es schon so viele Jahre her ist. Wenn in dem Getränk Alkohol war, dann war der Alkoholgehalt recht ordentlich.
Es war eine Wette. 1979 habe ich sie gegen einen Kommilitonen abgeschlossen. Zehn Jahre Alkoholfrei. Vom ersten Januar 1980, 0 Uhr bis 31. Dezember 1989, 24 Uhr. Natürlich war ich betrunken, als ich diese Wette abgeschlossen hatte.
Aber nicht sehr betrunken. Die Idee, meine zu der Zeit schon oft schwankende Gemütslage durch Alkoholentzug zu stabilisieren war mir schon öfter gekommen. Ich war mir nur zu gut bewußt, daß der Alkohol schon fast ein Jahrzehnt mein ständiger Begleiter war. Tage ganz ohne Trinkbares waren qualvoll und öde und brachten schlechte Laune. Vielleicht ist das auf dem Wege zum Alkoholismus noch ein sehr frühes Stadium. Aber ich machte mir schon nichts mehr vor. Es mußte etwas geschehen.
Der Alkohol hatte mich schon öfter betrogen, nicht nur durch seine bekannten Nachwirkungen, etwa den dicken Kopf am nächsten Morgen und den Geschmack im Mund, der an ein gebrauchtes Fußbad erinnert. Zum Beispiel hatte ich mir einmal den Zugang zum Institutsrechner für eine ganze Nacht gesichert. Ende der siebziger Jahre gehörten Computer ja noch nicht zur normalen Privatausstattung eines Studenten. Um in dieser Nacht all die aufgelaufenen numerischen Experimente mit Genuß und Muße durchführen zu können, besorgte ich mir auch einen ganzen Kasten Bier. Das stellte ich mir sehr gemütlich vor. Der Kasten stand neben dem Computer, und als die Dunkelheit sich senkte und keiner von den anderen Mitarbeitern mehr im Institut war, legten wir los, der Computer und ich.
Es war auch sehr gemütlich. Nur habe ich mich nicht sehr viel mit dem Computer beschäftigt. Nach einigen Stunden war meine intellektuelle Aktivität sogar unter das Niveau abgesunken, das für das Adventure-Spielen notwendig war. Am Morgen verließ ich müde und zerschlagen das Institut. Ich hatte in der Nacht praktisch nichts Vernünftiges getan.
Oder da waren auch die Nächte, in denen ich etwas schreiben wollte. Eine Kurzgeschichte. Die Idee lag bereits unausgegoren vor. Spannend, aufregend, gehaltvoll, mit Stoff zum Nachdenken. So sollte sie werden. Der Alkohol brachte die Inspiration. Manchmal wenigstens. Um so sicherer zerstörte er aber auch die Fähigkeit zum disziplinierten Arbeiten. Nie ist etwas bei diesem Verfahren herausgekommen.
Ich hatte schon Jack London's 'John Barleycorn' gelesen - London's persönliche Biographie, die im wesentlichen seine Zwangsehe mit dem Alkohol beschreibt. Das ist vielleicht das kompetenteste Werk über den Alkoholismus, das je geschrieben wurde. Ich wußte genug, um meinen Zustand klar zu diagnostizieren.
Und ich hatte Angst, als Penner zu enden, an Leib und Seele verrottet, ein asoziales Wrack. Manchmal ist die Angst ein guter Ratgeber. Ich machte also diese Wette, verbunden mit der festen Absicht, nach diesen zehn trockenen Jahren wieder loszulegen. Wer weiß, vielleicht würde ich nach dieser langen Zeit ja auch gar nicht mehr am Leben sein?
Es war auch zufällig die Zeit meines Berufseintritts. Soviel Neues kam auf mich zu. Das Übersiedeln nach München, das Kennenlernen von neuen Menschen und Gegenden, das völlige Abgeschnittensein von allem, was ich noch Monate vorher kannte. Die Gelegenheit für das erfolgreiche Durchführen dieser Wette war günstig.
Allmählich ließ das Verlangen nach. Gleichzeitig kam all das wieder, was ich schon permanent aufgegeben hatte: Die Gesundheit des Körpers und die stabile Gemütsverfassung, dazu ein immer stärker werdendes Selbstvertrauen und eine Zuversicht in eine erfolgreiche Bewältigung aller Dinge, die die Zukunft noch bringen würde. Als ich dann im September 1983 noch mit dem Laufen anfing und schon im nächsten Frühjahr meinen ersten Marathon vollständig hinter mich brachte, war die Welt für mich wieder weitgehend in Ordnung. In den folgenden Jahren wuchs die Überzeugung, daß ich den Alkohol besiegt hatte.
1990 kam und damit das Ende meiner selbstauferlegten Trockenperiode. Trotzdem faßte ich keinen Alkohol an. Die Angst vor dem Rücksturz war noch da. Es stand zuviel auf dem Spiel, was ich dabei verlieren könnte.
Längst schon war der Wettbetrag vergessen, der Kontakt zu dem Kommilitonen, mit dem ich gewettet hatte, abgebrochen. Es war unwichtig geworden. Das eigentliche Ziel war erreicht, die Wette war nur ein Vorwand gewesen. Jetzt konnte ich mir das eingestehen.
Es gab noch eine Feuerprobe. Auf jenem Lanzarote-Urlaub, wo ich im Mast der Marea Errota gehockt hatte, endeckte Irene in einem Supermarkt einige Packungen Guinness. Das war einmal mein Leib- und Magengetränk gewesen. Ich reagierte wohl etwas zu überrascht, denn sie kaufte sofort sechs Flaschen.
Ich entschloß mich, es der Zahlenmystik um alkoholfreie Zeiten genug sein zu lassen und dieses Bier zu trinken. Der zweite Beweggrund war, daß ich mir selbst nachweisen wollte, daß mich gelegentliche alkoholische Getränke nicht sofort automatisch in die Sucht zurückwerfen würden. Das taten diese sechs Flaschen Guinness auch nicht. Ich fühlte mich müde und denkfaul, beides Zustände, die mir zuwider sind. Das Leben ist nur wach und aktiv zu genießen. Alkohol steht dem für mich jetzt unmittelbar und sofort im Wege.
Von dieser Stunde an konnte ich mich als endgültig geheilt betrachten.
Nun sind seit Beginn dieser Wette mehr als 15 Jahre vergangen. 15 Jahre alkoholfrei heißt natürlich auch, daß der Körper nicht mehr so genau weiß, wie er mit dem Stoff umzugehen hat. Mit anderen Worten: Ich vertrage wahrscheinlich nichts mehr. Eine Tatsache, die mir gerade jetzt überdeutlich demonstriert wird.
Als Ot mich am Steilufer entläßt, damit ich meinen Weg ins Dorf zurück alleine finde, würde ich mich am liebsten sofort irgendwo hinlegen. Aber natürlich weiß ich nicht genau, ob und wie lange Ot mich noch verfolgt, um zu sehen, ob ich tue wie mir geheißen.
Aus demselben Grunde steige ich auch nicht den Klippenpfad zu Charmion's Grab hinunter. Soviel Verstand ist in meinem umnebelten Kopf noch übrig geblieben. Wenn mir jemand folgt, dann wird ihm nicht auffallen, daß ich zu diesem Ort eine besondere Beziehung habe.
Dafür bringe ich es wenig später fertig, zu kotzen, um danach während des Gehens etwas zu essen. Charmion hat mir doch dieses schachtelhalmartige Heilkraut gezeigt, von dem ich vermutet habe, es könnte auf natürliche Weise Antibiotika erzeugen. Ich finde es und esse soviel davon wie möglich. Damit möchte ich auch der kleinen Wahrscheinlichkeit begegnen, daß die giftige Wirkung des Getränkes auf unbekannten Bakterien und nicht auf Alkohol beruhen könnte. Die will ich so beseitigen. Außerdem wird der zu erwartende Durchfall so manches aus meinem Körper herausspülen.
Bald danach bin ich wieder unter Menschen. Inzwischen bin ich restlos überzeugt, daß ich recht hatte: Außer Alkohol war in diesem Getränk kein Gift vorhanden. Die Symptome sind zu vertraut.
Es ist schon 18 Uhr, lange nach Beginn der Schlafperiode. Ich begebe mich zu meinem Schlafplatz am Übungshang, um sofort meinen Rausch auszuschlafen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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