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******** 036. Tag: Samstag 95-09-23 ********

36.1 Erste Anlaufübungen

Wir drei tragen das Ding zum designierten Übungshang. Der ist inzwischen soweit freigeräumt worden, daß er an Brauchbarkeit grenzt. Wir können ziemlich weit hinauf gehen. Für diesen Versuch hätte sicher auch ein Fahrweg genügt, aber Okr will unbedingt hierher.

Ich gebe Anweisungen. Oios und ich halten den Gleitschirm so zwischen uns, daß er nirgends den Boden berührt. Okr hat das zusammengebundene Bündel sämtlicher Trageseile vor der Brust und steht soweit hangabwärts von uns, daß die Trageseile nur leicht durchhängen. Ich gebe das Kommando, und wir beginnen gemeinsam zu laufen, und zwar so, daß wir unseren relativen Abstand voneinander halten.

Die schlaffen Papiersäcke zwischen mir und Oios blähen sich auf. Wir halten das, was einmal die Vorderkante des Gleitschirmes sein soll, etwas weiter hangabwärts. Und schneller laufen wir. Und noch schneller.

Das Papier windet sich fast aus unserer Hand, die Trageseile straffen sich. Okr muß jetzt die vorwärtstreibende Kraft aufbringen, Oios und ich passen nur noch auf, daß der Schirm nicht den Boden berührt.

"Okr, die vorderen Seile mehr anziehen! Über die Schulter!" rufe ich.

Kaum, daß die Trageseile anders positioniert sind, merke ich, daß der Schirm nach oben will. An Oios's Gesicht merke ich, daß er das auch spürt.

"Loslassen!" rufe ich spontan, und: "Okr! Lauf, was du kannst!"

Es ist phantastisch. Die ungeordnete Papierwolke ruckt nach oben. Auch wenn sie noch lange nicht die bekannte Matrazenform hat, jetzt sieht es so aus, als ob Okr tatsächlich mit einem Gleitschirm läuft. Und wie er läuft! Und wie diese Karikatur eines Gleitschirmes rauscht und flattert! Das ist fast das, was am meisten Hoffnung macht!

Der Schirm ist instabil, er pendelt von rechts nach links und zurück, mehrmals dicht davor, auf dem Boden aufzuschlagen. Okr rennt so schnell er kann, und er scheint ein gewisses Talent zu haben, die Instabilitäten des Schirmes auszugleichen. Die Pendelbewegung wird schwächer.

Weiter unten am Hang stehen einige Männer, die uns mit verhaltener Neugier gefolgt sind und beobachten uns. Was immer jetzt passiert, es wird sich rumsprechen.

Okr rennt und macht Sprünge, er jauchzt auf. Ich sehe es deutlich: Die Sprünge sind lang und gestreckt. Er muß einen deutlichen Auftrieb spüren! Er rennt immer schneller, nur mühsam können wir Schritt halten, obwohl wir ja nicht durch den Schirm gebremst werden - aber man muß auf diesem Übungshang immer noch darauf achten, wo man hintritt. Okr tut das schon nicht mehr - vielleicht meint er, er hebt gleich ab und hat es nicht mehr nötig, auf Steine und Wurzeln und Buschreste und ähnliche Hindernisse zu achten!

Ganz soweit ist es natürlich nicht. Er hakt mit seinem Fuß hinter eine Wurzel - ich könnte jetzt natürlich sagen, ich habe es kommen sehen - und schlägt der Länge nach hin. Mit dumpfen Knall reißt da oben eine Naht. Dann flattert der Schirm erschlaffend nach unten.

"Ich habe es gespürt, ich habe es gespürt!"

Okr steht auf, an der Stirne blutend. Er merkt es nicht. Er ist restlos begeistert.

"Ich habe es gespürt! Er wollte mich heben!"

Er kann sich kaum beruhigen. Gemeinsam begutachten wir das, was vom Schirm übrig geblieben ist. Es sieht schlimm aus: Eine Naht ist ganz aufgerissen, so ziemlich alle anderen Nähte sind gelockert und geweitet, zwei Trageseile sind gerissen und eine der Luftkammern ist geplatzt - einfach so. Mitten durch das Papier durch.

Okr sieht das. Aber er ist glücklich. Auch Oios ist angesteckt, obwohl er nichts gespürt hat, sondern bei diesem für die Welt der Granitbeißer vielleicht historischen Moment bloß Zuschauer war.

Auch ich bin für einen Moment glücklich. Es sieht so aus, als könne man auch in einer hoffnungslos erscheinenden Wirklichkeit doch etwas erreichen, wenn man es nur hartnäckig genug probiert. - Habe ich vielleicht nicht hartnäckig genug probiert, Charmion vor dem Kreuz zu retten?

"Okr!" sage ich, "Du bist jetzt Chef der Luftwaffe von Casabones! Du wirst der erste sein, der richtig fliegt, und du wirst die Flugausbildung aller anderen leiten und organisieren! Und natürlich die Herstellung ..." ich deute auf den Papierhaufen am Boden, "denn da ist noch viel zu tun!"

Wir verabreden das weitere Vorgehen für morgen. Sie hätten noch so viele Fragen, aber es ist Schlafenszeit. Außerdem will ich allein sein.

Als ich mich entferne, habe ich aber das Gefühl, Freunde gewonnen zu haben.

36.2 Die Einsamkeit der Atheisten

Die Rückkehr zum Grab an Oom's Platz ist bitter. So gerne würde ich Charmion von dem neuen Erfolg erzählen. Wie schön es war, als ich noch zu ihr ins Turmzimmer geschlichen bin und ihr von den Ereignissen des Tages berichtet habe. Und wie wenige Tage sind das nur gewesen!

Ich rede mit dem Steinhaufen. Ich wäre jetzt so gerne in irgendeiner Form gläubig, so gerne würde ich wollen, daß sie jetzt da irgendwo ist und mich hört. Aber ich bin es nicht.

Wir Atheisten sind entsetzlich einsam, wenn alle unsere Lieben gestorben sind. Das kann sich ein gläubiger Mensch doch gar nicht vorstellen.

Ich falle in einen langen Schlaf. Und irgendwo in meinen Träumen - am nächsten Tag erinnert man sich nicht mehr genau, wo - da ist Charmion noch lebendig und spricht mit mir. Meine schöne Charmion! Das Aufwachen ist wieder bitter. Wenn wir doch nur zusammenbleiben könnten!

36.3 Lilienthal

Kurz nach 11 Uhr wache ich ganz und vollständig auf. Die letzte Illusion von Charmion's wirklicher und lebendiger Nähe verflüchtigt sich. Ich sehe den Steinhaufen an, der schon eine so vollständige Endgültigkeit ausstrahlt, als wolle er mich für meine Phantasien rügen.

Auf, Herwig, gehe hin und arbeite, damit du wenigstens die Irene wiedersiehst. Ich gebe mir den Stoß und mache mich auf den Weg.

Und doch fühle ich mich elend, wenn ich diesen Steinhaufen verlasse, weil ich damit auch Charmion irgendwie verlasse. Genauso werde ich mich elend fühlen, wenn ich wieder hierherkomme, und der Steinhaufen mich daran erinnert, daß Charmion wirklich tot ist.

Ist das das, was die Psychologen als 'Trauerarbeit' bezeichnen? Die semantischen Zusammenhänge, die im Bewußtsein gespeichert und integriert sind, langsam an das unvermeidliche und unabänderliche anzupassen? Solange, bis die Welt wieder in Ordnung und im Gleichgewicht ist, nur eben ohne eine Charmion darin?

Oben im Wald, beim Essen, lasse ich mir viel Zeit. Ich versuche, an Dinge aus meinem Leben da oben zu denken, um dieser Welt hier zu einer vorübergehenden Erfahrung zu relativieren. Ich versuche, mir klarzumachen, daß ich hier nicht hingehöre, sondern daß ich hier genauso zufällig hineingeraten bin wie in einen Kinofilm - ein sehr realistischer, farbiger, glaubwürdiger und intensiver Kinofilm. Ob es mir tatsächlich so vorkommen wird, wenn wir je wieder nach Hause kommen?

Kurz vor 14 Uhr mache ich mich auf den Weg ins Dorf und zu den Arbeitsstätten. Dabei habe ich das erste Mal einen anderen, beunruhigenden Gedanken: Für die Flucht von Casabones bin ich jetzt zu wertvoll. Mit dem halben Erfolg von Okr gestern ist das vielen schon deutlich geworden, und die Kunde wird immer weiter umlaufen. Wenn zum Beispiel die Rebellen, aus welchem Grunde auch immer, die Fluchtvorbereitungen ernsthaft stören wollten, dann könnten sie jetzt auf die Idee kommen, meiner Person habhaft werden zu wollen.

Ich zwinge mich deshalb, auf dem Wege zu den Arbeitsstätten meine Umgebung genau zu beobachten. Vielleicht sollte ich in Zukunft auch andere Wege wählen.

Aber es geschieht nichts beunruhigendes. Warum sollten die Rebellen auch genauer wissen, wo ich mich gerade aufhalte, als etwa Osont's Leute?

Es ist eine andere Stimmung unter den Männern, das spüre ich beim Ankommen sofort. Eine hoffnungsvolle Stimmung. Ist der halbgelungene Versuch von gestern Ursache dafür? Manchmal werden sogar Blicke in meine Richtung geworfen, die an Freundlichkeit grenzen. Oder hat Okr am Ende in den wenigen Stunden meiner Abwesenheit noch mehr Erfolge erzielt?

Er hat nicht, aber er ist nahe dran. Am Übungshang sind viele Männer versammelt, allerdings auch eine ganze Menge bloß, um zu gaffen. Osont ist auch da. Als ich näherkomme, sehe ich den riesigen Papierberg, an dem mehrere Männer an der Arbeit sind, darunter natürlich Okr, Oios, Oam, und sogar Osont verfolgt, wenn auch mehr kommentierend, das Geschehen.

Der Gleitschirm hat sich um mehrere Luftkammern vergrößert. Ich sehe, daß die Nähte dichter gesetzt werden, was natürlich viel Arbeit macht. Aber irgendjemand hat wohl die Einsicht gehabt, daß die Nähte mindestens so stark sein müßten wie das eigentliche Planenmaterial.

Nebenbei erfahre ich von Osont, der fast schon den Eindruck macht, als hätte er den Gleitschirm erfunden, daß wenigstens eine Holzwalze für die Papierherstellung gebaut worden ist. Ob und wie gut sie funktioniert weiß ich nicht. Immerhin ist heute auch mehr Material als gestern vorhanden - die Produktion läuft also.

Ich erinnere mich, daß beim ersten Laufversuch von Okr sich nicht alle Luftkammern des halben Gleitschirmes gleich geöffnet haben. Vielleicht könnte man dem entgegenwirken, indem man zwischen den verschiedenen Luftkammern kleine Öffnungen anbringt, die zumindestens genug Luft durchlassen, um benachbarte Luftkammern wenigstens soweit aufzublähen, daß sie vom normalen Fahrtwind zu voller Größe und Funktion aufgeblasen werden.

Okr ist skeptisch. Vielleicht denkt er, daß jedes Loch in der Struktur irgendwie die Tragfähigkeit wieder senken muß. Ich schlage ihm noch vor, daß man die Ränder solcher nachträglich eingeschnittenen Löcher zwischen den Luftkammern durch Ringnähte oder Saumverstärkungen zugentlasten und gegen weiteres Einreißen sichern kann. Überhaupt sollte jede Papierkante so gesichert werden. Ich weiß nicht genau, ob Osont mir das abkauft, aber die Männer, die beim Zusammenschneidern sind, greifen diese Idee rasch auf.

Der Gleitschirm, den sie hier zusammenbauen, hat jedenfalls ausreichende Größe, sogar, wenn man den Luftdruck auf der Erdoberfläche voraussetzen würde - hier ist dieser aber doppelt so hoch. Daran würde es also nicht liegen, wenn man damit nicht fliegen kann. Wenn man das aber doch kann, dann wird es jetzt gefährlich. Fehler, die sich im Flug offenbaren, können tödlich sein.

Allerdings - ich spreche es nicht offen aus, aber ich habe eigentlich von Anfang an damit gerechnet - wenn man in einer solchen Größenordnung eine neue Technik einführt, ohne Patentlösungen für alle auftretenden Probleme zu bieten, dann sind Unfälle unvermeidlich. Ich fürchte, bis wir genau wissen, wie man Gleitschirme richtig baut und richtig fliegt, wird es einige Dutzend Tote und Schwerverletzte geben.

Die Aufhängung des Gleitschirmfliegers hat Okr jetzt so konzipiert, daß sich die Hälfte der Tragleinen vom rechten Teil des Schirmes mit der Hälfte der Tragleinen von dem linken Teil des Schirmes zu einem dicken Seil verwinden, in das man sich einfach hineinsetzt. Jedenfalls stellt Okr sich das so vor. In wieweit das unseren professionell hergestellten Gleitschirmen entspricht, weiß ich nicht. Vor allen Dingen hängt das aerodynamische Verhalten des Schirmes dabei sehr empfindlich von der Länge der einzelnen Trageleinen ab. Wenn man erst einmal in der Luft ist, kann man daran nur wenig ändern. Einzelne Leinen kann man abgreifen und anziehen, um auf diese Weise zu steuern. Eine falsche Gesamteinstellung kann man dann nicht mehr korrigieren.

Aber wahrscheinlich wird man dann nicht einmal abheben können - hoffe ich.

Aus verschiedenen Bemerkungen erfahre ich, daß sie hier schon stundenlang an der Arbeit sind. Insbesondere Okr und Oios müssen einen Teil ihrer Schlafperiode geopfert haben. Das ist wahre Begeisterung! Schon deshalb müßten wir Erfolg haben.

Ich frage Osont nebenbei über die Rebellengruppen, die sich von uns abgesetzt haben, aber er antwortet ausweichend. Es interessiert ihn nicht, oder er will mir nichts sagen. Also gibt es sie noch, denn sonst hätte er mit dieser Neuigkeit aufgetrumpft.

Diese Rebellen machen mir Sorgen. Sie sind wahrscheinlich ja genauso interessiert daran, von Casabones wegzukommen, und auch sie werden nicht den Weg über den Schwebenden Berg nehmen. Wenn sie sich aber weiterhin von uns fernehalten - aus Abneigung gegen Arbeit oder aus welchen Gründen jetzt immer - dann gibt es eigentlich nur die logische Kosequenz, daß sie uns irgendwann mit Gewalt die Früchte unserer Arbeit nehmen wollen, um dann selbst Casabones zu verlassen. Sie wissen nicht, daß das illusorisch ist, da man das Gleitschirmfliegen erst einmal trainieren muß, bevor diese Flucht Aussicht auf Erfolg hat.

Osont muß das wissen, als politischer Kopf. Das sind die Dinge, die einem Machtmenschen leichter verständlich sind als Aerodynamik.

"Wir müssen dann" sage ich zu Okr so, daß es auch Osont hören kann und ebenso einige der Umstehenden, "Buch führen darüber, wer wieviele Übungsflüge absolviert hat. Wir können den Gesamtstart von Casabones weg nicht wagen, wenn nicht wenigstens fünf oder zwei mal fünf Flüge von jedem absolviert worden sind!"

Okr nickt beiläufig. Regelmäßiger Übungsbetrieb ist noch weit in der Zukunft. Da müssen erst eine ganze Reihe von Übungsschirmen zur Verfügung stehen, und man muß wissen, wie man diese schnell repariert.

Irgendwann wird Osont dann wieder ärgerlich. Es stehen zu viele Gaffer herum. Das heißt, zu viele Arbeitsplätze sind verwaist. Er schickt alle, die am Übungshang nichts zu suchen haben, weg. Wer nicht weiß, was er tun soll, soll den Übungshang weiter von Unebenheiten befreien. - In dem kleineren Kreis von Männern, die danach übrig bleiben, ist das Arbeiten dann leichter, besonders, als Osont selbst von der Bildfläche verschwindet.

An einigen Stellen der Schirmkonstruktion fallen mir Knoten auf. Wenn ich mich richtig erinnere, ist das eine Schwachstelle. Das Verspleißen oder Verflechten und Vernähen von Seilen ist reißfester. Macht natürlich mehr Arbeit. Mein Vorschlag trifft nicht auf Begeisterung. Ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob ich recht habe. Auch da, fürchte ich, werden wir erst mehr wissen, wenn wir die ersten Abstürze analysieren.

Der Schirm ist weitgehend fertiggestellt. Immer wieder wird er ausgebreitet und alle Stellen werden begutachtet. Okr besteht auf eine zusätzliche Naht hier und eine Naht da. Stellen, wo das Netzpapier nicht stabil aussieht, werden durch zusätzliche eingenähte Fäden stabilisiert. Es ist klar: Okr will der erste Granitbeißer werden, der fliegt, und er will dabei am Leben und unverletzt bleiben. Schon beim Versuch gestern hat er gemerkt, welche Kräfte man mit 'zartem' Papier entwickeln kann. Sein Sturz am Ende des Versuches hat ihm klargemacht, daß er sich schwer verletzen kann, wenn er etwas falsch macht.

"Vielleicht solltest du erst einmal langsam rennen, damit du unter gar keinen Umständen abhebst, sondern nur so, daß vielleicht die Hälfte deines Gewichtes getragen wird. Und dann inspizieren wir den Schirm noch einmal gründlich und verstärken alle Stellen, die sich gelockert haben!" schlage ich vor. Okr nickt.

"Dann können wir ja gleich anfangen!" sagt er.

Als wir den Schirm den Übungshang hinauftragen, behandeln wir ihn wie ein rohes Ei. Sieben Leute tragen, die anderen - insgesamt sind noch etwa zwanzig Männer anwesend - gehen nebenher. Niemand will etwas versäumen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie jemand davonflitzt. Da hat wahrscheinlich jemand den Auftrag, andere herbeizuholen, sowie sich etwas tut.

Als wir an der höchsten Stelle des Übungshanges, die noch brauchbar ist, angekommen sind, nehmen wir Aufstellung.

"Denk dran: nicht abheben! Sofort langsamer werden, wenn er dich hebt!"

Okr nickt. Irgendwie habe ich das Gefühl, er hat nicht zugehört. Auch glaube ich, daß er leicht zittert - aber es ist sicher nicht das Zittern der Angst. Oder nicht nur.

"Also: Aus dem Weg! Wir fangen an." rufe ich den anderen zu. Oios und ich tragen den Schirm wieder. Diesmal hängt er zwischen uns fast bis auf den Boden durch, weil er jetzt zu voller Größe ausgebreitet worden ist.

Fast gemessenen Schrittes setzen wir uns in Bewegung. Normale Schrittgeschwindigkeit reicht bereits aus, diese Wolke aus Papier und Stoff aufzublähen. Als sich die Trageleinen straffen, bemerke ich erst, wieviel Sorgfalt Okr darauf verwendet hat, deren Länge gleichmäßig zu halten. Auch mit der Symmetrie des gesamten Schirmes steht es besser als bei dem Versuch gestern. Okr hat Talent.

Okr läuft schneller, der Schirm drückt nach oben. Er kommt völlig vom Boden frei. Auf ein Nicken lassen Oios und ich los.

Wie ein riesiger Raubvogel entfaltet sich der Schirm über Okr. Der läuft schneller, und ich sehe, daß sich alle Luftkammern füllen. Ausnahmslos! Das Ding sieht aus wie eine Matraze, mit anderen Worten: wie ein richtiger Gleitschirm!

Einen Moment überlege ich, daß dieser Übungshang nicht ideal ist, weil er weit unten flacher wird. Eigentlich wäre es am besten, wenn die Steilheit des Hanges während des Anlaufes zunähme, zunächst wenigstens. Aber wir müssen mit dem auskommen, was wir haben, und auf dem oberen Teil des Hanges ist die Steilheit desselben leidlich konstant.

Okr macht sich im Moment keine solchen Gedanken. Er muß das Gleichgewicht halten. Er zieht den Schirm nach vorne, und der Schirm zieht nach oben. Das dicke Seil, auf dem er eigentlich im Flug sitzen wollte, zieht sich auch nach oben und bleibt ihm unter den Achselhöhlen hängen. So hätte er im Flug nicht die mindeste Möglichkeit, zu steuern. Und er läuft schneller, stemmt sich, trotz seiner ungünstigen Haltung, in die Trageseile.

Dann verliert er den Bodenkontakt!

Hilflos strampelt er mit den Beinen in der Luft herum. Ich blicke einen Moment auf die Uhr, um mir den Zeitpunkt zu merken, an dem in der Welt der Granitbeißer das erste Mal ein Mensch fliegt. Es ist 18 Uhr und 33 Minuten, Samstag der 23. September 1995. Der Tag des Lilienthals unter den Granitbeißern!

Als ich wieder aufblicke und sich meine Augen wieder auf die Ferne fokussiert haben, ist Okr schon recht weit weg. Wir sehen den Gleitschirm von oben, und er droht im Nebel nach unten am Hang zu verschwinden. Inzwischen hat Okr mit seinen Füßen eine Höhe von zwei Metern über dem Boden erreicht, und er hat eingesehen, daß die Strampelei nichts nützt.

Ist es Zufall oder die technische Begabung von Okr, Oios und Oam, daß dieser Gleitschirm ungesteuert so gut und geradeaus fliegt? Ich weiß es nicht. Ebensogut hätten wir wochenlange Versuchsserien machen müssen. Vielleicht hätten alle den Mut verloren. Vielleicht wäre ich dann auch noch auf dem Kreuz gelandet. Alles Gefahren, die jetzt teilweise abgewendet sind.

Wir rennen wie die Wilden hinter Okr hinterher, aber ein fliegender Gleitschirm hat die Geschwindigkeit eines Läufers, auch unter den erhöhten Druckbedingungen in dieser Welt. Weiter unten am Hang tauchen andere Männer auf, einige zufällig gerade in Fahrtrichtung von Okr. Panisch springen sie zur Seite, als ob sie einen Flugsaurier auf sich zufliegen sähen. Dabei sind sie vermutlich genau deshalb geholt worden, um Okr fliegen oder um ihn scheitern zu sehen!

Okr erreicht mit seinen Füßen eine Höhe von vielleicht drei Metern über dem Boden. Danach wird der Hang flacher und seine relative Flughöhe vermindert sich rasch. Er merkt es und fängt beim Aufsetzen wieder an, richtig zu laufen. Ohne zu stürzen kommt er zum Stehen, und wie ein sterbender Vogel fällt der Schirm über ihm zusammen.

36.4 Euphorie

Einen solchen ungehemmten Jubel habe ich in der Welt der Granitbeißer noch nie gehört! Plötzlich haben sie etwas geschafft, was ihre alten Unterdrücker, die Frauen, nie geschafft haben, und wovon man in der ganzen Welt der Granitbeißer noch nie etwas gehört hat: Sie können fliegen. Plötzlich passieren Dinge, die ich nur aus Beschreibungen kenne: Okr wird, kaum daß er sich von seinem Schirm befreit hat, hochgenommen und getragen. Und als wir neben dem Schirm, der auf dem Boden liegt, ankommen, passiert das gleiche mit mir.

"Paßt auf, daß dem Schirm nichts passiert!" rufe ich noch, aber ich weiß nicht, ob jemand hört. Wir werden vom Übungshang zu den Papierherstellungseinrichtungen getragen, wo die meisten arbeiten, und ich habe den Eindruck, daß ich mehr blaue Flecke bekomme als je zuvor bei den Granitbeißern. Aber der Jubel steckt mich an. Es ist ein besonderer Moment. Wie kann ich da jetzt Skepsis verbreiten? Noch sind wir nicht von Casabones herunter, noch sind die meisten Schirme nicht hergestellt worden.

Aber daran denkt im Moment keiner. Der Jubel breitet sich wie ein Lauffeuer aus. Wir werden heruntergelassen. Immer wieder muß Okr von seinem Flug erzählen. Wer nicht nahe genug steht, muß sich von denen erzählen lassen, die das Ereignis beobachtet haben. Und das Gequassel von Fragen und Antworten ist ein solches akustisches Durcheinander, wie ich es hier noch nie gehört habe. Wenn doch Charmion das noch miterlebt hätte!

Osont ist auch aufgetaucht. Sein Gesichtsausdruck ist gemischt. Es ärgert ihn, daß er nicht zugeschaut hat, und es ärgert ihn, daß Okr und ich im Moment in einer Popularitätswelle schwimmen, die er selbst so noch nie erlebt hat und auch nie erleben wird. Aber er sagt nichts, sondern läßt sich wie die anderen erzählen.

Dann muß ich eine Rede halten. Ich weiß nicht, wer auf die Idee gekommen ist, und daß dieses bei den Granitbeißern der Brauch bei besonderen Anlässen sein soll ist mir auch neu. Aber es hilft nichts, sie wollen es so. Ob ich will oder nicht, wenig später stehe ich auf einem erhöhten Standpunkt - einem der Papierbadschalen. Hoffentlich hält die das aus.

Es müssen über tausend Männer da sein, und immer noch kommen weitere aus den entfernteren Arbeitsstätten hinzu. Osont sieht mißmutig drein - seine Idee war das mit der Rede nicht.

Ich hebe beide Arme, um mir Gehör zu verschaffen. Das Gemurmel der Menge nimmt ab.

"Liebe Freunde!"

Schon falsch. Erstens sind dies nicht meine Freunde. Sie haben ja Charmion getötet. Und zweitens geht diese ihnen ungewohnte Anrede wie Butter hinunter. Es bricht schon wieder Jubel aus. Ich versuche, ihn zu beschwichtigen.

"Liebe Freunde. Ein ungewöhnliches Schicksal hat mich in eure Welt verschlagen. Ich wurde gefangengenommen und gezwungen, diese Gefängnisinsel aufzusuchen. Ich wußte zu dem Zeitpunkt nicht, daß sich hier bereits der gerechte Wille zur Freiheit Geltung verschafft hat!"

Wieder Jubel. Das gefällt ihnen. Naja, weiter im Text.

"Trotzdem. Der Weg in die Freiheit war versperrt. Es gab und gibt nur eine Lösung: Um Casabones je wieder zu verlassen, mußten Mittel angewendet werden, die diese Welt noch nicht gesehen hat. Ich bin froh, daß die Arbeitskraft und die Phantasie und die Geschicklichkeit der Menschen, die ich hier angetroffen habe, die Herstellung dieser Mittel überhaupt möglich machen!"

Pause, bis die Menge sich wieder beruhigt hat.

"Es liegt auch jetzt noch viel Arbeit vor uns. Nicht nur, daß wir statt bloß einem fast zweitausend Gleitschirme brauchen - jeder von uns muß auch lernen, damit umzugehen! Und es wird bei der weiteren Verbesserung der Gleitschirme Rückschläge geben - Unfälle, Abstürze und dergleichen. Wir müssen noch verdammt diszipliniert arbeiten!"

Weniger Jubel. Rückschläge und disziplinierte Arbeit sind keine guten Schlagworte.

"Aber dann, eines Tages, eines gar nicht so fernen Tages, das verspreche ich euch, dann werden wir am Rand von Casabones stehen, zweitausend Mann, ein jeder bereit mit seinem Gleitschirm und einem Schwert, und dann werden wir in die Tiefe abspringen, und unsere bloße Zahl wird über dem Unterfort den Himmel verdunkeln! Wir werden uns ihr Fort nehmen und ihre Schiffe, und dann werden wir aufbrechen nach Grom und uns holen, was uns zusteht, und nichts kann uns widerstehen! Nichts und niemand in dieser Welt!"

Das funktioniert. Die Menge explodiert vor Begeisterung. Die Rache an den alten Unterdrückern ist ein gutes demagogisches Konzept. Hoffentlich auch eine gute Motivation zur Arbeit.

Ich habe die Rede eigentlich noch nicht beendet, aber ich werde schon wieder von meinem Standpunkt heruntergerissen und muß mich von zahllosen Händen hochwerfen lassen. Hoffentlich bringen die mich nicht vor Begeisterung um. Jedenfalls brauche ich mir keinen Abschluß der Rede mehr einfallen zu lassen.

Es ist vielleicht nicht so sehr die Einsicht als die Mühe, einen so schweren Gegenstand wie einen ganzen Menschen ständig in die Luft zu werfen, die das ganze nach wenigen Minuten beendet. Ich darf wieder auf meinen eigenen Beinen stehen. Osont boxt sich zu mir durch.

"Wie lange dauert es denn nun wirklich?" fragt er.

"Es ist, wie ich gesagt habe. Das meiste Netzpapier, die meisten Seile und die meisten Schirme müssen noch hergestellt werden. Flugexperimente und Flugausbildung laufen an, je mehr Schirme verfügbar sind. Das dauert noch lange. Kommt drauf an, wie gut die Leute arbeiten."

"Soso." sagt Osont. Mehr ist aus ihm nicht rauszukriegen. Er verzieht sich bald wieder.

Nun macht sich bemerkbar, daß die Granitbeißer keinen Alkohol kennen. Bei uns oben hätte ein derartiger Tag in einer Fete und in einem Besäufnis geendet. Hier gehen die Leute, mangels Alternativen, wieder an ihren Arbeitsplatz zurück, nicht gerne, aber was sollen sie sonst auch tun? Zwar wird der Rest dieses Tages wohl mehr mit Reden und mit Späßen als mit Arbeiten verbracht, aber die Tätigkeiten kommen nicht ganz zum Erliegen. Und die Tätigkeiten am Übungshang schon gar nicht. Genau dahin gehe ich zurück.

Ich hatte schon die Befürchtung, daß die neugierige Menge den Schirm zerrissen hat, oder daß die Rebellen sich des Schirmes bemächtigt haben. Aber das ist nicht der Fall. Der Schirm liegt im wesentlichen so da, wie Okr ihn liegengelassen hat. Als Okr und Oios schließlich auch auftauchen - es war klar, daß sie wieder hierherkommen würden - machen wir uns sofort an die genaue Inspektion des Schirmes.

Er sieht gut aus. Die Nähte sind teilweise geweitet, aber nirgends eingerisseen, auch wenn ich an einigen Stellen den Verdacht habe, daß nicht mehr viel gefehlt hat. Auch das Netzpapier hat gehalten. Okr und Oios machen sich sofort daran, die bedrohten Stellen zu reparieren und zu verstärken. Außerdem muß man sich etwas einfallen lassen, damit man nicht aus dem improvisierten Schirmsitz herausrutscht. Ich stelle mir da eine Art Ganzkörperbegurtung vor. Wir sprechen alle Möglichkeiten durch.

Ein leichter Regen setzt ein, was trotz des Nebels auf Casabones eher selten ist. Das ist ärgerlich. Das Papier des Schirmes könnte aufweichen, und wir können bei Regen auch keine Zeichnungen machen. Provisorisch können wir den Schirm mit Papierplanen abdecken, aber wir brauchen letztlich eine Art Schuppen für die Aufbewahrung fertiger Schirme. Das müssen wir auch in die Wege leiten. Und wie das Schirmmaterial auf die ständige Feuchtigkeit durch den permanenten Nebel auf die Dauer reagiert wissen wir auch noch nicht.

Wie ich es gesagt habe: Es kommt noch viel Arbeit auf uns zu.

Der Regen läßt erst kurz nach 23 Uhr nach, und wir können weiterarbeiten. Bis dahin haben wir aber genau ausdiskutiert, wie das Gurtzeug für einen Gleitschirmflieger aussehen muß.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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