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******** 043. Tag: Samstag 95-09-30 ********

43.1 Der Überfall am Sumpfteich

Aus wirren Träumen schrecke ich empor. Erst kurz vor 4 Uhr. Noch eine Stunde Schlafperiode. Rund um mich herum ein Heerlager schnarchender Männer. Jenseits des Sumpfteiches bewegt sich im verhangenen Grau des Nebels etwas. Wahrscheinlich einer der Wachen. Ich überlege, ob es mir gelingt, gleich wieder einzuschlafen, oder ob ich mir die Füße etwas vertreten sollte. Man ist ja wenigstens ein bißchen allein, zu so früher Stunde. Ich stehe auf, gürte mein Schwert, das beim Schlafen unter mir gelegen hat, um und gehe los.

Auf dem Weg zum Übungshang begegne ich anderen, die gleich mir, wenn auch absichtlich, früher aufgestanden sind, um ein paar Extraflüge abzuwickeln. Gerade werfen wir uns ein verstehendes Lächeln zu, da höre ich hinter mir, vom Sumpfteich her, ein Schrei. Innerhalb von Sekunden stimmen weitere Schreie ein - Schmerzensschreie! Da passierte etwas!

Innerhalb von wenigen weiteren Sekunden entwickelt sich dort ein Tollhaus. Ich kann nur erraten, was dort geschehen ist: Die Rebellen haben einen Überfall gewagt, und vielleicht ist es ihnen gelungen, unter den schlaftrunkenen Männern schlimm zu metzeln.

Männer rennen mit gezogenen Waffen an mir vorbei auf die Sumpfteiche zu. Ich renne nicht mit. Kein falsches Heldentum. Als Fachmann für Gleitschirmflug sollen die gefälligst mich verteidigen und nicht umgekehrt! - Allerdings weiß ich nicht, wo man jetzt am sichersten ist. Es können ja noch weitere Überfälle an anderen Orten vorgetragen werden, sowie dort kampffähige Männer zu den Sumpfteichen abgezogen worden sind.

Zwischen den Papiermühlen bleibe ich stehen. Hier ist im Moment niemand, und ich bilde mir ein, daß diese Schalen und Mühlen und Papiertrockengerüste mich leidlich gut vor den Blicken von Freund und Feind verbergen. Ich versuche, aus den akustischen Botschaften vom Sumpfteich herauszudestillieren, was dort passiert sein könnte.

Es hört sich nicht nach einer Schlacht an. Die Schmerzenslaute scheinen inzwischen auch immer von denselben Männern zu kommen. Deshalb nehme ich an, daß es vielleicht ein sehr plötzlicher Überfall gewesen sein könnte, den die Rebellen nur unternommen haben, um den Meuterern Verluste beizubringen und sich dann sofort wieder zurückzuziehen. Dann wäre für den Moment keine Gefahr, es sei denn, die Rebellen verfügten über genug Personalreserven, um jetzt gleich woanders loszuschlagen.

Aber ob ich hier in Gefahr bin? Wenn ich recht damit habe, daß die Rebellen von unseren Gleitschirmbemühungen profitieren wollen, obwohl sie nicht daran gearbeitet haben, dann sollte ich zwischen diesen Papiermaschinen sicher sein.

Ich lasse sehr viel Zeit verstreichen, bis ich mich wieder hervorwage. Das naheliegendste ist es, zu den Sumpfteichen zu gehen und nachzusehen.

45 Männer tot, 88 verletzt. Dazu haben die Rebellen in ihrem Blitzangriff vielen der Gefallenen die Waffen abgenommen - mehr als sie selbst verloren haben. Das verschiebt das Kräftegleichgewicht in eine ungünstige Richtung.

Zwei Rebellen sind den Meuterern lebend in die Hände gefallen. Sie sind nicht schwer zu finden: ich muß mich nur zu der größten Menschentraube hinbewegen. Osont hat eine 'peinliche Befragung' schon eingeleitet. Es stehen so viele Menschen dort, daß ich nichts sehen kann. Aber ich höre die Schmerzensschreie der beiden.

Und Schmerzensschreie von anderen. Die Feldsanitätsbemühungen der Meuterer sind dürftig. Es ist kaum mitanzusehen, wie Wunden verbunden werden, ohne sie zu säubern, ohne Fremdkörper zu entfernen, ohne gebrochene Glieder zu repositionieren. Wer überlebt, der überlebt, wer kann, der verarztet sich notdürftig selbst, die anderen waren eben zu schwach. So einfach ist das bei den Granitbeißern.

Allmählich kriege ich einiges mit. Da sich die Meuterer und die Rebellen ja kennen, ist bei den Erzählungen manchmal nicht zu unterscheiden, von wem die Rede ist, von den Angreifern oder den Verteidigern. Es hat sich ungefähr so abgespielt, daß fast gleichzeitig die Wachen jenseits der Sumpfteiche überwältigt und die große Masse der schlafenden Meuterer mit Pfeilen beschossen wurden. Zu Schwertkämpfen, Mann gegen Mann, ist es nur sehr vereinzelt gekommen. Nachdem viele der Schlafenden und der gerade Erwachenden angeschossen oder erschossen waren, kam der Widerstand in Bewegung, und sofort haben sich die Rebellen zurückgezogen. Eine wirkungsvolle Verfolgung konnte so schnell nicht organisiert werden.

Ich erfahre auch, daß die Rebellen den dicken Mann, der gegen seinen Willen mit dem Gleitschirm fliegen mußte, mehr durch Zufall in ihre Gewalt gebracht haben. Ob ihm etwas passiert ist oder was das sonst bedeutet, erfahre ich nicht. Die beiden Rebellen, die Osont nach allen Regeln der Folterkunst befragen läßt, wissen auch nicht allzuviel, und bald werden sie nicht mehr reden können, wenn Osont so weiter machen läßt.

43.2 Vergeltungspläne und Termine

Später am Tage gibt es dann eine Versammlung von vielleicht vierzig Leuten. Ich werde auch hinzugerufen, aber ich merke auch, daß es viele gibt, die absichtlich nicht hinzugezogen werden. Wir sitzen auf einem freien Platz zwischen Übungshang und Papiermaschinen, und Osont kommt sofort auf den Punkt, nachdem er Wachen angewiesen hat, alle anderen von uns fernzuhalten und die nächsten Waldränder sorgsam zu überwachen:

"Liebe Freunde, das geht so nicht weiter." eröffnet er, "Das heute morgen war der bisher größte Angriff. Und für die Rebellen der bisher erfolgreichste. Für noch gefährlicher halte ich aber ihre Taktik, ständig kleine Einzelangriffe aus dem Wald heraus zu führen, besonders auf unsere eingeteilten Wachen. Wir haben einfach zuviel Waldrand, den wir überwachen müßten, und zuwenig Leute. Und die sollten eigentlich etwas anderes tun. Die Schirmproduktion und das Ausbildungsprogramm leidet bereits. Hat jemand Vorschläge?"

Einen Moment ist Stille. Mir stellen sich die Haare im Genick auf, wenn ich den Waldrand so beobachte. Von unserem Versammlungsplatz, der ja nur eine Ausbuchtung des Übungshanges ist, sind es keine zwanzig Meter zu beiden Seiten. Dort könnten jetzt Rebellen hocken, trotz der vielen Wachen.

Endlich gibt sich einer einen Stoß, weil Osont auf Vorschläge wartet:

"Jagdgruppen, die gezielt die Wälder durchstöbern?"

"Haben wir schon versucht. Dazu braucht man zuviel Leute, und die finden zuwenig."

"Wahllos in den Wald schießen?" fragt einer, "So als Abschreckung, meine ich?"

Osont schüttelt nur den Kopf. Der strategische Praktiker übersieht sofort die Zwecklosigkeit einer Maßnahme, die ich erst mit einigen Überschlagsberechnungen als sinnlos erkennen würde.

"Und aus der Luft?"

"Habe ich auch schon dran gedacht," gibt Osont zu, "das geht vielleicht. Aber das müßten wir noch üben. Man kann nicht gleichzeitig einen Gleitschirm fliegen und mit einem Bogen schießen. Jedenfalls bis jetzt können wir das nicht. Und ein Gleitschirm ist auch nur zu kurz in der Luft, und er kommt nicht überall hin. Nein, ich glaube, davon haben wir nichts."

Der Frager sieht schnell ein, daß wir davon nichts haben. Osont sieht sich weiter in der Runde um.

"Also jedenfalls," melde ich mich auch mal zu Wort, um das Offenbare festzustellen, "ist Casabones zu groß, um alle Wälder systematisch durchzukämmen und alle Rebellen unschädlich zu machen."

Pause. "Richtig." sagt Osont, ohne jede Wertung. Er sieht mich an, als ob ich weiterreden soll. Tue ich dann auch.

"Wenn wir sie aber nicht unschädlich machen können, dann werden sie mit ihren Angriffen fortfahren, solange, bis wir schließlich personalmäßig zu sehr ausgedünnt sind, um ernsthaften Widerstand zu leisten. Dann kommen sie und nehmen sich unsere Schirme."

"Könnte sein." sagt Osont. Einige in der Runde nicken.

"Dieser Zeitpunkt wird genau dann sein, wenn genügend Schirme für alle Rebellen da sind."

"Und woher wollen sie das wissen, wann das der Fall ist?"

"Ich weiß nicht. Sie beobachten uns ja, und den Übungshang. Und sie könnten natürlich ihre Leute unter uns haben."

"Verräter!" sagt jemand.

"Wenn wir es so nennen wollen. Jedenfalls müssen wir damit rechnen."

"Gut." Osont sieht in die Runde, sieht jeden einzelnen an, so, als ob er schon jetzt erwartet, einen von ihnen als Verräter zu identifizieren. "Das ist jedenfalls die Lage. Ich denke auch, daß die Rebellen genauso vorgehen könnten, wie unser Freund hier das geschildert hat. Frage ist, wie können wir dem zuvorkommen?"

Niemand hat eine Idee. Oder niemand traut sich, etwas zu sagen.

"Wir müssen etwas tun, womit die Rebellen überhaupt nicht rechnen!" schlägt Oios vor, der auch in der Runde sitzt.

Osont nickt, aber ich greife den Faden auf:

"Das wäre einfach. Wir könnten zum Beispiel einfach die Schirmproduktion und die Flugausbildung einstellen. Damit rechnen sie bestimmt nicht. Nur ist uns das nicht nützlich, und vieles anderes, was wir uns einfach so ausdenken könnten, bloß um sie zu verwirren, auch nicht."

"Es gibt etwas, was für uns nützlich wäre!" sagt Osont. Spannung zeigt sich auf allen Gesichtern. "Und womit sie nicht rechnen."

"Nämlich?" frage ich nach einer Weile, weil Osont es gar zu spannend macht.

"Wir fliehen früher als vorgesehen von Casabones!"

Einen Moment erhebt sich ein Gemurmel, das Osont wieder mit einer Handbewegung zum Schweigen bringt.

"Liebe Freunde, keinen falschen Verdacht! Selbstverständlich sollen alle von Casabones fliehen können! Ich denke nur an eine Vorhut!"

Ich bin sicher, daß er nicht daran denkt. Wenn die wesentlichen Leute, die Triebfeder für die Schirmproduktion sind, in der ersten Gruppe mit fliehen, dann wird die Fortführung des Projektes für die Zurückgebliebenen schwieriger, auch wegen der Rebellen, die dann erst recht lästig werden, und vielleicht sogar wegen der Rohstofflage. Ich glaube, jeder hier weiß das.

"Wieviele sollten das denn sein?" fragt einer.

"Eine sehr wichtige Frage!" nickt Osont, "Die jetzt noch nicht beantwortet werden darf!"

"Warum denn nicht?"

"Wissen wir denn, ob unter uns einer sitzt, der mit den Rebellen sympathisiert? Das wäre doch unklug, wenn wir die Rebellen so genau über unsere Pläne informieren!"

Zweifelnde Gesichter. Osont merkt das.

"Also, wir hier, in dieser Runde, sind bestimmt unter der ersten Fluchtwelle," versichert er schnell, "und auch noch einige mehr. Nur, wieviel mehr, das dürfen wir jetzt noch nicht festlegen!"

Eine Weile geht die Versammlung in allgemeines Palaver über. Osont legt sich zurück und beobachtet genau. Er macht sich ein Bild von der Motivation und von der Loyalität eines jeden. Während ich bei solchen Gelegenheiten dazu neige, niemanden anzusehen, benutzt Osont die Gelegenheit zu ausgiebiger Musterung.

"Wieviele Rebellen sind es eigentlich?" frage ich.

"Genau wissen wir das nicht. Viele haben wir ja schon erledigt. Wenn ich unsere Verluste hinzurechne, dann könnte es sein, daß seit der Besetzung des Fort etwa ein Fünftel aller ehemaligen Gefangenen umgekommen ist. Und insgesamt dürfte sich jeder fünfte zu den Rebellen geschlagen haben - etwa."

Ich rechne schnell nach. Das hieße, daß nur noch 1600 Menschen auf Casabones sind. Davon sind 320 in den Rebellengruppen in den Wäldern.

"Fünf mal fünf mal fünf mal zwei," sage ich laut, in der üblichen Redeweise, "eher mehr."

"Kommt hin." nickt Osont.

"Das sind zu viele. Da sie aus dem Verborgenen operieren, können sie auch mit einer zahlenmäßigen Unterlegenheit von eins zu vier ziemlich viel Ärger machen."

Nach einer Pause, in der niemand etwas sagt, fahre ich fort:

"Ich würde sogar sagen, daß sie uns mehr Ärger machen könnten, als sie es tatsächlich tun. Sie zeigen nicht sehr viel Einsatz. Das ist zwar sehr schön für uns, aber was hindert sie daran, sich etwas mehr anzustrengen? Das muß doch einen Grund haben!"

Keiner kann darauf eine Antwort geben, aber ich denke, der Grund liegt einfach darin, daß sich gerade die arbeitsscheuesten Individuen zu den Rebellen geschlagen haben. Vielleicht sind die zu großen koordinierten Aktionen gar nicht fähig, vielleicht sind sie untereinander zerstritten, vielleicht bekämpfen sich verschiedene Gruppen dieser Rebellen gegenseitig. Ob da das Wort 'Rebellen' überhaupt angemessen ist, wage ich zu bezweifeln.

"Und dann," überlege ich weiter, "was verleitet die Rebellen überhaupt dazu, anzunehmen, sie könnten uns die Gleitschirme wegnehmen und dann damit gleich fliegen? Ohne ein Ausbildungs- und Übungsprogramm können die das noch viel weniger als wir. Oder sind sie so naiv, daß sie das glauben?"

"Vielleicht," sagt Osont, "rechnen sie damit, uns nach und nach so vollständig auszulöschen, daß sie dann genug Zeit haben, das Fliegen zu lernen!"

"Dann wäre es vielleicht sinnvoll," entgegne ich, "ihnen irgendwie plausibel zu machen, daß ohne Gleitschirmherstellung und ohne Gleitschirmreparatur bald jeder Übungsbetrieb mangels funktionsfähiger Gleitschirme erstickt! - Naja, es sei denn, man hat wesentlich mehr Gleitschirme als man braucht."

Osont denkt wieder lange nach. Es ist auch nicht ganz einfach, zu erraten, was die Rebellen vorhaben könnten, weil es unmöglich ist, zu wissen, was die Rebellen über das Gleitschirmfliegen wissen. Wenn sie zum Beispiel sogar so naiv wären, anzunehmen, daß man mit Gleitschirmen auch bergauf fliegen kann, dann würde sie nichts davon abhalten, uns bereits alle auszulöschen, wenn nur wenige Gleitschirme zur Verfügung stehen, einfach in der Annahme, man könne mit diesen wenigen Gleitschirmen eine Art Pendelverkehr zwischen unten und oben einrichten.

Ich denke, Osont hat das auch schon erkannt. Wir können nicht annehmen, daß die Rebellen rational handeln. Deshalb kann jederzeit ein großer Angriff passieren. Genauso ist es aber möglich, daß die Rebellen längst ihre Kräfte vollkommen verschlissen haben, auch, wenn der letzte Angriff das unwahrscheinlich aussehen läßt.

"Es bleibt uns wenig anderes übrig, als wie bisher weiterzumachen. Ich habe vor, zusätzlich Jagdtrupps aufzustellen, die ständig in den benachbarten Wäldern versuchen, Rebellen aufzustöbern. Das ist aber letzten Endes nur eine Verstärkung der Tätigkeiten, die wir jetzt schon tun."

Alle nicken wieder, obwohl das eine empfindliche Ausweitung von Wachdienstaufgaben bedeuten könnte.

"Und dann müssen wir die frühere Flucht wenigstens im Auge behalten. Vielleicht wird es ganz kurzfristig notwendig, diese in die Wege zu leiten. Entscheiden tun wir jetzt aber noch gar nichts."

Er überlegt noch einen Moment und teilt uns dann mit:

"Es sollte jeder wissen, daß wir sehr knapp dran sind. Im Moment haben wir 42 Gleitschirme, und jeden Tag werden noch 12 weitere fertig. Ich hoffe, die Produktionsrate noch weiter steigern zu können, aber ich bin skeptisch. Bis wir eine erste große Absprungswelle von Casabones herunter starten können, vergeht also noch sehr viel Zeit. Wir müssen uns einfach noch länger gegen die Rebellen behaupten! - Jeder sollte das wissen!"

Es wird noch eine Weile herumdiskutiert, aber als keine neuen Gesichtspunkte auftauchen, löst Osont die Versammlung auf. Er geht sofort daran, die zusätzlichen Wachdienstgruppen einteilen zu lassen und seine Vorstellungen über deren Jagdmethoden zu verbreiten. Da er mich nicht zum Wachdienst einteilen wird, interessiert mich das weniger.

Ich bin neugierig, wie sich von jetzt an der Umgangston verändern wird. Jeder muß ja Angst haben, eventuell doch nicht bei der ersten Absprungswelle mit dabei zu sein, während sein Gegenüber aus irgendeinem Grunde mehr Glück hat. Ob sich jetzt ein Intrigenklima herausbilden wird? Oder ob sich durch diese Ankündigungen der Arbeitseinsatz ändern wird? - Ich werde es erleben - Ich muß nur die Augen aufhalten.

Weil es nun doch irgendwann notwendig ist, entschließe ich mich, heute meinen ersten Absprung von der Hochrampe vorzunehmen. Es wird am Übungshang auch allmählich eng, so daß der Genuß des Fliegens doch wieder eingeschränkt ist, weil man dauernd darauf achten muß, nicht mit anderen Gleitschirmpiloten zu kollidieren, die plötzlich aus dem Nebel auftauchen.

Auch an der Hochrampe ist eine ordentliche Warteschlange, als ich dort mit dem Schirm, den ich mir ausgesucht und den ich selbst noch überprüft habe, ankomme. Immerhin werde ich vorgelassen. Beruhigt sehe ich, daß die Schwerter wieder entfernt worden sind und daß einige harte Felskanten in der unmittelbaren Umgebung der Startrampe mit Ballen aus Zweigwerk gepolstert worden sind. Ein Fehlstart ist nicht mehr ganz so gefährlich wie zu Anfang.

Der Start ist so ähnlich wie unten am Übungshang, nur eben mit Hilfestellung. Die beiden Männer, die das machen, haben schon die Erfahrung von hunderten von Startvorgängen, bei denen sie assistiert haben. Es geht routinemäßig und schnell, und schon vor dem Ende der Startrampe fühle ich mich während des Anlaufes angehoben. Dann bin ich in der Luft. Der, der vor mir gestartet ist, erreicht jetzt gerade eben die Wolkenobergrenze.

Sehr schnell habe ich, seit langer Zeit wieder einmal, einen großen Abgrund unter mir. Aber irgendwie gibt mir das Rauschen des Schirmes über mir fast mehr Vertrauen als der solideste Klettersteig.

Trotz der geringen Sinkgeschwindigkeit kommen die Wolken zu rasch näher. Langes Genießen der Aussicht, der sich ständig verändernden Perspektive der nahen Berge auf Casabones und der fernen Säulen, die die Welthöhle abstützen, ist leider nicht möglich. Ich muß darauf achten, genau in die Gegend der Wolken einzutauchen, unter der der Übungshang ist.

In den Wolken habe ich einen Moment Panik, weil ich nicht weiß, ob und wie hoch ich über dem Übungshang bin und ob nicht jede Sekunde aus dem Nebel heraus ein anderer Pilot auf mich zukommen könnte. Und dann ist da ja auch die Möglichkeit, mit Pfeilen beschossen zu werden, sowie der Boden in Sicht kommt.

Fast wie immer, wenn man zuviele Befürchtungen hat, geht alles glatt. Ich sehe andere Gleitschirmpiloten in sicherer Entfernung, und ich lande auch nicht im Wald. Kaum, daß ich stehe, habe ich wieder Lust, es noch einmal zu tun.

Dazu kommt es heute nicht mehr. Als ich zu den Reparaturzelten gehe, um dort meinen Schirm zu inspizieren, begegne ich Okr und trage ihm eine Idee vor, die ich schon länger mit mir herumtrage: Jeder Schirm sollte an den Tragegurten einen Beutel mit einem minimalen Satz an Reparaturzeug haben: Ein paar Leinen verschiedener Dicke, Stoffstücke, Nadeln. Jeder Pilot muß wissen, wie man eingerissene Nähte flickt und Stellen verstärkt, die so aussehen, als könnten sie demnächst nachgeben. Und es muß eine Ausgabestelle geben, an der jeder Pilot sofort seinen Reparaturbeutel wieder neu füllen kann, wenn er ihn gebraucht hat. Natürlich müssen auch Einweisungen in das Reparieren von Gleitschirmen durchgeführt werden. Zusätzliche Qualifikationsmaßnahmen, die wahrscheinlich wieder an Okr hängen bleiben.

Ich verspreche mir davon, daß die, die im Moment am routiniertesten im Reparieren von Schirmen sind, nicht mehr von Trivialreparaturen belästigt werden. Vielleicht steigert das sogar unsere tägliche Schirmproduktion und senkt die Häufigkeit der Fälle, wo ein Schirm so ruiniert wurde, daß er nur noch als Rohmaterial taugt.

Okr greift den Vorschlag auf und leitet sofort die notwendigen Maßnahmen ein. Man muß ja schließlich auch ausprobieren, wo ein solcher Beutel an einem Gleitschirm am allerwenigsten stört.

22 Uhr. Bald Schlafperiode. Ich gehe zu den Sumpfteichen hinunter, hungrig, weil nicht genug vegetarische Lebensmittel aufzutreiben sind.

Sogar zwischen den Schlafstellen patrouillieren jetzt Wachen. Ich sehe die blutdurchtränkten Lager derjenigen, die es heute morgen erwischt hat. Mein Lager war direkt mitten drin. Wenn ich nicht früher aufgestanden wäre, dann hätte es mich auch erwischen können.

Aber eine andere Alternative zum Schlafensplatz gibt es nicht mehr. Trostlos, dieses Massenlager. Und bis nach 23 Uhr ist da auch immer noch zuviel Unruhe, um einschlafen zu können.

Ich beschäftige mich mit Rechenkunststücken und Spekulationen: 42 Schirme, 12 pro Tag, der erste Absprung mit vielleicht 200 Leuten. Osont hat diese Zahl zwar nicht genannt, aber wir müssen ja damit rechnen, daß wir unten, auf dem Schärenfort, mit bewaffneter Opposition zu rechnen haben. Da müssen wir schon in erheblicher Anzahl aufmarschieren. Osont weiß das bestimmt.

Wenn wir also diese Zahl zugrunde legen, dann könnte ich in etwa zwei Wochen Casabones verlassen.

Zwei Wochen! Immer noch besser als zwei Jahre. Aber immer noch eine lange Zeit. Irene, hoffentlich finde ich dich noch!


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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