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******** 042. Tag: Freitag 95-09-29 ********
42.1 Vergnügen und Mißtrauen
Aufwachen 2 Uhr planmäßig. Es wird aber fast eine ganze Stunde früher, weil so eine hektische Unruhe ausbricht. Es gibt Männer, die vor den anderen am Übungshang sein wollen, um mehr als ihren Anteil von Flügen zu absolvieren.
Immerhin ein Lichtblick: Dieser ganze Phlegmatismus, den ich am Anfang bei fast allen hier gesehen habe, ist weitgehend verschwunden. Das Fliegen hat diese Männer verändert, auch die, die noch gar nicht dazu gekommen sind, sondern noch immer ihrem ersten Flug entgegenfiebern.
Wie es wohl auf dich gewirkt hätte, Charmion? Es ist doch auch dein Werk. Vielleicht weiß Osont sogar, daß er auch in deiner Schuld steht. Nicht, daß es etwas ändern würde.
An diesem Tag gibt es viele Flüge von der Rampe in den Bergen. Was vor kurzer Zeit noch das Überhaupt-Geflogensein bedeutete, jetzt ist es die Erfahrung des Fluges über den Wolken, die die neue Pilotenoberschicht auszeichnet. Wer bisher nur am Übungshang geflogen ist, darf gar nicht mitreden.
Es kommen dort aber auch Verletzungen vor, weil der Platz auf der Rampe zu beengt ist. Einen Startversuch beobachte ich, bei dem sich der Schirm nur teilweise entfaltet und dann zur Seite driftet. Ehe der Pilot den Start sauber abbrechen kann, hat es ihn schon seitlich von der Rampe heruntergezogen.
Bei einem anderen Versuch entfaltet sich der Schirm zwar, aber nicht schnell genug. Das wäre auf dem Übungshang auch kein Problem gewesen, aber hier heißt das, am Ende der Rampe herunterzustürzen. Was der betreffende Mann sich getan hat, kann ich nicht erkennen. Auf jeden Fall muß er vom Berg heruntergetragen werden.
Auch der erste tödliche Unfall ereignet sich an diesem Tage, allerdings auf dem Übungshang. Einer der Gleitschirmflieger kollidiert beim Herunterkurven mit einem der Vollstreckungskreuze. Dabei wird er in seiner Flugbahn soweit abgelenkt, daß der Schirm über ihm sich kraftlos zusammenfaltet. Danach fällt der Pilot einfach kopfüber vom Querbalken des Kreuzes, der ihn einen Moment unterstützt hat, herunter. Auf die kurze Fallstrecke kann sich der Schirm aber nicht mehr entfalten. Genickbruch. Aus.
Vorsichtig weise ich darauf hin, daß die Kreuze dem Flugbetrieb vielleicht wirklich im Wege stehen. Aber Osont will das nicht hören. Es ist eben verboten, mit den Kreuzen zu kollidieren, und damit basta.
Dann werde ich Zeuge einer Zwangsvorführung. Natürlich muß es unter so vielen Männern auch welche geben, die jetzt eine unüberwindliche Flugangst verspüren, und die sich bisher davor gedrückt haben. Solange es nur wenige Schirme gegeben hat, war das auch leicht möglich. Inzwischen versucht Osont, zu erreichen, daß systematisch alle wenigstens einmal drankommen. Vielleicht vermutet er, daß der Zeitpunkt der Flucht von Casabones rascher kommen könnte als uns lieb sein kann - vielleicht denkt er an mögliche Auseinandersetzungen mit den Rebellen. Ich weiß es ja nicht, er teilt seine Erkenntnisse ja nicht mit mir. Aber ich hatte ja auch schon meine Beobachtungen.
Jedenfalls hat er tatsächlich einen erwischt, der absolut nicht fliegen will. Wenn aber jemand etwas nicht will, was Osont gerne möchte, dann ist für den Betreffenden Ärger angesagt.
Es ist ein älterer Mann, der mich ein bißchen an den Koch auf dem Saurierfänger erinnert. Er ist schon völlig kahlköpfig, etwa zwischen 50 und 60 Jahren alt, und ich könnte mir denken, daß er zu denen gehört, die schon viele Jahrzehnte auf Casabones verbracht haben.
Er weiß gar nichts mehr von der Welt außerhalb der Gefängnisinsel, er hat sich seit Jahrzehnten in sein Schicksal dreingefunden und im Dorf der Meuterer schon längst seine Heimat gesehen, die Erinnerung an das Leben in Freiheit langsam immer mehr verblassend. So könnte ich mir es jedenfalls in etwa vorstellen. Dann kam plötzlich die Unruhe über die Gefangenenkolonie, und der Aufstand, der mit der erfolgreichen Besetzung des Forts gipfelte. Von da an war alles anders. Immer wieder etwas Neues. Und in letzter Zeit das allerschlimmste: Die Aussicht, diese ihm vertraute Welt der Gefängnisinsel verlassen zu müssen, und das auf eine noch nie gehörte Weise: Durch Fliegen!
Als dann aus Gerüchten handgreifliche Wahrheit wurde und sich jeder am Übungshang davon überzeugen konnte, daß das tatsächlich geht, muß es für ihn ganz schlimm geworden sein. Viele Tage schon muß er sich darüber im Klaren gewesen sein, daß das auf ihn zukommt wie auf jeden anderen auch.
Osont läßt verbreiten, daß möglichst viele dem Erstflug dieses alten Mannes zusehen sollen. Das läßt drauf schließen, daß er irgend etwas Grausames vorhat. Oder ist es ihm genug, einfach jemanden, der das absolut nicht will, mit einem Gleitschirm losfliegen zu lassen und dann zu sehen, was dabei passiert? Ich glaube, das würde nicht funktionieren - wenn ein Gleitschirmflieger sich nicht aktiv mit der Steuerung des Schirmes beschäftigt, dann kommt er ja nicht einmal hoch. Es kann also eigentlich nicht funktionieren. Wie will Osont denn erreichen, daß der alte Mann kooperiert?
Dann erfahre ich, daß der Start auf der Höhenrampe erfolgen soll. Also gehe ich mit vielen anderen wieder den Bergpfad vom Übungshang nach oben. Die Rampe, natürlich. Wenn man dort keinen sauberen Start zustande bringt, fällt man am Ende der Rampe fürchterlich auf die Schnauze. Und wenn man es doch schafft, dann ist das für jemanden, der seinen Erstflug macht und sowieso fürchterliche Angst vorm Fliegen hat, wahrscheinlich die traumatischste Erfahrung seines Lebens.
Ich glaube überhaupt, daß wir noch ganz große Schwierigkeiten mit dem Teil der Meuterer bekommen werden, die nicht fliegen wollen oder einfach zu untalentiert sind, es überhaupt je zu lernen, denn diese Leute haben sich bisher ja noch gar nicht dazu gedrängt, es einmal auszuprobieren. Zweifellos müßte man sich um diese Leute ganz besonders kümmern, aber natürlich doch nicht so brutal, wie Osont das im Sinne hat!
Als ich an der Rampe ankomme, sehe ich, daß Osont auf der Brutalitätsskala doch noch etwas weitergeht: Vor dem Absprungsende der Rampe sind Schwerter so befestigt worden, daß sie mit ihren Klingen senkrecht nach oben zeigen. Es sind noch einige Männer dabei, weitere Schwerter auch rechts und links von dem Rampenende auf die gleiche Weise anzubringen. Damit wird jeder Fehlstart grausam enden.
Und ich kann nicht umhin, zu beobachten, daß diese Vorstellung sich eines ganz besonderen Interesses bei den Meuterern erfreut. Da wird einfach einer aus ihrer Mitte, mit dem sie bis dahin ja gar keinen Ärger gehabt hatten, von der Lokalobrigkeit gewissermaßen an den Pranger gestellt, und sie sehen begierig und begeistert zu. Dabei hätte es jeden von ihnen treffen können, und das kann es immer noch, denn Osont's Launen können sich rasch ändern.
Den kleinen Sympathievorsprung, den die Meuterer sich bei mir bereits durch ihr Interesse an der Fliegerei erworben hatten, haben sie sich augenblicklich wieder verscherzt.
Es geht schnell. Der alte Mann bekommt seine Einweisung, und er sieht die Schwerter. Ich sehe seine angstgeweiteten Augen. Wo er sich doch eigentlich einen leidlich geruhsamen Lebensabend auf Casabones vorgestellt hat.
Dann stellen sie ihn auf. Ich habe gar keinen Platz in der Nähe der Rampe bekommen und stehe etwas tiefer am Hang. Deshalb kann ich nicht genau sehen, wie sie es machen, aber plötzlich sehe ich den Schirm aufflattern und Sekunden später springt der alte Mann über die Vorderkante der Rampe.
Der Start ist nicht elegant, aber er fliegt wenigstens, und die Schwerter bleiben ihm erspart. Nur wenige Meter über unseren Köpfen zieht er vorbei. Eine Sekunde lang sehe ich sein entsetztes Gesicht. Irgendwie haben sie die Bremsleinen in einer festen Position mit dem Gurtzeug verknotet, so daß der Schirm auch ohne Kooperation des Piloten fliegt. Nur kann der alte Mann nicht steuern, und er würde es ja wohl ohnehin nicht tun.
Der Schirm fliegt ziemlich geradeaus. Natürlich kurvt er nicht zum Übungshang hinunter. Er wird irgendwo weiter hinten landen, vielleicht bei den Sumpfteichen oder so ähnlich. Bei der Landung, da bin ich sicher, wird sowohl der alte Mann als auch der Schirm zu Schaden kommen. - Für so etwas läßt Osont einen von unseren kostbaren Schirm draufgehen! Wenn er schon nicht an seine Opfer denkt, dann ist das immer noch unüberlegt.
Als der Schirm in einer Entfernung von fast einem halben Kilometer in den Wolken verschwunden ist, gehe ich mit den meisten anderen wieder nach unten. Ich rechne nicht damit, sofort etwas über das Schicksal des alten Mannes zu erfahren.
Aber wir erfahren etwas über das Schicksal eines anderen Gleitschirmfliegers: Auf dem Übungshang, wo der Flugbetrieb inzwischen ja nicht eingestellt wurde, ist ein Pilot aus geringer Höhe nahe am jenseitigen Rand des Übungshanges abgestürzt.
Als man ihn unter seinem nur leicht beschädigten Schirm herausziehen wollte, weil er keine Anstalten machte, das selbst zu tun, fand man ihn von zwei Pfeilen durchbohrt.
Auch Osont ist bald zur Stelle. Es wird rasch klar, daß dieses wohl ein kleiner Angriff der Rebellen gewesen sein muß. Sie müssen im Wald hinter dem Übungshang versteckt gewesen sein. Osont läßt den angrenzenden Wald sofort durchsuchen, aber man findet natürlich niemanden mehr. Osont beschließt, jetzt auch die jenseitige Grenze des Übungshanges bewachen zu lassen. Bei der Gelegenheit erfahre ich, daß schon eine ganze Menge Männer für Wachaufgaben eingeteilt worden sind, und daß in letzter Zeit noch mehr passiert sein muß. Es sieht so aus, als ob Osont verhindert, daß sich alle Informationen über Angriffe der Rebellen sofort verbreiten. Ein richtiger Despot, dieser Osont. Offenbar muß man die Mechanismen eines totalitären Staates gar nicht erst lernen - einigen Zeitgenossen liegt sowas im Blut.
Das Wacheschieben tut natürlich der Rohstoff- und Schirmproduktion nicht besonders gut. Allerdings nimmt Geschicklichkeit und Wissen der Leute, die direkt mit der Schirmherstellung beschäftigt sind, rasch zu. Zumindestens meine Drei-Jahres-Schätzung für 2000 Gleitschirme wird deutlich unterboten werden können. Wer weiß, wenn sie sich hier noch weiter eifrig gegenseitig umbringen, wird die Rechnung vielleicht sogar noch günstiger!
Der Weg zu Charmion's Grab aber wird immer schwieriger. Ich muß meinen nächsten Besuch dort noch weiter aufschieben. Es dürfte sowieso zu gefährlich sein, selbst, wenn ich an Osont's Wachen vorbeikomme. Es müssen jetzt rund um das Dorf, die Arbeitsstätten und den Übungshang Rebellen in den Wäldern sitzen. Sie wissen ja, daß es um die Flucht von Casabones geht, und diesen Zeitpunkt wollen sie nicht versäumen. Am plausibelsten ist da wohl die Annahme, daß sich die Rebellen in den Besitz der Schirme bringen wollen, weil sie auf diese Weise von unseren Bemühungen profitieren können. Aber müßte man nicht daraus schließen, daß ein größerer Angriff bevorsteht? Irgendwann in der nächsten Zeit jedenfalls? Wie stellt sich Osont das vor? Oder wähnt er uns sicher, weil uns die Rebellen zahlenmäßig unterlegen sind?
In dem Zusammenhang könnte man auch überlegen, warum die Männer so häufig Fleisch bekommen. Wo kommt das her? Werden Tiere systematisch bejagt, oder werden die Rebellen systematisch bejagt? Und wie lange geht das schon so? Und warum wird nicht darüber gesprochen, wo das Fleisch herkommt?
Man vergißt es immer wieder, wo man sich eigentlich aufhält. Sieh doch die Kreuze an, Herwig! Wo sind denn die Leichen der hingerichteten Männer geblieben? Und warum sind im Moment alle Vollstreckungskreuze frei? Es gab doch gestern und heute mit Sicherheit Piloten, die Fehler gemacht haben, und Osont hat seine Ansicht über deren Bestrafung doch bestimmt nicht geändert!
Ohne einer bestimmten Beschäftigung gezielt nachzugehen, gehe ich mal hier und mal dorthin, um ganz unauffällig herauszukriegen, wie weit Osont denn die Wachen verteilt hat. Mit der Unauffälligkeit ist es aber schwierig. Als ich zum Beispiel den Fahrweg von den Sumpfteichen in Richtung Dorf gehe, sehe ich überhaupt niemanden. Vielleicht habe ich erwartet, eine Art Straßensperre zu sehen. Was aber passiert ist, daß plötzlich, während ich mich noch ganz alleine auf dem Fahrweg wähne, zwei Schatten rechts und links aus dem Gebüsch hervorgeschossen kommen. In der nächsten Sekunde schweben mir schon wieder zwei Schwertspitzen dicht vor meinem Hals.
Die beiden erkennen mich:
"Oh." Klingt fast wie eine Entschuldigung. "Aber wir sollen niemanden in das Dorf lassen!"
"Warum denn nicht?" frage ich ganz naiv.
"Befehl. Es sollen schon Rebellen im Dorf hocken, und überall rundherum."
"Und woher wißt ihr das?"
"Hat Osont gesagt. Wir dürfen jedenfalls niemanden mehr rein- oder rauslassen!"
Weiter hinten im Gebüsch sehe ich, daß gerade jemand einen Bogen, der auf mich angelegt war, sinken läßt.
"Ja, wenn das so ist ..." sage ich und kehre um. Ich habe den Eindruck, daß diese Männer meinen Versuch, das Dorf zu erreichen, als Routineangelegenheit behandeln. Wahrscheinlich hat in letzter Zeit öfter jemand versucht, zum Dorf zu gehen, weil sich die Sperre noch nicht rumgesprochen hat.
Den Weg in Gegenrichtung zu gehen, also zu meiner Schlucht am Rande von Casabones, geht auch nicht. Gerade, als ich soweit gegangen bin, daß ich von den Arbeiten an den Sumpfteichen nichts mehr sehe und höre, sehe ich, als ich um eine Wegbiegung gehe, zwei Männer auf der Straße sitzen. Ich gucke betont verwundert:
"Hallo!" sage ich.
"Hallo." sagt einer der Männer, weil ihm nichts besseres einfällt. Ich grinse, er grinst zurück, und ich kehre um.
Auch beim Versuch, um die Sumpfteiche herumzugehen, treffe ich auf Männer, die dort im Gebüsch Wache bezogen haben.
Überall - bei den Papierherstellungsmaschinen, am Steinbruch, am Übungshang - finde ich bewaffnete Männer, wechselnd gelangweilt und mißmutig ob des unwillkommenen Wachdienstes. Jedenfalls weiß ich im Moment nicht, wie ich mich von den Meuterern erfolgreich absetzen könnte. Gerade eben in die unwegsamsten Waldränder könnte man vielleicht unbemerkt eindringen, aber das traue ich mich nicht. Außerdem käme man da zu langsam vorwärts und man könnte sich zu leicht verirren, ganz abgesehen von der Gefahr, tatsächlich den Rebellen in die Hände zu fallen.
Weil es nichts besseres zu tun gibt, begebe ich mich wieder nach oben, zur Hochrampe. Ohne mich um den Flugbetrieb besonders zu kümmern lasse ich dort die Bemerkung fallen, daß ich einen Standort für eine noch höher gelegene Rampe suchen möchte. Das ist dort Grund genug, mich durchzulassen. Aber in jeder Sekunde folgen mir aufmerksame Blicke, und es ist deshalb nicht möglich, soweit wegzugehen, daß ich ungesehen vom Berg an einer anderen Stelle wieder heruntersteigen kann.
Später am Tag läßt Osont mir mitteilen, daß er solche Excursionen auf eigene Faust nicht wünscht, und ich soll ihn gefälligst vorher fragen, damit er mir eine Wache mitgeben kann.
Obwohl ich bemerke, daß es überall kleinere Fortschritte in Qualität und Quantität in der Papierherstellung und in der Gleitschirmproduktion gibt, bin ich, als ich mich um 20 Uhr mit vielen anderen um die Sumpfteiche herum zum Schlafen lege, sehr unzufrieden. Ich mag es nicht, wenn man meine Bewegungsfreiheit zu sehr einschränkt, egal, wie gut die Gründe sein mögen. Vielleicht deshalb ist mein Schlaf sehr unruhig.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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