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******** 039. Tag: Dienstag 95-09-26 ********

39.1 Der Bau der Hochrampe

Osont ist am Übungshang. Er verfolgt das Geschehen dort sehr interessiert und ist kaum loszueisen. Zunächst interessiert ihn mein Bericht überhaupt nicht. Er ist, genau wie die anderen, am Flugbetrieb interessiert, und ich sehe ihm an, daß sich in ihm zwei Wünsche streiten: Der Wunsch, es baldmöglichst auch einmal selbst zu probieren, und der Wunsch, einen eventuell blamabel schlechten Flug zu vermeiden oder dabei sogar zu Schaden zu kommen.

Diese Entscheidung kann ich ihm nicht abnehmen. Hier wird jeder üben müssen. Jetzt aber möchte ich mit ihm über mein Erlebnis von eben reden. Es gelingt mir schließlich auch, ihm die wesentlichen Dinge zu erzählen.

Er ist aber nicht interessiert. Daß Rebellengruppen in den Wäldern sind, das weiß er. Na und? Warum sollen die sich nicht auch da herumtreiben, wo ich gewesen bin? Ich bin doch selber schuld, wenn ich mich absondere. Und wenn ich überhaupt nichts mit eigenen Augen gesehen habe, was habe ich dann an konkreten Dingen überhaupt zu berichten?

Der mögliche Absprunghang interessiert ihn noch weniger. Schließlich hat Casabones einen Umfang von über 30 Kilometern - da muß sich eine geeignete Absprungstelle finden lassen.

Nachdem Osont sich aus dieser wenig ergiebigen und kurzen Unterredung wieder entfernt hat, wird mir klar, daß mein Wert für das Unternehmen jetzt gesunken ist. Produktion und Erprobung der Gleitschirme laufen, der Übungsbetrieb wird sich von nun an einspielen. Was man noch nicht weiß, kann man durch Experimente herauskriegen. Das Prinzip hat er jetzt gefressen. Und damit ist meine Expertise entbehrlich. Das ging ja schnell. Dann muß ich jetzt aufpassen, daß ich bei ihm nicht in Ungnade falle.

Die Gefahr ist aber so groß nicht, da all die anderen Meuterer mich nach wie vor für eine Schlüsselfigur der Gleitschirmflucht halten, und Osont kann es sich zum derzeitigen Zeitpunkt nicht leisten, etwas gegen diesen Trend zu unternehmen. Wo ich mich auch blicken lasse, immer wieder wenden sich die Männer mit Fragen an mich.

Jetzt komme ich auch dazu, mir den Mann mit dem Beinbruch anzusehen. Der liegt auf einem Schlaflager bei den Sumpfteichen, ist aber sonst wohlauf. Nur die Schmerzen im geschienten Bein hindern ihn, sofort wieder aufzustehen. Da ist nicht viel zu tun. Das Schienen eines gebrochenen Beines ist also bekannt, und ob der Bruch einfach oder kompliziert ist und ob die Knochen wieder richtig positioniert sind, das kann ich sowieso nicht beurteilen. Auch wenn es eine Komplikation wie Fettembolien gegeben hätte, hätte ich ja auch nichts tun können.

Ich versuche, ihm nahezulegen, daß er das Bein wenigstens einige Tage lang überhaupt nicht belasten soll. Ich glaube nicht, daß er mir zuhört. In der kurzen Zeit, in der ich an seinem Lager stehe, erzählt er mir den Hergang seines Unfalles drei Mal.

Keine dieser Erzählungen gleicht der anderen, nur der Gleitschirm kommt in allen dreien vor. Wie die Kinder!

Es drängt mich, wieder etwas alleine zu sein, weil ich ja doch nichts tun kann. Andererseits habe ich Bedenken - jetzt hatte ich schon zweimal eine Fast-Begegnung, bei der ich praktisch wehrlos war. Die Fast-Begegnung damals im Wald nahe an Oom's Platz, als Charmion mich nahrungsmäßig eingewiesen hat, zähle ich dabei gar nicht.

Ich komme nicht dazu, mich abzusetzen. Als ich wieder zum Übungshang gehe, um mich dann eventuell über den Berg zu Charmion's Platz zu begeben, kommt Osont auf mich zu. Er möchte jetzt schon die längeren Übungsflüge einleiten, das heißt also diejenigen Flüge, die über der Wolkenschicht beginnen. Ich soll da aufpassen, weil es hinten und vorne an qualifizierten Personal mangelt.

Das ist schlecht. Sowie am Übungshang über der Wolkengrenze ständig Übungsbetrieb ist, kann ich mich nicht mehr unbeobachtet über den Berg entfernen. Mist.

Ich kann es nicht ändern. Weil ich weiß, wie unwegsam es da oben ist, will ich gleich eine Holzbahn zum Anlaufen bauen lassen. Deshalb muß ich mir einige Leute zusammensuchen, die bisher mit den Holzeinschlagarbeiten und den Tischlereiarbeiten an den Papierherstellungsmaschinen befaßt waren. Außerdem muß Holz da hinauf getragen werden.

Damit vergeht der ganze Rest des Tages. Für die erste Über-Wolken-Startstrecke wähle ich eine Stelle, die vielleicht 120 Meter über der Wolkenobergrenze ist. Man kann sich von dort aus noch leicht orientieren und sich merken, wo unter dem Nebel der Übungshang liegen muß, oder man kann es sich erklären lassen. Die Stelle, die ich ausgesucht habe, ist ein horizontaler Platz von vielleicht vier Metern Länge und eineinhalb Metern Breite. Das reicht natürlich nicht für den Start, und deshalb wird dieser Platz nach unten durch einen Laufsteg verlängert, der zunehmend abschüssig wird. Wegen der Hangsteilheit muß dieser auf einem talwärts immer höher werdenden Gerüst gebaut werden - da ist für die Tischlerleute ganz ordentlich Arbeit zu leisten. Es wird wohl heute nicht fertig. Ich weiß auch gar nicht, wie lang diese Anlaufstrecke nun mindestens werden muß - wer am Ende nicht abhebt, wird wohl einige Meter nach unten fallen. Zwanzig Meter müßten schon reichen, aber das muß natürlich unten auf dem Übungshang ausprobiert werden.

Während die Leute sägen und hämmern und Pfähle im Steinboden verkeilen, habe ich Muße, mich auf einem Platz etwas höher am Hang nieder- und meinen Blick schweifen zu lassen. Bei der Muße bleibt es nicht, denn nach kurzer Zeit durchzuckt mich wieder ein Schreck:

Da ist ein Berggipfel, der sich kaum aus der Wolkendecke heraushebt, also deutlich niedriger als unser Platz ist. Er ist etwas mehr als einen Kilometer entfernt, und zwar in Gegenrichtung zur Mitte von Casabones, also nahe am Rand. Meiner Schätzung nach müßte dieser Berggipfel zu erreichen sein, wenn man der Schlucht folgt, in der ich vor kurzem den Rand von Casabones erreicht habe, dann aber dieselbe nicht nach links, sondern nach rechts verläßt.

An diesem Berggipfel, der nicht mehr als ein Hügel sein kann und der gelegentlich unter den Wolken vollständig verschwindet, hat sich etwas bewegt. Ich sehe genau hin, aber diese Wahrnehmung ist nicht zu wiederholen.

"Wer von euch hat die besten Augen?" frage ich die arbeitenden Männer. Die Antwort ist wenig ergiebig, weil die meisten von ihnen meinen, sie könnten am besten gucken. Ich sage ihnen, die sollen mir Bescheid sagen, wenn sie auf den umliegenden Bergen zufällig Menschen sehen. Ich sage ihnen nicht, welcher Berg mich da speziell interessiert, damit keine Falschalarme provoziert werden.

Aber es nutzt nichts. Weder ich noch einer der Männer beobachten an diesem Tage noch etwas besonderes.

Und ich bin mir sicher, daß ich mich nicht geirrt habe. Auch, wenn in meinem Alter Unreinheiten im Glaskörper des Auges schon vermehrt herumschwimmen und Schwankungen der Blutversorgung im Ozipetallappen schon mal kleine optische Halluzinationen auslösen können, so kenne ich diese Erscheinungen allmählich. Die Fliege, die man aus den Augenwinkeln sieht und nach der man dann vergeblich das ganze Zimmer absucht ist ein Beispiel. Aber das, was ich eben gesehen habe, war etwas anderes. Das war etwas wirkliches.

Als die Männer so um 10 Uhr schließlich nach und nach Hämmer und Dübel beiseite legen, ist dieser Arbeitstag gelaufen. Ich gehe mit den letzten nach unten und dann, in einem unbeobachteten Moment, wieder hinauf. So kann ich doch noch über den Berg zu Charmion's Platz wandern.

Bei dieser Wanderung halte ich genau Ausschau, solange ich über den Wolken bin. Aber ich sehe überhaupt nichts besonderes.

Auch auf dem Fahrweg hinter dem Dorf, am Mauerdurchbruch und auf dem Fahrweg zwischen Tor und ehemaligen Fort bin ich allein, und ich bin sicher, daß mir niemand folgt.

Als ich mich aber dem ehemaligen Fort nähere, höre ich plötzlich das Gepolter von Geröll. Es kommt von dort, wo die Zugbrücke heruntergestürzt ist. Ich bin zu dem Zeitpunkt noch einige Meter von der Felskante der Schlucht entfernt, und ich halte mich auch in der Entfernung, obwohl die Versuchung, in die Schlucht hinunter zu sehen, groß ist. Leise bewege ich mich weiter in Richtung Charmion's Platz.

Dort ist alles unverändert, sowohl in Oom's verlassener Hütte als auch an Charmion's Steinhaufen. Auch mein provisorisches Lager scheint unberührt, nur daß die Blätter langsam weiter austrocknen. Ich lege einige weitere Blätter, die ich unterwegs abgepflückt habe, hinzu - übliche Routine. Nichts deutet auf eine Bedrohung hin. Trotzdem bin ich leise den Klippenpfad hinuntergestiegen, und als ich meine an Charmion gerichteten Selbstgespräche führe, spreche ich so leise, daß man mich in mehr als einigen Metern Entfernung nicht hören kann.

Die Ereignisse des Tages sind rasch erzählt. Dann bleibt nur noch Schweigen. Ich habe plötzlich das Gefühl, daß ich nicht mehr allzuoft hierherkommen werde. Vielleicht überhaupt nicht mehr. Was ist, wenn die Rebellen aus den Wäldern die Gegend zunehmend unsicher machen?

Charmion, mit dir wäre das alles einfacher. Du wüßtest, was zu tun ist. Warum hast du mich verlassen? Warum.

39.2 Smalltalk

Ich wache um 20 Uhr wohlausgeschlafen auf. Diesmal entscheide ich mich, den normalen Weg zu den Arbeitsstätten zu gehen, nicht über den Berg. Ich will mal sehen, ob es tatsächlich eine Stelle im Dorf gibt, an der jemand genau beobachtet, wer vorbei kommt. Vielleicht gelingt mir das, wenn ich jetzt aus einer unerwarteten Richtung komme.

Der Magen knurrt, aber ich kann Charmion nicht so einfach verlassen. Es ist schon wieder da, das irrationale Gefühl, nicht mehr hierher zurück zu kommen. Es ist wirklich albern, aber zusammenhanglos erzähle ich, was ich glaube, ihr noch nicht erzählt zu haben. Dinge aus meiner Kindheit, Pläne für die Zukunft. Und noch etwas, was ich ihr nie gesagt habe, und dann noch etwas.

Meine Charmion. Ich werde dich nicht vergessen.

Und jetzt geh, Herwig. Rede nicht mit den Steinen. Sonst wirst du noch gaga. Sieh zu, daß du dir da oben etwas in den Pansen haust, und dann kümmere dich um die Gleitschirme. Das ist dein Weg nach Hause! Hier ist Vergangenheit. Du hast es ja selbst Vergangenheit werden lassen. Du hast sie ja sterben lassen. Geh endlich. Würde sie auch sagen.

39.3 Aufbruchstimmung?

Es gibt nichts von Bedeutung, was mir auf dem Weg zum Dorf und durch das Dorf auffallen könnte. Auch am Platz des ehemaligen Oberfort ist alles ruhig. Ich schiele über den Rand der Schlucht auf die Trümmer der Zugbrücke hinunter, aber da ist nichts auffällig. Abgesehen davon, daß ich keine menschlichen Überreste mehr identifizieren kann, aber das muß nichts bedeuten.

Heute habe ich wieder den Eindruck, daß der Weg zwischen Charmion's Grab und dem Dorf der sicherste Spaziergang der Welt ist. Wie einem die Stimmungen und die Ausgeschlafenheit die Welt verändern können!

An den Arbeitsstätten ist eine Hektik, als ob der ganze Fluchtaufbruch direkt bevorstände. Dabei erfahre ich am Übungshang, daß wir jetzt erst sieben Gleitschirme haben, und daß weitere neun in Arbeit sind, oder sogar noch mehr, wenn man all die Zuschneider mitzählt. Inzwischen sind Zelte für die Aufbewahrung der Gleitschirme gebaut worden - wie ich es ihnen gesagt habe, es gibt immer Verwendungszwecke für Material, das bei der Qualitätsprüfung für die Gleitschirme durchgefallen ist.

Ist das nun eine positive Entwicklung, oder sind wir weit hinter dem, was man mit richtig koordiniertem Aufwand erreichen könnte? Bei einer durchschnittlichen Herstellungsrate von drei Gleitschirmen pro Tag brauchen wir drei Jahre, um für alle einen Schirm bereitzustellen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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