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******** 035. Tag: Freitag 95-09-22 ********
35.1 Der halbe Gleitschirm
Pünktlich um 8 Uhr wache ich auf. Lange sehe ich auf das immer gleichmäßig graue Wasser hinaus. Es ist jetzt spiegelglatt, weil wirklich kein bißchen Wind geht. Die Zeit steht still. Wenn ich jetzt nicht aufstehe, wenn ich einfach liegenbleibe? Aber Blase und Magen sorgen schon nachdrücklich dafür, daß ich dann doch aufstehe.
Ich habe keine Eile, mich so bald schon wieder den Gleitschirmarbeiten anzuschließen. Ich nehme mir einfach das Privileg, etwas mehr Freizeit zu haben. Außerdem glaube ich nicht, daß sie jetzt schon soviel Material haben, um die ersten Stoffpapierbahnen zusammennähen zu können.
Nähen? Haben sie Nadeln? Muß ich da auch noch eine Anleitung geben? Aber wenn nur ein paar Personen unter den Meuterern sind, die rudimentär etwas von Segelmacherei verstehen, dann müßte sich der Gebrauch von Nadel und Faden herumsprechen.
Charmion kannte sich in Segelmacherei aus. Wenn ich sie doch fragen könnte, wie man solche Arbeiten hier macht! Hat sie damals auf dem Mast solche Arbeiten gemacht, irgendwo in der Takelage? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich habe ein so schlechtes Gedächtnis für Einzelheiten. Charmion mit Nadel und Faden - irgendwie unvorstellbar. Zu Charmion paßt ein Schwert und nicht die Attribute gediegener Hausfräulichkeit. Und doch muß sie sich damit ausgekannt haben, denn das sind Standardwerkzeuge für die Segelmacherei.
Hoffentlich lebt die Irene noch. Es wäre zuviel, wenn ihr auch etwas zugestoßen wäre. Was soll ich machen, wenn ich sie nicht wiederfinde? Wenn ich Kunde von ihrem Tod bekomme? An bekanntem Ort? An unbekanntem Ort? Herwig, mach dich nicht verrückt - es reicht, sich um die tatsächlich eingetretenen Katastrophen zu kümmern. Die vielen 'Was wäre, wenn's kannst du jetzt doch nicht beantworten. Die Irene hat sich auch immer wieder als ungewöhnlich stabil in ungewöhnlichen Situationen bewiesen. Auch wenn man ihr das nicht ansieht. Sie wird sich behauptet haben. Da bin ich ganz sicher. Vielleicht - ich lache kurz heraus - ist sie inzwischen Kommandantin des Saurierfängers!
Schuldbewußt blicke ich zu Charmion's Steinhaufen hinüber. Das Lachen der Lebenden ist an diesem Platz nicht angemessen. Verzeih, Charmion. Was hast du gesagt? Geh mit ihr nach oben - nach Hause. Das werde ich. Ganz gewiß, das werde ich. Wenn du das gesagt hast, dann hast du es auch so gemeint. Irene finden und nach Hause gehen. Wir werden es schaffen. Und dazu müssen diese verdammten Gleitschirme hergestellt werden.
So um 12 Uhr bin ich dann wieder an den Arbeitsstätten. Ich muß schon sagen, Osont beschäftigt seine Leute wirklich. Die Organisation wird besser. Ich finde eine Gruppe, die sich als 'mobiler Kantinenbetrieb' betätigt: Sie braten über offenem Feuer Fleisch und verteilen es nacheinander an alle. Wer etwas kriegt hat genau dann seine Mittagspause - vorher nicht und nachher nicht. Wer bei der Verteilung übersehen wird, hat an dem Tag eben keine Mittagspause. Ganz einfach.
Okr und Oios, die offenbar miteinander befreundet sind, finde ich an den Papierbädern. Oam und Osont sind nirgends zu sehen. Ich geselle mich zu den beiden, und sie zeigen mir unaufgefordert weitere Materialfortschritte, die an den Trocknungsgerüsten, von denen es auch immer mehr gibt, hängen:
Es gibt jetzt Netze, und sie haben auch versucht, Papier mit eingelagerten Netzen zu machen. Die Stücke sind unregelmäßig und einige Quadratmeter groß, eben so groß, wie die Papierbäder waren. Das Problem, sagen sie, ist, daß diese großen Papierstücke zu lange brauchen, um soweit zu trocknen, daß man sie unbeschädigt aus den flachen Schalen nehmen kann, ohne daß sie brechen. Deshalb haben sie häufiger Zwangspausen in ihrer Arbeit. Und doch sind in den größeren Stücken überall Beschädigungen zu finden.
Ich schlage ihnen eine Walze vor, weil mir da auch nichts besseres einfällt. Die muß natürlich auch erst einmal hergestellt werden, und vor meinem geistigen Auge habe ich das Bild von verklebtem Papier, daß sich um die Walzen wickelt und sich dabei zur Unbrauchbarkeit verzieht. Ich kann wirklich nicht sagen, ob das ein guter oder ein schlechter Vorschlag war - sie müssen es selbst ausprobieren.
Jedenfalls ist heute noch nicht genug Material da, um auch nur einen einzigen Gleitschirm wenigstens einmal zusammenzuschneidern. Vielleicht ist das gut so, denn es kommt Wind auf. Nicht viel, schon gar nicht genug, um den Nebel beiseite zu schieben. Aber bei den ersten Flugversuchen könnte dieser sachte Luftzug bereits empfindlich stören.
Okr ist allerdings nicht der Meinung, daß zuviel Wind da ist. Er bedrängt mich, daß man vielleicht schon daran gehen sollte, einen Gleitschirm bescheidenerer Größe zusammenzuschneidern. Wenn man damit vielleicht auch noch nicht fliegen kann, so kann man doch vielleicht ein kleines Gewicht statt eines ganzen Menschen auf eine Flugreise schicken.
Die Schwalbe, denke ich. Die Idee des Modells ist bei Okr auf fruchtbaren Boden gefallen. Dabei hatte ich diesen Erfolg gar nicht beabsichtigt. Schön, daß man so manchmal auch positiv überrascht wird.
"Das mit dem Gewicht wird vielleicht nicht gehen!" vermute ich, "Ein Gleitschirm braucht zuviel aktive Steuerung."
Okr ist enttäuscht, ich sehe es ihm an. Deshalb fahre ich fort: "Aber man kann damit Laufversuche machen. Man müßte schon merken, ob der Schirm einen nach oben zieht. Andererseits, wenn er zu klein ist, dann kann er einen nicht wirklich heben, und es ist noch ungefährlich!"
Ich habe wohl genau das gesagt, was Okr hören will. Sprachlich ausdrücken kann er sich nicht besonders - fast ist sein Xonchen schlechter als meins - aber vielleicht gehört er zu den Menschen mit gutem Vorstellungsvermögen. Noch ein verborgenes Talent - es gibt sie hier also doch.
Er rennt weg und kommt schon bald mit einigen anderen meist jüngeren Männern wieder. War da etwas abgesprochen? Egal, wenn es funktioniert. Jedenfalls bombardieren sie mich mit Fragen - bis auf die Frage nach der Nadel: Da hat schon jemand eine Idee gehabt oder etwas über das gewöhnliche Werkzeug eines Segelmachers gewußt. Den starken unteren Halm des Schneidgrases kann man dafür verwenden. Der ist stabil genug und kann leicht gespitzt werden. Und wenn er verbraucht ist, dann macht man sich eben eine neue derartige Nadel.
Sie fangen rasch an, mehr nach Intuition als nach meinen Zeichnungen. Ich habe Mühe, sie zuerst einmal dazu zu bewegen, wenigstens einige Papierstücke vorzuschneiden - dabei wäre das Zusammennähen auf andere Weise sowieso nicht gegangen.
Material für einige wenige Luftkammern wäre da. Allerdings wird netzloses Papier und netzverstärktes Papier gemischt verwendet. Also überhaupt nichts für einen ernsthaften Gleitschirm. Und die groben, weit auseinanderliegenden Stiche, mit denen sie nähen, gefallen mir auch nicht.
Das Ding, das sie jetzt zusammennähen, muß wenigstens das sichtbare Ergebnis zeigen, sich beim Anlauf in der Luft zu entfalten und eine gewisse fühlbare Hubkraft zu erzeugen. Das wäre Motivation für die weitere Arbeit!
Die Trageseile - alle verschieden dick. Naja. Mehrfach muß ich wieder eingreifen, weil in dem Haufen Papier allmählich unklar wird, was wohin genäht werden muß. Außerdem muß ich mehr als einmal verhindern, daß sie im Übereifer versuchen, Papier oder Netzpapier zu verwenden, das schon aufgehängt, aber noch nicht trocken ist.
Es vergehen Stunden, bis die paar Lappen endlich zufriedenstellend zu einem Ganzen zusammengesetzt worden sind, das nicht schon beim Transportieren wieder auseinanderfällt. Irgendwann taucht Osont einmal auf, wechselt ein paar belanglose Worte mit uns, sieht fast gleichgültig auf die Bemühungen von Okr und Oios und sucht sich dann offenbar wahllos einen der arbeitenden Männer, den er dann zwingt, über dem offenen Messer Liegestütze zu machen, so, wie sie das hier von mir so bereitwillig gelernt haben. Dabei ist mir gar nicht aufgefallen, daß der betreffende Mann langsamer oder schlechter gearbeitet hätte als die anderen. Sieht so aus, als ob Osont seinen schlechten Tag hat. Ich bin froh, als er sich wieder verzieht.
Ich sehen auf die Uhr, als ich merke, daß die Arbeiten rundherum eingestellt werden. Gleich 24 Uhr. Es ist bald Schlafperiode. Nur Okr und Oios wollen unbedingt noch den halben Gleitschirm ausprobieren.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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