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******** 047. Tag: Mittwoch 95-10-04 ********

47.1 Strategien

Um 4 Uhr läßt sich Osont wieder einmal am Übungshang blicken. Ich sehe ihm an, daß er ungewöhnlich guter Laune ist, und er verteilt sogar dort Anerkennungen, wo ich keinen konkreten Grund für Anerkennungen sehe, zum Beispiel bei einer ganz miserablen Landung, oder auch bei einem anderen Mann, der seinen Gleitschirm für meinen Geschmack nicht sauber genug zusammengelegt hat. Und einen Gleitschirm überhaupt zusammenzulegen ist kein Grund für Anerkennung, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Sogar den genialen Einfall, einige der Vollstreckungskreuze zweckzuentfremden, indem man an ihnen flach zur Seite weggehende parallele Seile gespannt hat, die es ermöglichen, einen Gleitschirm daraufzulegen, um ihn von allen Seiten inspizieren zu können, kritisiert er nicht. Normalerweise ist er pingelig mit seinen geliebten Vollstreckungskreuzen.

Wie immer ist er in Begleitung seiner Leibwachen, und welchen konkreten Anlaß er für seine Superlaune hat, das uns mitzuteilen geruht er nicht. Nach kurzer Zeit verzieht er sich wieder, und ich empfinde seinen Weggang als Erleichterung.

Ich frage Okr dann, ob ich meinen Schlafplatz auch an den Übungshang verlegen könnte, weil hier weniger Leute schlafen. Er hat nichts dagegen. Warum die meisten Männer den Schlafplatz an den Sumpfteichen vorziehen weiß er auch nicht. Ich denke an einen dumpfen Herdentrieb, aber Okr gegenüber sage ich das nicht, weil ich das kaum in der Xonchen-Sprache ausdrücken kann, ohne daß es beleidigend klingt.

An diesem Abend gibt es wieder viel frisches Fleisch, und ich erfahre Gerüchte, daß ein entscheidender Schlag gegen eine Rebellengruppe gelungen sein muß. Wie und wo und wann das passiert ist, weiß niemand. Das macht ja auch eigentlich Sinn, denn wenn es Sympathisanten von Rebellen unter uns geben sollte, dann braucht man denen ja nicht gleich alles auf die Nase zu binden.

Auch erfahre ich, daß die kurzzeitig verstärkten Wachen wieder abgebaut werden. Das heißt, daß ich vielleicht doch noch einmal Charmion's Grab besuchen kann. Ich hätte soviel zu erzählen.

Die Nacht von 8 Uhr bis 17 Uhr verläuft völlig ohne Zwischenfälle, wenn man einmal davon absieht, daß schon zwei Stunden vor dem normalen Ende der Schlafperiode wieder Betrieb am Übungshang ist. Das sind die Unentwegten, technisch am meisten von den Gleitschirmen faszinierten, die damit auch schon am besten umgehen können.

Bald nach dem Aufstehen kommt Osont allein zu mir, gerade, daß ich den letzten Bissen des Frühstückes hinuntergeschlungen habe. Er nimmt mich zur Seite und redet so leise, daß sonst niemand es hören kann:

"Ich denke, 200 Leute sollten reichen, das Unterfort in unsere Gewalt zu bringen, was meinst du?"

"Schon möglich," sage ich, "von der Anzahl der Besatzung sicher. Aber ich habe das Fort nicht von nahem gesehen, ich weiß nicht, wie gut die sich da verschanzen können. Und natürlich weiß ich auch nicht, wie viele es genau sind, abgesehen davon, daß sich das inzwischen wieder geändert haben könnte."

"Mmh. Und wieviel Verluste wird es beim Absprung geben, was meinst du?"

"Keine, wenn es nach mir geht. Wenn alle ihren Gleitschirm beherrschen und alle Gleitschirme in Ordnung sind, dann sollte der Absprung reibungslos vonstatten gehen. Etwas anderes macht mir mehr Sorge."

"Was?" fragt Osont.

"Es wird viele geben, die mit der Orientierung Schwierigkeiten haben. Es werden durchaus nicht alle 200 an derselben Stelle landen, um dann etwa sofort das Unterfort angreifen zu können. Manche werden kilometerweit abgetrieben werden."

"Meinst du?"

"Das weiß ich."

"Und was folgt daraus?"

"Daß vielleicht mehr als 200 Menschen in der ersten Absprungwelle dabei sein sollten. Wesentlich mehr."

"Ich werde es mir überlegen. Das hieße also 200 plus die, die sich am Anfang verirren."

"So ungefähr."

Er überlegt wieder eine Weile. "Was, wenn sie uns kommen sehen?"

"Die vom Unterfort?"

"Ja. Wie reagieren die?"

"Das kann ich nicht sagen. Ich war die ganze Zeit auf dem Saurierfänger und dann auf einem anderen, kleineren Schiff des Forts. Das Unterfort selber habe ich nie betreten. Ich weiß nicht, was da für Leute sind, und wie die reagieren könnten, wenn sie plötzlich über sich die Gleitschirme bemerken."

"Aber du mußt doch irgend etwas wissen! Diese Expedition auf Casabones hinauf wurde doch in Zusammenarbeit mit dem Fort in die Wege geleitet!"

"Ja, schon. Aber außer der Besatzung des kleinen Schiffes hatten wir keinen Kontakt. Allerdings - ich weiß nicht, ob ich es schon mal erwähnt habe - da war so eine bösartige Alte, ein wirklich fieser Charakter, die das kleine Schiff, das das Fleisch nach Casabones bringen sollte, befehligte. Sie wurde pampig, und wir mußten sie beseitigen. Könnte sein, daß man sich daran erinnert."

"Naja, freundschaftlich werden sie uns sowieso nicht empfangen," sagt Osont, "es ist nur, wie wird die Situation, daß plötzlich Menschen vom Himmel regnen, vermutlich aufgefaßt?"

Ich denke an Erfahrungen, die bei Luftlandeunternehmen im zweiten Weltkrieg gemacht wurden:

"Wenn sie nicht ganz baff sind, und warum sollten sie das sein, dann könnten sie sich durchaus dazu entschließen, auf die Gleitschirmflieger zu schießen. Die sind nämlich reichlich wehrlos und natürlich völlig deckungslos. Wir könnten da natürlich noch Übungen machen - Bogenschießen im Fluge etwa - aber ob wir soviel Zeit haben? Und ob das überhaupt geht? Und haben wir Bögen in genügender Anzahl?"

"Können wir noch herstellen. Das wäre nicht das Problem. Eher schon, daß eigentlich jeder schon genug Ausrüstung mit sich schleppt."

"Ist das nötig?" frage ich, "Wenn wir die Leute vom Unterfort überwältigen, und davon gehen wir ja aus, sonst würden wir den ganzen Zirkus ja nicht machen, dann können wir uns dort mit manchem versorgen."

"Vielleicht," sagt Osont, "aber es ist auch möglich, daß wir uns in Besitz von Schiffen bringen können, ohne eine Konfrontation mit dem Unterfort und seiner Besatzung selbst riskieren zu müssen, vielleicht sogar, ohne daß sie es überhaupt merken!"

"Ob die sowenig auf ihre Schiffe aufpassen?"

"Hier, beim Oberfort, waren sie auch sehr nachlässig mit dem Wachdienst!"

"Ja, vielleicht. Verlassen kann man sich nicht darauf." Mehr fällt mir nicht dazu ein. Das mögliche Verhalten der Besatzung des Unterforts ist eben ein unbekannter Faktor.

"Es fehlt bloß noch," vermute ich, "daß gerade Schiffe mit neuen Gefangenen auftauchen und so vorübergehend die reguläre Besatzung des Unterforts verstärken."

"Kaum," weiß Osont aus seiner Erfahrung zu berichten, "die Menge der Neuzugänge nahm in den letzten Jahren immer mehr ab. Vielleicht war Casabones als Gefängnis zu aufwendig - zu schwierig, die Gefangenen rauf- und wieder runterzubringen."

"Das ist wohl wahr." pflichte ich bei, mich an unseren Aufstieg erinnernd. Wenn es bloß darum geht, 2000 Menschen einzusperren, dann ließen sich da wirklich einfacherer Maßnahmen denken als dieser verückte, pilzförmige Berg mit seinen vielen Fallen. Viele, die hierher gebracht worden sind, wollte man wahrscheinlich für alle Zeit loswerden oder wenigstens für lange Zeit verschwinden lassen.

"Ich wollte nur einmal laut nachdenken." sagt Osont und erhebt sich wieder, "Wir wollen schließlich ja alle dasselbe, nicht wahr?"

Er geht ohne weitere Bemerkungen weg, und ich kann mir überlegen, was er wohl mit seiner letzten Bemerkung gemeint haben könnte. Er ist nicht dumm, nur unsympathisch. Er müßte wissen, daß ich ihm irgendwann den Hals umdrehen möchte. Meint er, daß er mit mir deshalb dasselbe tun sollte? Nur so, aus weiser Vorsicht, eine überraschende Präventiv-Cranial-Torsion, wie die Mediziner sagen würden?

Schon in den nächsten Stunden werden am Übungshang provisorische Zielscheiben aufgestellt, um erste Erfahrungen mit dem Bogenschießen aus dem Fluge zu machen. Vielleicht ist es notwendig, daß der Schütze sich durch zusätzliches Gurtzeug dabei stabilisiert oder sonst irgendwie vorübergehend die Hände freibekommt. Das muß man alles erst herausfinden.

Ich mache da nicht mit, weil ich bis jetzt noch nicht einmal das normale Bogenschießen gelernt habe. Sollte ich vielleicht einmal tun. Aber ein guter Bogen ist sperriger zu transportieren als ein Schwert, und das ist vielleicht der Grund, daß es weniger Bögen gibt als Schwerter. Andererseits spricht auch vieles für Distanzwaffen.

Als 24 Uhr und damit der 5. Oktober näherrückt, bin ich wieder beim Unterricht.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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