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******** 048. Tag: Donnerstag 95-10-05 ********
48.1 Notfallunterricht
Der Unterricht wird bald schon unterbrochen, weil ein junger Mann ankommt, der eben atemlos von der Hochrampe hierher gerannt ist. Es ist etwas passiert. Leider fehlt diesem Jungen die Gabe der präzisen Erzählkunst, und so muß er mehrere Male berichten, bis ich überhaupt ungefähr weiß, was los ist. Wie bei Irene, denke ich, da hapert's auch manchmal mit der Präzision, selbst einfache Sachverhalte darzustellen.
Es muß einer der größeren Flugsaurier gewesen sein, der vor kurzem über den Wolken an einem der Gleitschirmpiloten vorbeizog. Er hatte keinerlei Anstalten gemacht, den Gleitschirmflieger anzugreifen, trotzdem geriet dieser in Panik und zog offenbar die Bremsleinen voll durch. Soweit man das jedenfalls aus der Ferne beurteilen konnte.
Es erfolgte sofort ein Strömungsabriß, und mit flatterndem Schirm stürzte der Pilot in die Tiefe, während der Saurier weiterflog, ohne sich für die Szene besonders zu interessieren. Dicht über den Wolken breitete sich der Schirm des Piloten wieder aus, allerdings sah es von weitem so aus, als ob der Abfangstoß den Schirm mehrfach zerriß. Dann verschwand der Unglückliche in den Wolken.
Diesen zu suchen werden jetzt einige Männer gebraucht, da der Pilot in den benachbarten Wäldern heruntergekommen sein muß. Vielleicht lebt er ja noch und braucht Hilfe.
Für die meisten Unterrichtsteilnehmer ist dieses eine willkommene Abwechslung, und ehe ich es mich versehe, bin ich im wesentlichen allein. Das bleibe ich auch eine Weile, obwohl der Pilot schon nach zehn oder zwölf Minuten gefunden und hierhergebracht wird.
Er ist tot, und der Schirm ist schwer beschädigt. Ich untersuche den Piloten, so gut es meine medizinischen Kenntnisse erlauben, und stelle dabei fest, daß auf seinem Körper stellenweise die Gurtspuren deutlich zu sehen sind. Ich zeige es den anderen. Das ist ein Hinweis, daß der Kraftstoß beim Abfangen des Sturzes schon recht heftig war. Kein Wunder, daß ein Gleitschirm, der aus den hiesigen Materialien gebaut wurde, das nicht aushält. Allerdings sieht es auch so aus, als ob der Gleitschirm gehalten hätte, wenn der Pilot eine etwas kürzere Strecke durchgefallen wäre.
Ob der Pilot nun schon in der Luft oder erst am Boden seine tödlichen Verletzungen erhalten hat, kann ich nicht sagen. Die Wirbelsäule ist disloziert, das kann genauso gut in der Luft wie auch am Boden passiert sein. Ein Schädeltrauma gibt es auch, das sicher vom Aufschlag auf den Boden stammt, aber das alleine war vielleicht nicht tödlich - der Schädel ist tastbar nicht beschädigt.
Und dann gibt es natürlich die Möglichkeit, daß der Pilot einfach dem Schreck erlegen ist. Dieser Unfall gibt mir Gelegenheit, mehr als sonst über pathologische Flugzustände und Notfälle zu reden. Eigentlich sollte man aus dem Stoff eine eigene Unterrichtsstunde machen - aber wer soll die denn halten? Und wer soll die halten, wenn die erste Welle bereits von Casabones abgesprungen ist und Okr, Oios, Oam und ich dafür nicht mehr zur Verfügung stehen?
Nur langsam kann ich den Unterrichtsbetrieb wieder in die normalen Bahnen bringen. Und kaum, daß mir das gelungen ist, gibt es auch schon den nächsten Absturz, in direkter Nähe, auf dem Übungshang, aber unseren Blicken durch den Nebel entzogen. Diesmal handelte es sich um einen der Versuchsflüge für das Bogenschießen aus dem Fluge. Der Pilot ist nicht tot, sondern offenbar nur schwer verletzt. Er wird weggetragen, noch bevor jemand ihn genau befragen kann, wie das Unglück eigentlich passiert ist.
Dabei geht mir auf, daß ich ja noch gar nicht rausgekriegt habe, wo sie die hinbringen, die so schwer verletzt sind, daß nur lange Pflege Heilung ermöglicht. Macht man mit solchen Fällen auch gleich kurzen Prozess? Ist es auf Osont's Betreiben zurückzuführen, daß ich davon noch nichts gesehen habe? Was für eine barbarische Welt.
Da kann ich von Glück sagen, daß mich in der Welt der Granitbeißer noch keine ernsthafte gesundheitliche Störung ereilt hat, abgesehen von den vielen Gelegenheiten, sich ernsthaft zu verletzen. Da habe ich in den letzten Jahren so ab und zu mal eine Dickdarmentzündung gehabt, die die Ärzte noch nicht mit restloser Sicherheit diagnostiziert haben. Chronische Apendizitis, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn und was da an üblen Dingen möglich ist. Zwar ist das immer wieder weggegangen, aber die schwereren Fälle waren doch sehr unangenehm, mit heftigen Koliken und spastischem Darmverschluß. Bis heute weiß ich nicht, wie ich so etwas hundertprozentig verhindern kann und was es auslöst. Was, wenn mir das hier passiert? - Wahrscheinlich wäre die beste Strategie, sich unbeobachtet irgendwo in den Busch zu schleppen und zu warten, bis es weggeht. Sonst landet man diesen Leuten zu schnell auf der Speisekarte.
Irgendwie werde ich mit diesen Leuten auch nicht warm genug, um über solche Dinge etwas per 'Smalltalk' zu erfahren. Ich gehöre einfach nicht zu ihnen. Wenn ich konkret frage, was mit Schwerkranken gemacht wird - was in der Xonchensprache nicht einfach ist, weil sie kaum Worte für medizinisch pathologische Zustände enthält - dann glotzt man mich verständnislos an. Charmion war da schneller von Begriff, wenn es galt, herauszufinden, woran unser gegenseitiges Unverständnis nun im Detail zurückzuführen war.
Als ich mich um 11 Uhr zum Schlafen lege - nicht weit von Okr und Oios, die ja nun die Seele des Flugbetriebes und des 'Flugplatzes' geworden sind, macht einer von beiden eine Bemerkung, aus der ich entnehme, daß der Wachdienst noch weiter eingeschränkt worden ist, so daß die Papierproduktion weiter hochgefahren werden kann und deshalb auch die Schirmproduktion. Ich frage nicht direkt nach, sondern nehme mir vor, bald auszuprobieren, ob ich wieder Charmion's Grab aufsuchen kann.
So schnell geht das aber nicht. Schon bald nach dem Aufwachen um 20 Uhr muß ich mich einem neuen Projekt von Osont anschließen: Unbemannte Gleitschirme. Wahrscheinlich denkt er an das Absetzen von größeren Materialmengen von Casabones.
Ich selber trage nicht viel dazu bei, sondern sehe bei den ersten Experimenten nur zu. Es ist nicht besonders erfolgversprechend. Selbst, wenn man so einen Gleitschirm, sorgfältig austariert, zum Fliegen gebracht hat, dann fliegt er genau dahin, wo er will. Einen geraden Kurs kriegt man praktisch nie zustande.
Natürlich könnte man für den senkrechten Abwurf von Lasten den klassischen Kappenfallschirm entwickeln. Das hieße aber, darauf Näher anzusetzen, die dann bei den Gleitschirmen fehlen. Ich glaube nicht, daß das ein gutes Geschäft wäre.
Jedenfalls wird schon bei diesen ersten Versuchen deutlich, daß diese Idee in eine Sackgasse führt. Es ist nur eine Zeitverschwendung. Was immer wir an Material von Casabones mit herunternehmen wollen, muß auf die einzelnen Gleitschirmflieger als zusätzliche Last verteilt werden. Anders geht es nicht.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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