Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** 046. Tag: Dienstag 95-10-03 ********

46.1 Meilenstein

Osont sehe ich den ganzen Tag nicht, und der Unterricht beschäftigt mich bis dicht vor die Schlafperiode. Als ich an diesem Abend zum Schlafen gehe, immer noch zum Sumpfteich, habe ich irgendwie schon das Gefühl, einer Routine-Berufstätigkeit nachzugehen. Nach dem Aufwachen um 14 Uhr nach einer diesmal ruhigen Nacht gehe ich schon bald zum Übungshang zurück, und es wird wirklich Routine. Ich habe Gelegenheit, darüber zu philosophieren, wie doch eigentlich aus allen menschlichen Tätigkeiten Routine werden kann.

3. Oktober - wieviel Zeit ist bereits seit dem 19. August vergangen. Häufig mache ich solche Betrachtungen wie 'Was war genau vor fünf, vor zehn, vor zwanzig und vor dreißig Jahren?'. Auch jetzt, in Pausen zwischen den Unterrichtsstunden, wenn ich müde vom Reden dasitze und dem Treiben auf dem Übungshang zuschaue, soweit der Nebel das zuläßt, fallen mir diese Spielchen ein. Abmessen der eigenen Biographie.

Vor fünf Jahren? Das war gerade während unseres Lanzarote-Urlaubes, genau desjenigen Urlaubes, wo ich auf den Mast der Marea-Errota gestiegen bin, jenes Ereignis, an das ich mich erinnert habe, kurz bevor ich Charmion das erste Mal auf dem Mast des Saurierfängers sah. Das war übrigens der zweite Oktober, weil ich mich noch daran erinnere, damals genau gewußt zu haben, daß am nächsten Tag die DDR der Bundesrepublik beitritt. Was haben wir vor fünf Jahren am 3. Oktober gemacht? Das weiß ich nicht mehr genau. Ich glaube, ich bin mit Irene zu einer Bucht im Südwesten Lanzarotes gefahren, wo wir den ganzen Tag verbracht haben.

Vor zehn Jahren? Auf den Tag genau weiß ich nichts, aber am Anfang 1985 bin ich mit Irene zusammen in eine gemeinsame Wohnung auf dem Lande gezogen. Zwanzig Jahre? 1975, das war mitten im Studium. Da habe ich in einem Verbindungshaus in Clausthal gewohnt und noch nicht einmal in den kühnsten Träumen gemutmaßt, einmal nach Bayern zu ziehen und mich beruflich von der Physik zur Informatik umzuorientieren. Vor dreißig Jahren? Mitten in der Schulzeit. Mein Vater war etwas älter als ich jetzt, meine Mutter fünf Jahre jünger als ich jetzt. Erschien mir damals sehr alt. Aber die Eltern erscheinen einem ja das ganze Leben hindurch sehr alt.

Vor vierzig Jahren? Vier Jahre Lebensalter. Da habe ich keine Erinnerung mehr. Merkwürdig: Da strömen die Eindrücke eines ganzen Jahres auf einen ein, und kein halbes Jahrhundert später weiß man nichts mehr davon. Natürlich, es sind Fertigkeiten hängengeblieben. Sprache, Bewegungsmuster, Konzepte und Mutmaßungen über die Welt, die sich irgendwie noch bis heute auswirken. So etwas passiert in diesen frühen Jahren in ganz erheblichem Maße. Nur zeitlich festnageln kann man diese Dinge nicht.

Oder vielleicht doch? Einzelheiten. Ich erinnere mich, daß ich, als ich noch nicht zur Schule ging, während eines Gewitters meine Mutter einmal verängstigt fragte, ob man denn gar nichts gegen diese fürchterlichen Blitze tun könnte.

Meine Mutter hatte nur sehr rudimentäre Vorstellungen von Physik. Sie muß irgendwann einmal etwas von Faraday'schen Käfigen gehört haben und sie wußte natürlich, was ein Bunker ist. Daraus versteht man vielleicht ihre damalige Antwort, es gäbe 'Häuser aus Eisen', in denen man vor Blitzen sicher sei.

Für lange Zeit nach dieser Antwort stellte ich mir vor, daß es irgendwo auf der Welt tatsächlich so eine Art von typischen alleinstehenden Häusern geben müsse, die vom Keller bis zum Schornstein, von der Eingangstür bis zum Dachgiebel aus blankem Eisen bestanden. Seltsamerweise bekam ich solche Häuser nie zu Gesicht.

Zu einer anderen Gelegenheit, als ich mich darüber beklagte, daß die Batterien, mit denen ich als Junge so gerne spielte, um verschiedenste Birnchen zum Leuchten zu bringen, immer so schnell verbraucht waren, fragte ich, wie man den Strom, der doch offenbar in unbegrenzten Mengen aus der Steckdose kommt, denn wohl herstellt. Auch da wußte meine Mutter nur ungefähr Bescheid, und sie sagte etwas von 'Dosen, in denen Magnete durcheinandergerührt werden'. Was hat sie damit angerichtet!

Dosen ließen sich beschaffen, Spielzeugmagnete hatte ich. Mir war unklar, wo man die Drähte anschließen sollte, aber ich probierte alles aus und rührte tapfer meine Magneten. Nie blinzelte auch nur ein Lämpchen auf, und ich bekam einen Verdacht, daß die Physik vielleicht bösartig unzuverlässig sein könnte. Dabei kannte ich noch nicht einmal das Wort 'Physik', das für mich später einmal der Eichmaßstab der Zuverlässigkeit werden würde, weit jenseits von dem, was bei Menschen in Sachen Zuverlässigkeit möglich ist.

Irgendwann meinte meine Mutter noch, das mit dem Umrühren meiner Magneten könne so nicht klappen. Aber ich weiß nicht, ob sie noch Verbesserungsvorschläge anbrachte.

Jedenfalls habe ich es weit gebracht, in diesen vierzig Jahren. Sogar soweit, daß ich diesen Granitbeißern ohne allzu präzise eigene Einzelkenntnisse den Gleitschirm gebracht habe. Wie doch konkrete Technik aus unkonkreten Gedanken erwachsen kann! - Vielleicht hätte ich damals, vor vierzig Jahren, mit meinen Magneten noch länger rühren müssen, und mir wäre noch eine Verbesserung eingefallen! Vielleicht hätte ich noch die Unipolarmaschine erfunden - oder auch nicht, denn die benötigt eine hohe Drehzahl.

Mitten am Tage, kurz vor 24 Uhr, erfahre ich von Oam, daß jetzt gerade 100 Gleitschirme fertig seien. Hundert ist für die Granitbeißer ja keine runde Zahl, aber es ist die Differenz zwischen 125 und 25, und das sind beides glatte Potenzen von Fünf. So werden eben auch hundert Gleitschirme zu einem Meilenstein. Ich nehme mir vor, wieder einmal bei der Gleitschirmherstellung und der Papierherstellung genauer zuzusehen. Die sind inzwischen ja ganz schön effizient geworden.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite