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******** 045. Tag: Montag 95-10-02 ********
45.1 Anfänger und Fortgeschrittene
Diese Nacht ist unruhig. Ich bemerke zwar zunächst noch nichts Ungewöhnliches, aber kurz bevor ich etwa um 2 Uhr einschlafe, fällt mir auf, daß durchaus nicht alle Lager belegt sind. Auch danach wache ich immer wieder kurz auf, weil manche der Schlafenden leise geweckt und weggeholt werden. Was geht vor?
Gegen Morgen falle ich dann doch in tieferen Schlaf, der sich nicht so leicht stören läßt, und als ich um 11 Uhr wieder erwache, stelle ich fest, daß eigentlich alle Lager wie üblich belegt sind. Ich würde mir einbilden, daß ich alles nur geträumt hätte, merke dann aber doch, daß die meisten Männer sich mit dem Aufstehen schwer tun. Da ist etwas vor sich gegangen, und niemand teilt mir von sich aus etwas mit!
Es fällt mir schwer, noch etwas vegetarisches zum Essen zu finden, und an diesem Morgen wird an den üblichen Feuerstellen reichlich frisches Fleisch ausgegeben. Das nährt den Verdacht, daß in der Nacht ein erfolgreicher Jagdzug gemacht worden ist. Aber ich muß mich auch nähren, und so esse ich denn, in klarem Bewußtsein, daß die Steaks eigentlich nur von Menschen stammen können. Ich sehe an den Feuerstellen nicht zu genau hin, damit aus der Vermutung keine Gewißheit wird.
Später, am Übungshang, frage ich Okr und Oios, ob etwas in der Nacht vorgefallen ist. Sie wissen aber auch nichts, und ich erfahre bei der Gelegenheit, daß sie immer am Übungshang zu schlafen pflegen. Vielleicht sollte ich das auch tun.
Ich verbringe fast den ganzen Tag damit, Okr beim Unterricht zu assistieren. Ab und zu gebe ich meinen Senf dazu, aber ich kann nicht beurteilen, ob es etwas bringt. Okr hält, um sich dem Fassungsvermögen seiner Zuhörer anzupassen, Erklärungen immer sehr einfach und damit ungenau. Vielleicht erzielt er damit den besten Lernwirkungsgrad. Aber Bernoulli würde sich bei diesen aerodynamischen Erklärungen im Grabe umdrehen.
Trotzdem bemühe ich mich, konzentriert und zum besten des Ganzen mitzuarbeiten. Das Warten auf den Fluchtzeitpunkt zehrt an den Nerven. Ich kann sonst nichts tun, ich kann nicht einmal mehr Charmion's Grab besuchen oder sonstwie ungehindert auf Casabones herumstreunen, wie ich es in einer fremden Gegend so gerne tue. Vielleicht, wenn Osont's aggressives Vorgehen gegen die Rebellen die Wälder Casabones tatsächlich säubern kann, wird mir das wieder möglich sein - um den Preis von etwa 300 Menschenleben, wie ich jetzt weiß. Plus die, die auf der Seite der Meuterer dabei umkommen.
Allmählich teilt sich das Unterrichtsprogramm auch in mehrere Kurse auf: Der Unterricht für die blutigen Anfänger, die noch nie geflogen sind, ein Fortgeschrittenen Unterricht, wo man mehr über die Steuerung des Gleitschirmes erzählt bekommt, und jetzt auch etwas, was man mit 'Pflege und Wartung eines Gleitschirmes' betiteln würde. Mit praktischen Übungen, versteht sich. Ein großer Teil dieser mehrstündigen Unterrichtsstunde bezieht sich auf den Umgang mit Nadel und Faden. So ungefähr weiß zwar jeder etwas darüber, weil ja jeder Granitbeißer gelegentlich an seinen Lederklamotten etwas reparieren muß, aber die Anforderungen an eine Naht in einem Gleitschirm sind wesentlich strenger. Das muß jeder begreifen. Wer es nicht begreift, wird irgendwann erleben, daß sich sein Schirm in der Luft über ihm zerteilt.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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