Voriges Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Nächstes Kapitel
******** 041. Tag: Donnerstag 95-09-28 ********
41.1 Der Flug des Lehrers
Am nächsten Tag kommt Osont schon bald nach dem Aufwachen zu mir. Woher er weiß, daß ich bei den Sumpfteichen geschlafen habe, weiß ich nicht. Er muß da so seine Zuträger haben. Er strahlt, als er näherkommt - so stelle ich mir den Gesichtsausdruck des Chefs eines kleinen, mittelständischen Betriebes vor, der auf seinen Angestellten zukommt, um ihm eine zehnprozentige Gehaltserhöhung anzukündigen - mit dem Hintergedanken, eine dann drastisch gesteigerte Bereitschaft zur unentgeltlichen Ableistung von Überstunden einzufordern.
"Gut, daß ich dich finde. Es wird dich interessieren, Herwig!"
"Was denn?" Frühstück würde mich mehr interessieren, aber dazu bin ich noch nicht gekommen.
"Okr hat herausgefunden, wie man ohne Hilfestellung starten kann!"
"Ah, das ist gut!" sage ich, "Dann habe ich mich also doch richtig erinnert, daß es ohne Hilfestellung gehen muß. Wie macht man es denn?"
Während wir uns zum Übungshang aufmachen, erzählt er es mir.
"Man muß ein Stück Hang haben, das völlig frei von Wurzeln oder anderen Dingen ist, wo sich der Schirm verhaken könnte."
"Klar."
"Dann legt man den Schirm im Halbkreis hinter sich, so, daß die Vorderkante die Außenseite dieses Halbkreises bildet. Die Vorderseiten der Luftkammern müssen nach oben offen sein. Wenn man dann losläuft, hebt sich der Schirm schon nach wenigen Metern völlig vom Boden ab. Wenn man etwas geschickt ist."
"Aha."
"Das kann eigentlich jeder lernen."
"Natürlich." stimme ich zu.
"Bist du eigentlich schon geflogen?" fragt er mich lauernd.
"Ich? Eh - nein. Ich habe immer den anderen, jungen Männern den Vortritt gelassen. Die konnten es ja nicht abwarten."
"Das ist wahr." nickt Osont, "Aber jetzt haben wir genug Schirme. Jetzt kannst du es auch einmal ausprobieren. Wo du uns das Fliegen doch beigebracht hast!"
Das wollte ich eigentlich so früh noch nicht tun.
"Sechzehn Schirme haben wir jetzt. Die Jungen schneidern wie verrückt. Morgen oder übermorgen werden es schon doppelt so viele sein!"
Er ist richtig stolz. Ich fürchte, mir wird keine Begründung einfallen, jetzt auf das Fliegen zu verzichten.
"Für mich ist es genauso Neuland wie für euch!" sage ich, "Ich habe in meiner Welt nur gesehen, wie andere es taten. Ich habe es nie selber gemacht!"
"Ja, das hat aber doch gereicht. Dann muß es für dich ja um so spannender werden!"
Ich habe wieder das dumpfe Gefühl, daß Osont ein Talent dafür hat, die Motivationsstruktur jedes anderen Menschen blitzschnell zu erkennen und auszumessen. Jetzt erkennt er, daß ich noch nicht fliegen will. Also will er, daß ich fliege. So einfach ist das. Ich fürchte, es bleibt mir nichts anderes übrig.
Am Übungshang angekommen besichtige ich zunächst die neu hinzugekommenen Zelte. An zwei Schirmen werden gerade letzte kleinere Reparaturen fertiggestellt, die durch die letzten Flüge notwendig geworden sind.
"Okr meint, daß wir bald soweit sind, daß wir Schirme machen können, die man mehrfach verwenden kann, ohne sie zwischendurch reparieren zu müssen!" Osont sagt das mit einem Ton, als wäre das ausschließlich seine eigene persönliche Leistung.
Ich nehme einen Schirm in Empfang. Ohne übertriebene Schnelligkeit gehe ich den Hang hinauf. Osont bleibt bei mir. Aus den Augenwinkeln stelle ich fest, daß jetzt vier von den sieben Vollstreckungskreuzen belegt sind. Alle vier Delinquenten scheinen tot zu sein. Osont hält es nicht für nötig, das zu kommentieren.
Oben am Übungshang sehe ich in kurzer Zeit mehrere Starts ohne Hilfestellung. Es sieht tatsächlich ganz einfach aus.
"Es gibt nur diese Stellen da, wo man den Schirm schon gefahrlos auf den Boden legen kann. Oltar dort wird dir zeigen, wie man den Schirm auslegt."
Der Benannte, ein dicker Kerl in jungen Jahren, ist ständig dabei, Einweisungen zu geben - wie man den Schirm auslegt, wie man das Gurtzeug anlegt und wie man die Leinen beim Anlauf hochreißt.
"Ich habe noch gar nicht den Unterricht mitgemacht!" fällt mir plötzlich ein.
"Machst du Witze? Wir haben das alles doch von dir gelernt! Was könntest du in dem Unterricht denn noch lernen?" spottet Osont. Hat er ja nicht ganz Unrecht.
Oltar hat viel zu tun. Ich sehe, daß viele ihm einen Zettel zeigen. Als ich nachfrage, erfahre ich, daß es sich um eine Art Teilnahmebestätigung für den theoretischen Unterricht von Okr handelt, weil Oltar ja nicht wissen kann, wer wirklich schon dabei war und wer nicht. Die Rudimente der Bürokratie lassen grüßen!
Ich brauche so etwas natürlich nicht. Ich habe nur noch wenig Muße, einigen der abfliegenden Männer zuzusehen. Dann bin ich dran.
"Tatsächlich das erste Mal?" fragt Oltar ungläubig, "Stell dich daher. Nein, so. Und dreh dich mal um!"
Zuerst legt er den Schirm fächerförmig aus. Die Vorderseiten der Kammern, erklärt er mir, müssen möglichst alle nach oben offen sein. Es dürfen keine Leinen unter den Schirm geraten, und es dürfen keine Leinen sich irgendwo verhaken. Auch dürfen sich verschiedenen Leinen nicht miteinander verdrillen.
Ich nicke gehorsam. Klingt alles plausibel.
"Beim nächsten Start machst du es selbst." erklärt Oltar entschieden. Dann beginnt er, mir das Gurtzeug zu erklären.
Ich passe dabei ganz genau auf. Wenn Osont mich los sein wollte, dann hätte er mir jetzt einen manipulierten Schirm zukommen lassen. Das ist immerhin eine prinzipielle Möglichkeit. Ich nehme mir vor, dicht über dem Boden zu fliegen - sofern mir beim ersten Flug ein wesentlicher Einfluß darauf überhaupt möglich ist.
Beingurte, Sitzgurt und Brustgurt gibt es. Das heißt, diese Konstruktion hat sich bisher als zweckmäßig erwiesen. Als ich die Gurtseile festziehe, habe ich den Eindruck solider Arbeit.
"Jetzt die Bremsleinen und diese Aufziehleinen in die Hand nehmen!" sagt Oltar und reicht sie mir, "So. Alles frei? Also: Halt diese Leinen jetzt ungefähr straff. Hände dabei hoch. Ja, so. Du läufst jetzt einfach los. Nein, jetzt noch nicht, ich erzähle dir ja noch etwas! - Also, du läufst mit kräftigem Schritt so los, wie du jetzt bist. Dabei mußt du dich etwas nach vorne legen. Du wirst sofort merken, daß der Schirm versucht, dich zu bremsen."
Ich nicke. Die Pumpe geht mir ganz schön flott. Ist es doch wirklich der allererste Gleitschirmflug für mich! Und ich habe doch immer davon Abstand genommen, mir dieses Hobby auszusuchen, weil es teuer, zeitraubend und nicht ungefährlich ist. Ich wollte Irene das nicht antun.
Osont steht in etwa zwanzig Metern Entfernung seitlich am Hang und schaut interessiert zu. Er wird nicht weggehen, bevor ich abgeflogen bin.
"Du hörst an dem Rauschen, wenn der Schirm etwa über dir ist. Dann wirfst du einen kurzen Blick rauf. Wenn da irgend etwas ungewöhnliches ist, etwa nur teilweise Entfaltung der Luftkammern oder so, dann brichst du den Start ab."
"Wie denn?"
"Du ziehst nur eine Bremsleine voll durch, nur eine! Dann fällst du auf die Schnauze, aber du hebst nicht ab, und der Schirm bleibt auch unbeschädigt! Der fällt dir dann nämlich auf den Kopf."
Jemand lacht, aber ich bin zu durcheinander, um herauszukriegen, ob es Osont ist oder jemand anderes. Und ob über uns gelacht wird.
"Wenn alles in Ordnung ist," fährt Oltar fort, "läufst du immer weiter. Du mußt den Schirm dann kräftig ziehen! Dann merkst du schon, daß er versucht, dich hochzuheben! Die Aufziehleinen rutschen dir dann sowieso aus der Hand, aber behalte die Bremsleinen. Die ziehst du dann bis in Brusthöhe durch, verstanden? Dann läufst du noch zwei oder drei Schritt weiter, bis du fliegst."
"Nein." sage ich.
"Das sagen alle. Alle bis auf die, die am liebsten ohne jede Einweisung starten möchten. Danach kann man alle einteilen, glaub mir: die einen wollen ohne jede Belehrung in die Luft, und die anderen am liebsten überhaupt nicht! - So, auf geht's! Los!"
Und es geht los. Ich denke an gewöhnliche Flugzeuge und stelle mir naiverweise vor, daß man nach dem Anlauf den Start beliebig verzögern kann. Bei einem Gleitschirm ist das aber nicht so. Er flattert wie ein großer Raubvogel über mir, der schon versucht, mich am Laufen zu hindern. Bevor ich noch überlegen kann, in welcher Reihenfolge jetzt welche Bewegungen zu machen sind, hebt es mich von den Beinen. Fast automatisch setze ich mich in den Sitzgurt. Krampfhaft halte ich die Bremsleinen vor der Brust fest. Habe ich nun, wie empfohlen, nach oben gesehen? Ich glaube nicht. Aber was unter mir ist, ist viel interessanter.
Das Geschwätz am Starthang bleibt hinter mir und schräg über mir zurück. Der Boden gleitet unter mir vorbei, nur wenig schneller als auf meinen Waldläufen, und er fällt rasch weiter in die Tiefe. Über mir rauscht es stetig und vertrauenerweckend. Ich merke rasch, wie sich auch jede unwillkürliche Handbewegung den Bremsleinen mitteilt und meine Flugrichtung beeinflußt.
Es ist wahr, ich fliege richtig! Irgendwie erinnert es mich an eine Talfahrt mit einem Sessellift, nur daß es bei einem Sessellift nicht so rauscht und flattert.
Acht Meter hoch, zehn Meter? Der Nebel graut den Boden unter mir ein. Ob ich ihn aus den Augen verlieren werde? Ob ich Kurven probieren kann, oder ob dabei die Gefahr der Kollision mit anderen droht? Ich weiß es nicht. Plötzlich bin ich allein. Andere Gleitschirmflieger könnte ich nicht hören, weil das Rauschen meines Schirmes deren Rauschen übertönen würde. Ich müßte sie schon sehen.
Der Flug ist vollkommen ruhig - eine Konsequenz der geringen oder fehlenden Winde in der Welt der Granitbeißer. Turbulenzen würde ich jetzt auch nicht mögen. So aber bin ich bereits dabei, von der Panik in den Genuß hinüberzuwechseln.
Ich fliege immer noch. Unter mir sehe ich zwei, die bergan marschieren, einen hastig zusammengelegten Gleitschirm zwischen sich tragend. Es müssen schon zwanzig Meter Flughöhe sein. Wie lang der Übungshang wohl noch ist? Ich überlege mir, daß, solange ich noch an relativer Flughöhe gewinne, ich mich noch über dem abschüssigeren Teil des Übungshanges befinden muß. Da ist noch lange keine Gefahr, in die Bäume zu geraten.
Dann aber scheint die Zunahme der Höhe zu stagnieren. Ich ziehe die linke Bremsleine leicht, um eine Kurve einzuleiten. Das geht hervorragend. Eigentlich dachte ich an eine volle 360-Grad Kurve, aber dazu ist die Flughöhe nicht mehr groß genug. So wird nur eine S-Kurve daraus. Dann habe ich nur noch sieben Meter. Sechs - fünf - Zeit wird's, die Bremsleinen weiter zu ziehen. Nicht zuviel - ich will jetzt noch keinen Strömungsabriß bewirken. Erst etwas mehr als einen Meter über dem Boden ziehe ich die Bremsleinen zwischen die Oberschenkel und fange mit den Laufbewegungen an, sorgfältig die Knie zu jedem Zeitpunkt durchgedrückt haltend. Sekunden später laufe ich wirklich, immer noch überrascht, wie einfach es war, tangential auf dem Hang aufzusetzen. Dann fällt mir der Schirm auf den Kopf und nimmt mir die Sicht.
41.2 Höhenflug
Ich weiß jetzt, daß ich ein neues Hobby habe. An diesem Tag starte ich noch acht Mal. Osont hat sich verzogen, als er gesehen hat, daß ich mich doch traue. Mir ist es recht. Und ich gewinne etwas Praxisübung im Gleitschirmfliegen in einer der fremdartigsten Umgebungen, die sich ein Mensch vorstellen kann: In einer nebelverborgenen Urwelt fünftausend Meter unter dem Meeresspiegel, unter Menschenfressern, die teilweise wie Kinder von derselben Tätigkeit nicht genug bekommen können, das Ganze unter den toten Augen zweier gekreuzigter Rebellenspione und zweier gekreuzigter Gleitschirmpiloten, die angeblich etwas falsch gemacht haben.
Tatsächlich ist die Abnutzung der Gleitschirme inzwischen gering. Vielleicht nach jedem zweiten Flug muß irgend etwas gemacht werden, eine Naht nachziehen oder eine Trageleine neu einspleißen. So alle zwanzig Flüge kommt es jetzt vor, daß größere Reparaturen erforderlich sind. Immer noch ist kein schwerer Unfall vorgekommen, das heißt, ein Unfall mit Todesfolgen oder mit schweren Verletzungen. Ich sehe, daß einige der Häufigflieger schon etwas leichtsinnig werden.
Zwischen 11 und 12 Uhr erfahre ich durch Zufall, daß jemand das erste Mal einen Start von der Holzrampe über den Wolken unternehmen möchte. Das muß ich mir natürlich auch ansehen.
An der Holzrampe angekommen sehe ich, daß noch mehr Meuterer diese Idee hatten. Es geht ganz schön eng auf dem schmalen Pfad nach oben zu. Wer stellt eigentlich das weitere Papier her, wenn alle immer nur anderen beim Gleitschirmfliegen zusehen? Wenigstens eine Sorge, die ich Osont überlassen kann. Er ist übrigens auch schon da, also geschieht dieser neue Versuch mit seiner Zustimmung.
Es dauert eine Weile, weil immer noch palavert wird. Der Einweiser Oltar ist auch da und gibt detaillierte Anweisungen über einen Vorgang, den er eigentlich selbst auch noch gar nicht so genau kennen kann.
Der Start auf der Rampe ist nur mit Hilfestellung möglich, weil nicht genug Platz da ist, den Schirm sauber auszulegen. Das ist natürlich kein prinzipielles Hindernis. Allerdings stellt sich heraus, daß eine Rampe für die Hilfestellung auch ganz zweckmäßig gewesen wäre.
Ich bin nicht allzu nahe am Ort des Geschehens, weil sich mir da zu viele Menschen drängen. An einer erhöhten Stelle setze ich mich und sehe mir die ganze Szenerie von oben an. Außerdem werfe ich ein paar Blicke auf die Bergspitze am Rand von Casabones, wo ich vor kurzem jemanden zu sehen geglaubt habe. Diese Bergspitze sieht jetzt völlig unberührt und einsam aus.
Endlich passiert es - unter mir, in dem Gewusel der Menge ist eine schnelle Bewegung, und der Schirm, der eben noch schlaff von einer ganzen Reihe von Menschen hochgehalten wurde, steigt über deren Köpfe auf. Ich weiß noch nicht, wer den Versuch wagt - ich kann ihn von hinten nicht erkennen - aber sein Absprung von der Rampe sieht perfekt aus.
Wegen der Steilheit des Berges an dieser Stelle hat er schon wenige Sekunden nach dem Start Dutzende von Metern unter sich, dann schon die mehr als hundert Meter bis zur Wolkenobergrenze. So hoch über dem Boden war noch kein Granitbeißer.
Zunächst fliegt er gerade aus, besinnt sich dann aber auf die ungefähre Position des Übungshanges und beginnt, sich herunterzuspiralen. Nach allgemeiner Ansicht ist es die beste Strategie, in der Nähe der Stelle in die Wolkendecke einzutauchen, wo der Bergpfad aus der Wolkendecke herauskommt. Wenn man gleich danach vom Berg wegfliegt, dann müßte man ungefähr über dem Übungshang sein. Wenn man in dem Nebel noch keinen Boden sieht, dann muß man sich eine weitere Windung hinunterspiralen, aber dann sollte man bald Bekanntes sehen. Ich denke, diese Strategie ist naheliegend, und deshalb habe ich mich bei ihrer Diskussion auch gar nicht eingemischt.
Eine Weile sehen wir dem Gleiter, der sich jetzt in einer Entfernung von mehreren hundert Metern von uns befindet, zu. Dann verschwindet er in den Wolken. Einige der Leute beginnen mit dem Abstieg. Ich auch.
Unten angekommen erfahren wir, daß der Pilot heil gelandet ist - zwischen zwei Papierherstellungsschalen. Das gibt zu denken, wie weit man sich da in der Orientierung verschätzen kann. Der Pilot erzählt, daß er von dem Übungshang überhaupt nichts gesehen hat. Das erste, was er vom Boden gesehen hat, waren eben diese Papierschalen.
Als Osont das hört, zuckt er mit den Achseln. Dann muß man eben ein paar systematische Experimente machen, um eine genaue Kursanweisung für die Hochabsprünge zu ermitteln, na und?
Die Schlafperiode nähert sich. Weil immer noch alle Zuwege zu den Arbeitsstätten und dem Übungshang bewacht werden, muß ich wieder am Sumpfteich schlafen. Ich kann es nicht ändern. Verzeih mir, Charmion.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
Zurück zu meiner Hauptseite